Klassentreffen - Julia Schöning - E-Book

Klassentreffen E-Book

Julia Schöning

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Beschreibung

Ein Klassentreffen führt Meike und Franziska wieder zusammen, die sich in der Schule einmal geküsst hatten. Während Franziska seither offen lesbisch lebt, hat Meike einen Studienkollegen geheiratet. Romantische Gefühle flammen auf, bringen beide jedoch in Schwierigkeiten: Meike kann sich nicht eingestehen, lesbisch zu sein, und Franziska meint ihre seit zwei Jahren tote Lebensgefährtin zu betrügen. Ein Hin und Her mit ungewissem Ausgang beginnt ...

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Julia Schöning

KLASSENTREFFEN

Roman

Originalausgabe: © 2012 ePUB-Edition: © 2013édition el!es

www.elles.de [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-005-9

Coverillustration:

Franzi stieß die Tür auf. Kein Zweifel, dieser Abend würde der schlimmste seit langem werden. Noch könnte sie umdrehen, wieder einmal fliehen. Es hatte sie noch niemand bemerkt.

Sie atmete tief durch. Nein, dieses Mal würde sie nicht davonlaufen.

Stimmengewirr empfing Franzi, als sie die Kneipe betrat. Aus dem hinteren Teil des Lokals drang Gelächter. Dort musste das Klassentreffen stattfinden. Mit gemischten Gefühlen folgte sie den Geräuschen.

»Franzi, da bist du ja endlich.« Meike fiel ihr um den Hals, und für einen Moment fühlte sich Franzi in der Zeit zurückversetzt. »Schön, dass du doch noch kommst.« Mit ihren smaragdgrünen Augen strahlte Meike Franzi an.

Franzis Herz pochte bis zum Hals. Ihre Kehle fühlte sich an wie zugeschnürt. »Hallo, Meike«, brachte sie schließlich mühsam hervor. Der süße Duft von Meikes Haaren ließ all die Erinnerungen schlagartig wieder lebendig werden. Sie schluckte.

»Komm, setz dich.« Meike ließ ihr keine Zeit zum Luftholen und zog sie mit sich zum Tisch.

»Hm . . . Ja.« Franzi kämpfte darum, ihre Fassung wiederzuerlangen. Sie hatte versucht, sich auf diesen Moment vorzubereiten, aber jetzt überwältigte er sie doch.

Meike setzte sich neben sie, hielt ihren Arm immer noch fest und streichelte ihn, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt.

Am liebsten wäre Franzi weggelaufen. Das war alles viel zu viel. So schlimm hatte sie es sich nicht vorgestellt. Fünfzehn Jahre, und die Gefühle überfielen sie genauso wie früher, machten sie wehrlos. Sie wusste schon, warum sie eigentlich nicht hatte kommen wollen.

»Was hast du so gemacht die ganzen Jahre?«, fragte Meike.

»Ähm . . . Apothekerin.« Selbst diese kurze Antwort kostete Franzi Mühe. Sie konnte sich nicht auf ein Gespräch mit Meike konzentrieren. Deren Gegenwart verursachte ein leichtes Schwindelgefühl. Meike hatte sich kaum verändert, genau wie früher fielen ihr die honigblonden Haare auf die Schultern. »Und du?«, konnte Franzi gerade noch so hervorbringen.

»Ich bin Lehrerin.« Meikes Augen leuchteten sie weiter an, und Franzi wusste nicht, wo sie hinschauen sollte. Dieses Grün. Alles war wie damals.

»He, Franziska.« Eine Frau mit braunen Locken beugte sich zu Franzi und lachte. Anna. »Nun ist das Klassentreffen komplett.«

Franzi war dankbar, dass Anna ihr die Gelegenheit gab, durchzuatmen, den Blick von Meike abzuwenden und den Kopf ein wenig freizubekommen. Sie sah sich im Raum um. »Alle sind nicht da«, stellte sie fest. »Ganz komplett ist es nicht.«

»Die Wichtigsten sind gekommen. Das reicht.« Anna lachte erneut. »Hol dir einen Sekt, dann können wir anstoßen.«

»Ich mach das schon«, sagte Meike. »Ich hol uns beiden einen. Mein Glas ist nämlich schon wieder leer.« Sie hielt ihr Glas hoch und kicherte verlegen.

Franzi war froh, dass sie sich kurzzeitig entfernte. Meikes Lächeln war mehr, als sie verkraften konnte.

»Und – was macht die Liebe?« Meike kam zurück und stellte ein Glas vor Franzi ab.

Für einen Moment spürte Franzi einen Stich in ihrer Brust. Diese Frage hatte ja kommen müssen. Sie hätte wirklich zu Hause bleiben sollen. Nach einer Antwort suchend, wischte sie ihre feuchten Finger an ihrer Jeans ab.

»Ich bin seit über einem Jahr glücklich geschieden«, plauderte Meike schon weiter. »Komm, lass uns anstoßen.« Auffordernd hob sie ihr Sektglas.

Franzis Hände zitterten, als sie den Stiel ihres eigenen Glases umfasste und mit Meike anstieß.

»Auf unser Wiedersehen.« Meikes Wangen waren gerötet.

»Ja, auf unser Wiedersehen«, murmelte Franzi matt.

»Also?« kam Meike auf ihre Frage zurück. »Liiert, verheiratet, geschieden?« Sie verzog schmunzelnd die Lippen. »Verliebt?«

Ja. Anscheinend immer noch, dachte Franzi. »Nichts von alledem«, sagte sie stattdessen. Sie fuhr sich mit der Hand durch die kurzen schwarzen Haare.

»Wie? Das kann doch gar nicht sein.« Meike blickte sie erstaunt an.

»Das ist . . . kompliziert«, stammelte Franzi. Sie musste sich räuspern, damit ihre Stimme ihr wieder gehorchte. »Lass uns nicht davon reden.« Sie nahm einen großen Schluck Sekt. Jetzt bloß nicht daran denken, ermahnte sie sich.

»Wie du möchtest.« Meike lächelte Franzi an.

»Was unterrichtest du denn?«, wechselte Franzi zu einem unverfänglicheren Gesprächsthema.

»Biologie und Deutsch. Am Gymnasium.« Meike zuckte mit den Schultern.

Ihre Blicke trafen sich und hielten sich fest. Franzi versank in Meikes grünen Augen. Erneut fühlte sie sich in der Zeit zurückversetzt, klebte an Meikes Lippen, konnte sich nicht von Meikes Anblick lösen. Die Gespräche um sie herum verschwammen zu einem unverständlichen Hintergrundgeräusch. Dann und wann, wenn es angebracht schien, nickte sie oder gab einen kurzen Kommentar ab. Sie bemerkte nicht, wie die Zeit verging.

»Ich werde langsam nach Hause gehen«, erklärte Anna irgendwann.

Unvermittelt wieder in der Gegenwart angekommen, wandte sich Franzi von Meike ab und sah sich um. Bis auf sie und Meike waren alle aufgestanden und offensichtlich dabei, das Lokal zu verlassen. »Wollt ihr noch bleiben?«, fragte Anna.

Eine zarte Röte stieg Franzi ins Gesicht. »Ich denke, wir sollten auch gehen. Es ist schon spät«, bemerkte sie.

Genau in diesem Moment beugte sich Meike zu Franzi. Franzi konnte Meikes Wärme spüren. Eine Gänsehaut jagte ihr den Rücken hinunter. Dann Meikes Lippen, die sachte ihr Ohr berührten. »Ich möchte mich jetzt eigentlich gar nicht von dir trennen«, flüsterte Meike. »Wir haben uns doch noch so viel zu erzählen.«

Franzi war hin- und hergerissen. Einerseits wollte auch sie gern noch mehr Zeit mit Meike verbringen, mehr über Meike erfahren, wieder und wieder tief in diese grünen Augen eintauchen . . . andererseits – ob das wirklich eine gute Idee war? »Wir können uns ja mal zum Kaffee treffen«, schlug sie so ruhig wie möglich vor.

»Ach, wieso?« Meike schüttelte den Kopf. »So jung kommen wir nicht mehr zusammen.« Sie lachte. »Komm doch einfach mit zu mir. Ich wohne nicht weit von hier.«

Nein, nein, nein, schrie es in Franzi und Ja, ja, ja! von der anderen Seite. »Ich weiß nicht«, sagte sie ehrlich. »Ich sollte eigentlich nach Hause.« Meikes Gegenwart machte sie schwach. Sie konnte es kaum mehr ertragen.

»Das meinst du nicht wirklich«, sagte Meike. »Komm.«

Franzi gab auf. Sie ließ sich willenlos von Meike mitziehen.

Kurz darauf hatten sie sich von den anderen verabschiedet und liefen nebeneinander durch die Dunkelheit.

»Ich freue mich so sehr, dich endlich wiedergefunden zu haben.« Meike lächelte Franzi zu.

Franzi nickte. »Ich mich auch.« Aber sollte sie sich wirklich freuen? Durfte sie das? Was sie in Meikes Gegenwart spürte, war altbekannt, aber . . . Solche Gefühle hatten keinen Platz mehr in ihr, seit . . . Franzi schüttelte den Kopf, um die Gedanken zu vertreiben. Mechanisch setzte sie einen Fuß vor den anderen.

»Es ist so lange her.« Meikes Blick haftete am Boden.

Was meinte Meike damit? Meinte sie . . .? Auch wenn es lange her war, Franzi konnte sich noch genau erinnern. Meike hatte niemals mit ihr darüber geredet, jeden Gesprächsversuch abgeblockt. Sie hatte einfach nach und nach den engen Kontakt gelöst und sich von Franzi distanziert. »Ja«, war schließlich alles, was Franzi erwiderte. Sie kickte einen Stein zur Seite.

Meike vergrub ihre Hände in den Jackentaschen und lief schweigend weiter.

Sie konnten nicht ewig darüber schweigen. Meike musste doch auch spüren, dass es nach wie vor zwischen ihnen stand, einen zwanglosen Umgang unmöglich machte. Oder konnte es sein, dass Meike es vergessen hatte? »Meike«, begann Franzi. Sie suchte den Augenkontakt.

Aber Meike wich ihrem Blick aus und lief weiter. »Ach, Franzi.«

Franzi holte tief Luft. »Ich denke . . .« Es fiel ihr schwer, die richtigen Worte zu finden.

Meike blieb abrupt stehen. »Wir sind da.« Sie fischte den Wohnungsschlüssel aus ihrer Handtasche. Dabei drehte sie Franzi den Rücken zu.

Vielleicht hätte Franzi doch lieber allein nach Hause gehen, die Vergangenheit Vergangenheit lassen sollen. Es bei dem belassen sollen, was gewesen war.

»Willst du hier draußen Wurzeln schlagen?«, holte Meikes Stimme sie aus ihren Grübeleien zurück. Lächelnd stand Meike in der geöffneten Haustür und blickte Franzi erwartungsvoll an. »Komm doch endlich rein.« Das Grün ihrer Augen strahlte Franzi entgegen und zerstreute ihre Zweifel zum zweiten Mal an diesem Abend.

Wenig später standen sie in Meikes Wohnung.

»Möchtest du etwas trinken?«, fragte Meike, nachdem sie es sich im Wohnzimmer auf der Couch gemütlich gemacht hatten. Ohne eine Antwort abzuwarten, entschied sie: »Ich hol uns noch einen Sekt.« Dabei hatten sie beide schon mehr als genug Sekt getrunken.

Franzi atmete tief durch. Meikes Duft, der überall im Raum hing, ließ ihr wieder einmal schwindelig werden. Was machte sie nur hier?

Da stand Meike schon wieder vor ihr. Sie reichte Franzi ein Sektglas und setzte sich neben sie. »Auf diesen schönen Abend. Und auf uns«, prostete sie Franzi zu.

Franzi zögerte einen Moment. Alkohol in Verbindung mit diesem Ziehen in ihrem Magen . . . Ob das eine gute Kombination war? Aber es fühlte sich zumindest nicht schlecht an. »Ja, auf uns.«

Ein Lächeln umspielte Meikes Lippen. »Ich bin froh, dass du noch mitgekommen bist.« Sie rückte näher zu Franzi. Nur wenige Zentimeter trennten sie.

Franzi konnte Meikes Atem auf ihrer Haut spüren. Sie hielt für einen Augenblick die Luft an. Plötzlich hatte sie das Gefühl, all die Jahre, in denen sie keinen Kontakt gehabt hatten, habe es nie gegeben. Aber das war natürlich Unsinn. Franzi seufzte. Es war vorbei. Meike hatte sich damals gegen sie entschieden, ohne es zu begründen.

»Warum?«, fragte Franzi schließlich.

»Warum was?«

Franzi wusste selbst nicht genau, was sie wissen wollte – warum Meike sich freute, sie wiederzusehen? Warum sie niemals versucht hatte, Kontakt aufzunehmen? Oder warum das damals so mit ihnen auseinandergegangen war? »Das verwirrt mich alles«, gab sie zu. »Wir können nicht einfach so tun, als wäre nichts gewesen.«

Meike zögerte. »Es gab so viel, was ich dir gern erzählt hätte. Du warst meine beste Freundin.« Ihre Augen suchten den Raum ab, schienen aber nichts zu finden.

»Das warst du für mich auch«, erwiderte Franzi giftiger als beabsichtigt. »Und dann . . .« Ihre feuchten Hände krampften sich fester um das Glas. Sie starrte auf die kleinen Kohlensäurebläschen, die sich ihren Weg an die Oberfläche suchten. »Du hast mich sehr verletzt.«

»Ich habe dich nie vergessen.« Meikes Arm berührte wie zufällig für einen winzigen Moment Franzis Schulter.

Franzi zuckte zusammen. Die Worte hallten in ihrem Kopf nach und die Berührung auf ihrer Haut. Langsam stieg ihr der Sekt zu Kopf. »Ich habe dich auch nicht vergessen. Wie könnte ich auch . . .« Franzi rieb sich über die Stirn, um etwas Zeit zu gewinnen. »Damals . . . Auf der Klassenfahrt . . .« Ihr Herz klopfte schneller. Aber jetzt konnte Meike dem Thema nicht länger aus dem Weg gehen.

»Du meinst?« Meike zupfte an ihrem Ohrläppchen.

Franzi antwortete nicht sofort, aber dieses Mal war es ihre Hand, die versehentlich Meikes Bein berührte. Meike schreckte zurück. »Das ist so lange her«, sagte sie und nahm einen großen Schluck aus ihrem Glas. »Was passiert ist, ist passiert.«

»Sollten wir nicht endlich darüber sprechen?«

Meike wickelte eine Haarsträhne um ihren Finger. »Ich glaube, ich bin betrunken.« Sie wollte aufstehen, aber Franzi umfasste mit kräftigem Griff ihr Handgelenk und hielt sie entschlossen zurück.

»Du kannst einem Gespräch nicht immer davonlaufen. Das hast du damals schon gemacht.« Franzis Stimme klang fest. Viel zu lange hatte sie darauf gewartet, Meike damit zu konfrontieren. Jetzt würde sie sie nicht so einfach entwischen lassen.

Meike nickte. »Ich weiß . . . Dabei . . .« Sie schluckte. »Dabei . . . Ich habe oft daran gedacht.«

Unwillkürlich schloss Franzi die Augen. Ihr war es nicht anders ergangen. Ihr Puls ging schneller. Die Erinnerungen schienen in all den Jahren nichts von ihrer Kraft verloren zu haben. »Es war wirklich schön. Ich habe dir das nie gesagt.«

»Ich . . .« Meikes Fuß wippte nervös auf und ab. »Ich fand diesen Kuss auch schön. Aber . . .«

»Aber du hast nichts für mich empfunden. Im Gegensatz zu mir. Ich weiß . . .« Franzi brach ab.

»Was sollte ich machen?«

»Für dich war das alles nur ein Spiel.« Franzi ballte ihre Hände zu Fäusten, bis die Knöchel weiß hervortraten. »Für mich war es viel mehr. Du hast mir weh getan. Es war nicht so einfach, mit deiner Zurückweisung umzugehen.«

»Das kann ich mir vorstellen«, erwiderte Meike flüsternd und vermied es, Franzi anzusehen.

»Du wusstest, dass ich in dich verliebt war. Das habe ich dir gesagt.«

Meike nickte.

»Und du hast es trotzdem zugelassen.« Franzi bohrte sich ihre Fingernägel in den Unterarm.

Meike biss sich auf die Unterlippe. »Das tut mir leid.«

»Ich war selbst schuld. Ich wusste ja, dass du diese Gefühle nicht erwiderst. Aber das war auch nicht das Schlimmste.« Franzi hielt für einen Moment inne. »Am meisten hat mich verletzt, dass du plötzlich nichts mehr mit mir zu tun haben wolltest. Dass du mich hast fallenlassen.«

»Ich würde es so gern ungeschehen machen.« Meike senkte den Blick. »Ich hatte damals einfach keine Kraft, damit umzugehen. Ich wünschte, ich wäre so stark gewesen wie du.«

Franzi musste lächeln. »Dieser Eindruck hat getäuscht. Glaub mir, ich war alles andere als stark . . . Du warst schließlich meine erste große Liebe. Das war auch für mich alles gar nicht so leicht. Es hat mich ziemlich viel Überwindung gekostet, dir meine Gefühle zu gestehen und mich dir anzunähern.«

»Auf mich hast du immer so selbstbewusst gewirkt. Für dich schien es keine Probleme zu geben. Deswegen habe ich dich bewundert.« Meikes Gesicht bekam einen sanften Ausdruck. Aber noch immer sah sie Franzi nicht in die Augen.

»Hast du denn damals nichts geahnt, als wir zusammen abgehauen sind?«, fragte Franzi. »Es war doch klar, worauf das hinauslaufen würde.«

Meike schmunzelte. »Doch. Irgendwie schon.« Sie nahm erneut einen großen Schluck Sekt. »Als du meintest, dass du keine Lust hättest, mit den anderen auf die Wanderung zu gehen, sondern den Nachmittag über lieber mit mir den Wald erkunden wolltest, da habe ich mir schon gedacht, dass du mal wieder irgendeinen Plan hattest. Aber das war ja nichts Ungewöhnliches für dich.«

»Es war mein erster Kuss.« Ein Lächeln huschte über Franzis Gesicht. Meikes süße Lippen auf ihren . . . Sie konnte sie immer noch spüren.

»Meiner auch. Und . . .« Meike stockte. Ihre Stimme senkte sich zu einem Flüstern. »Ich hätte es mir nicht schöner vorstellen können. Danke.« Auf einmal berührten ihre Finger Franzis Arm und strichen an ihm entlang, bis sie Franzis Hand erreicht hatten, die in Franzis Schoß lag. Noch ehe Franzi richtig begriffen hatte, was da geschah, verflochten sich ihre Finger eng ineinander.

Franzi leerte ihr Glas in einem Zug. Ihre Wangen glühten. Der Alkohol vernebelte ihre Sinne; so viel Sekt war sie nicht gewohnt. »Meike«, begann sie. »Was . . .«

Aber Meike stoppte sie. Zärtlich legte sie ihren Zeigefinger auf Franzis Lippen. »Psst.«

Und plötzlich geschah es. Wie von selbst.

Mit sanftem Druck trafen ihre Lippen aufeinander.

Franzi schloss die Augen. Es kribbelte heftig in ihrem Bauch. Meikes Mund fühlte sich so weich und zart an, genau wie sie es in Erinnerung hatte.

Ihre Zungenspitzen suchten einander, bis sie sich berührten und zu einem sinnlichen Tanz vereinten . . .

~*~*~*~

Zärtlich fuhr Franzi durch die blonden Haare. Es fühlte sich so vertraut an. Sie wollte die Frau näher zu sich ziehen, sie küssen. Doch in diesem Moment verschwamm das Bild, löste sich auf. Rauch erfüllte den Raum. Flammen loderten auf. Ein Schrei.

Schweißgebadet schreckte Franzi hoch. Ihr Herz klopfte laut in ihrer Brust. Sie spürte die kräftigen Schläge bis zum Hals.

Es war nur ein Traum, versuchte sie sich zu beruhigen. Sie bemühte sich, ihren Atem zu kontrollieren. Aber es wollte ihr nicht gelingen.

Isabel war fort. Für immer.

Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals und nahm ihr die Luft.

In ihrem Kopf dröhnte es. Die Nachwirkungen vom vielen Sekt. Sie versuchte, sich an den Ausgang des gestrigen Abends zu erinnern. Da fiel ihr Blick auf Meike, die neben ihr im Bett lag – nackt. Was war passiert? Sie hatten zu viel getrunken. Definitiv. Und dann? Warum lag Meike nackt neben ihr? Franzi sah an sich herunter und zog dann hastig die Bettdecke höher. Und warum lag sie selbst nackt in Meikes Bett?

»Alles in Ordnung?«, fragte Meike in diesem Moment schlaftrunken. Es dämmerte bereits. Stirnrunzelnd betrachtete sie Franzi.

Franzi nickte. Sie war nicht fähig zu sprechen, ihre Zunge klebte an ihrem Gaumen. Bilder der vergangenen Nacht schossen durch ihren Kopf. Meike und sie . . . Keine Sekunde hatte sie an Isabel gedacht. Was hatten sie getan?

Meike fasste sich an den Kopf. »Oh, brummt mir der Schädel.« Sie rieb sich die Schläfen. »Hast du gut geschlafen?«

»Nicht so«, erklärte Franzi knapp. Hastig stand sie auf und blickte auf Meike hinunter. Sie musste kräftig schlucken, um die aufkommenden Tränen zu unterdrücken. Wie hatte das passieren können? Nach Isabels Tod hatte sie sich niemals wieder zu einer anderen Frau hingezogen gefühlt, geschweige denn eine andere geküsst oder gar mit ihr geschlafen. Nun hatte sie das Gefühl, Isabel betrogen zu haben. Ihre geliebte Isabel.

»Ich glaube, ich auch nicht.« Mit einem lauten Stöhnen richtete sich Meike auf.

Schweigend sammelte Franzi ihre Sachen ein und begann sich anzuziehen. Sie musste weg hier, ordnen, was passiert war, einen klaren Gedanken fassen.

»Franzi, was ist denn los mit dir? Geht es dir nicht gut?«

»Schon in Ordnung«, entgegnete Franzi. »Ich . . .« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Tut mir leid, was passiert ist. Ich gehe besser.«

Meikes Finger verschränkten sich ineinander. »Was ist denn passiert?«

»Weißt du das nicht mehr?«

»Ehrlich gesagt nicht.« Meike stand auf, warf sich ihren Bademantel über. »Irgendwie . . .« Sie stockte. »Wir haben uns geküsst, oder?«

»Ja«, sagte Franzi. »Ich glaube.« Geküsst hatten sie sich bestimmt.

»Ein Kuss bedeutet doch nichts«, fuhr Meike fort. Sie ging in die Küche. Franzi konnte hören, wie sie Kaffee aufsetzte.

Konnte Meike das ernst meinen? Hatten sie sich tatsächlich nur geküsst? Und hatte ein Kuss wirklich nichts zu bedeuten? Sie folgte Meike in die Küche. Dass für Meike ein Kuss nicht dieselbe Bedeutung hatte wie für sie selbst, hatte Franzi ja schon einmal erfahren müssen. Sie setzte sich auf einen der Küchenstühle. »Du meinst, mehr war nicht?«

Meike hob eine Augenbraue. »Was sollte denn sonst noch gewesen sein?« Sie zog das Band ihres Bademantels enger. Dann setzte sie sich Franzi gegenüber.

»Ja . . . hm . . . vielleicht hast du recht.« Franzi lauschte dem Plätschern der Kaffeemaschine. Vielleicht stimmte es, was Meike sagte, und sie hatten nicht miteinander geschlafen. Vielleicht war es wirklich nur ein Kuss gewesen. Erneut sah Franzi Isabels Gesicht vor sich. Sie spürte eine gewisse Erleichterung. Aber sagte Meike die Wahrheit?

»Möchtest du noch mit frühstücken?«, durchbrach Meike Franzis Gedanken.

»Nein. Ich gehe. Ich . . .« Franzi unterbrach sich, schüttelte den Kopf und stand auf.

»Franzi . . .« Meike sah sie an. »Es war ein schöner Abend gestern.«

»Also, bis dann«, murmelte Franzi.

Meike saß regungslos am Tisch. »Sehen wir uns wieder?«, fragte sie flüsternd. »Ich möchte dich als Freundin nicht noch einmal verlieren.«

Franzi blickte zu Boden. »Ich dich auch nicht.« Sie zupfte an ihrem Ohrläppchen. »Ich ruf dich an.«

Wenig später fiel die Tür hinter ihr ins Schloss.

~*~*~*~

Franzi hatte keine Ahnung, wie oft sie in den letzten beiden Jahren hier gewesen war. Gewöhnt hatte sie sich an den Anblick nie. Jedes Mal erschauderte sie aufs Neue, wenn sie den vertrauten Namen auf dem Grabstein las.

Es war ein grauer Herbsttag, dunkle Wolken hingen tief am Himmel und ließen den kommenden Regen erahnen. Franzi vergrub die Hände tiefer in ihren Jackentaschen. Es war schrecklich kalt.

Mit brennenden Augen sah sie hinab auf Isabels Grab. Die Bäume rauschten im eisigen Wind. Es schien vorwurfsvoll zu klingen. Was hatte sie nur getan?

Der Friedhof war menschenleer, nicht einmal ein Hund oder ein Eichhörnchen war zu sehen. Franzi war allein. »Ach, Isabel«, murmelte sie. Sie kniete sich hin und legte die Rose, die sie mitgebracht hatte, auf das Grab.

Neun Jahre lang waren sie so glücklich gewesen. Franzi konnte sich noch genau daran erinnern, wie sie Isabel damals zum ersten Mal in dem kleinen Buchladen gesehen hatte. Es hatte sofort gefunkt zwischen ihnen. Was folgte, waren wundervolle Jahre, in denen sie sich jeden Tag aufs Neue in Isabel verliebt hatte. Natürlich hatte es auch schwierige Zeiten gegeben, aber gemeinsam hatten sie alles durchgestanden. Die Schwierigkeiten hatten sie nur enger zusammenwachsen lassen.

»Wie konntest du mich einfach so verlassen?«, flüsterte Franzi. »Ich hatte dir noch so viel zu sagen. Wir hatten doch noch so viel vor. Das kann doch nicht einfach vorbei sein. Was bin ich denn ohne dich? Ich fühle mich so unendlich leer.«

Es begann zu regnen. Dicke Tropfen rannen Franzis Gesicht hinunter, kühlten ihre Haut ab. In wenigen Sekunden war sie von oben bis unten durchnässt. Aber sie merkte es kaum.

»Du fehlst mir so sehr. Manchmal glaube ich, es wird niemals aufhören. Diese Leere wird niemals enden . . . Die Zeit, die ich mit dir verbringen durfte, war die schönste Zeit meines Lebens. Aber ich weiß einfach nicht, wie ich jetzt weitermachen soll, ohne dich.«

Sie schluckte, um den Kloß aus ihrem Hals zu vertreiben. Es war das erste Mal seit sehr langer Zeit, dass ihr nach Weinen zumute war. Isabels plötzlicher Tod hatte ihr alle Energien geraubt, nicht nur den Lebensmut, sondern überhaupt die Fähigkeit zu fühlen. Etwas in ihr war mit Isabel gestorben.

Das erste Mal, dass sie sich wieder lebendig gefühlt hatte, war in dem Moment, in dem sie Meike wiedergesehen hatte.

Meike. Franzi kämpfte gegen Meikes Bild in ihrem Kopf an. Was würde Isabel sagen, wenn sie wüsste, dass sie eine andere Frau geküsst hatte?

»Isabel, du musst wissen, dass ich dich immer geliebt habe. Jede Sekunde, die vergangen ist, habe ich nur dich geliebt. Nur du hast in meinem Leben gezählt. Für dich hätte ich alles gemacht. Alles, was dich glücklich gemacht hätte, hätte ich getan. Ich hätte alles auf mich genommen, jede Qual ertragen.« Franzi schluchzte jetzt. »Aber . . .« Sie brach ab.

Ihr Leben war noch nicht vorbei. Aber durfte sie sich jemals wieder in eine andere Frau verlieben? Durfte sie diese neuen, oder besser: neu erwachten Gefühle zulassen, die in Meikes Gegenwart zutage getreten waren? Es fühlte sich falsch an. Wie ein Betrug an Isabel. Aber gleichzeitig war es wie ein Erwachen gewesen, ein Erwachen aus einem Alptraum.

Tränen strömten ihre Wangen hinunter und mischten sich mit dem Regen. Niemand war da, der sie hätte trösten können, sie in den Arm nehmen, die Tränen trocknen. Sie war ganz allein.

Langsam drehte sie sich um und lief los. Ihre Augen starrten in die Ferne.

Der Regen hörte auf.

Würde die Trauer jemals enden?

~*~*~*~

Das Klingeln erlöste Meike. Auch die sechste und letzte Schulstunde war überstanden. Selten war ihr ein Arbeitstag so schwergefallen wie dieser Montag.

Meike klappte das Deutschbuch ihrer siebten Klasse zu. »Heute gibt es ausnahmsweise keine Hausaufgaben«, beendete sie den Unterricht.

Die Kinder packten hastig ihre Sachen, stellten lautstark die Stühle hoch und rannten lachend und lärmend aus dem Klassenraum. Meike folgte ihnen weniger stürmisch.

Den gesamten Tag über hatte ihre Konzentration deutlich gelitten. Ständig war sie in Gedanken beim letzten Wochenende gewesen. Bei Franzi.

Kaum hatte sie das Lehrerzimmer betreten, sah sie schon ihren Kollegen Karsten an ihrem Platz stehen. Das hatte ihr gerade noch gefehlt.

»Hallo, Meike«, begrüßte Karsten sie, als sie an ihrem Platz angekommen war. Bereits beim Anblick seines arroganten Lächelns wäre Meike am liebsten umgedreht.

»Hallo«, erwiderte sie kühl.

»Hattest du ein schönes Wochenende?«, fragte Karsten.

Sofort sah Meike Franzi vor sich, erinnerte sich an die süßen Küsse, die sie ausgetauscht hatten. Ein Seufzer kam über ihre Lippen. Sie konnte es nicht vergessen, egal, was sie versucht hatte. Den ganzen Samstag und den ganzen Sonntag hatte sie damit zugebracht, sich den Kopf zu zerbrechen über das, was zwischen ihnen passiert war – auch wenn sie sich nicht genau daran erinnern konnte, was das gewesen war. Aber sie wusste, dass es schön gewesen war.

»Das geht dich nichts an«, pampte sie Karsten an.

Karsten grinste. »Ich dachte, du würdest dich gern mit mir unterhalten.« Er wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Meike verdrehte die Augen. Wie ignorant konnte ein Mensch sein? »Das wäre mir neu.« Sie packte ein paar Hefte in ihre Tasche, die auf ihrem Tisch gelegen hatten.

»Wollen wir am nächsten Wochenende zusammen zum Altstadtfest?« Karsten zupfte seinen Hemdkragen zurecht.

»Nein, danke. Ich bin schon verabredet«, log Meike.

Karsten kam einen Schritt näher und legte beide Hände auf Meikes Schultern. »Jetzt hab dich doch nicht immer so. Ständig weichst du mir aus.«

Genau in diesem Moment kam ihr Kollege Mario dazu. »Hallo, Meike, hast du eine Sekunde?«

Dankbar drehte sich Meike zu Mario um. »Klar.« Noch einmal sah sie Karsten an. »Du entschuldigst uns?«

»Selbstverständlich«, zischte Karsten und ließ die beiden grummelnd allein.

»Du hast mich gerettet«, sagte Meike, als Karsten außer Hörweite war. Mit einem erleichterten Seufzer ließ sie sich auf ihren Stuhl fallen.

»Das habe ich mir schon gedacht. Ich habe euch eine Weile beobachtet.« Mario zwinkerte ihr zu.

»Der ist echt penetrant.«

»Vielleicht hat er das ja jetzt endlich geschnallt.« Mario zuckte mit den Schultern.

»Na, ihr zwei. Habt ihr Feierabend?« Wiebke, eine noch recht junge Kollegin, die neu an der Schule war, kam auf die beiden zu.

»Ja. Gott sei Dank«, erklärte Meike.

»Dann genießt den Nachmittag. Ich habe noch ein bisschen was vor mir.« Wiebke lächelte Meike zu. Bisher hatten die beiden nur wenige Worte miteinander gewechselt, aber Meike mochte sie.

»Das mache ich.« Meike griff ihre Tasche. »Bis morgen«, verabschiedete sie sich. Dann machte sie sich mit dem Auto auf den Weg zu ihrer Schwester.

Claudia wohnte nur wenige Autominuten von der Schule entfernt. Trotzdem hatte Meike sie schon länger nicht mehr gesehen. Dabei hatte sie schon seit ihrer Kindheit ein sehr gutes Verhältnis zu ihrer älteren Schwester. Mit ihr hatte sie über alles reden können; Claudia hatte sie immer verstanden. Aber in letzter Zeit hatte sie seltener das Bedürfnis gehabt, sich ihr anzuvertrauen.

»Hallo, Schwesterherz. Schön, dich endlich mal wiederzusehen.« Zur Begrüßung umarmte Claudia Meike herzlich.

»Hallo, Claudia.«

»Komm rein. Kaffee ist auch gleich fertig.«

Meike folgte ihrer Schwester in die Küche und setzte sich. »Wie geht’s euch?«

Claudia rückte sich einen Stuhl zurecht und nahm ebenfalls Platz. »Sehr gut. Roberts Engagement am Staatstheater in Braunschweig wurde verlängert.«

Claudias Mann war Schauspieler. Ein Beruf, der bei Meikes Eltern schon sehr oft für Unmut gesorgt hatte. Aber Robert und Claudia waren glücklich damit. »Das freut mich für euch. Glückwunsch.«

In der Zwischenzeit war der Kaffee durchgelaufen, und Claudia goss ihnen beiden eine Tasse ein. »Wie war denn dein Wochenende?«

Meike starrte in ihre Tasse. Seit wann interessierten sich alle für ihr Wochenende? »Och.«

»Was heißt das denn nun?« Claudias Interesse war geweckt. Erwartungsvoll sah sie ihre Schwester an.

Meike machte eine wegwerfende Handbewegung. »Freitag war unser Klassentreffen.«

»Jetzt lass dir nicht jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen.« Claudia nippte an ihrem Kaffee. »Das ist doch sonst nicht deine Art.«

»Ich habe Franzi wiedergetroffen«, murmelte Meike. Ihre Finger verschränkten sich ineinander.

»Deine ehemalige beste Freundin? Das ist ja toll«, zeigte sich Claudia begeistert.

»Ja, das war echt schön.« Meikes Wangen röteten sich. Hoffentlich bemerkte Claudia das nicht.

»Und, wie geht es ihr?«

»Gut, glaube ich . . .«

Claudia runzelte die Stirn. »Ihr werdet euch doch wohl ein bisschen unterhalten haben.«

»Hm . . . ja . . .«, stammelte Meike. Wenn sie nur wüsste, was außerdem noch passiert war.

»Und was hat sie dir erzählt?«

»Sie wohnt auch wieder in Goslar.« Meikes Stimme klang ein wenig gereizt. Sie bereute längst, überhaupt mit dem Thema angefangen zu haben.

»Dann werdet ihr euch doch bestimmt demnächst öfter treffen«, sagte Claudia.

Meikes Magen krampfte sich zusammen. Das ganze Wochenende hatte sie nichts mehr von Franzi gehört. Auch wenn Franzi gesagt hatte, sie würde anrufen . . . »Vielleicht.«

»Und war auch ein netter Mann bei eurem Klassentreffen dabei?«, bohrte Claudia weiter.

Meike verschluckte sich beinahe an ihrem Kaffee. Wenn Claudia wüsste . . . »Wie kommst du denn darauf?«

»Ich finde nur«, erklärte Claudia, »ein Jahr nach deiner Scheidung wird es endlich Zeit für etwas Neues.«

Etwas Neues. Tja, das hatte sie in der Tat ausprobiert. Meike räusperte sich. »Ich weiß nicht.«

Claudias Finger trommelten auf die Tischplatte. »Vielleicht sollte ich dir mal Matthias vorstellen. Ein Bekannter von uns. Single. Mitte dreißig. Intelligent. Sehr nett und, nicht zu vergessen, gutaussehend.«

Meike zog eine Grimasse. »Vielen Dank. Ich bin glücklich, so wie es ist.«

»Ah ja.« Claudia legte sich den Zeigefinger ans Kinn. »Gibt es vielleicht schon wen, von dem ich nichts weiß?«, mutmaßte sie. Ihre Augen fixierten Meike.

Die kaute auf ihrer Lippe. »Nein, es gibt niemanden.« Sie nahm ihre Tasse in die Hand, um ihre Finger zu wärmen. Es gibt niemanden, wiederholte sie ihre Worte innerlich wie zur Bekräftigung. Das, was am Wochenende passiert war, war ein Ausrutscher gewesen.

~*~*~*~

Meike musste verrückt geworden sein. Die ganze letzte Nacht hatte Franzi ihr den Schlaf geraubt. Sie ging ihr einfach nicht aus dem Kopf, egal, was sie versuchte.

Sie parkte ihren Wagen vor der Apotheke. Das musste ein Ende haben. Sie musste noch einmal mit Franzi sprechen, sie musste klären, was zwischen ihnen vorgefallen war. Dass es nur ein Ausrutscher gewesen war. Sonst würde sie keine Ruhe finden.

Meike atmete tief durch und stieg aus. Umständlich schloss sie die Autotür ab, um etwas Zeit zu gewinnen. Sie war direkt nach der Schule zu der Apotheke gefahren, in der Franzi arbeitete. Es war die einzige Möglichkeit, sie wiederzusehen, denn Meike kannte weder Franzis Telefonnummer noch ihre Adresse.

Als Meike vor der Eingangstür stand, wischte sie ihre feuchten Hände an ihrer Hose ab. Sollte sie wirklich . . .? Was sollte sie Franzi sagen? Mit weichen Knien trat sie schließlich ein.

Sofort fiel ihr Blick auf Franzi, die hinter der Verkaufstheke stand und gerade dabei war, einer älteren Dame Medikamentenschachteln in eine Tüte zu packen. Das Läuten der Türglocke hatte Meikes Ankunft angekündigt, aber niemand schien Notiz von ihr zu nehmen.

In ihrem weißen Kittel sah Franzi sehr professionell aus. Sie lächelte der Dame freundlich zu, als sie ihr die Tüte überreichte. Meikes Herz klopfte schneller.

Die Frau bedankte sich bei Franzi und verließ die Apotheke.

Nun war Meike an der Reihe. Sie machte einen Schritt nach vorn. Noch einmal holte sie tief Luft.

»Guten Tag. Wie kann ich Ihnen . . .« Mitten im Satz brach Franzi ab und starrte sie an. »Meike«, flüsterte sie. Sie zupfte an ihren kurzen Haaren.

»Hallo, Franzi«, begrüßte Meike sie.

»Das ist aber eine Überraschung. Was machst du denn hier?«

»Ach . . .« Meike fasste sich mit der Hand an den Hals. »Ich habe da . . . so ein Kratzen . . . im Hals. Ich dachte . . .«, stammelte sie. »Die Apotheke liegt ja ganz in der Nähe der Schule, und ich . . . Hast du irgendetwas gegen Halsschmerzen?« Im selben Moment hätte sie sich am liebsten selbst geohrfeigt. Warum war sie so feige? Warum konnte sie Franzi nicht die Wahrheit sagen? Ihr sagen, dass sie sie wiedersehen wollte? Noch einmal mit ihr reden musste?

»Natürlich.« Franzi griff nach einer Schachtel, die hinter ihr im Regal stand. »Hier, die sind gut.« Sie legte die gelbe Packung auf die Theke. »Damit wird es dir schnell besser gehen.«

Meike senkte den Blick auf die Theke. »Danke«, murmelte sie.

Franzi tippte den Preis in ihre Kasse und verstaute die Halsschmerztabletten zusammen mit einer Packung Taschentücher in einer Tüte. »Das macht dann fünf Euro vierzig.«

Meike kramte das Geld aus ihrem Portemonnaie und gab es Franzi.

»Meike . . .« Franzi zögerte einen Moment. »Es tut mir leid, dass ich am Samstag so plötzlich abgehauen bin.« Sie faltete die Hände. »Es war wirklich ein schöner Abend.«

Meike nickte. »Das fand ich auch.«

»Hast du vielleicht Lust, morgen mit mir einen Kaffee trinken zu gehen? Ich würde dir gern noch etwas erklären.« Franzi suchte Meikes Blick. »Vielleicht verstehst du mich dann besser.«

Wieder beschleunigte sich Meikes Herzschlag. »Sehr gern.« Tiefe Erleichterung stieg in ihr hoch. Hätte Franzi nicht den ersten Schritt gemacht, hätte sie sich wahrscheinlich niemals getraut.

»Also, natürlich nur, wenn es dir bis dahin nicht schlechter gehen sollte.« Franzi zwinkerte Meike zu.

Das Blut schoss Meike ins Gesicht. War ihre Ausrede so durchschaubar gewesen? »Bestimmt nicht.«

Franzi nahm einen kleinen Zettel und schrieb ein paar Zahlen darauf. »Nur für alle Fälle. Meine Handynummer.« Einen winzigen Augenblick berührten sich ihre Fingerspitzen, als Franzi Meike den Zettel reichte.

»Danke.« Meike steckte ihn in ihre Hosentasche.

»Dann um vier im Café Am Markt?«, fragte Franzi. »Schaffst du das so früh?«

»Auf jeden Fall. Ich freue mich.« Meike lächelte Franzi an. »Bis morgen«, verabschiedete sie sich.

»Vergiss deine Halsschmerztabletten nicht.« Franzi wedelte mit der Tüte in Meikes Richtung.

Mit erhitzten Wangen nahm Meike das Medikament entgegen, bevor sie sich auf den Heimweg machte.

~*~*~*~

Franzi sah sich in dem kleinen Café um. Entgegen ihrer sonstigen Art war sie einige Minuten zu früh. Von Meike war noch nichts zu sehen.

Franzi hatte den Feierabend kaum abwarten können. Den ganzen Vormittag über hatte sie immer wieder verstohlene Blicke auf die Uhr geworfen, nur um jedes Mal festzustellen, dass doch erst wenige Minuten vergangen waren. Schon lange hatte sich Franzi nicht mehr so auf etwas gefreut. Aber genau genommen hatte es auch schon lange nichts mehr gegeben, das für solche Vorfreude hätte sorgen können. Nach Isabels Tod war sie fast allen Verabredungen aus dem Weg gegangen.

Franzi entschied sich für einen Tisch neben dem Fenster, von dem man den Goslarer Marktplatz gut beobachten konnte. Sie war froh, dass Meike gestern bei ihr vorbeigekommen war. Wer weiß, ob sie sich sonst wiedergesehen hätten.

Kurz darauf kam eine Kellnerin auf Franzi zu. »Darf ich Ihnen schon etwas bringen?«, fragte sie.

»Nein, danke. Ich warte noch.« Franzis Finger trommelten auf die Tischplatte, während sie die Tür anstarrte. Würde Meike wirklich kommen, oder hatte sie es sich am Ende doch noch anders überlegt?

Endlich schwang die Tür auf, und Meike kam herein. Sofort entdeckte sie Franzi und winkte ihr zu.

»Du bist ja schon da. Dabei dachte ich, ich wäre viel zu früh.« Meike lachte, was Franzis Herz dazu brachte, schneller zu schlagen.

Franzi fuhr sich durch die Haare. »Tja, ich war wohl einfach nur noch früher.«

Meike zog ihre Jacke aus und hängte sie über ihren Stuhl. »Du konntest es also nicht abwarten, mich zu sehen. Das ist schön.« Ihre Mundwinkel zuckten verdächtig.

Franzis Blick glitt unwillkürlich an Meikes Körper entlang. Die blonden Haare hatte sie heute zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie trug eine hellblaue Bluse zu ihrer Jeans. Wieder einmal wurde Franzi bewusst, wie attraktiv Meike war.

Viel zu schnell setzte sich Meike Franzi gegenüber. »Ich glaube, das letzte Mal, dass ich hier war, ist eine Ewigkeit her. Das muss gewesen sein, kurz bevor ich zum Studium nach Hannover gegangen bin.« Meike nahm die Karte in die Hand und schlug sie auf.

»Bei mir muss es ähnlich lange her sein«, erwiderte Franzi.

Über die Karte hinweg grinste Meike sie an. »Wir werden langsam alt.«

Erneut trat die Kellnerin an ihren Tisch und nahm die Bestellung auf.

»Wie bist du eigentlich auf die Idee gekommen, in Hannover zu studieren?«, fragte Franzi nach einem kurzen Augenblick der Stille. »Und vor allem – wie bist du auf die Idee gekommen, Lehramt zu studieren? Du hast doch früher immer gesagt, dass du nie wie dein Vater Lehrer werden wolltest.«

Meike räusperte sich. »Irgendetwas musste ich ja nach der Schule machen. Und wie du selbst weißt, wusste ich ewig nicht, was ich werden sollte. Tja, und meinen Vater kennst du auch . . .«

Franzi nickte. Herrn Jacobs hatte sie noch sehr gut in Erinnerung. Wie oft hatte er Franzi zu verstehen gegeben, dass sie einen schlechten Einfluss auf Meike ausübe. Alles, was die beiden Freundinnen zusammen unternommen hatten, hatte er kritisch beäugt, immer in der Angst, seine wohlerzogene Meike könnte durch Franzis Gesellschaft auf die schiefe Bahn geraten.

»Jedenfalls«, fuhr Meike fort, »meinte er, ich solle etwas Anständiges lernen. Lehramt sei da eine sehr gute Wahl. Und . . .« Meike zögerte. Ihre Augen hafteten an der Tischdecke. »So habe ich mich dafür entschieden. Und mal abgesehen davon, dass man in Goslar gar nicht auf Lehramt studieren kann, wollte ich unbedingt weg von hier.«

»Oh, das kann ich gut verstehen. Auch wenn ich nur bis Braunschweig gekommen bin – ewig hier zu bleiben, ohne je etwas anderes zu sehen, das hätte mich auch umgebracht.« Franzi zwinkerte Meike zu.

»Deswegen habe ich mich für Hannover entschieden.«

Die Kellnerin stellte zwei herrlich duftende Tassen Kaffee und zwei frische Stücke Zuckerkuchen vor ihnen ab.

»Und wie bist du auf Deutsch und Bio gekommen?«, hakte Franzi weiter nach. Sie schob sich mit ihrer Gabel ein Stückchen Kuchen in den Mund.

»Das waren die beiden Fächer, die mich am meisten interessiert haben. Und Theologie, was sich mein Vater für mich gewünscht hätte, wollte ich auf gar keinen Fall studieren.« Meike nahm einen Schluck Kaffee. »Bei aller Liebe nicht. Unsere sonntäglichen Kirchgänge haben mir gereicht. Und Papas tägliche Predigten ebenfalls.«

»Bist du denn jetzt mit deiner Entscheidung glücklich?« Franzi nippte an ihrer Tasse. Bisher hatte es sich so angehört, als wäre Meike nur Lehrerin geworden, um ihren Vater zufriedenzustellen.

Aber Meike strahlte. »Auf jeden Fall.«

Das Leuchten in ihren Augen war fast ein wenig zu viel für Franzi. Für eine Sekunde verlor sie sich in dem Grün und vergaß beinahe, wo sie war.

»Ich bin gern Lehrerin«, fuhr Meike fort. »Ich liebe meinen Beruf und meine Schüler. Natürlich ist es manchmal anstrengend, aber es macht mir viel Spaß. Und welcher Beruf ist schon nie anstrengend?«

»Das stimmt.« Franzi wischte sich einige Kuchenkrümel vom Mund.

»Weißt du, was mir gestern passiert ist?« Meike konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen. Erwartungsvoll sah sie zu Franzi, die die Schultern zuckte und auffordernd zurückschaute. »Gestern habe ich zwei dreizehnjährige Mädels dabei erwischt, wie sie sich hinter dem Schulgebäude eine Zigarette angezündet haben. Und obwohl ich sie ihnen als Lehrerin natürlich wegnehmen und sie zur Schulleitung zitieren musste, musste ich auch ein wenig schmunzeln.«

Franzi lachte. »Ich kann mir vorstellen, woran du gedacht hast.«

»Ganz genau. An uns beide, wie wir uns mit vierzehn heimlich eine Zigarette teilen wollten. Meine Güte, bin ich aufgeregt gewesen.« Meikes Finger verknoteten sich.

»Ich aber auch. Das kannst du mir glauben. Und als dann Frau Schumann um die Ecke kam . . .« Franzi schüttelte belustigt den Kopf. »Da ist mir vielleicht das Herz in die Hose gerutscht.«

»Ich glaube, ich hatte danach niemals wieder das Gefühl, etwas so Verbotenes zu tun.« Die Erinnerung ließ Meikes Wangen erröten. »Und meine Eltern waren natürlich gar nicht begeistert, als der Direktor sie kurz darauf angerufen hat.«

»Ich habe meine Eltern auch schon besser gelaunt erlebt. Aber dass dein Vater dir zwei Wochen verboten hat, dich mit mir zu treffen, das fand ich übertrieben.« Es war das erste Mal gewesen, dass Meikes Vater Franzi ganz direkt beschuldigt hatte, Meike zu verführen. Wenn auch nur zu einer Zigarette . . . Gut, dass er mehr nicht wusste.

»Das war schon eine schöne Zeit damals mit uns«, seufzte Meike.

Ihre Blicke trafen sich. Sofort spürte Franzi wieder dieses Kribbeln in ihrer Magengegend. »Das war es wirklich.«

Meike holte tief Luft, ehe sie sich von Franzis Augen löste. »Franzi . . .«, begann sie. »Damals . . . also . . . auf der Klassenfahrt . . .«

Franzi schluckte. Es war klar, was kommen würde, und wahrscheinlich war es längst überfällig, dass sie noch einmal in Ruhe darüber sprachen. Neulich in Meikes Wohnung hatte sie es unbedingt gewollt. Aber jetzt machte es sie auf einmal sehr nervös.

»Was hat dir das bedeutet?«, stellte Meike ihre Frage.

Franzi rieb sich über den Nasenrücken. Die ehrliche Antwort war: Dieser Kuss auf der Klassenfahrt war die Erfüllung zahlreicher Träume gewesen. Aber er hatte so schmerzhafte Folgen gehabt, dass es ihr schwerfiel, sich die Gefühle von damals zu vergegenwärtigen, ohne allzu emotional zu werden. »Meike, du weißt, dass du immer meine beste Freundin warst. Und irgendwann – ich weiß überhaupt nicht mehr, wann das genau war – ist für mich aus dieser Freundschaft plötzlich mehr geworden. Ich habe mich zu dir hingezogen gefühlt.« Franzi zupfte an der Tischdecke und vermied es, Meike anzusehen. Sie war sich sicher, dass Meike das damals bemerkt hatte, auch wenn sie versucht hatte, es zu überspielen. »Ich wollte das überhaupt nicht, weil ich unsere Freundschaft nicht riskieren wollte, aber gegen diese Gefühle konnte ich mich einfach nicht wehren. Und es war ja nicht nur, dass du meine beste Freundin warst . . . du warst auch noch dazu eine Frau. Das war eine sehr verwirrende Zeit für mich.«

Meike griff über den Tisch hinweg nach Franzis Händen. »Und ich konnte dir nicht beistehen«, murmelte sie. »Ich hatte nicht den Mut dazu. Ich habe gemerkt, dass dich etwas beschäftigt. Und manchmal hast du mich plötzlich so komisch angesehen. Aber ich wollte das nicht wahrhaben. Bis dahin hat es so etwas in meiner Welt nicht gegeben.«

»Ach, Meike, ich mache dir deswegen gar keine Vorwürfe. Ich kann dich verstehen.« Franzi biss sich auf die Unterlippe. »Und auf der Klassenfahrt . . . ich weiß auch nicht, wie das passieren konnte. Wir hatten so viel Spaß miteinander, sind uns so nahe gekommen, und irgendwie konnte ich dann nicht widerstehen. Ich musste dich einfach küssen.«

»Es war ein schöner erster Kuss für mich. Schöner hätte ich mir mein erstes Mal nicht vorstellen können«, gestand Meike. Sie lächelte Franzi an.

»Aber trotzdem hat er alles zwischen uns zerstört.« Franzi runzelte die Stirn. »Auch wenn wir nie darüber geredet haben – danach hast du dich von mir distanziert. Es ist nicht so, als könnte ich das nicht nachvollziehen. Aber verletzt hat es mich trotzdem. Ich habe nicht nur meine erste große Liebe verloren, sondern meine beste Freundin noch dazu.« Für einen Moment schloss Franzi die Augen. Auch nach all den Jahren schmerzte diese Erinnerung. Damals war sie halbwegs schnell darüber hinweggekommen – jedenfalls hatte sie das bis zum Abend des Klassentreffens gedacht. Sie hatte sich bald neu verliebt, und dieses Mal war ihre Liebe erwidert worden. Aber die Zurückweisung hatte eine Narbe hinterlassen, deren Tiefe ihr erst jetzt richtig bewusst wurde.

»Deine erste große Liebe?« Meike ließ Franzis Hände los und richtete sich kerzengerade auf ihrem Stuhl auf.

»Na ja . . .«, gab Franzi zögernd zu. »Zumindest warst du die erste Frau, in die ich mich ernsthaft verliebt habe. Das war mehr als nur eine harmlose Schwärmerei.«

»Es tut mir leid, wie ich damals reagiert habe«, entschuldigte sich Meike. »Ich . . .« Sie atmete hörbar aus. »Ich konnte das einfach nicht. Ich meine, du warst eine Frau, und ich . . . ich bin hetero.« Sie starrte auf die Tischdecke. »Wie war das eigentlich für dich, als du gemerkt hast, dass du lesbisch bist?«, erkundigte sie sich nach einer Pause leise.