Klasse! - Susanne Dorendorff - E-Book

Klasse! E-Book

Susanne Dorendorff

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Beschreibung

Schonungslos! Ehrlich! Brandaktuell! Warum haben viele Menschen Probleme mit dem handschriftlichen Schreiben? In diesem Buch steht die Antwort. Eine Grundschule an der stürmischen Küste: Gegen seinen Willen soll Fritz aus seinem Aufsatz vorlesen und flieht verzweifelt aus der Schule. Dabei trifft er auf den alten Fischer Hanskanns, der ihn überredet, mit ihm zurückzukehren. Die Lehrerin, Anne Schickmichheim, sieht sich zusammen mit ihrem angehenden Lehrerkollegen Gerd mit einer Situation konfrontiert, für die Fritz nichts kann und über die gesprochen werden muss, und zwar dringend!

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Seitenzahl: 190

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Inhalt

Frau Schickmichheim

In der Klasse

Auf dem Weg zur Klippe

Warum ist Fritz weggerannt?

Mathis denkt nach

Mit Gerd und Klagenfort im Pausenraum

Gerd spricht mit Ole

Hanskanns und Uli morsen

Gerd spricht mit Uli

Fritz’ Geheimtür

Der Hans der kanns

Anne und Gerd in der Teeküche

Lehrerinnen-Teil / Anne erinnert sich

Eltern & Lehrerinnen-Teil 1

Eltern & Lehrerinnen-Teil 2

Sie hat es begriffen! Jungs – alles wird gut …

Inferno-Teil / Gerd und Anne sagen, wie’s ist

Die Schrift der Gelehrten taucht auf

Gastkommentar …

Glossar

30 handgeschriebene Anschauungsbilder (von Aa bis ßü) mit 1.770 Buchstabenverbindungen

Frau Schickmichheim

Wenn ich daran denke, wird mir immer noch schlecht.

»Fritz, du stellst dich jetzt hin und liest deinen Aufsatz vor!«, sagt sie, und dann noch: »Aber laut!«

Sie streckt mir mein Heft entgegen, ich nehme es in die Hand und fange an zu blättern, schiebe im Sitzen ganz laut meinen Stuhl nach hinten und stell mich hin. Ich weiß genau, was jetzt kommt: In meinen Augen steigt von innen Wasser hoch. So hoch, dass ich nichts mehr sehen kann. Na ja, nichts ist vielleicht etwas übertrieben, aber fast nichts. Jedenfalls sehe ich nichts mehr richtig. Was in meinem Heft steht, ist ja nicht nichts. Es sind mit Tinte geschriebene Gedanken. Die kann ich jetzt nicht mehr lesen. Sie sind nur noch ein blaues Gekritzel, das im Wasser schwimmt. Bloß dass das Wasser in meinen Augen und nicht auf dem Papier ist. Aber es sieht so aus – oder? Was ich geschrieben hab, ist auf einmal ganz nass. Meine Unterlippe zittert schon, das Heft und meine Hände, die das Heft halten, zittern sowieso, und meine Knie schlottern auch. Ich werd verrückt.

Jedes Mal, wenn sie das mit mir macht, fühle ich mich wie eine Ameise. Oder wie ohne Kopf. Ich kann dann nicht mehr denken und mich auch nicht mehr bewegen.

Dann bin ich ein zermatschter Haufen oder höchstens nur noch die Verpackung von mir. Eine Verpackung, in der mein Herz schlägt wie wild. Und die Zunge anschwillt und sich anfühlt wie Pappe. Weil ich keine Spucke mehr hab.

Jetzt bloß nicht weinen. Nicht vor der ganzen Klasse.

Nur mal kurz die Nase hochziehen. Dieses blöde Wasser in den Augen nervt. Aber daran liegt es nicht, dass ich meinen Text nicht lesen kann. Daran liegt es nicht.

Sie lachen schon. Erst die an den vorderen Tischen, dann die hinten und zuletzt lachen alle. Nur der schwarze Uli, mein Tischnachbar, der lacht nicht. Der guckt hoch zu mir und seine Augen sagen: »Halt durch!«

Die Frau mit den Heften grinst mich an: »Warum liest du nicht? Fang endlich an – wir warten!«

Jedes Wort ein Peitschenhieb. Das sagt man, wenn Wörter ins Herz schneiden. Und das tun sie. Ganz tief.

Sie weiß das und macht das extra. Weil sie mächtig ist.

Mächtiger als sie sind nur noch die Rektorin und Hanskanns, der alte Seebär. Der ist aber nicht wirklich ein Bär, sondern Seenotrettungskreuzerkapitän a. D. – a. D. heißt außer Dienst, weil er im Ruhestand ist.

Ich bin nicht in Ruhestand, ich geh zur Schule und habe in der ersten Stunde Deutsch bei Frau Schickmichheim, das ist die Frau, die mir mein Heft entgegenstreckt, als wollte sie mir eine kleben. Sie ist lulatschiglang und spindeldürre wie ein Hafenkran. Grad klemmt sie ihr kilometerlanges Haar hinter die Ohren. Ich glaube, das beruhigt sie. Dadurch stehen ihre fahrradreifengroßen Ohrringe auf beiden Seiten vom Kopf ab wie Handgriffe. Kann man schön zum Hin-und-her-Schütteln nehmen. Jetzt beugt sie sich zu mir vor und ihre Haare baumeln wie schlappe Spaghetti runter bis fast an meine Tischkante. Gleich klatscht es! Nein, doch nicht.

Sie hat ihren helllila Seidenschal zweimal um den Hals gewürgt und dabei die Haare zusammengeknautscht.

Den Schal trägt sie bestimmt auch im Bett. Ich hab sie noch nie ohne gesehen. Und der schwarze Kartoffelsack, in dem sie steckt, der verhüllt ihre beiden Kürbisse. Ihre Füße stecken in Hackenschuhen, die aussehen wie Wurfgeschosse. Da muss man aufpassen, dass die einem nicht im Kopf stecken bleiben, wenn sie damit wirft. Hat sie aber bis jetzt noch nicht.

Ich weiß nicht, was größere Löcher im Kopf macht: die Absätze ihrer Hackenschuhe oder die Wörter, die sie sagt, wenn sie uns unsere Aufsätze zurückgibt. Mir fällt grad ein, in Aufsätzen sind auch viele Absätze. Absätze im Aufsatz. Witzig. Im Aufsatz der Absatz über die Absätze, erhöht den Absatz ...

Mir ist jetzt echt schlecht. Ich kriech gleich unter den Tisch. Aber ich kann mich nicht richtig bewegen. Ich steh nur so da.

Und plötzlich, mit einem Ruck bricht es aus mir heraus.

Richtig doll. Ich kann nicht anders. Im hohen Bogen platscht mein Mageninhalt auf den Tisch. Ich kotze – wie ein Vulkan. In alle Himmelsrichtungen spritzt es.

Schade, dass die Kotze nicht glüht. Dann wär hier die Hölle los. Da – die Aufsatzfrau kriegt eine Ladung ab, macht einen Satz rückwärts, stolpert und wäre vor Schreck fast hintenübergekippt, sie hat sich mit ihren Hackenschuhen verheddert.

»Ich kann es nicht! Ich kann es nicht!«, schreie ich.

»Das wissen Sie doch!« Ich fange an zu rennen. Sie hält mich am Arm. Doch ich kann mich losreißen. Der Vulkan in mir schreit: »Ich mach das nicht mehr mit!

Dass Sie’s wissen!«

Wuttränen, richtig heiße Lavatränen laufen mir über mein Gesicht und in den Mund, meine Nase läuft, mein Herz zerspringt, ich renne zur Tür! Raus! Weg hier!

Nichts wie weg! »Sie sehen mich nie wieder!« Greif noch schnell meine Regenjacke, reiße die Tür auf und knall sie hinter mir zu und renne, renne, renne. Nie, nie wieder komme ich hierher zurück, niemals wird die das noch einmal zu mir sagen!

Was sie aber nicht gesehen hat: Ich habe was mitgenommen. Ein kleines Notizbuch. Es ist das kleine grüne, das mit den Geschichten. Nicht das Sauklauenheft mit den Schulaufsätzen.

In der Klasse

Das Lachen in der Klasse hat längst aufgehört. Die langhaarige Kartoffelsäckin heißt eigentlich Antracita Csikszentmihalyi (sprich: Tschik-sent-mihai). Das kann hier aber kein Kind aussprechen. Darum wird sie von den Kindern Frau Schickmichheim genannt. Sie ist die Deutsch-Lern-Begleitung - so nennt man Lehrer und Lehrerinnen neuerdings. Sie sollen begleiten statt lehren – das soll besser klingen. Nicht so bedrohlich.

Sie fuchtelt mit den Armen und schaut hilflos in die Runde. Die Kinder sind noch wie erstarrt. Die Aufsatzhefte liegen stumm auf dem ganzen Tisch herum.

Was war das denn?, denkt sie. Was hat er gesagt?

»Ich mach das nicht mehr mit.«? Dabei bin ich doch eigentlich die Schuldige. Sie ist nicht dumm und ihr wird ganz schwummrig. Was soll ich denn jetzt machen?

Frau Schickmichheim (wir nennen sie jetzt auch so) denkt nach. Eigentlich ist sie dafür verantwortlich, dass alle in der Klasse im nächsten Jahr richtig lesen und schreiben können. Rechnen natürlich auch. Aber was heißt eigentlich und was heißt verantwortlich? Eigentlich verantwortlich heißt, dass keiner verantwortlich ist, dass das niemand mehr ernst nimmt. Lesen, Schreiben und Rechnen unterrichtet keiner mehr. Niemand. Schon lange nicht mehr.

Seit sie die Kinder nur noch begleiten soll und nicht richtig unterrichten darf, macht ihr das alles keinen Spaß mehr. Ihr nicht und den Schülern auch nicht. Sie sollen selbst bestimmen, was und wie sie lernen wollen.

Aber woher sollen sie das denn wissen? Sie haben davon doch noch gar keine Ahnung. Und wer keine Ahnung hat, weiß auch nicht, dass sich etwas selbst beibringen bedeutet, dass man sich selbst überlassen, also beim Lernen allein gelassen bleibt.

Frau Schickmichheim fühlt sich schlecht. Nicht nur wegen Fritz, auch, weil sie nicht mehr weiß, wie sie mit den Kindern umgehen soll. Sie ist ganz ratlos.

Auf dem Weg zur Klippe

Ich nicht. Ich bin ganz und gar nicht ratlos. Ich renne die Straße entlang, vorbei an Häuserwänden, Schaufenstern, Straßenlaternen, Papierkörben, Autos und Fahrrädern, komme an Gartenzäunen und Hecken vorbei und laufe immer weiter. Die Straße ist jetzt nur noch ein Weg, wird zum schmalen Feldweg und ist dann nur noch ein enger Trampelpfad, der zwischen Büschen und Heidekraut kaum noch zu sehen ist. Mein Geheimweg. Plötzlich stolpere ich über eine Baumwurzel. In der einen Hand habe ich das Notizbuch. Mit der anderen kann ich mich abstützen. Sonst wäre ich voll auf die Fresse gefallen. Meine Knie schürfe ich mir aber trotzdem an den Kieselsteinen auf. Sie bluten.

Macht nichts. Weiter. Weiter Richtung Meer, zu den Dünen. Zur Klippe. Zum hohen Kliff.

Der Untergrundsand wird immer weicher. Ich ziehe meine Schuhe und Strümpfe aus und lauf barfuß weiter.

Auf dem weichen Sand geht das besser. Aber ich rutsche immer wieder weg. Stört mich nicht, ich renne immer weiter geradeaus. Bis ich zu der schmalen Stelle komme, die Sanduhr heißt. Die nenne ich so, weil es hier wahnsinnig eng und der Sand so fein ist wie in einer Eieruhr. Und rutschig wie Glatteis. Hier kann ich nicht rennen, unter meinen Füßen flutscht der Sand weg. Hier geht der Weg weg!, fällt mir ein. Ups, klingt das komisch … das will ich nachher aufschreiben! Ich geh lieber auf dem Heidekraut entlang. Ich atme nicht mehr so schnell und bleibe einen Moment stehen. Der Wind hat zugenommen. Die Wolken fangen an, sich gegenseitig zu jagen. Es wird erst einen Wolkenbruch und dann ordentlich Sturm geben. Prima. Dann hat die Schickmichheim schön Angst um mich. Selbst schuld.

Er rennt wieder.

Links und rechts überwuchern Strandhafer und riesige Distelbüschel die Dünen. Es stürmt vom Meer her. Die Schreie der Möwen knallen im Wind wie Warnschüsse.

Der Sturm peitscht das lange, harte, graugrüne Gras und zerrt wie wild am Sandboden. Er biegt dem Fritz die Grasbesen wie gebündelte Speere entgegen. Die Halme sind nadelspitz und scharf wie Rasierklingen.

Sie schneiden rote Striemen in seine Beine. Mit jedem Schritt werden es mehr. Die Knie bluten, die Beine bluten. Sein Herz blutet auch. Egal. Hals über Kopf stolpert er weiter auf dem sandigen Untergrund. Und der Himmel wird immer dunkler.

Mit aller Kraft stemmt er sich gegen den scharfen, jaulenden Wind, der ihn landeinwärts drückt, weg von der Kante. Aber da will er hin.

Ausgerechnet heute drückt ihn der Wind mit seiner Riesenpranke fast zum Stillstand. Aber er schafft es.

An der Kliffkante kniet er sich vorsichtig hin, legt sich dann bäuchlings ins Gras und schaut über die Kante.

Der Abgrund ist tief. Abgrundtief. Das gefällt ihm. Er liebt das Kribbeln im Bauch, das immer kommt, wenn er von dieser Höhe runterschaut. Denn da unten donnert es wie wild, da bringen die Wellen die Felswände zum Zittern und brechen sich das Genick. Möwen trainieren Sturzflüge.

Fritz klammert sich mit beiden Händen am Gras ganz fest. Er gräbt seine Finger tief in den Sand, bis er ihn unter den Fingernägeln spürt. Das grüne Heft liegt unter ihm.

Vom Horizont her werden dicke dunkle Wolken geschickt. Sie kommen näher und näher und werden größer und größer. Aufziehen nennt man das. Ich finde aber, denkt Fritz, dass sie geschoben werden. Sie sehen aus wie abge-schnittene, aufgequollene Wollpullover die im Wasser hängen. Sitzt jemand hinterm Horizont und schiebt die Wolkenwand hoch? Oder hängen die Pullover hinter der Welt fest?

Jetzt verdecken sie schon die Sonne. Der Himmel über dem Wasser ist gruselig. Er wird zu einer giftig-gelbgrau-schwarzen Höllenwand. Unwetterwolken türmen sich über dem schwarz-weiß gestreiften Meer. Sie kommen immer schneller näher. Am Horizont gießt es in breiten Schleierstreifen wie aus Kübeln. Unter ihm scheint die Brandung zu galoppieren wie Pferde mit weißen Mähnen, sie donnern heran, peitschend, knallend, bis sie zerschellen.

Sieht aus wie ein Wildpferde-Wettrennen. Wie zügelloses Reiten, denkt der kleine Dichter dort oben im Gras und ist fasziniert. Das will er. Auf so einer Welle reiten.

Und zersprengen. In Trillionen Tropfen. Das wäre toll.

Doch plötzlich fühlt er sich müde und einsam. Er liegt im nassen Gras über dem Abgrund und weint. Niemand, der ihn in den Arm nimmt. Niemand hört ihm zu. Keiner. Nie.

»Ich möchte doch nur schreiben dürfen wie und was ich will, mehr nicht«, schluchzt er. Der Himmel kommt immer näher. Der Abgrund auch. Schwarze Wolken drücken auf sein Herz.

»Das sind alles scheißige Schulwolken«, schreit er plötzlich. »Und die dicke da, die dicke schwarze, das ist die Deutschwolke, die Aufsatzvorlesewolke. Die Pferde sollen mich mitnehmen. Dann reiten wir in das Land hinter den Wollpullovern. Wo die Sonne scheint.

Irgendwo muss sie ja sein.«

Er merkt nicht, dass ihm kalt ist. Er friert nicht. Er denkt: »Ich wollte doch etwas aufschreiben … was war das noch mal?«

Er zieht das Heft unter sich hervor, nimmt es in die Hand und hat es fest im Griff. Er darf es nicht loslassen. Der Sturm würde es zerfetzen und die Seiten auf See hinaussegeln lassen. Bloß das nicht. Da stehen seine Gedanken drin. Da steht alles drin, was er erlebt, geträumt und sich ausgedacht hat. Auch die Sache mit den Fliegen. Die geht so:

Fliegen fliegen, weil sie Fligel haben. Es gibt Menschen, die sagen i statt ü, wie seine Großmutter, die aus einer Gegend kommt, wo alle so sprechen. Alle sagen i statt ü. Kiche sagen sie, wenn sie die Küche meinen, und tribe statt trübe. »Heut wird wieder ein triber Tag!«, sagt sie, wenn es neblig ist. Wüsste sie, dass er hier sitzt, würde sie mit den Armen rudern und rufen:

»Es stirmt! Es stirmt! Was macht der Fritze an der Kiste hinter den Dinen?! Komm sofort zurick!«

»Wenn Großmama wüsste, dass ich hier sitz, hätte sie Angst um mich. Sie ja. Die blöde Schickmichheim hätte keine. Aber wenn ich tot bin, dann bekommt sie lebenslänglich. Dann kann sie kein Kind mehr fertigmachen!« Fritz setzt sich auf, zieht die Knie an und schlingt die Arme darum. Kopf hoch! Er träumt nicht mehr, er denkt nach. »Schade, dass man nicht mehr in der Hölle schmoren kann«, spinnt er die Worte seiner Großmutter weiter. »Das ist nur was für Leute, die in die Kürche gehen.« Er grinst. »Sehr wützüg.« Fritz spielt gern mit Buchstaben und vertauscht sie, weil das lustüg klüngt.

»Vielleicht geht sie ja sonntags hin und betet. Die Schickmichheim. Dann wird sie Schmorbraten. Aber Gefängnis ist besser. Da kann sie dann ihre eigenen Aufsätze in die Wände ritzen.

Das tut man immer, wenn man im Verlies sitzt. Für die Nachwelt. Dann ritzt man mit den Fingernägeln in Beton, bis sie bluten. Viel Spaß beim blutigen Aufsatzritzen!«, sagt er laut vor sich hin.

Fritz ist mit seinen Gedanken weit weg. Jedenfalls nicht mehr bei den reitenden Wellen, die tief unten mit Hufen und Mähnen an die Steilwand schlagen. Das ist ihm jetzt wurscht.

Ihm fällt die Sache von vorhin in der Schule wieder ein. »Warum nur macht SIE das?« fragt er sich. »Warum sollte ich meinen Aufsatz vor der Klasse vorlesen?

Sie weiß doch, dass ich es nicht kann. Sie quält mich jedes Mal damit. Und immer sagt sie: ›Ich kann deine Sauklaue nicht lesen. Das ist eine Zumutung! Du sollst dir doch mehr Mühe geben!‹… und dann nimmt sie einen anderen dran, dem es genauso geht wie mir. Ich hasse sie!« Er schlägt mit der Faust auf die Erde. Mit der Faust, in der das Notizbüchlein klemmt. Das fällt dabei ins Gras.

Er greift schnell danach, öffnet es und der Wind schlägt eine leere Seite auf.

Vorhin, auf dem Weg hierher, war ihm doch etwas eingefallen, das er aufschreiben wollte. Was war das noch mal? Es war der Weg ist weg, erinnert er sich und sucht in der Hosentasche nach einem Bleistiftstummel.

Er hat immer welche dabei. Anspitzer und Radiergummi auch. Manchmal schreibt er auch ganz schnell mit dem Zeigefinger in den Sand. Aber das geht nur richtig gut, wenn der Sand nass ist. Dann schiebt und zieht und bohrt er mit dem ausgetreckten Zeigefinger den Sand beiseite und schreibt eine dicke Spur. Schade, dass man das nicht mitnehmen kann.

Was er einmal geschrieben hat, das merkt er sich.

Auch wenn es nur eine Sandspur ist, die der Wind und das Wasser schnell wieder wegwischen können, besser ist besser. Geschriebenes bleibt für immer im Kopf.

Er schreibt viel. Er denkt viel. Und ihm fallen oft Bilder-Wörter und Wörter-Bilder ein, wie die Pullover-Wolken, die den Himmel verdunkeln. Er nennt das Wörter würfeln oder Buchstaben schieben. Dann baut er Wörter um, er schiebt sie zusammen oder vertauscht die Buchstaben innerhalb eines Wortes.

Sie klingen dann anders, oder das Wort bekommt eine ganz andere Bedeutung. Manchmal braucht man in einem Wort nur einen einzigen Buchstaben zu verschieben und hat eine ganz andere Bedeutung. Zum Beispiel, wenn jemand Schießmichtot heißt, da verschiebt er das i vor das e – man kann auch sagen, er tauscht das ie in ei um –, und schon ist es zum Lachen.

Jeder Buchstabe ist für ihn wie ein Fußball. Er kann ihn ins Abseits kicken, er kann ihn trudeln lassen oder flanken, oder gleich ins Aus ballern.

Mit Buchstaben kann man zaubern. Sie sind sichtbar und unsichtbar zugleich. Wenn man genau hinhört, ist die Welt voll davon. Sie fliegen durch das All, zischen zwischen Sternen und Planeten umher, bis zum Mond und zurück, eiern um den Globus und docken sich überall an. Überall. An allem, was man sieht, hört, fühlt und schmeckt, kleben Buchstaben.

Er stellt sich vor, wie Bergsteiger-Buchstaben jetzt grad die Steilküste hochkriechen, nach dem Strandhafer greifen und sich festklammern, um nicht runterzufallen.

An jedem Grashalm schaukelt einer. Er hört, wie Grasbüschel anfangen zu tönen und sich zu Wörtern verbinden … wie sie zu ganz langen Klangfahnen werden … so wie die Flugzeugbänder am Himmel, lange Wörter mit richtiger Bedeutung.

Buchstaben sind wie Noten. »Buchstaben ohne Klang gibt’s gar nicht«, sagt er sich. »Selbst, wenn ich stumm in die Wolken starre, habe ich immer Buchstabenlaute im Kopf, wie Lieder ohne Melodie. Schrift ist eigentlich ein Scheißwort. Buchstaben klingt viel besser.

Buchstaben stoßen aneinander und fangen an zu klingen! Ja, genau!« Fritz sinniert weiter: »Das ist doch toll! Wie ein Abc-Konzert, wie ein wildes Wort-Geklingel. Zuerst alles durcheinander, dann probeweise kling-klong, ping-pong, peng – bis das richtige Wort klingelt. Klingeling – so klingt ein Ding-Dong-Diktat.

Buchstaben, die sich von selbst zu Wörtern verbinden.

Buchstaben, die wissen, wohin sie gehören und wie sie zusammengehören. Hören? Ja – genau: hören! Kann ja jeder hören, dass sie zusammengehören. Kapiert?

Ich sag mal so: Das kleine e mit dem kleinen i, die klingen ja eigentlich wie ei, aber man sagt ai – und dann iund e, die zusammen klingen wie … i, wenn auch wie ein lang-ge-zo-gen-es i, aber nicht immer. Meine Großmutter sagt dazu: ›Das ist zum ferrickt werden!‹

Stimmt.

Sprechen und Lesen sind nicht dasselbe. Sprechen und Schreiben schon mal sowieso nicht. Sprechen ist Sprechen ohne zu wissen, dass es Buchstaben sind. Schreiben ist wie sprechen ohne Zunge.

Es kommen auch immer neue dazu. Ich meine, neue Wörter wie Händi zum Beispiel und Korona und tschäggn und tschilln (ich weiß, dass das Englisch ist, aber wir sagen das ja so). Manche Wörter werden kürzer und bekommen einen Stern in der Mitte, wie bei Lehrer*innen und Künstler*innen. Da sind dann die Frauen in den Männern innen drinnen. Ich finde es besser, wenn Lehrerin und Künstlerin richtig und ganz ausgesprochen werden. Beim Schreiben geht das mit dem Sternchen ja noch, aber nicht beim Sprechen. Ob Frau Schickmichheim das auch denkt? Soll ich ihr das mal sagen? Weiß sie überhaupt, wie Schreiben geht? Ich glaub ja nicht. Denn sonst hätte sie es uns wohl gezeigt.

Hat sie aber nicht. Niemals bis jetzt und heute auch nicht. Darum kann ich auch nicht vorlesen, was ich geschrieben habe. Will ich auch gar nicht.« Plötzlich fühlt Fritz den Wind. Der Sturm hat an ihm gerüttelt wie eine eiserne Faust. Hat sich gegen ihn gestemmt, dass er sich flach hinlegen und am Gras festhalten muss. Dabei hat er vergessen, warum er hierhergerannt ist.

»Die blöde Deutschkuh!« Fritz grinst vor sich hin.

»Soll die doch ins Gras beißen oder besser noch, in eine fette Stranddistel!«

Er greift nach seinem Bleistift und nimmt ihn in die Hand – wobei, das stimmt nicht ganz: Ein Schreibstift ist ja kein Beil, er nimmt ihn nur zwischen Zeigefinger- und Daumenspitze, so wie man einen Grashalm greift: ganz vorsichtig. Dann rollt er den Stift erst mal leicht hin und her. Der Stift ist rund. Fritz nimmt nur runde.

Eckige nerven. Dreieckige tun weh, wenn man sie dreht. Das Hin-und-her-Rollen beruhigt ihn, wenn er an aufregende Sachen denkt, dann rollt er den Stift so lange, bis er den richtigen Gedanken hat und ihn schreiben kann. Man kann nicht einfach drauflosschreiben.

Man muss vorher das Wort kennen, das man schreiben will. Das weiß er schon lange.

Fritz sammelt Schreibstifte. Sie sind sein rechter Zeigefinger, sein verlängerter Gedanke. Leider kann der Finger nicht auf Papier schreiben. Sonst würde er nur mit Finger schreiben. Fritz braucht den Stift jetzt ganz dringend, er will den Gedanken mit nach Hause nehmen.

Heute wird das nichts mehr mit den Pferden am Horizont. Kein Rodeo auf dem Wellen. Vielleicht morgen.

Hier geht der Weg weg, schreibt er auf die leere Seite – und dann: hir geed där Weej wäk – einmal, wie es richtig ist und einmal, wie man es spricht, zweimal fast dieselben Buchstaben für w-e-g, aber anders ausgesprochen und mit ganz anderer Bedeutung. Buchstaben sind wie Schrauben und Dübel, wie Federn und Flügel, denkt er, und wie Pfeil und Bogen. Stehen sie erst mal da, halten sie alles zusammen. Man kann auch ganz viel dranhängen oder sie in die Luft werfen … zum ferrickt werden! Wörter sind Teufelswerk! Aber sie sind auch tolle Geschichten. So, wie der Aufsatz, den er vorhin vorlesen sollte, aber nicht wollte. Ihm ist auf einmal eiskalt.

Er lässt den Stift wieder in der Hosentasche verschwinden, rollt sein Heft zusammen, nimmt die Schuhe in die Hand, steckt das Heft für den Transport in den linken Schuh, steht auf und macht sich barfuß auf den Heimweg.

Diesmal wird er vom Wind geschoben und wenn er will, richtig getragen. Diesmal rennt er mit dem Wind.

Er kann sich kaum gerade halten. Die Sturmhand schiebt ihn nach vorn, pfeilschnell wie auf einer Speerspitze.

Als er unten zu den Dünen kommt, wird der Wind schwächer. Er nimmt den schmalen Pfad zum Strand, hin zum Wasser, zu den Wellen, die ihm über die Füße rollen und sie im Sand versinken lassen. Er könnte sich auch selbst ins Meer spülen lassen. Will er aber nicht.

Was war bloß in ihn gefahren vorhin in der Schule?

»So lange die da ist,« brüllt er in den Sturm, »so lange geh ich da nicht mehr hin!« Er gestikuliert mit den Armen und stößt die geballte Faust in den Himmel: »Zur Hölle! Verdammt!«

Aber wird ihn jemand verstehen? Wahrscheinlich wieder nur der Opapa. Der kann alles verstehen und er wird ihm mit den Worten »Jou, denn moog datt man!«, seine große Hand auf die Schulter legen. Moog datt heißt Mach das.