Klärungen. Offener Brief an Hermann Grafen Keyserling - Thomas Mann - E-Book

Klärungen. Offener Brief an Hermann Grafen Keyserling E-Book

Thomas Mann

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Beschreibung

Der Privatphilosoph und Abkömmling einer baltischen Adelsfamilie Hermann Graf Keyserling war nach dem Ersten Weltkrieg enteignet worden und setzte sich in der Folge engagiert für eine Verbesserung der Verhältnisse ein, was nach seinem Verständnis bedeutete: Ein neuer Obrigkeitsstaat, keine parlamentarische Demokratie. Keyserling bewunderte Thomas Mann, was von diesem zwar nicht in der gleichen Weise erwidert wurde, dennoch war Keyserling ab dem Herbst 1919 mehrfach zum Tee in der Poschingerstraße eingeladen. Insbesondere sein Essay ›Was uns not tut, was ich will‹ entsprach in großen Teilen auch Manns politischer Haltung und bot diesem damit sogar die Gelegenheit für eine inhaltliche Korrektur der sich allzu monarchistisch und patriotisch entwickelnden Rezeption seiner ›Betrachtungen eines Unpolitischen‹ (1918). Insofern kann der offene Brief an Keyserling auch als eine Art Nachwort der ›Betrachtungen‹ gelesen werden. Mann verfasste ihn um den Jahreswechsel 1919/1920 herum und veröffentlichte ihn in der Zeitschrift Das Tage-Buch vom 31. März 1920.

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Thomas Mann

Klärungen. Offener Brief an Hermann Grafen Keyserling

Essay/s

Fischer e-books

In der Textfassung derGroßen kommentierten Frankfurter Ausgabe(GKFA)Mit Daten zu Leben und Werk

Klärungen

OFFENER BRIEF AN HERMANN GRAFEN KEYSERLING

Der Plan, von dem Sie mir Mitteilung zu machen die Güte hatten, und dessen Verwirklichung durch den lebhaft empfänglichen Sinn eines deutschen Fürsten gesichert scheint, nämlich in Darmstadt eine auf Ihren Namen zu taufende »Stiftung für freie Philosophie« zu errichten, eine Anstalt ungeschauten Typs, die Heimstätte und Schule nicht eigentlich wissenschaftlicher Forschung, sondern schlechthin der Weisheit wäre: – dieser Ihr Plan beschäftigt mich angelegentlich, seit ich Ihren Brief und nun auch wiederholt die bedeutende Druckschrift gelesen, worin Sie mit soviel leidenschaftlicher Präzision und logischer Energie Ihre Idee begründen und entwickeln. Lassen Sie mich Ihnen danken für die tiefe geistige Bewegung, die Ihr ordnendes Denken und Ihr eiferndes Wollen mir mitteilten, und lassen Sie es mich öffentlich tun in der Hoffnung, diese Bewegung damit ein wenig weiterzuleiten, Teilnahme und Zustimmung vielleicht da und dort zu erregen oder zu beleben. Denn der Eindruck, den die Nachricht, ihrer Neuheit und Schönheit ungeachtet, auf unsere Oeffentlichkeit bisher gemacht, ist befremdend gering, soviel ich sehe. Einige Zeitungen vermerkten sie knapp, unter anderen, nicht gerade ebenbürtigen, in Perldruck, das war alles. Und doch handelt es sich nicht um ein Unternehmen irgendeines obskuren Querkopfes und unbeauftragten Beglückers, sondern der Name des Mannes ist im Spiel, der uns, es sind wenige Monate, eines der reichsten Bücher der letzten Jahrzehnte, das »Reisetagebuch eines Philosophen« schenkte, und dem die Nation in ihrer dunkelsten Stunde den geist- und trostreichsten Zuspruch, die {275}bewunderungswürdige Abhandlung von »Deutschlands wahrer politischer Mission« zu danken hatte.

Es war in der Tat diese Schrift mit ihrem Gedränge von befreiend wahren und unendlich sympathischen Gedanken, die mich ursprünglich zu Ihnen führte und jene ehrerbietige Freundschaft für Ihre geistige Existenz in meinem Herzen weckte, die nun den Grund abgibt für das Vertrauen, womit ich Ihr Planen und Unternehmen im Wirklichen begleite. Ich will in ganz großen Zügen den Gedankengang andeuten, der Sie zu Ihren Entschlüssen führte.

Sie stellen fest, daß seit dem 18. Jahrhundert der sich immer mehr emanzipierende Verstand nach und nach die meisten der seelischen Organe und Gestaltungen, die den Menschen die innere Form gaben, als Vorurteils- oder Zufallsgebilde erwiesen, damit aber geschwächt und schließlich abgelöst hat. Nichts von dem, was die europäische Bildung ausmacht, braucht bestehen zu bleiben; denn der Glaube an alles geschichtlich Gewordene ist verloren gegangen, und ohne Glauben »gibt es keine psychische Wirklichkeit«. Einer wilden, sinnlosen und geistig-panikartigen Selbstsucht stehen keinerlei Hemmungen mehr entgegen, die einen Verlaß böten, keine Dogmen, keine Glaubenssätze, keine Ehrbegriffe. »Und da nur die höchstentwickelte Seele ohne Namen und Form ihre Vollkommenheit finden kann, so bewirkt dies einen kaum dagewesenen Niedergang alles Seelenlebens.«

Alle Reaktions- und Restaurationsbewegungen gegen diesen Zustand, seien sie politischer, religiöser oder ethischer Natur, sind mißverständlich und verfehlt; denn erstens sind viele der alten Lebens- und Seelenformen so gründlich tot, daß Wiederbelebungsversuche müßig sind; und zweitens ist gar nicht zu leugnen, daß der emanzipierte Intellekt, soweit seine Sphäre in Betracht kommt, »absolut im Recht ist« – und zwar in {276}negativer wie in positiver Beziehung. Daß er den Fortschritt, um den er kämpft, nicht wirklich herbeiführt, liegt nicht an seinen Programmen, sondern an anderen, außerintellektualen Umständen. Wer nach der Restauration einer Seelenform strebt, die als solche zwar besser war, als die gegenwärtige Formlosigkeit, die aber auf Geistesblindheit beruhte, verkennt, daß vielmehr die Bildung neuer Harmonie vonnöten ist: einer Seelenform, die einer weiteren und tieferen Geisteseinsicht gemäß wäre. Und während dem nichts als revolutionären Intellekt ein nur vorurteilsfreies Menschentum als Ziel vorschwebt, handelt es sich, ideal gesprochen, vielmehr um die Gewinnung eines Menschentums, »dessen Vorurteile sämtlich zugleich richtig waren.« Weder die Revolution als Dauerzustand noch die Reaktion ist das zu Wünschende. Was not tut, ist eine neue Synthese von Geist und Seele.

Diese Neu-Verknüpfung, die die Genesung der kranken Menschheit bedeuten würde, muß aber heute vom Geiste