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***Mit Bonus-Story: KISS ME ALEX!*** Als Eve den Sohn eines Palast-Bodyguards trifft, geraten ihre Gefühle völlig durcheinander. Dabei passt der freiheitsliebende Kingsley überhaupt nicht an den Königshof. Doch auch Kingsley kann sich dem Charme der Prinzessin nicht entziehen. Ein aufregender Flirt beginnt – mit tödlichem Preis: Bei einem Angriff schützt Kingsleys Vater Eve als Bodyguard und zahlt mit dem Leben. In Trauer trennen sich Eves und Kingsleys Wege. Bis Kingsley die Position seines Vaters übernehmen und Eve schützen soll. Weitere Bücher von Bestsellerautorin Stella Tack: Kiss the Bodyguard Band 1: Kiss Me Once Band 2: Kiss Me Twice Night of Crowns Band 1: Spiel um dein Schicksal Band 2: Kämpf um dein Herz
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Seitenzahl: 734
Für meine Lektorinnen Nadja & Tamara, die Ryan und Ivy bereits geliebt haben, bevor es alle anderen getan haben.
New York City
Das Glas klirrte gefühlt ohrenbetäubend laut, als es unter Dexters bandagierter Faust zerbrach.
»Alter, was soll das? Geht das nicht leiser?«, zischte ich ihn an, doch Dexter deutete mir nur an, die Klappe zu halten, während sein Blick über den leeren Innenhof der Bronxville Highschool huschte.
Doch hinter uns lagen nur die mit Graffiti besprühten Bänke neben den überquellenden Mülleimern. Kippen pflasterten zusammen mit platt getretenen Kaugummis den rissigen Betonboden. Die metallischen Gliederketten des Basketballkorbs quietschten leise. Einige Querstraßen weiter hupten sich zwei Autos aggressiv an, und der Ton hallte wie ein Echo bis zu uns herüber. Neben der üblichen Geräuschkulisse New Yorks, die selbst um halb ein Uhr nachts nicht abriss, war das metallische Rascheln eines Maschendrahtzauns zu hören. Keine Ahnung, wie es Dex ging, aber ich hielt die Luft an und war jederzeit bereit, die Aktion hier abzubrechen, sobald ich auch nur das geringste Aufblitzen eines Blaulichts sah oder den Mucks einer Polizeisirene hörte.
Nach dem Rascheln des Zauns ertönte ein harter Aufprall, gefolgt von einem Fluchen. »Fuck! King? Dex? Wo seid ihr, verdammt noch mal?«
Sowohl Dex als auch ich atmeten erleichtert auf.
»Scheiße, entspann dich, das ist nur Chendler«, raunte Dex mir zu.
Während bei mir nur die Schultern etwas herabsanken, warf mir Dex ein breites Grinsen zu, das wegen des grünen Lichts des Notausgangsschilds noch gruseliger aussah. Das blonde Haar lugte unter seiner Basecap hervor, die er sich falsch herum aufgesetzt hatte. Die Kapuze darüber sorgte dafür, dass seine Gesichtszüge im Schatten lagen. Seine normalerweise hellen Augen wirkten beinahe schwarz, während das Licht des Notausgangsschilds seiner Haut einen ungesunden Grünstich verpasste. Fehlte eigentlich nur noch eine Handkamera und wir hätten locker noch eine schlechte Fortsetzung von Paranormal Activity drehen können.
»Was versteht der Kerl eigentlich unter Punkt Mitternacht?«, fragte ich leicht pissig.
Dex zuckte mit den Schultern, während er mit der bandagierten Faust wieder durch das eben zerschlagene Fenster griff und den alten Verschluss aufhebelte. Seine Finger waren dabei so geschickt, dass ich beinahe beeindruckt war.
»Du kennst doch Chen«, sagte er. »Wahrscheinlich ist er wieder eingepennt. Hol ihn lieber zu uns, bevor er sich noch an seiner eigenen Dummheit den Hals bricht.«
»Oder wir packen Chen ein, gehen zu Taco Bell und vergessen die ganze Sache«, schlug ich bereits zum dritten Mal an diesem Abend vor.
Denn mal im Ernst, es war Frühling in New York City. Mir war scheißkalt, ich fühlte mich gleichzeitig müde und aufgeputscht von der Panik, erwischt zu werden, und bei Taco Bell gab es das Taco Special. Wenn ich die Wahl zwischen einer Anzeige wegen Einbruchs in einer öffentlichen Highschool oder einem fetttriefenden Taco Special hatte, war meine Wahl irgendwie ganz klar auf Seiten der fettigen Tüten.
Dex grunzte nur und drückte das Fenster auf. »Niemand mag Spaßbremsen, Kingsley. Hör auf, dir in die Hosen zu machen, wir ziehen das jetzt durch. Rein, raus, ganz einfach.«
Mein Atem kondensierte in der Luft. Irgendwo heulte eine Polizeisirene auf. Ich zuckte zusammen, während irgendwo hinter uns erneut ein harter Aufprall zu hören war. Chen stöhnte.
Dex zog eine Augenbraue hoch und starrte mich mit diesem Blick an, der gleichzeitig herausfordernd und herablassend war. Den Blick hatte er schon mit vier perfekt draufgehabt. Keine Ahnung, wie er die Augenbraue so weit hochziehen konnte, aber damals wie heute weckte es in mir den Wunsch, meine Faust in sein perfektes James-Dean-Gesicht hineinzuknallen.
»Komm schon«, sagte er, »jetzt ist es eh zu spät zu kneifen, und du weißt, warum wir hier sind. Wir waren uns einig.«
»Schön, wie du willst.« Ich schnaubte und drehte mich um.
»Du bist unser King«, spöttelte Dex.
Immer noch genervt ging ich um die Ecke, während Chens hagerere Gestalt über den Schulhof auf uns zuhumpelte.
»King?«, hörte ich ihn verunsichert fragen.
»Nein, die Queen. Scheiße, Chen, wo bist du gewesen?«, gab ich zurück, packte meinen Freund am Kragen und bugsierte ihn zu dem offen stehenden Fenster.
Die restlichen Luken hier unten waren mit Gittern versperrt, doch diese Woche waren sämtliche Fenster des Higschool-Komplexes geputzt worden, und die Reinigungsfirma hatte vergessen, das Gitter an diesem Fenster wieder anzubringen. Dex war vor Begeisterung beinahe aus den Schuhen gekippt, als er das ungesicherte Fenster entdeckt hatte.
»Ich habe euch nicht gefunden«, jammerte Chendler. »Ich dachte, wir treffen uns bei Taco Bell.«
»Wir gehen danach zu Taco Bell.«
»Scheiße, echt?«, fragte er und rückte sich seinen Rucksack zurecht.
»Scheiße, ja«, gab ich zurück.
Das grüne Licht des Notausgangsschilds beleuchtete die Piercings in Chendlers Gesicht. Seine linke Augenbraue war über die gesamte Länge vollgestochen. Snakes steckten unterhalb seiner Lippe, und ich hörte das nervöse Klicken, als er den Stift in seiner Zunge gegen die Innenseite seiner Zähne schlug. Bei dem Anblick ziepte die Narbe in meiner eigenen Augenbraue. Sie kam von dem ersten und scheiße noch mal einzigen Piercing, das ich mir von Chen hatte aufschwatzen lassen.
»Kommt ihr endlich? Oder wollt ihr noch eine Runde knutschen?« Dex’ Kapuzenkopf tauchte im Fenster auf. In seiner Hand leuchtete die Taschenlampe seines iPhones und strahlte sein Gesicht von unten an, sodass er wirkte, als wollte er gleich eine Horrorstory zum Besten geben.
Chen und ich sahen uns kurz an, dann grinste Chen nur und warf mir einen Kuss zu.
»Eifersüchtig, Dex?«, fragte ich und drehte meine rückenlangen schwarzen Haare zu einem Messy Bun zusammen.
Dex schenkte mir einen amüsierten Blick. »Immer doch«, säuselte er, ehe er wieder im Inneren der Schule verschwand.
Idiot.
»Nach dir«, bot ich Chen an und machte eine Räuberleiter.
Es war nicht hoch, aber Chen war so krass unsportlich, dass er sie brauchen würde. Der schlanke Junge ließ sich ohne weiteres Murren hochhelfen, ehe er sich durch das offene Fenster hievte. Ich folgte ein paar Sekunden später, packte den bröckelnden Sims, sodass sich die schwarzen Tribal-Tattoos an meinen Unterarmen anspannten, und zog mich auf die Fensterbank hoch. Scherben knirschten dabei unter meinen Armeestiefeln. In der Hocke sitzend warf ich einen letzten Blick hinter mich und atmete die eiskalte Stadtluft ein. Der Schulhof lag weiterhin verlassen da. Hinter dem Maschendrahtzaun und einer kleinen Baumgruppe rauschte der Straßenverkehr vorbei. Alles wirkte friedlich. Dennoch hatte ich ein mieses Gefühl bei dieser Sache, und es ließ sich auch nicht abschütteln. Was wir hier vorhatten, war vielleicht nicht das Dümmste, was wir jemals getan hatten, aber allemal das Ding mit dem größten Ärgerrisiko.
»King! Komm endlich«, drang es zu mir heraus. Dexter klang ungeduldig.
Ich schluckte das miese Gefühl hinunter, wandte mich ab und sprang in die Eingangshalle der Highschool. Dunkelheit hüllte mich ein. Ich erkannte meine Freunde nur an den hüpfenden Lichtpunkten ihrer Handytaschenlampen. Chens Lachen hallte an den Wänden entlang, und ich hörte bereits das schnelle Klackern der Metallkugel, als eine der Spraydosen geschüttelt wurde. Dex war wirklich schwer motiviert, das hier durchzuziehen. Kopfschüttelnd zückte ich mein eigenes Handy, schaltete das Licht an und folgte den beiden durch die Eingangshalle. Das Schulgebäude stammte aus den Zwanzigern, und das Geländer der Treppen, die nach oben zu den Klassenzimmern führten, war aus altem Holz. Es fühlte sich glatt und kalt an, als ich mich daran abstützte und immer drei Stufen auf einmal nehmend nach oben stürmte. Mein hüpfender Lichtkegel erhellte dabei die Projekte der Kunst-AG, und der Geruch von Bohnerwachs und Reinigungsmittel stieg mir in die Nase.
Der Reinigungsdienst hatte genau nach Plan um elf Uhr Schluss gemacht, demnach sollten wir inzwischen auch niemandem mehr über den Weg laufen. Denn die Schulsecurity war nur tagsüber im Dienst, immerhin war die Bronxville Highschool eine Schule mit gutem Ruf. Doch das würde sich heute wohl ändern.
Ich hastete an einer Reihe an Spinden vorbei, bis ich Dex und Chen erreichte, die gegen die Schließfächer gelehnt auf mich warteten. Es klickte leise, und die Flamme eines Feuerzeugs war zu sehen, als Chendler sich eine Tüte ansteckte. Ein süßlicher Geruch waberte zu mir herüber, als er in meine Richtung ausatmete.
»Scheiße, Chen, mach den aus, sonst gehen noch die Rauchmelder an«, knurrte ich ihn an, doch Chen pustete nur noch mehr Rauch aus und aschte auf den Boden.
»Entspann dich, das hier soll Spaß machen, schon vergessen?«
Ich schnaubte. »Das letzte Mal, als du das gesagt hast, sind wir fast im Knast gelandet, weil du einen Affen aus dem Zoo stehlen wolltest«, erinnerte ich ihn.
Chen gluckste. »Das hat Spaß gemacht.«
»Bin mir fast sicher, der Affe ist da anderer Meinung.«
»Kommt schon«, unterbrach uns Dexter, griff in Chens Rucksack und warf mir eine Sprühdose zu, die ich geschickt auffing. Zu dritt traten wir zurück und betrachteten die Spinde vor uns.
»Kriegst du das hin?«, erkundigte sich Dex, während ich meine Dose schüttelte und den Deckel mit dem Daumen aufflippte.
Der scharfe Geruch der Farbe stieg mir in die Nase. In meinen Fingerspitzen kribbelte es. »Klar krieg ich das hin«, erwiderte ich nur, während ich eine schwarze Maske über meine Nase zog und zu sprühen begann.
Der Dampf drang dennoch durch den Stoff, auf den ein neongrüner, breit grinsender Mund gedruckt war, doch sobald ich die ersten Linien zog, trat die Welt in den Hintergrund. Meine Nervosität verflog genauso schnell wie das unruhige Zucken in meinem Magen, während ich eine Dose nach der anderen leerte. Dex stand neben mir und half, die Linien auszumalen, während Chen sich an das Treppengeländer lehnte, rauchte und mehr oder weniger Schmiere stand. Ich lockerte meine Muskeln, ließ die Nackenwirbel knacken und fühlte, wie die Dose in meiner Hand warm wurde, während ich immer wieder durchwechselte und sich schon bald schwarze Linien mit neongrüner, pinker, blauer, roter und gelber Farbe kreuzten.
Dex summte ein Lied, irgendeinen Mist von Bach oder Mozart. Der Kerl hatte einen Knall, aber ich konnte mir ein Leben ohne ihn nicht vorstellen. Solange ich denken konnte, gab es mich nicht ohne Dex und Dex nicht ohne mich. Unsere Mütter waren zusammen auf der Highschool gewesen, wir waren innerhalb derselben Woche geboren worden, gleicher Sandkasten, gleiche Vorschule, gleiche Schule. Wir waren einfach immer schon zusammen gewesen, und das würde sich auch nicht ändern, wenn wir in wenigen Wochen den Highschool-Abschluss in der Tasche hatten. Dex und ich hatten beide bereits eine Zusage für die Columbia. Chendler stand auf der Warteliste, aber selbst wenn er nicht aufgenommen wurde, hatte seine Familie immer noch genug Kohle, um ihm ein Leben lang Nichtstun zu finanzieren. Ich nahm jedoch an, dass sie den Penner auch nicht ewig in ihrer Villa haben wollten.
»Bist du bald fertig?« Dex’ Stimme hallte durch den Nebel in meinem Kopf.
»Gleich«, sagte ich nur, bückte mich und vollendete die Schrift mit einem letzten Schnörkel. Meine Finger waren bunt und rochen nach Terpentin. Schweiß rann mir den Rücken hinab, doch ich fühlte mich so vollgepumpt mit Adrenalin, dass ich am liebsten weitergemacht hätte.
»Krasser Scheiß, Mann, das ist ein Meisterwerk«, murmelte Chendler, und Dex pfiff anerkennend, während ich zurücktrat und das Graffito in Augenschein nahm.
Zu sehen war ein riesiger Löwenkopf – das Maskottchen der Bronxville Highschool. Seine Mähne breitete sich in giftgrünen, gelben, pinken und roten Wirbeln an den Spinden aus. Das Tier hatte das Maul weit aufgerissen, die Zähne spitz und scharf gebleckt, während er einen Mann fraß, der eine nicht zu verkennende Ähnlichkeit mit Direktor Jarvis hatte. Darunter stand in starken Lettern und scharfen Kanten: Eat the Rich.
»Sieht wirklich aus wie dein Dad, Dexter.« Chendler lachte, und Dex’ Grinsen wurde eine Spur zu breit, als er mir seinen Arm von hinten um den Hals schlang und sein Kinn auf meiner Schulter abstützte.
»Ich freu mich schon auf den Gesichtsausdruck von meinem Alten, wenn er das hier morgen sieht. Die Farbe ist sicher wasserfest?«
»Jup, das kriegen sie niemals ab«, stimmte ich ihm zu und warf die leeren Dosen in den Rucksack, der neben Chen stand.
Wir würden den Mist mitnehmen müssen, denn ich traute Dex’ Vater, Direktor Jarvis, durchaus zu, Fingerabdrücke nehmen zu lassen. Wobei wir ziemlich Schwein hatten, dass es in der Schule keine Überwachungskameras gab. Ich nahm an, nach heute würde es dann doch welche geben, aber das war nicht mein Problem. Bald waren wir ohnehin weg.
Für einen kurzen Moment ließen wir das Meisterwerk noch auf uns wirken, dabei fiel mein Blick auf Dex, der seine Kapuze heruntergezogen hatte. Der Ausdruck in seinem Gesicht gefiel mir jedoch nicht. Er wirkte unruhig, irgendwie hungrig. Seine Zunge schnellte hervor, als er sich über die Unterlippe leckte. Er heckte etwas aus.
»Lass es«, sagte ich schlicht.
Dex hob eine Augenbraue und linste zu mir hoch, ohne sein Kinn dabei von meiner Schulter zu heben. »Ich weiß nicht, was du meinst«, säuselte er.
Ich schnaubte und stieß ihm meinen Ellenbogen in die Rippen. »Doch, tust du. Wir gehen jetzt. Die Message wird ankommen, und Direktor Jarvis … Hey, was machst du? Komm zurück! Dex!« Alarmiert blickte ich meinem Freund nach, der sich von mir gelöst hatte und die Treppen weiter nach oben sprintete.
»Entspann dich, King, bin gleich wieder da«, rief er zu mir herunter.
Chen pustete Rauch aus seiner Nase, ehe er die Kippe unter seinem Schuh zertrat und auf mich zukam. »Er kann es nicht lassen, oder?«
Seufzend rieb ich mir den Nacken. »Er sollte langsam über die Sache hinwegkommen. Meine Eltern sind auch geschieden, und ich mache nicht so einen Aufstand.«
»Ja, aber dein Dad hat nicht seine Sekretärin gevögelt und danach deine Mom mittellos auf die Straße gesetzt, oder?«, fragte Chen erstaunlich scharfsinnig für seinen bekifften Zustand.
»Nein, er ist nach Kanada abgehauen, aber deswegen mache ich noch lange nicht …«
Ein Knallen war zu hören, was uns beide alarmiert den Kopf heben ließ. Unser Blick schnellte nach oben, während das Krachen lauter wurde.
»Ich glaube, er zerlegt gerade das Büro seines Dads«, murmelte Chen.
Ich fluchte, und im nächsten Augenblick rannten wir auch schon los. Dex hinterher.
Direktor Jarvis’ Büro lag im fünften Stock, ganz oben mit einer protzigen Aussicht auf Manhattan. Die dunklen Mahagonitüren standen sperrangelweit offen, und als ich die letzte Stufe nahm, flatterte mir bereits eine dicke Enzyklopädie entgegen und klatschte laut auf den Boden. Ein Krachen folgte, das klang, als hätte Dex ein Regal umgeworfen.
»Dexter, was machst du da?«, blaffte ich und duckte mich, als einige Akten an mir vorbeiflogen.
Dexter stand mitten im Raum und sah aus wie ein blonder Racheengel, während er das Büro seines Vaters zerlegte.
»Wonach sieht es denn aus? Ich demoliere dieses verdammte Büro. Mir wird schlecht davon. Alles hier stinkt nach Geld. Ich mein, sieh dir das mal an! Was ist das?« Er hielt einen Stift hoch und rümpfte die Nase.
»Ein Kuli?«, schlug Chen verwirrt vor.
»Das Teil ist pures Gold! Der Kerl hat ’nen goldenen Kugelschreiber, aber meiner Mom gibt er nach fünfundzwanzig Jahren beschissener Ehe keinen Cent ab, während er seiner neuen Tussi heute einen neuen Schrank nur für ihre Handtaschen gekauft hat! Mir kam fast das Frühstück wieder hoch, und es wird nicht besser, wenn ich das hier sehe …«
Dex spuckte aus, und das unruhige Gefühl kehrte mit voller Wucht zurück. Ich hatte gewusst, dass es eine dumme Idee war, hierherzukommen. Seit der Sache mit der Scheidung seiner Eltern war Dex nicht mehr er selbst. Dex hatte seinen Dad zwar noch nie wirklich ausstehen können, doch ich machte mir ehrlich Sorgen um ihn. Das unbekümmerte Lächeln, das er sonst dafür einsetzte, die Mädchen um den Finger zu wickeln, war inzwischen zynisch geworden, sein Blick ruhelos, und ich glaubte nicht, dass er genug schlief, geschweige denn aß. Seit Wochen pennte er bei mir oder Chen. Es störte mich nicht, doch ich wusste, dass er nur versuchte, der neuen Frau seines Dads aus dem Weg zu gehen. Er und sein Vater brüllten sich praktisch nur noch an, und inzwischen hatte Dex das Schwänzen zur olympischen Disziplin erhoben, bis er auf einmal verkündet hatte, den ultimativen Abschlussstreich abziehen zu wollen.
Dex packte einen alten Football-Pokal, holte aus und donnerte ihn genau in die Fensterscheibe.
»Schei…« Mein Fluchen ging im Klirren von Glas unter, als der Pokal die Scheibe zerschmetterte, und ein Sprühregen aus Scherben durch den Raum flog.
»…ße!«, vollendete Chendler meinen Fluch, während Dex eine Spraydose schüttelte und irgendwas auf den antiken Schreibtisch sprühte.
Verdammt! Ich hatte geahnt, dass es nicht bei ein paar Schmierereien an den Wänden bleiben würde. Ich tat also, was jeder gute Freund tun würde. Ich rupfte ihm die Dose aus der Hand und brüllte ihn an: »Sag mal, spinnst du?«
»Bin gleich fertig. Ich muss nur noch die Urkunden anzün…«
»Nein, musst du nicht! Das reicht, Dex. Wir gehen.«
Eiskalter Wind pfiff durch die zerborstenen Scheiben.
»Was willst du tun? Mich rausschleifen?« Dex leckte sich erneut über die Unterlippe und grinste schief.
Ich verzog keine Miene. »Wenn es sein muss.«
Sein linkes Auge zuckte. Das reichte mir, um zu wissen, in welche Richtung er ausweichen würde. Blitzschnell preschte ich nach vorn, packte Dex am Arm, verdrehte diesen ruckartig und knallte seinen Kopf auf den beschmierten Schreibtisch. Es rumste laut, als sein Dickschädel auf dem Holz aufkam.
»Okay, das reicht jetzt, Dex. Mach winke, winke, wir gehen jetzt.«
»Fuck, King, ist ja gut, lass los«, ächzte mein Freund, doch ich war weder so blöd noch so … ja, nein, das war alles, ich war einfach nicht blöd genug, darauf reinzufallen, deswegen packte ich ihn einfach fester und schleifte ihn aus dem demolierten Büro hinaus.
»Lass mich los, Kingsley!«, blaffte Dex und trat nach mir.
Chen war zum Glück so geistesgegenwärtig, Dex’ Beine zu packen, und so schleppten wir unseren brüllenden Freund die Treppen nach unten.
»Aah!«, brüllte Dex, während Chen und ich unter seinem Gewicht schnauften.
Dex zappelte heftig, und kurz überlegte ich, ihn einfach über das Treppengeländer nach unten zu werfen, als er plötzlich schlaff wurde und sich frustriert eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht pustete.
»Gut, jetzt wird’s peinlich. Ihr könnt mich runterlassen«, brummte er.
Chen und ich wechselten einen Blick.
»Jetzt wird’s erst peinlich?«, fragte Chen.
»Sicher?«, hakte ich nach.
»Sicher«, sagte Dex.
»Gott sei Dank, mir bricht gleich der Rücken durch«, ächzte Chen und ließ einfach die Beine fallen, und weil Dex es verdient hatte, ließ ich schulterzuckend ebenfalls los.
Dex riss die Augen auf, als er hart am Boden aufknallte. »Ihr Pisser!«, fluchte er stöhnend, während ich in die Hocke hing und ihm einen kleinen liebevollen Klaps gegen die Wange gab.
»Das war nicht cool, Dex. Mach so was nie wieder. Sonst lass ich dich mitsamt deinem Kram einfach stehen. Ich weiß, du bist sauer, aber wenn Direktor Jarvis rauskriegt, dass du dahintersteckst, wird es für dich noch ungemütlicher als ohnehin schon.«
Seine Mundwinkel zuckten. »Was kann er schon groß tun? Mich rauswerfen? Anzeigen? Von seiner eigenen Schule schmeißen? Das wäre ihm doch selbst zu peinlich.«
»Er könnte dir auch das Geld fürs College streichen. Und dann? Komm schon, Mann, wir haben alles geplant, das ist es nicht wert. Nicht mehr lang, und dann gibt es nur noch dich, Chen, mich und die Columbia. Atme mal tief durch und zähl bis zehn.« Ich hörte mich schon an wie sein Therapeut.
Dex starrte mich an. In seinen dumpfen Augen lag immer noch Wut, aber sie klang langsam ab. Tief atmete er durch. Automatisch machte ich mit, so wie es uns Dex’ Therapeut in dieser Anti-Aggressions-Session beigebracht hatte.
»Du hast recht«, presste Dex schließlich hervor, und meine Mundwinkel zuckten.
»Natürlich habe ich das. Ich bin der schlaue und gut aussehende von uns dreien, schon vergessen?«
»Darüber lässt sich streiten.«
»Nein, tut es nicht.«
»King sieht besser aus. Die Mädels aus der Zehnten haben sogar einen Fanclub gegründet.« Chen gluckste, und Dex verdrehte die Augen, während ich ihm die Hand hinhielt. Er schlug ein und ließ sich aufhelfen.
»Also endlich zu Taco Bell …«, setzte ich an, als ein Geräusch uns zusammenzucken ließ. Wahrscheinlich drang es im Büro durch das demolierte Fenster, denn eigentlich waren die Fenster so gut wie schalldicht.
Mein Kopf schnellte hoch, während sich mein Herzschlag auf gefühlte hundertachtzig beschleunigte. »Hört ihr das auch?«, fragte ich leise.
»Was?«, fragte Chen, während Dex sich neben mich stellte und ebenfalls lauschte.
Das Geräusch wurde lauter, und … es kam näher. Es war …
»Die Cops«, stieß ich hervor, während mir der Schweiß ausbrach. »Jemand muss den Lärm gehört oder das mit dem Fenster mitbekommen haben.« Ich wollte nicht vorwurfsvoll klingen, tat es aber.
Dex warf mir einen wütenden Blick zu, ehe er zum nächsten Fenster rannte. »Vielleicht kommen sie nicht hi… Okay, es sind wirklich die Cops, und sie kommen hierher. Damit tritt Plan C in Kraft.«
»Wir hatten Pläne?«, fragte Chen mit leichter Panik in der Stimme.
»Dex hatte welche«, brummte ich.
»Was war noch mal Plan C?«
»Abhauen«, sagte Dex.
Wir sahen uns an. Ein Blinzeln, zwei, und wir stürmten gemeinsam los. Das Herz schlug mir heftig und schnell in der Brust, während wir die Treppen nach unten hetzten. Keiner von uns hatte sich jetzt noch die Mühe gemacht, das Handylicht anzuschalten, sodass es wirklich beschissen dunkel war. Ich stolperte über den letzten Absatz, im selben Moment spürte ich Dex’ Arme, die mich ruckartig packten und wieder nach oben zogen.
»Danke, Mann«, keuchte ich.
»Immer.«
Das Fenster in der Eingangshalle stand noch offen. Ein sanfter Lichtschein drang von der Straßenlaterne herein. Wir rannten darauf zu, nur Chen blieb am Treppenabsatz stehen, während das Heulen der Sirene immer lauter wurde.
»Chendler, beweg dich! Wir müssen weg hier«, rief ich ihm zu.
»Leute, ich glaub, ich hab den Rucksack oben bei den Spinden vergessen«, krächzte er, und die Panik ließ seine Stimme viel zu hoch klingen.
»Was?«, fragten Dex und ich gleichzeitig.
Chen stöhnte. »Der Rucksack ist noch oben. Ich habe ihn im Stress liegen lassen. Ich … ich geh noch mal hoch und hol ihn«, sagte er leise, doch er bewegte sich nicht.
Obwohl nicht viel zu sehen war, wechselten Dex und ich einen Blick. Ich wusste, dass wir denselben Gedanken teilten. Chen bräuchte viel zu lange, um einmal nach oben und wieder nach unten zu laufen. Doch mit dem Rucksack ließen wir ein Geständnis zurück. Alle hier an der Bronxville kannten Chens Rucksack, denn er ließ jeden, den er traf, etwas draufschmieren. Dutzende Unterschriften, alberne Kritzeleien und auch der ein oder andere Spickzettel waren darauf. Chens Rucksack war Schulkult. Wenn sie das Teil oben bei dem Graffito fanden, wäre sofort klar, wer hier involviert gewesen war, denn Chendler tat prinzipiell nichts ohne Dex oder mich.
»Ich …«, setzte ich an, doch Dex unterbrach mich, indem er sich bereits umdrehte und wieder zurückrannte. »Dex, was machst du?«, zischte ich ihm nach.
»Ich hol den Rucksack. Das hier ist meine Schuld, also bügle ich es auch wieder aus. Haut ab. Wir treffen uns in fünfzehn Minuten bei Taco Bell.«
Ich sah nur schwach seinen Schemen, der nach oben verschwand. Chen stöhnte und jammerte leise. Ich kniff mir kurz, aber fest in den Nasenrücken und atmete tief durch, ehe ich in die Hocke ging.
»Genug gejammert«, sagte ich entschieden, »Dex macht das schon. Hoch mit dir, Chen.« Ich machte eine Räuberleiter, half ihm nach oben und hörte, wie er draußen wie ein nasser Sack auf den Innenhof plumpste. Geschickt zog ich mich ebenfalls hoch, blieb jedoch am Sims hocken und wartete angespannt auf Dex’ Schritte. In Gedanken versuchte ich abzuschätzen, wie schnell er sein konnte. Eigentlich müsste er gleich zurück sein. Dex war im Footballteam, der Kerl konnte rennen wie eine Wildsau.
»Kingsley, was machst du?«, zischte Chen von draußen und zog an meiner Jacke.
»Ich warte auf Dexter.«
»Spinnst du? Die Cops sind gleich da.«
Nervös sah ich zur Straße, und tatsächlich, das grelle Blaulicht war bereits vor dem Maschendrahtzaun zu sehen. Autotüren knallten. Stimmen und das blecherne Murmeln und Rauschen eines Walkie-Talkies waren zu hören. Wenn Dex jetzt nicht gleich hier auf der Matte erschien, würde er es nicht mehr rechtzeitig rausschaffen.
Fuck! Ich ließ mich wieder zurück nach drinnen gleiten.
»King?«, blaffte mich Chen an.
»Hau ab, ich helfe Dex!«, stieß ich hervor.
Chen sog scharf die Luft ein. »Das ist doch Schwachsinn. Dex ist der Sohn des Direktors. Sie geben ihm höchstens einen Klaps auf die Finger. So glimpflich kommen wir nicht davon.«
Die Lichter von Taschenlampen zuckten über den Hof, und wir duckten uns beide. Die Scherben knirschten unter meinen Schuhen. Dex war noch immer nicht da, und mein Brustkorb schnürte sich vor Sorge zusammen. Da stimmte etwas nicht.
»Dex ist unser Freund«, widersprach ich Chen. »Ich kann ihn nicht einfach im Stich lassen.«
»Hör auf, so ein Scheißidealist zu sein! King? K…«
Ich ignorierte Chen und sprintete stattdessen zurück durch den Eingangsbereich der Highschool, zückte mein Handy und schaltete erneut das Licht an. Die Cops würden wahrscheinlich über den Haupteingang reinkommen. Wenn wir uns ein paar Minuten Zeit verschafften, konnten wir vielleicht durch eins der Toilettenfenster im zweiten Stock verschwinden. Die waren nicht vergittert, da man sie nur von innen aufsperren konnte.
Mein Blick huschte zu den Eingangstüren, wo der Metalldetektor stand, an dem wir jeden Morgen durchgecheckt wurden. Daneben standen ein Tisch sowie ein verwaister Stuhl für den Security-Kerl. Okay, nicht geil, aber besser als nichts. Ich rannte darauf zu, schnappte mir den Tisch und schob ihn gegen die Türen.
Dahinter waren bereits Stimmen zu hören. Schnell schaltete ich mit dem Daumen das Licht an meinem Handy aus. Im selben Moment erklangen über mir Schritte. Was hatte Dex nur so lange dort oben gemacht? Mit angespannten Muskeln sprintete ich los, die Treppen nach oben und rannte direkt in meinen Freund hinein.
»King, wa…?«
»Psst«, unterbrach ich ihn. »Die Cops sind schon hier.« Ich packte ihn an Kragen und schleifte ihn mit mir den Gang entlang.
Im nächsten Augenblick krachte es, als die schweren Türen gegen den Tisch donnerten. Die Rufe wurden lauter.
Dex atmete scharf ein. »Was machen wir jetzt?«
»Plan D.«
»Wir haben keinen Plan D.«
»Jetzt schon. Zum Klo raus!«
Dex nickte.
Wir drehten uns um und rannten durch den verwaisten Gang zu den Toiletten hinüber. Ich betete, dass sie nicht abgesperrt waren. Dex war als Erster da, drückte die Klinke hinab – und zu meiner grenzenlosen Erleichterung schwang sie auf. Im nächsten Augenblick hörten wir es auch schon knallen. Die Rufe der Cops klangen, als hätten sie es in die Eingangshalle geschafft. Schnell schlossen wir die Tür, und Dex schaltete die Taschenlampe an seinem Handy an.
»Fuck, wir sind im Mädchenklo«, murmelte Dex.
Ich warf ihm trotz der angespannten Situation einen amüsierten Blick zu. »Macht das einen Unterschied?«
»Falls wir erwischt werden, wie wir ausgerechnet versuchen, aus dem Mädchenklo zu verschwinden? Scheiße, ja. Das ist peinlich.«
»Deine Probleme hätte ich gern«, gab ich schnaubend zurück.
Dex lachte in sich hinein und machte sich am alten Schiebefenster zu schaffen, doch es ging nur leicht nach oben auf. Ein kalter Luftzug zog an einer meiner Haarsträhnen.
Er stieß einen unterdrückten Fluch aus. »Ist blockiert. Was machen wir? Einschlagen?«
»Zu laut. Lass mich mal ran«, setzte ich an, als eine Stimme dumpf durch die Tür drang.
»Einen Moment. Ich sehe noch hier drinnen nach, geh du schon mal nach oben.«
Dex und ich wechselten einen panischen Blick. Blitzschnell löschte er das Licht, während ich ihn in die letzte Toilettenkabine schubste.
»Mach schon!«
»Warte, verdammt, ich muss erst noch den Deckel runtermachen.«
Hektisch und mit pochendem Puls sprangen wir zusammen auf den Klodeckel, was wir nur mit ein paar Verrenkungen zustande brachten, von denen ich selbst nicht gewusst hatte, dass wir sie draufhatten. Dex stützte sich an einer Wand ab, ich an der anderen. Im nächsten Augenblick schwang die Tür auf, und ein Lichtstrahl zuckte durch den Raum. Instinktiv hielt ich die Luft an. Dex hingegen atmete mir keuchend in den Nacken. Nass und heiß. Eine seiner Haarsträhnen kitzelte meine Wange.
Der Lichtstrahl strich suchend über die hellen Fliesen, und irgendwas schien in meinem Hirn falsch zu laufen, denn ich musste schon beinahe beeindruckt feststellen, wie nett das Mädchenklo im Gegensatz zu unserem war. Es roch sogar sauber.
In dem Moment wurde eine der Klotüren aufgedrückt. Dex zuckte zusammen, ehe wir uns besorgt ansahen. Ich überlegte schon, ob sie es uns abkaufen würden, wenn wir behaupteten, dass uns ein paar Schlägertypen in einer Mobbingaktion hier eingesperrt hatten, verwarf den Gedanken jedoch wieder, da wir selbst wie diese Schlägertypen aussahen. Die nächste Tür knallte laut gegen die Wand. Ich spannte alle Muskeln an, bereit, einfach zu flüchten, als im nächsten Augenblick ein Strullern, gefolgt von einem erleichterten Seufzen, zu hören war.
Dex und ich blickten uns irritiert an. Pisste der Cop etwa?
Ein Stöhnen erklang, und kurz darauf hallte ein lauter Furz von den Wänden. Die Situation war so surreal, dass Dex haltlos in sich hineinlachte. Er zitterte dabei so sehr, dass wir beinahe vom Klodeckel fielen, ehe der Cop schniefte und den Reißverschluss wieder zuzog. Seine Schuhe quietschten, als er die Kabine wieder verließ.
»Hier ist nichts! Hast du was gefunden?«, rief er nach draußen.
Die Tür schlug zu, und Dex atmete erleichtert auf. »Hat der Cop gerade ins Mädchenklo gepisst?«, fragte er mich leise.
»Hat er. Und vergessen zu spülen«, ergänzte ich.
»Und sich die Hände zu waschen. Dieses Ferkel«, murmelte Dex.
Wir sahen uns an, und sobald die Anspannung aus unseren Muskeln gewichen war, prusteten wir gleichzeitig los.
»Na komm, lass uns von hier verschwinden«, lachte ich und sprang vom Klodeckel.
Dex folgte mir, und ich spürte ihn dicht hinter mir, als ich die Tür öffnete. Auch wenn diese ganze Situation beschissen war, war es dennoch beruhigend, Dex in meiner Nähe zu haben. In Reichweite, und wenn es nur aus dem Augenwinkel war, damit ich sichergehen konnte, dass es ihm gut ging. Dex zückte wieder sein Handy und leuchtete mir, ohne dass ich etwas sagen musste. Und da war es wieder. Wir zwei. Funktionierend wie zwei Zahnräder, die nahtlos ineinandergriffen. Und das würden wir auch weiterhin. Wir kamen hier raus, ich durfte jetzt nur nicht leichtsinnig werden oder die Nerven verlieren.
Ich atmete tief und konzentriert durch, ehe ich ans Fenster trat. Es waren die für einen New Yorker Altbau typischen Schiebefenster. Ich nahm die Scharniere in Augenschein und ruckte das Fenster nach oben, doch es blockierte auf halbem Weg, aber nicht, weil es verschlossen, sondern weil es verkeilt war. Dex musste es in der Hektik ungleich hochgeschoben haben. Ich versuchte es noch mal, vergeblich. Zu allem Überfluss waren die Einlassungen im Holz aufgequollen. Dieses Fenster hatte man eindeutig schon zu lange nicht mehr benutzt.
Dann eben anders. Ich bedeutete Dex, mir nach unten zu leuchten, besah mir die Verkeilung, spannte die Muskeln an und zog so fest ich konnte, bis das Fenster laut nach unten rummste und mir dabei beinahe die Finger brach. Ich zuckte zusammen, als ein brennender Schmerz in meine Hand fuhr.
»Was ist los?«, flüsterte Dex, während ich meine pochenden Finger keuchend zusammenballte. Zumindest funktionierten sie noch, doch etwas blutete. Vermutlich ein paar der Fingerknöchel.
»Es geht schon, komm jetzt«, brachte ich hervor, zwang meine schmerzenden Finger erneut unter das Fenster und hebelte es wieder nach oben.
Diesmal ging es ganz auf. Dex und ich blickten nach unten auf den harten grauen Beton. Wir waren zwar nur im zweiten Stock, doch es wirkte höher, als gedacht. Aber nicht unmöglich. Dex konnte durch das regelmäßige Leichtathletik-Training gut springen, und ich selbst machte ab und zu Parkours und war daher keine Vollkatastrophe, was Sprünge anging. Zumindest wusste ich, wie ich mich abrollen konnte. Ein paar blaue Flecken mehr oder weniger machten da auch nichts mehr aus.
»Los, Dex. Ich helf dir«, murmelte ich.
Mein Freund sah mich an. »Du zuerst.«
»Raus mit dir, Dex!«, schnauzte ich ihn an.
Er presste die Lippen zusammen, ehe er mit einem kräftigen Griff meinen Nacken packte und kurz, aber fest seine Stirn gegen meine drückte. »Danke«, sagte er mit rauer Stimme.
»Immer«, gab ich zurück.
Dexter löste sich von mir, warf sich den Rucksack über die Schultern und kletterte nach draußen. Das alte Holz knarrte, und er rutschte aus. Blitzschnell packte ich ihn am Kragen und hielt ihn fest, bis er das Gleichgewicht wiedergefunden hatte, ehe er sich umdrehte, mit der Hand nach dem Sims griff und sich nach unten schwang. Seine Muskeln zitterten vor Anstrengung, als er mit den Füßen an der Hauswand nach Halt tastete, während ich ihn sicherheitshalber weiter festhielt. Das Holz knarrte, brach aber zum Glück nicht.
»Hab’s. Lass mich los«, sagte er dumpf.
Ich ließ los, und kurz darauf kam er zwar ziemlich hart, aber immerhin im ganzen Stück unten an.
»Geht’s?«
»Hab mir den Fuß verknackst. Egal. Komm jetzt«, rief er dumpf zurück.
»Okay …«, setzte ich an, als die Tür hinter mir plötzlich aufgerissen wurde.
Wie ein Schuss knallte es ohrenbetäubend laut, als die Klinke gegen die Wand stieß. Ich bekam beinahe einen Herzinfarkt und drehte mich ruckartig um.
»Dachte ich mir doch, dass ich hier was gehört hab. Stehen bleiben, Freundchen«, brüllte eine Polizistin, und ein heller Lichtschein blendete mich.
Meine Pupillen zogen sich so ruckartig zusammen, dass es schmerzte. War jemals jemand stehen geblieben, wenn ein Cop so was gebrüllt hatte? Die Polizistin brüllte mich jedenfalls weiter fleißig an, während ich den Sims packte, um mich nach draußen zu schwingen. Ich schaffte es gerade mal mit einem Bein durchs Fenster, ehe ich hart von hinten gepackt, zurückgezogen und zu Boden gedrückt wurde.
»King!«, schrie Dex von unten.
»Lauf!«, brüllte ich zurück und hörte, wie noch ein Cop – ich nahm mal an, der Pisserkollege von eben – das Mädchenklo stürmte.
»Wir haben einen. Draußen muss noch einer sein«, rief die Polizistin.
Der Cop drehte sich auf dem Absatz um und rannte los, während ich spürte, wie mir kalte Handschellen angelegt wurden, obwohl ich mich nicht einmal zur Wehr setzte. Doch das hier war New York, hier fackelte man nicht lange rum.
Ich betrachtete mein eigenes dunkles Gesicht in den hellen zersprungenen Fliesen, während mein hektischer Atem sie beschlug. Es klickte. Die Handschellen rasteten ein. Und in dem Moment wünschte ich mir wirklich, wir wären einfach zu Taco Bell gegangen.
Ein Gutes hatte die ganze Situation ja: Knastessen war besser, als gedacht. Okay, zugegeben, ich war nicht im Knast, nur auf dem Revier und aß mit Brady, dem Detective, der mich an der Backe hatte, Sandwiches. Aber es hätte schlimmer kommen können, auch wenn ich mich genauso mies fühlte wie damals, als Macie Stanford mit mir Schluss gemacht hatte. Per Snapchat. Waren harte Zeiten gewesen.
Aber dieser Abend toppte sogar das Snapchat-Massaker, wie Dex es getauft hatte. Zwar gab ich mir nach außen hin Mühe, die nackte Panik zu verbergen, aber mein Rücken war nass vor Schweiß, während sich meine Gedanken hektisch um sich selbst drehten. Mein Hirn machte dabei wie immer seltsame Dinge. Irgendwie fühlte es sich an, als würde sich um mich herum alles verlangsamen und mir vollkommen unwichtige Details auffallen, als würde mein Hirn auf Teufel komm raus versuchen, sich mit etwas anderem als dem aktuellen Problem auseinanderzusetzen, um nicht durchzuschmoren.
Zum einen war da Detective Brady, der meine Personalien und Aussage aufgenommen hatte, wobei diese recht einsilbig ausgefallen war. Ein Abschlussstreich war kein Grund für den Knast. Einbruch leider schon. Genauso wie das zerstörte Büro. Was meinen Arsch jetzt noch rettete, war meine Minderjährigkeit. Vorausgesetzt, meine Mom ließ mich am Leben. Worauf ich nicht wetten würde. Ihr Gebrüll, als Detective Brady sie angerufen hatte, war quer durchs Revier zu hören gewesen. Dieser Abend würde also noch um einiges peinlicher und im schlimmsten Fall mit Mord enden. Scheiße.
Der Gedanke ließ meine Handflächen schwitzig werden. In Bradys brauner Glatze spiegelte sich das Deckenlicht wider, ich sah mich sogar selbst darin. Auf dem Schreibtisch stand ein Bilderrahmen, auf dem Foto waren zwei Kinder und eine Frau zu sehen, die mich an Oprah erinnerte. Also die Frau, nicht die Kinder. Doch an Bradys Ringfinger war nur noch eine helle Spur, die sich über die sonst dunkle Haut zog. Kein Ring mehr. War er geschieden? Verwitwet?
Außerdem fehlte eine kleine Ecke im Tisch. Direkt vor mir. Als hätte jemand einfach reingebissen und ein Stück aus dem alten, speckigen Holz vertilgt. Und es klebte ein blauer Kaugummi unter der Tischplatte. Das Ding war hart und eindeutig eingetrocknet. Das würde man kaum noch abbekommen. Wusste ich aus Erfahrung. Die letzten Jahre an Nachsitzen hatte ich hauptsächlich damit verbracht, die eingetrockneten Kaugummis von der Unterseite der Schulpulte zu kratzen.
Brady bevorzugte 2-B-Bleistifte, sie waren schön geordnet in einer Star-Wars-Tasse, in der jedoch auch ein pinker Einhornkugelschreiber steckte. Zudem lächelte Brady viel. Vermutlich wollte er mich beruhigen. Sein Schneidezahn war ein Goldzahn. Ob ich mich auch darin spiegeln würde, wenn ich mich etwas zur Seite …? Jup, tat ich.
Seufzend biss ich in das Sandwich, doch das Brot fühlte sich in meinem Mund klumpig an. Der Salat matschig. Ich schluckte trocken, legte es weg und schloss die brennenden Augen. Nur für einen Augenblick. Das hier war wirklich das Schlimmste, was hätte passieren können. Und ich saß hier und überlegte, ob ich mich im Goldzahn eines Polizisten spiegelte …
Was hätte ich tun können, um das hier zu verhindern? Was? Wahrscheinlich hätte ich mir mehr Mühe geben sollen, Dex besser unter Kontrolle zu halten. Was nicht gerade einfach war. Wir hätten den heutigen Abend einfach zu Hause bleiben sollen. Auf Netflix gab es ein paar neue Serien. Irgendwas mit sprechenden Hunden. Die hätten wir uns reinziehen können. Stattdessen war ich jetzt mit einer Hand an einen Stuhl gekettet, an der anderen klebte Mayonnaise und ich tat so, als würde ich Brady zuhören, der mich ohne Unterlass zutextete. Moment. Vielleicht sollte ich mal wieder nicken.
Ich hob den Kopf und nickte.
Brady grunzte zufrieden und fuchtelte mit den Fingern durch die Luft. »Tja, und dann meinte der Chief, ich könnte nur befördert werden, wenn ich wie mein Kollege Stevens mehr im Außeneinsatz tätig bin. Aber wie soll ich raus auf die Straße kommen, wenn ich hier in Papierkram ertrinke? Stevens wälzt alles auf mich ab, fährt fröhlich seine Runden, casht das extra Geld ab und ich? Ich schreibe den hundertsten Bericht über geklaute Gucci-Handtaschen.«
Er unterbrach sich und biss in das Sandwich, während ich mit einem Kugelschreiber in meinem Kaffeebecher rührte und erneut nickte, als hätte ich auch nur den Piep einer Ahnung, wovon er sprach.
»Klingt mies, Mann«, sagte ich dennoch kollegial, und Brady, der laut dem Namensschild am Schreibtisch eigentlich Bradley Cooper hieß – echt jetzt –, fuhr sich über die Glatze und nickte sich selbst zu.
»Ist es. Ich würde gern raus auf die Straße gehen und aktiv mitmachen, aber sobald ich mit dem Kleinkram fertig bin, kann ich auch direkt Feierabend machen. Das Spannendste, was heute passiert ist, war der Ausfall der Kaffeemaschine, was in der gesamten Etage Panik ausgelöst hat.«
Er lachte dröhnend, und ich nahm schmunzelnd einen Schluck von dem wirklich miesen Kaffee. Inzwischen war es zwei Uhr nachts, und mir tat der Rücken weh.
Brady musterte mich und lehnte sich knarrend nach vorn. »Müde, mein Junge?«
»Langer Tag«, gab ich ehrlich zurück, und Brady brummte zustimmend.
»Warum machst du auch so einen Blödsinn und demolierst deine Schule? Du hast Glück, noch siebzehn zu sein, sonst würdest du nicht bei mir sitzen, sondern in der Zelle bei den anderen Versagern. Du bist doch ein kluger Junge, zumindest wirkst du so auf mich. Warum setzt du deine Zukunft für so was aufs Spiel? Glaub mir, das ist es nicht wert. Tu dir selbst einen Gefallen und erzähl, wer noch alles mit dir eingebrochen ist, ansonsten wirst du wahrscheinlich allein belangt werden, und die Strafe wird härter ausfallen.«
Ein müdes Lächeln umspielte meine Mundwinkel. Ich mochte Brady, aber mir war auch durchaus klar, dass er hier die Rolle des Good Cops spielte, um mich vielleicht doch noch zum Reden zu bringen. Aber das würde ich nicht. Nichts und niemand würde mich dazu bringen, Dex oder Chen zu verraten. Ich würde bei meiner einsilbigen Aussage bleiben. Die Cops hatten nichts als Vermutungen in der Hand. Und das würde sich auch nicht ändern, wenn meine Mom mich abholte. Obwohl ich ehrlich gesagt vor ihrer Reaktion noch mehr Muffensausen hatte als vor der von Direktor Jarvis. Mich schmiss Jarvis vielleicht von der Schule, doch seinem Sohn würde er das Leben zur Hölle machen. Noch mehr als ohnehin schon. Das würde ich nicht zulassen, für keine Strafmilderung der Welt. Meinen Highschool-Abschluss hatte ich so gut wie in der Tasche. Selbst wenn ich jetzt flog, wäre die Columbia nicht automatisch vom Tisch. Wir konnten es immer noch schaffen. Das perfekte Leben und den Plan durchziehen. Columbia, WG, studieren, frei sein. Sofern ich jetzt die Klappe hielt.
Gelassener, als ich mich fühlte, ließ ich Bradys musternden Blick über mich ergehen und aß mein Sandwich fertig, ehe ich mir die Finger an einer Serviette abwischte und den Kopf nach hinten lehnte, sodass ich den Flur hinter mir sehen konnte.
Der Trubel in so einem Polizeirevier war nervenaufreibend. Überall klingelten Telefone, die Cops rannten kreuz und quer durch die Gänge, sodass es überall nach Kaffee und stinkenden Körpern roch – und nach dem Zitronenreiniger, der das vermutlich überdecken sollte. An einem der Schreibtische mir schräg gegenüber, an denen wohl die Kleindelikte behandelt wurden, saß ein aufgedonnertes Mädel. Sie sah fertig aus. Die Mascara war verschmiert. Dennoch zwinkerte sie mir keck zu, als sich unsere Blicke kreuzten. Sie hatte ein Veilchen. Ich wollte gar nicht wissen, woher. Um nicht weiter in ihr demoliertes Gesicht mit den eingerissenen Lippen und den kleinen Pupillen starren zu müssen, schloss ich erneut die Augen. Sie brannten wie Feuer. Scheiße, ich war hundemüde.
Tatsächlich nickte ich kurz weg, als mich ein lautes Rascheln die schweren Augenlider wieder heben ließ. Detective Brady blätterte in einer Zeitschrift. Als würde er versuchen, mir so ein wenig Privatsphäre zu gönnen, auch wenn er sich keinen Zentimeter von mir wegbewegt hatte. Royal It nannte sich das Käseblatt, und auf dem Titelbild war ein Mädchen abgedruckt, das mich mit ihren langen lockigen schwarzen Haaren, der hellen Haut und den roten Lippen an Schneewittchen erinnerte. Photoshop hatte ganze Arbeit geleistet. Kein normaler Mensch war so schön. Mit einem schiefen Krönchen posierte sie und sah dabei unter schweren Wimpern in die Kamera. Darunter stand:
Prinzessin Evangeline von Nova Scotia feiert nächste Woche ihren Sweet 16
Ihre Gästeliste, das Outfit für ihren Mops Sir Henry und mehr auf Seite 14
Ein bitterer Geschmack breitete sich in meinem Mund aus, während mich eine Abneigung, die erstaunlich tief ging, leise schnauben ließ.
Detective Brady sah mich über den Rand des Klatschblatts an und grinste schief. Sein goldener Eckzahn blitzte. »Hübsches Mädel, oder? Im Zimmer meiner Tochter hängen Poster von ihr.«
»Keine Ahnung, dieses ganze Monarchiegedöns ist nicht so meins«, gab ich knapp zurück.
Brady guckte wegen meines bissigen Tonfalls erstaunt, als eine laute Stimme hinter der Tür zu hören war.
»¿Eres tonto o le tiras piedras a los aviones? * Was soll das heißen, ich kann da nicht rein? Da drinnen sitzt meine Junge, und Sie werden mich nicht davon abhalten, ihn jetzt mitzunehmen!«
* Bist du blöd oder wirfst du mit Steinen nach Flugzeugen?
Ruckartig setzte ich mich auf und wandte den Kopf zur Tür.
Detective Bradys Blick zuckte zu mir. »Gehört die zu dir?«
»Klingt nach meiner Mom«, stimmte ich nicht ganz ohne Stolz zu, vor allem, als ich hörte, wie heftig sie die Cops dort draußen zur Schnecke machte.
Brady seufzte, stand von seinem knarrenden Stuhl auf und zückte einen Schlüsselbund. »Alles klar, ich mach dich jetzt los. Keine Dummheiten, ja? Mein Abend war nett, und ich würde gern mit guter Laune nach Hause fahren.«
»Ich bin ein Chorknabe«, versprach ich und rieb mir im nächsten Augenblick erleichtert das Handgelenk, um die Durchblutung wieder etwas in Fahrt zu bringen. Meine Fingerknöchel an beiden Händen waren geschwollen, die Haut aufgeplatzt und das Blut verkrustete bereits, was unangenehm ziepte. Schwungvoll stand ich auf und salutierte spöttisch in Richtung der anderen Cops. »Meine Damen und Herren, es war mir eine Freude, doch ich hoffe ehrlich, dass wir uns nie wiedersehen«, sagte ich und folgte Brady durch das Großraumbüro in Richtung Eingangsbereich des Reviers, wo meine Mom die Cops immer noch laut zur Sau machte.
Erst als die Tür aufschwang, hörte das wüste spanische Geschimpfe auf. Meine Mom sah ruckartig auf, und unsere Blicke trafen sich. Sie sah müde aus und hatte noch immer ihren Krankenschwesterkittel an. Das schwarze Haar fiel ihr ins Gesicht. Wir hatten denselben störrischen Gesichtsausdruck, den kessen Schwung in den Augenbrauen und die gleiche lange gerade Nase. Doch die sonderbar hellbraune Färbung der Augen hatte ich von meinem Vater. Meine Mom nannte sie immer miel y luz de las estrellas, wenn sie mir wehmütig eine Haarsträhne zurückstrich. Honig und Sternenlicht.
»Hijo«, stieß sie hervor, und im nächsten Augenblick stürmte sie an den verdutzten Cops vorbei und zog mich in eine feste Umarmung, obwohl ich mindestens einen Kopf größer war als sie.
»Hey, Mom«, murmelte ich, sog ihren vertrauten Geruch nach Waschmittel und Salbei ein und drückte sie fest zurück.
Ich wusste, dass es uncool war, seine Mom zu mögen, doch ich tat es. Sie war wie ein peinlicher, fröhlicher, wild auf Spanisch schimpfender Anker. Sonntags machten wir uns Quesadillas, donnerstags sahen wir uns zusammen den Bachelor an, und zu meinem vierzehnten Geburtstag hatte sie mir eine Packung Kondome und einen Joint geschenkt. Wobei sie den Joint selbst rauchte, während sie mich aufklärte. Das war zwar das einzige Mal, dass ich meine Mom hatte rauchen sehen, aber auch das letzte Mal, dass ich mit dem Gedanken gespielt hatte, jemals keinen Gummi zu verwenden. Meine Mom war laut, zuverlässig und, wenn man mich fragte, ziemlich beschissen perfekt. In diesem Augenblick war ich einfach nur erleichtert, sie zu sehen.
»Wie geht es dir, niño?«, fragte sie, während sie mir eine gelöste Haarsträhne aus der Stirn strich und dabei auch sehr unauffällig meine Pupillen checkte. Als sie unter meinen Augen nur dunkle Ringe fand, entspannte sie sich sichtlich.
»Mir geht es gut«, beruhigte ich sie.
Meine Mom seufzte, rückte von mir ab und packte im nächsten Augenblick mein Ohr, während sie auch schon loslegte. »¡Peinabombillas! ¡Te voy a dar una hostia que te vas morir de hambre en el aire! ** Kannst du mir bitte sagen, was in dich gefahren ist? Seit wann bekomme ich Anrufe von der Polizei, dass mein Sohn seine Highschool zerlegt hat und ich ihn auf dem Revier abholen soll? Willst du, dass ich einen Herzinfarkt bekomme?«
** Du Einfaltspinsel! Ich werd dir so eine Ohrfeige verpassen, dass du in der Luft verhungerst.
»Aua, Mom!«, protestierte ich und sah aus dem Augenwinkel, wie die Cops mich auslachten.
Detective Brady sprang schließlich für mich in die Bresche, indem er nach vorn trat und meine Mom unterbrach, während sie mir androhte, mir vor versammelter Mannschaft den Hosenboden zu versohlen. »Entschuldigen Sie, Mrs Starr. Das hier sind seine Wertsachen. Beziehungsweise alles, was er in seinen Taschen hatte.« Er nutzte die kurze Atempause meiner Mom und reichte ihr einen durchsichtigen Beutel mit meinen Wertsachen.
Meine Mutter starrte wortlos drauf und presste die Lippen zusammen, ehe sie sich sichtlich zusammenriss und mich losließ. »Danke schön, Officer. Ich hoffe, Kingsley hat nicht für noch mehr Ärger gesorgt.« Sie warf mir einen scharfen Blick zu, während ich mir mein Ohr massierte. Es pochte, als würde es gleich abfallen.
Detective Brady lächelte gutmütig auf meine Mom herab. »Machen Sie sich keine Sorgen, Mrs Starr. Um ehrlich zu sein, glaube ich, dass der Junge nur einmal falsch abgebogen ist. Vielleicht täte es ihm mal gut, die Stadt zu verlassen, ein wenig frische Luft zu schnuppern. In dem Alter läuft das Blut schnell heiß, vielleicht braucht er nur eine Aufgabe, die ihm genug Platz gibt, sich zu entfalten.«
Ich unterdrückte den Drang, die Augen zu verdrehen. Ich war doch kein Hund. Der Blick, mit dem meine Mom mich allerdings bedachte, ließ mich praktisch den Schwanz einziehen.
»Danke, Officer, das hier wird Konsequenzen nach sich ziehen.«
Brady sah aus, als wollte er noch etwas einwerfen, doch schließlich brummte er nur eine Verabschiedung, während Mom mich erneut am Arm packte und aus dem Revier schleifte. Sie hetzte, als würde sie versuchen, vor dem Ärger davonzulaufen, den ich provoziert hatte.
Draußen nieselte es. War es immer noch dieselbe Nacht? Es fühlte sich an, als hätte ich ein halbes Leben auf diesem Revier gehockt. Irgendwo ein paar Querstraßen weiter heulte eine Sirene, und der Straßenverkehr zog wasserspritzend an uns vorbei, während mich Mom auf unseren alten Chevy zubugsierte.
»Soll ich …?«, setzte ich an und griff nach ihrem Autoschlüssel, den sie ein wenig zittrig aus ihrer Handtasche herausfummelte.
Doch der scharfe Blick, den sie mir zuwarf, ließ mich verstummen. Mit dem Kinn deutete sie auf den Beifahrersitz. »Einsteigen, setzen und anschnallen.«.
Und weil ich wusste, wann es klüger war, die Klappe zu halten, stieg ich ein, setzte mich und schnallte mich an. Der Gurt schnitt mir in den Hals.
Mom folgte mir und schlug so heftig die Tür zu, dass der Rosenkranz, der am Rückspiegel hing, klimperte. Wütend rammte sie den Schlüssel ins Zündschloss. Doch entgegen meinen Erwartungen fuhr sie nicht los, stattdessen umklammerte sie nur das Lenkrad und starrte ohne zu blinzeln nach draußen. Der Regen war inzwischen mehr geworden und prasselte lauter auf die Scheibe. Die Tropfen zerplatzten wie überreife Früchte und rannen danach wie Tränen hinab. Eine angrenzende Reklametafel warf gelb, pink und blau zuckendes Licht ins Innere des Wagens.
Ich schluckte schwer, die Bewegung kratzte unangenehm intensiv in meiner Kehle. »Mom«, setzte ich an, doch sie hob nur die Hand und schnitt mir damit das Wort ab.
»Nicht jetzt, hijo. Ich denke nach.«
»Okay. Es tut mir …«
»Nicht! Sag es nicht so, als hättest du gerade nur ein paar Kekse geklaut«, fauchte sie mich an.
»Okay«, sagte ich gedämpft.
Ich lehnte mich zurück, steckte die Hände in die Taschen meines Hoodies und wartete, bis sie bereit war, mit mir zu reden. Die ganze Zeit auf dem Revier hatte ich überlegt, was ich ihr sagen sollte, hatte genau dieses Szenario Dutzende Male in meinem Kopf abgespult und versucht, eine Entschuldigung oder zumindest eine gute Erklärung zu finden. Doch ich hatte keine. Außer die, dass ich Dex und Chen diese Sache nicht hatte allein durchziehen lassen wollen. Mom würde diese Ausrede allerdings nicht schlucken, so viel war schon mal klar.
Laut atmete sie schließlich aus, als hätte sie für sich selbst eine Entscheidung getroffen, und endlich blinzelte sie. Gott sei Dank, es war schon gruselig gewesen. Langsam drehte sie sich zu mir um, und eine lange Haarsträhne entkam ihrer Frisur. Sie machte sich nicht die Mühe, sie zurückzustreichen, stattdessen musterte sie mich wortlos, und die Enttäuschung in ihrem Blick war schlimmer als die letzten zwei Stunden auf dem Revier.
»Mom …«, setzte ich erneut an, doch sie unterbrach mich.
»Spar es dir.« Sie sagte es nicht laut, aber die Härte in ihrer Stimme verriet, wie sehr sie sich bemühte, nicht zu schreien. Ich wünschte, sie würde es tun. Meine Mom war laut. Bei egal, was sie tat. Sie war laut fröhlich, laut traurig, laut wütend, sie schlief sogar laut. Ihre gesenkte Stimme war daher schlimmer als jedes Brüllen.
»Ich bin enttäuscht von dir, Kingsley«, sagte sie. »So habe ich dich nicht erzogen. Deine Abuela würde sich im Grab umdrehen, wenn sie wüsste, dass ich ihren Enkel heute von der Polizei abholen musste. Und ich weiß ehrlich nicht, wie ich mit dieser Situation umgehen soll.«
Tränen glänzten in ihren Augen. Ob wegen mir oder wegen Abuela konnte ich nicht genau sagen. Vermutlich beides. Meine Großmutter war vor einem halben Jahr gestorben, und obwohl Mom sie seit ich denken konnte jeden Tag ins Grab gewünscht hatte, so hatte uns ihr Verlust doch hart getroffen. Noch jetzt roch es in unserer Wohnung nach ihrem Parfum. Manchmal kam ich in unsere Wohnung und erwartete, sie auf dem Sofa zu sehen, wie sie sich strickend ihre Telenovelas reinzog und dabei Zigarillos paffte, nur um stattdessen den Fernseher stumm und das alte Sofa verwaist vorzufinden. Mom und ich hatten es uns darum zur Angewohnheit gemacht, zumindest jeden Samstag um elf Uhr gemeinsam Abuelas Lieblingssendung anzusehen. Ich nahm an, dass diese Leidenschaft morgen ausfallen würde, weil ich wahrscheinlich so viel Hausarrest aufgebrummt bekam, dass ich das Tageslicht bis zum Schulabschluss nicht mehr sehen würde.
»Direktor Jarvis hat mich ebenfalls angerufen«, fuhr meine Mutter fort, wischte sich über das Gesicht und verschmierte ihre Mascara.
Ich verkrampfte mich innerlich. »Und?«, fragte ich mit rauer Stimme.
»Und? Na was wohl!«, sagte sie, und ihre Stimme wurde eine Spur lauter. »Du wurdest von der Schule verwiesen, hijo, und wir werden auf Schadensersatz verklagt! Ich dachte zuerst, es wäre ein schlechter Scherz, als er mir mitgeteilt hat, dass du in der Schule randaliert hast. Zumindest bis er mir von dem Graffito erzählt hat. Oh, hijo, wie konntest du nur? Quieres romper mi corazón? *** Ich habe versucht, ihm zu erklären, dass du so was niemals von dir aus tun würdest. Kingsley, bitte sag mir, dass du das nicht selbst angezettelt hast. Ni a palos! **** Nicht du, mein Goldjunge.«
*** Willst du mir das Herz brechen?
**** Auf keinen Fall!
Sie starrte mich an, und ich spürte das Brennen in meiner Kehle. Was sollte ich darauf antworten? Ich liebte meine Mom, ich konnte ihr alles anvertrauen, und allem voran kannte sie mich. Sie kannte Dex. Sie wusste, dass Dex und Chen in diese Sache verwickelt waren. Doch ich wusste auch, dass sie mit dieser Information zu Jarvis gehen würde. Wenn sie es nicht ohnehin bereits getan hatte. Meine Mom hörte gewöhnlich auf ihr Bauchgefühl und nahm kein Blatt vor den Mund. Ich konnte mir ausmalen, was sie Jarvis verklickert hatte. Doch Dex war nicht erwischt worden. Die Polizei wusste auch nichts. Damit gab es nur Vermutungen, aber keine Beweise, und dabei würde ich es auch belassen. Ich schwärzte meine Freunde nicht an, aber meine Mom würde es tun, um mich zu beschützen.
»Mom, es … es tut mir leid«, brachte ich daher nur hervor und wandte den Kopf ab.
Ein sanfter, aber bestimmter Griff an meinem Kinn hielt mich zurück. »Kingsley, sieh mich an. Sieh mir in die Augen und sag mir, was vorgefallen ist. Ich kann dir sonst nicht helfen, hijo. Ich weiß, dass dir deine Freunde viel bedeuten. Ich weiß, dass Dex wie ein Bruder für dich ist und er es schwer hat, doch wirf deine Zukunft nicht für ihn weg. Du musst eine Aussage machen, und dann verhandeln wir mit Direktor Jarvis. Er mag dich von der Schule schmeißen können, aber vielleicht können wir die Klage abwenden. Und ist dir klar, dass Columbia die Zusage zurückziehen könnte? Mit einer Strafanzeige könntest du deinen Studienplatz verlieren.«
Stumm erwiderte ich ihren Blick. Ihr Puls ging so schnell, dass ich ihn durch ihre Hand an meinem Kinn spürte. Plötzlich hatte ich das Gefühl zu fallen. Ich sah meine Zukunft vor mir. Die Columbia, mein Kunststudium, die WG mit Dex und Chen, all das schien in diesem Augenblick durch meine Finger zu bröckeln wie frischer Sand, und ich wusste nicht, wie ich es aufhalten konnte.
»Ich kann nicht, Mom«, sagte ich leise. »Du weißt, wie Jarvis zu Dex ist. Du weißt, was er durchmacht. Ich kann ihn nicht ans Messer liefern. Außerdem ist es nicht gänzlich seine Schuld. Ich war ebenfalls dabei, ich hätte ihn aufhalten können, habe es aber nicht getan. Ich habe das Graffito gesprayt. Mich trifft genauso viel Schuld wie ihn, und wenn ich die Strafe dafür ausbaden muss, dann ist es eben so.«
»Du wirfst deine Zukunft weg! Du wirst alles verlieren. Selbst wenn die Columbia dich nicht exmatrikuliert, wird die Klage uns das angesparte Collegegeld kosten. Ich könnte dir dein Studium nicht mehr finanzieren«, brüllte sie mich an, und ich war in diesem Augenblick so unpassend erleichtert, dass sie mich endlich anbrüllte, dass ich vollkommen ruhig blieb, als ich ihre Hand von meinem Kinn nahm und sie sanft drückte.
»Mom, egal was jetzt passiert, ich verliere weit weniger, als Dex leiden würde. Ich habe dich, und wenn mich die Columbia nicht nimmt oder uns das Geld ausgeht, werde ich mich eben an einer anderen Universität bewerben, einen Studienkredit aufnehmen und mit einem Nebenjob abbezahlen. Ich überstehe das, aber Dex nicht, das weißt du auch. Glaub mir, ich verstehe, was du sagst, und ich weiß, was du von mir willst, aber ich kann es nicht tun. Ich … ich … Es tut mir leid.« Am Ende brach mir die Stimme weg, während meiner Mom Tränen über die Wagen liefen, die durch das einfallende Licht bunt schimmerten. Der Regen prasselte unablässig gegen das Autodach, als würde der Himmel mit ihr weinen.
»Mein dummer, sturer, stolzer, loyaler Junge«, brachte sie krächzend hervor.
Meine Mundwinkel zuckten. Es sollte wie ein Lächeln aussehen, doch es ähnelte wohl eher einer Grimasse.
»Ist das dein letztes Wort?«
Ich atmete einmal tief durch und nickte.
Sie tat es mir gleich und trocknete sich die Tränen ab. »Ich respektiere das, hijo, aber ich bin deine Mama und werde darum alles tun, um dich zu beschützen, selbst wenn es vor dir selbst ist.«
Ich runzelte die Stirn und rutschte unruhig hin und her. »Kommt jetzt der Punkt, an dem du mir den Hausarrest meines Lebens verpasst?«
»Nein, das ist der Punkt, an dem ich dich nach Kanada zu deinem Vater schicke.«
»Du … Was?«
Ich fuhr so kerzengerade in meinem Sitz auf, dass mich der Gurt ruckartig strangulierte. Schnell ließ ich mich wieder zurücksinken, während ich meine Mom fassungslos anstarrte. Sie schob stur das Kinn vor und richtete sich die Frisur. Allerdings beobachtete sie mich dabei aus dem Augenwinkel.
»Ich habe nach Direktor Jarvis’ Anruf auf der Fahrt zum Revier nachgedacht, hijo, und ich glaube, du bist schon zu lange in dieser Stadt. Deine Freunde haben einen schlechten Einfluss auf dich, du brauchst eine Luftveränderung. Wenn du dich weigerst, eine Aussage zu machen, sind uns, bis wir Genaueres bezüglich der Klage und der Columbia wissen, ohnehin die Hände gebunden. Aber ich lasse dich sicher nicht zu Hause herumsitzen und an die Decke starren. Ich schicke dich zu deinem Vater. Ich werde ihn heute noch anrufen. Er wird sich bestimmt freuen, dich zu sehen, und dir wird es guttun rauszukommen.«
»Das … das ist doch nicht dein Ernst! Du kannst mich doch nicht wegschicken, Mom. Ausgerechnet nach Kanada. Die haben nur Scheißbären und Scheißschnee!«
»Tja, dann sollten wir dir vielleicht ein Paar warme Stiefel kaufen«, sagte sie trocken, startete den Motor und fuhr los.
Ich starrte an meine Zimmerdecke und warf den Tennisball. Der Clou dabei war, den perfekten Winkel zu treffen, in dem der Ball erst an der Decke, dann an der Wand und danach auf dem Boden aufprallte, um in perfektem Bogen in meine Hand zurückzuspringen. Ich hatte das mittlerweile schon so oft getan, dass an der Stelle eine Delle im Verputz war.
Mein Digitalwecker zeigte 4 Uhr 30 morgens an. Meine Augen brannten. Doch ich konnte nicht schlafen. Neben mir stand ein ausgetrunkener Becher Kakao. Die braunen Schlieren klebten noch am Tassenrand, und meine Zunge fühlte sich von dem Zucker ganz pelzig an.
Die Stimme meiner Mom drang zu mir ins Zimmer. Sie telefonierte mit meinem Dad, und wie immer, wenn sie mit meinem Dad sprach, klang sie gleichzeitig wütend und liebevoll.
Katong. Der Ball prallte gegen die Decke, dann an die Wand und dann auf den Boden, ehe ich ihn geschickt wieder auffing.
Die Scheidung meiner Eltern lag nun knapp zehn Jahre zurück. Ich konnte mich kaum noch an die Zeit davor erinnern, als Dad noch bei uns gewesen war. Woran ich mich jedoch erinnern konnte, waren sein breites Lächeln und die starken Arme, mit denen er mich wie eine Feder hatte hochnehmen können.