Der Cocktail - Peter Winter - E-Book

Der Cocktail E-Book

Peter Winter

4,9

Beschreibung

Ist sie die Liebe oder das Glück meines Lebens? Bringt mir die Sieben Glück in der Liebe? Kann eine Zugverspätung mein Leben verändern? Es sind Alltagssituationen und zugleich die ewigen Themen menschlicher Existenz, die der Autor in seinen spannenden, nachdenklichen und hintersinnigen Geschichten unter philosophischen und gesellschaftlichen Aspekten mit einem humoristischen Augenzwinkern erzählt. Ob Elternrolle oder Midlife-Crisis, Ichfindung oder Beziehungsprobleme - die Themenvielfalt dieses Buches ist so bunt wie das Leben selbst: ein Kaleidoskop menschlichen Seins.

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Seitenzahl: 64

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Großen Dank schulde ich meiner Ehefrau Erika Winter für die vielen anregenden Gespräche, in denen diese Geschichten geboren wurden.

Inhaltsverzeichnis

Der Cocktail

Der Fleck

Ding-Dong

Sieben

Die Tochter

Herzstillstand

Steine

Frieden

Der Ziegeneimer

Das Fenster zum Hof

Zugverspätung

Der Cocktail

Robert?“ Der Pianist zuckt zusammen: Inge. Das ist ihre Stimme. Mit dieser Stimme sprach einst alles Glück dieser Welt zu ihm. Und später aller Schmerz. Inges Stimme klingt heute reifer, härter und – unsicher. Sie, die ihre Überlegenheit damals immer selbstbewusst mit keckem Lachen und herausforderndem Tonfall zur Schau gestellt hat, unsicher?

„Inge?“ Was für eine blöde Frage. Er würde ihre Stimme immer und überall sofort wieder erkennen. Und er weiß, dass sie das auch weiß. Er nutzt die letzten Takte des Musikstücks, um seine durcheinander stolpernden Gedanken und Gefühle zu entwirren. Eine kurz angedeutete Verbeugung ins Rund der Hotellobby, dann klappt er den Flügel zu und steht auf. Er lächelt Inge zu: „Komm, wir setzen uns an die Bar...“

Während er ihr zum Bartresen folgt, mustert er sie. Die noch immer attraktive Figur im graublauen Kostüm, der blonde Pferdeschwanz inzwischen ein flotter Bubikopf und der schwungvoll wippende Gang – Inge, noch immer ein Männertraum, inzwischen als taffe Geschäftsfrau.

Am verwaisten Bartresen bestellen sie zwei Cocktails und sehen wortlos dem Barkeeper zu, der seine artistische Mix-Show abzieht. Dazwischen grinst er immer wieder breit zu Inge hinüber, schließlich gilt ihr das ganze Spektakel. Aber Inge blickt abwesend durch ihn hindurch. „Zweimal 'Sunshine on the beach' die Herrschaften!“ Der Barkeeper stellt die Cocktailgläser auf den Tresen und verschwindet mit dem klebrigen Mixbecher in die Küche. Das Klirren der Eiswürfel im Glas bringt Inge an den Tresen zurück. Sie prostet Robert wortlos zu und nippt kurz. Er hebt ebenfalls sein Glas, nickt ihr nachdenklich zu und betrachtet sie weiter stumm. Das Gedankenkarussell in seinem Kopf macht ihn sprachlos.

Mit einer schwungvollen Drehung wendet sie sich Robert zu und beginnt mit einem schnippischen Lächeln, bemüht, unverbindlich Konversation zu treiben: „Seit wann gibt der 'Trompeter von Säckingen' den Barpianisten...?“

Der Trompeter von Säckingen... Der lebte in einer anderen Zeit, in einem andern Leben. „Seit Du..., seit wir..., seit damals spiele ich nur noch Klavier. Heute Abend bin ich für einen Freund eingesprungen. Und du? Was treibt Dich zu so verlorener Stunde an so einen verlorenen Ort?“ Sie weicht aus: „Bin geschäftlich in der Stadt und hier mit einem Bekannten verabredet...“ Die Situation ist ihr peinlich. Es ist schon unangenehm, von irgend einem weitläufig Bekannten beim Treffen mit einem professionellen Begleiter angetroffen zu werden. Aber jetzt Robert... Sie spürt das Kribbeln auf dem Rücken und das ins Gesicht aufschießende Blut. Sie ist wieder das kleine Mädchen, das von Mama mit dem knallroten Lippenstift vor dem Spiegel überrascht wird.

Sie weiß, dass Robert dieses Schämen spürt. Hastig versucht sie, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken: „Ist schon über zehn Jahre her, das mit uns... Was ist eigentlich aus der Dunkelhaarigen geworden?“

„Aus Miriam? Meine Frau. Wir hatten im Mai unseren achten Hochzeitstag. Und ihr, Du und Martin - seid ihr noch zusammen?“

„Nein, wir haben uns nach vier Jahren getrennt, unschöne Scheidung. Zum Glück keine Kinder. Seither nichts Festes mehr.“

Robert mustert Inge von der Seite, beide schweigen. Sie hat den Blick starr auf die verspiegelte Flaschenparade an der Wand hinter dem Bartresen gerichtet. Es ist ihr immer noch peinlich, Robert ins Gesicht zuschauen. Leise spricht sie, mehr zu den Flaschen als zu Robert: „Ich habe mich manchmal gefragt, wie das mit uns gelaufen wäre...“ Und dann, nach einer Weile, tonlos in sein Schweigen hinein: „Wahrscheinlich habe ich mich damals falsch entschieden ...“

Robert rührt grüblerisch in seinem Cocktail: „Ist das heute noch wichtig?“ Sie fixiert weiter die bunten Flaschenetiketten. Dann wendet sie sich Robert mit einer energischen Drehung zu: „Du liebst mich noch immer - stimmt's?“ Aber es klingt kein Triumph in ihrer Stimme, nur schmerzliche Wehmut.

Robert sieht ihr lange ernst in die Augen: „Ich hatte Dir damals versprochen, dass ich dich immer lieben werde. Und das gilt auch heute noch. Aber das gilt nur für das, was du damals so plötzlich aufgegeben hast: Uns und unser gemeinsames Leben! Seit du damals Schluss gemacht hast, existiert dieses gemeinsame Leben nur noch als Hypothese, als Irrealität. Inzwischen sind drei Leben daraus geworden: Dein Leben und mein Leben als Realitäten, unser gemeinsames Leben als Utopie. Meine Liebe für dich existiert also noch, aber utopisch im Nirgendwo.“

Nach einer längeren Pause fährt Robert leise fort: „Wir hatten uns damals wenig Gedanken über die Liebe gemacht! Inzwischen bin ich fest davon überzeugt, dass jeder Mensch im Leben einen Menschen trifft, der das für ihn ist, was man landläufig die 'Liebe des Lebens' nennt. Ob mit zwei, mit zwanzig oder mit sechzig: Einmal getroffen, bleibt sie das, bis man stirbt. Dumm nur, wenn man sich trifft und es dann nicht passt.“

„Wie bei uns ...“, murmelt Inge.

„... aber zum Glück“, so Robert weiter, „ist diese 'Liebe des Lebens' nicht zwangsläufig auch das 'Glück des Lebens': Die 'Liebe deines Lebens' bestimmt das Schicksal, das 'Glück deines Lebens' bestimmst du selbst. Ob du mit einem Menschen glücklich wirst, hängt von zwei Dingen ab: Pflicht und Vertrauen. Zugegeben, das klingt weniger nach romantischer Träumerei, sondern mehr nach handfestem Tun. Aber nur wenn beide die gegenseitige Verpflichtung auf sich nehmen, für den anderen lebenslange Verantwortung zu übernehmen, wächst jenes bedingungslose gegenseitige Vertrauen, das im Laufe der Zeit zur tiefen, reifen Liebe wird.

Heute steht für mich fest: Ja, du bist die 'Liebe meines Lebens'. Und ich war damals, ohne es zu wissen bereit, mich auf diese Liebe mit dir einzulassen. Du hingegen warst bloß verliebt. Aber das war damals. Heute ist das nur noch Teil unserer gemeinsamen Utopie. Die Realität ist: Ich liebe Miriam und bin glücklich.“

Robert verstummt, schlürft an seinem Cocktail, sein Blick wandert ebenfalls zu den Flaschen. Nach einer längeren Pause fährt er fort: „Es ist sonderbar: Wenn du an einem bestimmten Punkt in deinem Leben eine Entscheidung triffst, wird dein ganzes Leben ein anderes. Statt eines Inge-Lebens ist meines zu einem Miriam-Leben geworden. Ich hatte Glück, Miriam und ich haben es geschafft, uns zu lieben und glücklich zu sein.“

Inge hat schweigend zugehört. „'Liebe meines Lebens' - das wird's wohl gewesen sein. Kannst du dir ausmalen, wie bitter es für mich ist, dass ich erst Jahre später erkannt habe, dass du diese 'Liebe meines Lebens' bist? Und weil ich nicht begriffen hatte, dass Glück auch ohne diese 'Liebe des Lebens' funktionieren kann, ist mein Leben leer geblieben. Anfangs haben mich beruflicher Aufstieg, Geld und Affären darüber hinweggetäuscht. Doch mit jedem Tag, den ich älter werde, wächst meine Verzweiflung. Die Einsicht tut weh, dass mein ganzes Leben im Grunde eine Kette vertaner Gelegenheiten ist. Die ganzen Jahre, die mein glückliches Leben hätte sein können, sind heute unwiederbringlich Tag für Tag falsch verlebt...“

Robert trinkt aus. Im Gehen wendet er sich Inge nochmals zu: „Vielleicht liegt unser Barkeeper mit seiner Whiskeyweisheit gar nicht so falsch: 'Das Menschenleben ist wie ein Cocktail: Manche trinken sich süffig, aber du wachst am nächsten Tag verkatert auf, andere schmecken bitter, tun dir aber gut...' Leb' wohl, Inge.“

Der Fleck

Er ist nur nochmals kurz ins Zimmer gekommen, um die Fenster zu schließen. Mitten im Raum ist er stehen geblieben. Etwas stört. Etwas ist anders als sonst. Etwas wirkt fremd, irritierend, ungewohnt. Er steht im Zimmer seines Sohnes, dem Kinderzimmer, ab heute: dem ehemaligen Kinderzimmer.