Klapperbein - Peter Winter - E-Book

Klapperbein E-Book

Peter Winter

0,0

Beschreibung

Es sind jene auf der Schattenseite unserer Gesellschaft, denen der Autor in seinen scharf gezeichneten Miniaturen Gesicht und Stimme gibt. In der Summe ergeben diese einzelnen Facetten ein nachdenkliches und sozialkritisches Bild einer Gesellschaft, in der viele durch die Maschen des Sozialnetzes fallen und im Nichts enden.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 56

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Erkenntnis schafft der Verstand, Sinn findet jedoch nur das Herz im Labyrinth des Lebens.

In Liebe meiner Ehefrau Erika Winter

Inhaltsverzeichnis

Augen

Die Amsel

Flucht

Opfer

Klapperbein

Der Nachttrinker

Goldfinger

Die Entscheidung

EUMEL

Der Kürbis

Roland

Seelbach

Augen

D iese Augen! Im Zwielicht der Morgendämmerung erkenne ich die Augäpfel, zwei gelborange Flecken mit dunklen Punkten. Ich spüre, wie mir Wärme über den Handrücken rinnt, wie die Blutstropfen vom staubigen Ufersand aufgesogen werden. Tropf, Pause, tropf.

Diese Stille! Vor der rötlichen Helle des heraufziehenden Tages bleibt seine Gesichtsfläche gestaltlos dunkel, verschwimmt sein Ich im Schwarz des mannshohen Schilfgrases. Der Tod hat keine Eile. Im Schilf knistert bereits die trockene Hitze des neuen Tages, knackt die erbarmungslose Sonnenglut der vergangenen Tage. Die Zeit klemmt! Die Welt hat sich in diesem einen Augenblick verfangen, die Sonne verharrt unbeweglich in den grauen Spitzen des schwarzen Schilfmeeres. Die Zeit rinnt mir unmerklich langsam über das Kampfmesser den Unterarm entlang. Auf der blutigen Kampfjacke sirren Moskitos. Merde! Wir stehen da, zwei erstarrte Tänzer des Todes.

Ein Perlhuhn raschelt wenige Schritte entfernt unsichtbar im ausgedörrten Staub, hält inne, raschelt weiter. Unendlich langsam schleicht sich der Tod verstohlen in diesen baumlangen Kerl. Ein unmerkliches Zittern im Genick, ein Zucken der Augenflecken, ein gehauchtes Röcheln. Aus dem zusammensinkenden Brustkorb zerrinnt das Leben: Sägemehl, aus einer aufgeschlitzten Puppe! Endlich ist sein Leben ins Dunkel des Schilfgrases entschwunden. Ich lasse den Körper des toten Rebellen behutsam zu Boden gleiten. Die beiden hellen Flecken sind eins geworden mit der Finsternis.

Diese Augen! Dieser katholische „Sei-Dankbar“-Blick! Bigotte Heilsgewissheit in beigen Gesundheitsschuhen. Fleischgewordener Rosenkranz im hellgrauen Sommermantel. Seelenheil kleppert im weißen Pappbecher des Knieenden: 50 Cent Moral. „In Ihrem Alter...“ Die schrille Stimme der Rentnerin überschlägt sich in meinem Kopf zu einem aberwitzig kreischenden Gezeter. Weihrauch wallt als billiger Lavendelduft zu mir herab. Diese Hitze! Die betonierten Bodenplatten vor den Kaufhausarkaden braten mich in der Mittagshitze. Der Schatten verstellt von einem Cherubin mit seinem Betteln-Verboten-Blick: Security! Kein Zugang zum Paradies. Mein ausgedörrter Mund ist verpappt, ein Bier täte jetzt gut. Aber da kann ich meinen Becher gleich wegwerfen! „In Ihrem Alter...“ Ein schräges Ave-Maria dreht sich hinter meinen Augen, immer schneller, immer höher. Die Posaunen des Jüngsten Gerichts mit der Kreischstimme der Kirchenwachtel. Ich hebe den Kopf und schaue der Alten direkt in die Augen. Wimpernlose, wässrigblaue Missbilligung. In meinem versoffenen Hirn vervielfacht sich das verschwommene Bild der alten Betschwester: Die Dreieinigkeit trampelt mir als zeternde Polonaise im Kopf herum. Nahkampf. Ein mattes Knacken und dieser frömmelnde Schreihals stünde vor seinem gepriesenen Erlöser. „In Ihrem Alter...“ Ich senke möglichst demütig den Kopf und murmle: „Vergelt's Gott!“

Diese Augen! Der leere Blick klebt an dem staubigen Oleander über meinem Kopf. Der rostrote Lippenstift schmiert ihren Mund vom Kinn bis zur Nase. Ein Körper verkrampftes Hartholz. Die linke Brust quillt unter dem verrutschten BH heraus. Ihre Angst atmet, stoßweise, zitternd, gepresst. „Bitte...“

Mein Schädel ist mit hellgrauer Stahlwolle ausgepolstert. Die Nachmittagshitze verbrennt die Blumenbeete, bringt das Eisenknäul in meinem Kopf zum Glühen. Gedanken kratzen an meinen Schläfen. Es stinkt in meinem Hirn. Ausgedorrte Blätter, getrocknete Pisse, verschwitztes Parfum. Ihre Haare, wahrscheinlich Moschus. Vermischt mit Pennergeruch: Alkohol, Schweiß und Dreck. „Bitte...“

Ihre Arme und Beine grotesk abgewinkelt, durchgestreckt. Handtellergroßer hellgrauer Staubflecke auf der zitronengelben Seidenbluse. Die Hände krampfen sich zuckend in den Parkrasen. Der Reißverschluss ihres Rocks kratzt mir die Leiste auf. Diese Stille! Ich spüre das warme Aufgeben ihres Körpers, Blut vermutlich. Eine staubgraue Amsel kommt raschelnd unter den Strauch gehüpft, bleibt eine Armlänge von ihrem Kopf entfernt stehen. Diese strichdürren Beine, der schiefgestellte Kopf, das ängstliche schwarze Knopfauge. „Bitte...“

Die Amsel flattert erschrocken weg. Die Luftschläge ihrer leise klappenden Flügel verheddern sich in der Stahlwolle. Diese Hitze! Ich rolle mich zur Seite. Die Frau klaubt ihre Bluse vom Boden und kriecht aus dem Busch.

„Diese Augen! Es war dieser Blick... Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll!“ Die junge Polizistin schluchzt, rotäugig, verrotzt. Von einem toten Penner überforderte Staatsmacht. Der seltsam, fast artistisch in sich verdrehte Körper auf dem staubigen Parkweg. Die eingetrocknete Blutlache, das grün schimmernde Fliegengeschwader.

Notwehr! Der fahrige junge Kollege versucht, den Ermittlern den Tathergang zu schildern: „Ich stech' euch ab...“ Sein abwesender Blick, an den jungen Beamten vorbei, seine gleichgültige Stimme. Die ins Ungewisse ausgesprochene Drohung, noch vor der Aufforderung, sich auszuweisen. Ex-Legionär, großes Kampfmesser: Der Verdacht war konkret, die Zeugin hatte den Mann identifiziert! Die Kollegin erstarrt, handlungsunfähig. Hoheitliches Handeln in Angstlähmung. Der Kollege nestelt fahrig seine Pistole aus dem Halfter, grapscht daneben, die Waffe liegt im Staub. Das Kampfmesser schlägt gelangweilt Saltos in der Hand des Mannes. Diese Stille! Der Kollege hebt die Waffe auf, blitzschnell, zitternd, zielt vorschriftsmäßig mit beiden Händen. Das Messer schlägt weitere Saltos. Schweißnasses Stottern: „Lassen Sie sofort das Messer fallen!“. Der obligatorische Warnschuss klemmt. Schlotternde Angst, der Kollege drückt immer wieder den Abzug. Nichts. Das Messer rotiert mit gleichmäßiger Beiläufigkeit.

Diese Hitze! Schweißflecken, Angst breitet sich dunkel auf der Uniformjacke aus. „Du musst durchladen...“ Gleichgültige Stimme aus dem Irgendwo. Das Messer schlägt weiter Saltos. Unbeteiligter Blick misst den Kollegen. Hektisches Gezerre, Metall klackt. Der Blick folgt dem Warnschuss zum Himmel. Aufgescheuchtes Vogelgeflatter durchquert das Blickfeld. Noch ein Salto. Noch ein Schuss. Ein dünnes, schwarzrotes Rinnsal durchzieht die Abenddämmerung.

Die Amsel

D er grünhügelige Horizont schliert diesig verschmiert. Obwohl um die Mittagszeit, ist es nicht heiß. Ein böiger Gegenwind bläst von den Hügeln Kühle in den sonnigen Frühsommertag. Bekir spuckt, flucht mit schweißrotem Kopf, weil er gegen die verdammten Windböen anradeln muss. Die kniehohen Maispflanzen rascheln schadenfroh mit ihren grünen Ärmchen. Dann sieht Bekir den toten Vogel vor sich auf dem staubigen Asphalt. Mit einem quietschenden Scheppern bremst er das Fahrrad ab und bleibt schnaufend direkt vor dem toten Vogel stehen.

Schreibengel-Amsel. Bekir schießt jene tote Amsel durch den Kopf, die er und sein Bruder Khalil damals auf dem schlaglöchrigen Dorfweg gefunden hatten. Damals, das war in einem Irgendwo-Vorleben in einer Irgendwann-Vorzeit. Damals, das waren zwei übermütig heimrennende Schüler unter hitzeflirrendem Balkanhimmel, der weiter reichte als der Blick der Menschen. Damals beugten sich die beiden tief über den toten Vogel, der vor ihnen im Straßenstaub lag. „Die da haben bestimmt auch zwei Schreibengel abgeholt – zwei Amsel-Schreibengel...“ Khalil lacht zu laut über seinen verstörenden Witz: „... zwei Amsel-Schreibengel! Haha...“