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Die neue Assistenzärztin Linda verliebt sich im Krankenhaus in die unnahbare Oberärztin Alexandra. Obwohl Alexandra keine Beziehung eingehen will, kommen sie sich näher. Der Kampf um die Stelle als Leitende Oberärztin und Alexandras Ex stehen jedoch wie eine Mauer zwischen ihr und Linda - aber Linda gibt nicht auf, um Alexandras Liebe zu kämpfen ...
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Seitenzahl: 371
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Roman
© 2013édition el!es
www.elles.de [email protected]
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN 978-3-95609-080-6
Coverillustrationen: © krishnacreations, ulisse – Fotolia.com
Linda war froh, dass sie sich auf dem Gelände durch das Studium einigermaßen auskannte, sonst hätte sie das richtige Gebäude in dieser Betonwüste niemals gefunden. Sie steuerte vom Parkhaus direkt auf den Haupteingang zu. In dreißig Minuten würde sie wissen, ob dieses Krankenhaus für die nächsten Jahre ihr neuer Lebensmittelpunkt sein würde – ob an dieser Stelle ihre Zukunft begann.
Nach ihrem Medizinstudium hatte sich Linda eine kleine Auszeit von zwei Monaten genommen, aber nun wurde es langsam Zeit, Geld zu verdienen. Ihr Vater, der große Neurochirurg, hätte sie sofort in seiner eigenen Klinik eingestellt. Lindas vehemente Gegenwehr hatte er nicht verstanden. Oder nicht verstehen wollen.
Aber Linda wollte auf eigenen Beinen stehen, sich etwas Eigenes aufbauen. Dieses Bewerbungsgespräch war der erste Schritt dazu.
Sie betrat das Universitätsklinikum Köln mit einer Mischung aus Aufregung und Vorfreude. Jetzt oder nie.
Professor Rosenbusch lehnte sich in seinem Sessel zurück und lächelte Linda zu. »Ich würde mich freuen, Sie Anfang März bei uns begrüßen zu dürfen. Sie wären eine große Verstärkung für unser Team.«
Das Gespräch war gut gelaufen, sehr gut sogar. Insbesondere, wenn man bedachte, dass es Lindas allererstes Bewerbungsgespräch gewesen war – und ihre Traumstelle. Zu gut, um wahr zu sein? Sie zögerte.
»Was halten Sie davon«, fuhr Professor Rosenbusch fort, »wenn Sie noch einmal unsere Klinik besichtigen und sich ein Bild von den Stationen, den Operationssälen und den Kollegen machen? Ich denke, das wird Sie endgültig überzeugen.«
Linda nickte. »Gern.« Das wäre eine gute Möglichkeit, herauszufinden, ob nicht vielleicht doch irgendwo eine Falle lauerte oder eine Warnlampe aufleuchtete.
Professor Rosenbusch nahm sein Telefon und wählte. »Rosenbusch. Hallo«, meldete er sich. »Kommen Sie bitte in mein Büro, damit Sie einer Bewerberin die Klinik zeigen können.« Ohne eine Antwort abzuwarten, legte er auf. Er ließ keinen Zweifel daran, dass er der Chef war. Der Mann mit Macht. Dieses Verhalten hatte Linda schon während des Studiums kennengelernt, als er einige Vorlesungen in ihrem Semester gehalten hatte.
»Unsere Oberärztin wird Sie gleich herumführen«, sagte Professor Rosenbusch, nun wieder an Linda gewandt. Damit stand er auf und ging auf seine Bürotür zu. Linda folgte ihm.
»Sie können hier draußen warten.« Er deutete auf eine Sitzgruppe vor seinem Zimmer. »Sie wird jeden Moment hier sein. Und anschließend kommen Sie noch einmal zu mir.«
»Danke.« Linda strich ihre Bluse glatt, bevor sie sich setzte. Auch wenn ihre Kommilitonen ihr gesagt hatten, dass es im Moment keine Schwierigkeiten gab, eine Stelle zu finden, war sie doch überrascht, dass es so glatt lief. Zumal Professor Rosenbusch dafür bekannt war, dass Frauen es schwer hatten bei ihm, mehr leisten mussten als die männlichen Kollegen, um die gleiche Anerkennung zu erhalten. Die eine oder andere Doktorandin, die Linda kannte, hatte irgendwann frustriert ihre Promotion abgebrochen, weil er ständig mehr gefordert hatte. Er war ein Chirurg der alten Schule. Wie Lindas Vater. Konservativ, altmodisch, Verfechter eines längst überholten Rollenverständnisses – und völlig ungerührt von dem Umstand, dass das in Zeiten, in denen mehr Frauen als Männer Medizin studierten, nicht mehr aufrecht zu halten war.
Sie lehnte sich zurück und atmete tief durch. Vielleicht war genau das die Warnlampe – der entscheidende Faktor, der die Traumstelle zur Albtraumstelle machen würde. Wollte sie sich das wirklich antun?
»Sie sind die Bewerberin?«
Linda sah auf. Eine hochgewachsene, dunkelhaarige Frau in weißem Kittel stand vor ihr. Linda erkannte sie sofort. So eine Frau vergaß man nicht.
»Hat es Ihnen die Sprache verschlagen?«, fragte die Oberärztin und kreuzte die Arme vor der Brust.
Das Blut schoss Linda ins Gesicht. Sie konnte dem Gesichtsausdruck ihres Gegenübers nicht entnehmen, ob diese sich amüsierte oder ärgerte. »Entschuldigen Sie. Ich . . .«, stammelte Linda. »Ja, ich bin die Bewerberin.« Sie stand auf, doch sie musste den Kopf trotzdem recken, um der deutlich größeren Oberärztin in die dunkelbraunen Augen sehen zu können. Sie zwang sich zur Beherrschung und streckte die Hand aus. »Linda Willer«, stellte sie sich vor.
»Alexandra Kirchhoff.« Die Oberärztin drückte Lindas Hand fest. Ihre Gesichtszüge blieben regungslos.
»Ich weiß«, murmelte Linda.
»Bitte?« Auf der Stirn der Oberärztin bildeten sich zwei steile Falten.
»Ich meine . . . Ich weiß, dass Sie Frau Doktor Kirchhoff sind.« Linda strich sich eine Strähne ihrer kinnlangen Haare hinter das Ohr. Eine Verlegenheitsgeste. Sie war sicher, dass die Oberärztin es auch sofort als solche durchschaute.
Alexandra Kirchhoff hob fragend eine Augenbraue. »Eilt mir mein Ruf so sehr voraus?«
»Ich habe hier eine Famulatur gemacht. Vor zwei Jahren«, erklärte Linda. Auch wenn sie die Oberärztin damals während ihres Praktikums nur ein paarmal gesehen hatte – diese kurze Zeit hatte ausgereicht, um ihr Alexandra unauslöschlich ins Gedächtnis einzubrennen. Was genau ihr damals an Alexandra aufgefallen war, verschwieg Linda allerdings lieber.
Alexandra studierte Linda genauer. Langsam glitt ihr Blick an ihr herab. Dann schaute sie ihr wieder in die Augen und nickte. »Stimmt. Ihr Gesicht kam mir auch bekannt vor. Sie waren bei Lennard Geis auf der Station.«
»Ganz genau.« Linda bemühte sich, sich ihre Überraschung nicht anmerken zu lassen. Niemals hätte sie gedacht, dass Alexandra sich noch an sie erinnern konnte, dass sie sie überhaupt bemerkt hatte.
»Lennard hat ein paarmal von Ihnen geschwärmt«, bemerkte Alexandra. »Er sagte, Sie hätten sich außerordentlich gut angestellt. Im Gegensatz zu den meisten anderen Studenten.«
Täuschte sich Linda, oder hatte Alexandras dunkle Stimme tatsächlich einen weicheren Ton angenommen? Sie senkte den Blick. »Dankeschön.« Hoffentlich konnte Alexandra nicht sehen, dass ihr das Blut in die Wangen geschossen war.
Doch bei den nächsten Worten klang Alexandras Stimme schon wieder kühl. »Also, was kann ich Ihnen dann noch zeigen? Ich habe nicht ewig Zeit.« Mit finsterem Blick sah sie auf die Bürotür von Professor Rosenbusch. »Genau genommen habe ich gar keine Zeit. Als ob es niemand anderen hier gäbe«, grummelte sie leise, aber nicht leise genug, als dass Linda sie nicht hätte hören können.
»Ich habe keine besonderen Wünsche«, gestand Linda. »Es war Professor Rosenbuschs Idee, dass ich mich hier noch einmal ein wenig umsehe und einen ersten Eindruck gewinne.«
Alexandra straffte die Schultern. »Dann folgen Sie mir einfach.«
Linda hatte große Mühe, mit Alexandras schnellen Schritten mitzuhalten. Hinter der großen, schlanken Oberärztin fühlte sie sich wie deren kleinerer Schatten.
Alexandra stieß die Tür zum Treppenhaus auf. »Wollen Sie denn bei uns anfangen?«
»Eigentlich schon . . .«
Mühelos glitt Alexandra die Treppen hinauf. »Aber?«
»Na ja, eigentlich ist das meine Traumstelle.«
»Das sind aber ein bisschen viele ‚eigentlich‘. Überlegen Sie es sich nicht zu lange. Professor Rosenbusch nimmt nicht jeden, und erst recht nicht jede.« Alexandra blieb auf dem Treppenabsatz stehen, drehte sich zu Linda um und fixierte sie mit ihren braunen Augen. »Diese Chance sollten Sie sich nicht entgehen lassen. Wenn Sie erst einmal an einer Uniklinik waren, stehen Ihnen alle Türen offen.«
Linda seufzte. Diese Worte hatte sie schon so oft gehört – viel zu oft für ihren Geschmack. »Ich weiß.«
Alexandra eilte weiter, bis sie die erste Station erreicht hatten. »Unsere Stationen sind alle ähnlich aufgebaut«, erklärte sie, während sie die Tür aufstieß. »Das dürfte Ihnen noch bekannt vorkommen.«
Linda folgte Alexandra auf den riesigen Flur.
»Es gibt zwei Stationen, die noch einmal in jeweils zwei Bereiche aufgeteilt sind. Und dazu die Privatstationen. Insgesamt haben wir knapp achtzig Betten mit fast dreitausend Patienten im Jahr.« Alexandra hielt an und musterte Linda. Ihre Lippen bildeten einen schmalen Spalt. »Das heißt, es gibt jede Menge zu tun. Keine Zeit zum Ausruhen.«
Linda nickte.
Vor einer Tür blieb Alexandra stehen und klopfte an. Ohne eine Antwort abzuwarten, betrat sie das Arztzimmer.
Eine junge Frau und ein junger Mann saßen an ihren Schreibtischen, jeweils eine Tasse Kaffee neben sich. Gleichzeitig sahen sie zu Alexandra auf, mit demselben erschrockenen Ausdruck in den Augen. »Oh . . . ähm . . .«, stammelte die junge Ärztin und rückte ihre Brille zurecht. »Du . . . du bist ja schon da. Wir wollten gerade . . .«
»Spart euch die Ausreden«, fuhr Alexandra barsch dazwischen, die Augenbrauen finster zusammengezogen. »Es sieht nicht so aus, als wärt ihr ausgelastet.«
Der Arzt setzte zu einer Erwiderung an, aber Alexandra schnitt ihm das Wort ab. »Keine Sorge. Ich wollte nur eine Bewerberin herumführen.« Sie trat einen Schritt zur Seite, um den Blick auf Linda freizugeben. »Das ist Linda Willer.«
»Hallo«, begrüßte Linda die beiden potentiellen neuen Kollegen, die etwas verschüchtert dreinschauten.
Die Ärztin stand auf und reichte Linda die Hand. »Yvonne Hübner.« Sie lächelte Linda freundlich an. »Und das ist Andreas Finke.«
Andreas blieb an seinem Platz sitzen und nickte ihr zu. »Hi.«
»Das ist mein Teil der Station«, fuhr Alexandra nun wieder fort. »Hier liegen vor allem Tumorpatienten, meist mit gut- oder bösartigen Veränderungen an Magen, Darm oder Speiseröhre. Wir haben hier jedoch auch einige der allgemeinchirurgischen Betten.« Sie wandte sich zum Gehen, doch bevor sie das Zimmer wieder verließ, drehte sie sich noch einmal zur ihren Assistenzärzten um. »Ich komme um drei wieder. Und ich erwarte, dass dann alles erledigt ist. Verstanden?«
Yvonne und Andreas nickten. »Natürlich«, erwiderten sie synchron.
Als sie wieder auf dem Flur standen, schüttelte Alexandra den Kopf. »Immer das gleiche«, brummte sie. Dann setzte sie ihre Führung fort und zeigte Linda den Rest der Station, den riesigen Operationsbereich und die Ambulanz. Dabei betonte sie noch mehrfach, dass Linda alle Möglichkeiten offenstehen und sie eine hervorragende Ausbildung genießen würde, wenn sie hier anfinge.
Nach einer knappen halben Stunde war die Tour beendet. »Ich denke«, meinte Alexandra, »Sie haben alles Wichtige gesehen. Zumindest fast.«
Linda lächelte. »Vielen Dank für Ihre Zeit und Ihre Mühe. Das hat mir bei meiner Entscheidung wirklich weitergeholfen.«
Alexandra unterbrach sie: »Nicht so hastig. Etwas Entscheidendes fehlt noch.«
»Was denn?«
»Die Kantine.« Alexandra hob eine Augenbraue. »Hätten Sie Lust, mich zum Mittagessen zu begleiten? Dann könnten wir die noch offenen Fragen klären.« Es war das erste Mal, dass sie Linda etwas Ähnliches schenkte wie ein Lächeln.
Lindas Herz klopfte plötzlich schneller, ohne dass sie es sich erklären konnte. Doch sie beschloss, es zu ignorieren. »Gern«, stimmte sie zu.
Kurz darauf hatten sie jede einen Teller Chili con carne ergattert. Alexandra lief voraus, um für sie beide einen Tisch auszusuchen. Sie stellte ihr Tablett ab und zog ihren Kittel aus.
Was darunter zum Vorschein kam, nahm Linda für einen Moment den Atem. Sie hatte Mühe, ihr eigenes Tablett sicher Alexandra gegenüber zu platzieren.
Unter Alexandras eleganter, taillierter roter Bluse zeichnete sich deutlich ihr muskulöser Oberkörper ab, der genau an den richtigen Stellen wohlgeformte Rundungen aufwies. Dazu trug sie eine schwarze Hose, die sich eng an ihre langen Beine schmiegte. Es waren ganz sicher keine Klamotten von der Stange, sondern edle Designerstücke – das konnte Linda auch ohne viel modischen Sachverstand beurteilen.
Sie schluckte, setzte sich und nahm etwas Reis auf die Gabel.
»Haben Sie denn noch Fragen?«, erkundigte sich Alexandra und trank einen großen Schluck von ihrer Cola.
»Eigentlich nicht.« Das stimmte. Und mittlerweile war sich Linda sicher, dass sie die Stelle gern annehmen würde. Schon bei ihrer Famulatur hatte die Klinik sie begeistert, und es schien sich wenig verändert zu haben. Außerdem brauchte sie einfach einen Job. Ihr Vater hatte sehr deutlich gemacht, dass er den Geldhahn abdrehen würde, wenn sie nicht langsam arbeiten würde; und allzu viel hatte Linda nicht gespart. Sie hatte also im Grunde gar keine Wahl.
Alexandra aß ihr Chili gemächlich und mit Genuss, und so hatte Linda die Möglichkeit, sie genauer zu betrachten. Ihre gerade Nase passte perfekt in das etwas kantige Gesicht mit den scharfen Konturen. Die langen, dunklen Haare hatte Alexandra hochgesteckt. Die Frisur stand ihr hervorragend.
Linda räusperte sich. Solche Gedanken waren wirklich unangemessen. Es spielte überhaupt keine Rolle, wie Alexandra aussah, was ihr stand und was nicht.
»Hat Professor Rosenbusch Ihnen alles zu unserem Dienstmodell erklärt?«, nahm Alexandra nach einer Weile das Gespräch wieder auf.
»Ja, das hat er. Es klingt sehr angenehm – die Schichten scheinen mir machbar zu sein.«
Alexandra nickte. »Ja, es könnte sehr viel schlimmer sein. Wir haben –«
In diesem Moment wurde sie unterbrochen: »Alexandra.« Eine Frau, die nicht viel kleiner als Alexandra sein konnte, blieb an ihrem Tisch stehen. »Das ist aber eine Überraschung.«
Alexandras Blick verdunkelte sich schlagartig. »Melanie.« Sie zog die Silben in die Länge, als sei der Name eine schlimme Krankheit.
»Du warst eine Ewigkeit nicht mehr hier essen. Seit wann gehst du wieder in die Kantine?« Die Fremde musterte Linda abschätzig und fuhr sich durch die kurzen, schwarzen Haare. »Und das nicht einmal allein.«
»Ich wüsste nicht, was dich das angeht«, gab Alexandra mit gleichmütiger Stimme zurück. Doch ihre Finger, die sich fest um die Gabel schlossen, verrieten Linda, dass sie nicht ganz so gelassen war, wie sie wirkte.
Herausfordernd sah Melanie Alexandra an. »Jede Menge.« Aber als Alexandra sie ignorierte und sich wieder ihrem Essen widmete, lächelte sie nur noch einmal süffisant, ehe sie sich umdrehte und verschwand.
Alexandra schüttelte fast unmerklich den Kopf. Dann holte sie tief Luft und wandte sich wieder Linda zu. »Entschuldigen Sie. Wo waren wir stehen geblieben?«, fragte sie ruhig.
Linda entschied, die Unterbrechung als nie geschehen zu behandeln. »Bei den Diensten.«
»Ach ja, genau. Kann ich Ihnen dazu noch etwas sagen?«
»Wissen Sie, wie viele Dienste jeder der Assistenten etwa im Monat macht?«, erkundigte sich Linda, um wenigstens noch eine Nachfrage zu stellen – auch wenn sie die Antwort bereits kannte.
Alexandra öffnete den Mund zu einer Antwort, doch in diesem Moment klingelte ihr Telefon.
»Es war auch ein Wunder, dass es so lange still war«, murmelte sie, während sie es aus ihrer Kitteltasche holte. »Kirchhoff«, meldete sie sich. »Ja, ich komme gleich zurück, wenn ich aufgegessen habe. Eine Stunde werdet ihr wohl mal ohne mich auskommen.« Ihre Finger fuhren den Rand des Tabletts entlang. »Ganz richtig, ich bin in der Kantine. Ich darf doch auch mal Mittagspause machen. Bis gleich.« Sie legte auf und verdrehte die Augen: »Tut mir leid, man hat hier einfach nie seine Ruhe.«
Linda lächelte. »Kein Problem.«
Mittlerweile hatten sie beide aufgegessen. Alexandra umriss die Organisation der Dienste mit ein paar knappen Sätzen, bevor sie abschließend sagte: »In Ordnung. Dann bringe ich Sie zurück zu Professor Rosenbusch.«
»Gern.« Linda stand auf. Wortlos legten sie den Weg zu Professor Rosenbuschs Büro zurück.
Erst als sie schon vor der Tür standen, ergriff Alexandra wieder das Wort: »Ich würde mich wirklich sehr freuen, wenn Sie sich für uns entscheiden. Ich hoffe, wir sehen uns wieder.«
Für einen kurzen Moment glaubte Linda ein Flackern in Alexandras Augen zu erkennen, als diese ihr zum Abschied die Hand reichte. Doch schon hatte Alexandra sich wieder umgedreht und eilte mit festen Schritten davon.
Linda sah ihr nach. Ihr Herzschlag raste, ihre Beine drohten nachzugeben. Was war plötzlich los mit ihr? Sie wischte die feuchten Finger an ihrer Hose ab. Es musste die Aufregung vor dieser neuen Herausforderung sein. Die erste Stelle. Das brachte sie ganz durcheinander.
Sie atmete noch einmal tief durch und klopfte an.
Professor Rosenbuschs Sekretärin bat sie einzutreten. Einen Moment später erschien Professor Rosenbusch in der angrenzenden Tür, und Linda folgte ihm in sein Zimmer.
»Und?«, erkundigte er sich, nachdem er die Tür geschlossen hatte.
Linda holte tief Luft. »Ich würde Ihr Angebot gern annehmen.«
Professor Rosenbusch lächelte. »Sehr schön. Nächste Woche, direkt zum ersten März? Wir können dringend eine neue Chirurgin brauchen.«
»Ja, das passt sehr gut.« Linda erwiderte sein Lächeln.
Professor Rosenbusch reichte ihr die Hand. »Dann lasse ich die Verträge aufsetzen. Meine Sekretärin wird Ihnen mitteilen, wann Sie sich wo einfinden sollen.«
Mit Herzklopfen betrat Linda den Frühbesprechungsraum. Den ersten Tag mit diversen Einführungsveranstaltungen hatte sie bereits hinter sich gebracht. Heute sollte ihr neuer Lebensabschnitt richtig beginnen. Ihr erster Tag als Ärztin.
Der Raum war schon gut gefüllt. Linda sah viele fremde Gesichter, dann entdeckte sie in der hintersten Reihe Yvonne und nahm neben ihr Platz. Wenigstens jemand, den sie von ihrer Führung nach dem Bewerbungsgespräch schon kannte.
»Hallo, Linda. Du bist also die ominöse Neue«, begrüßte Yvonne sie. »Das ist schön. Der Chef hat dich gestern schon angekündigt, aber ohne deinen Namen zu verraten.«
Bevor Linda antworten konnte, betrat Professor Rosenbusch den Raum. »Guten Morgen.«
Er ließ sich berichten, was im Nachtdienst vorgefallen war, und sagte dann: »Vielen Dank. Und nun möchte ich Ihnen unsere neue Kollegin vorstellen: Frau Linda Willer.«
Alle Augen waren auf Linda gerichtet. Sie erhob sich, nickte in die Runde und murmelte ein kurzes »Hallo.«
»Ab heute wird es auch eine neue Einteilung geben«, fuhr Professor Rosenbusch fort. »Frau Willer, Sie werden auf die chirurgische Onkologie gehen, zu Frau Kirchhoff. Herr Finke wird Sie dort verstärken. Kümmern Sie sich gut um unsere neue Mitarbeiterin.« Er nickte Andreas zu, der alles andere als zufrieden mit dieser Entscheidung aussah. »Frau Hübner wird auf die Überwachungsstation rotieren.«
»Endlich.« Yvonne stöhnte auf. »Noch einen Tag länger hätte ich es bei dieser Sklaventreiberin auch nicht mehr ausgehalten.«
»Was meinst du?« Linda wandte sich neugierig zu Yvonne, während der Chef den übrigen Rotationsplan vorstellte.
»Ach, vergiss es«, sagte Yvonne hastig und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Du wirst viel lernen bei Alexandra.«
In diesem Moment legte Andreas eine Hand auf Lindas Schulter. »Komm, ich zeig dir die Station.«
Linda stand auf und folgte ihm. Obwohl sie das Krankenhaus bereits kannte, würde es sicher noch eine Ewigkeit dauern, bis sie sich hier nicht mehr ständig verlaufen würde.
»In einer halben Stunde ist es mit der Ruhe vorbei«, sagte Andreas.
Fragend sah Linda ihren Kollegen an.
»Oberarztvisite«, erklärte er. »Wenn Alexandra erst einmal die Station betreten hat, tobt der Sturm.«
Linda fuhr sich mit dem Finger über das Kinn. Bei den anderen Assistenzärzten schien Alexandra nicht sonderlich beliebt zu sein.
»Sie ist eine exzellente Chirurgin«, fuhr Andreas fort, als habe er Lindas Gedanken gelesen. »Aber ich habe selten eine so arrogante und rücksichtslose Person kennengelernt. Nimm dich vor ihr in Acht. Sonst bist du schneller weg vom Fenster, als du gucken kannst. Du wärst nicht die Erste, die sie auf dem Gewissen hat.«
Linda hatte gar keine Zeit, über seine Worte nachzudenken, denn mittlerweile waren sie auf der Station angekommen. Andreas bedeutete ihr, ihm zu folgen, und machte Linda mit dem Pflegepersonal bekannt. Alle begrüßten Linda sehr freundlich. Sie hatte nur Zweifel, dass sie sich alle Namen würde merken können. Dann zeigte er ihr noch einmal in Ruhe die übrigen Räume.
Als sie gerade vor der Tür des Arztzimmers standen, hörte Linda feste Schritte. Sie brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass Alexandra hinter ihnen stand.
»Da seid ihr ja.« Alexandra folgte den beiden ins Zimmer. »Nehmt Platz«, forderte sie sie auf und suchte sich einen Stuhl, von dem aus sie Linda und Andreas sehen konnte. »Ich freue mich, dass du hier bist«, wandte sie sich dann an Linda. »Ich halte es eigentlich immer so, dass ich mich mit den Assistenten duze. Ich finde, das ist im OP angenehmer. Ist das okay?«
Linda nickte. »Natürlich.«
»Sehr gut. Bevor es gleich mit der Visite losgeht, noch ein paar grundlegende Dinge. Ich habe mich bei Professor Rosenbusch sehr dafür eingesetzt, dass du auf meine Station kommst.« Alexandras Augen suchten Lindas.
Sie hatte was? Linda konnte diesem intensiven Blick kaum standhalten, und noch viel weniger konnte sie glauben, was sie da hörte. Sie hielt die Luft an.
»Und deshalb hoffe ich ganz besonders, dass du mich nicht enttäuschst. Ich erwarte Pünktlichkeit, Gewissenhaftigkeit und Fleiß.« Mit jedem Wort deutete Alexandras Zeigefinger in Lindas Richtung. »Haben wir uns verstanden?«
Linda nickte abermals. »Selbstverständlich.« Das konnte ja heiter werden.
»Und Andreas«, Alexandra richtete ihren durchdringenden Blick nun auf Lindas Kollegen, und ihre Stimme war zum Schneiden scharf, »du brauchst gar nicht so die Augen zu verdrehen. Das gilt für dich genauso.« Sie stand auf und zog ihren Kittel zurecht. »Und jetzt los, die Patienten warten.«
Andreas marschierte voran und griff nach dem Wagen, in dem die Akten verstaut waren. Währenddessen zeigte Alexandra zum Ende des Flurs und verkündete: »Wir fangen dort hinten an. Heute wirst du alle Patienten kennenlernen. Andreas wird mir diese Woche überwiegend im OP assistieren, dann hast du genügend Zeit, dich hier mit allem vertraut zu machen.«
Linda straffte die Schultern. »In Ordnung, das werde ich.« Wenn sie unter Alexandra bestehen wollte, musste sie sich zusammenreißen. Es würde nicht reichen, wie sonst auch einmal ein Auge zuzudrücken. Daran ließ Alexandra keinen Zweifel.
Sie waren vor der ersten Zimmertür angekommen. Alexandra klopfte beherzt an, hielt aber vor dem Eintreten noch einmal inne. »Frau Amberger?«, rief sie über den Flur. Anna Amberger war die Stationsleitung, das hatte Linda sich gemerkt. »Wo sind Sie? Wir machen Visite.«
Die Schwester eilte herbei. »Entschuldigung, Frau Doktor Kirchhoff.«
Die tiefe Falte, die sich zwischen Alexandras Augenbrauen gebildet hatte, machte deutlich, dass die Oberärztin keine Zeit mit Reden zu verschwenden gedachte. Sie betrat das Zimmer und blieb vor dem ersten Bett stehen. »Guten Morgen«, begrüßte sie den Patienten.
Andreas fasste zusammen: »Herr Kruse hat die OP gut überstanden. Die Histologie steht noch aus.«
»Und die Wunde?«, hakte Alexandra nach.
»Reizlos, völlig unauffällig.«
»Keine Hinweise auf eine Anastomoseninsuffizienz?«
Andreas schüttelte den Kopf.
Alexandra drehte sich zu Linda um. »Bei allen großen Bauch-OPs musst du unbedingt darauf achten, ob es Hinweise darauf gibt, dass die Naht nicht dicht ist und Stuhl in den Bauchraum gelangt. Wenn du das übersiehst, kann es schlimme Folgen haben. Nachher möchte ich alle Symptome und weiteren Komplikationen von dir hören. Ich werde dich abfragen.«
Anna Amberger beugte sich zu Linda und flüsterte: »Keine Sorge, sie ist nicht immer so. Manchmal muss sie nur ihr Revier markieren. Sie kann auch nett sein.«
Nach dem, was sie an diesem Tag bereits über Alexandra gehört hatte, war sich Linda da nicht so sicher.
»Können Sie bitte einmal den Bauch frei machen?«, wandte sich Alexandra wieder an den Patienten.
Herr Kruse schob sein Schlafanzugoberteil hoch. Alexandra stellte sich neben das Bett und begann den Bauch abzutasten.
Lindas Blick fiel auf Alexandras lange, schlanke Finger mit den vollendet manikürten, aber kurzen Nägeln, die geübt in den Bauch drückten. Perfekte, schöne Chirurgenhände, kam es ihr in den Sinn. Was sie wohl noch damit . . .
Linda stoppte sich mit aller Gewalt, bevor ihre Gedanken weiter abdriften konnten. Ein leiser Seufzer entfuhr ihr. So etwas durfte sie nicht einmal denken.
Alexandra war ihre Oberärztin.
Linda hatte das Gefühl, sich nie wieder aus ihrem Sessel erheben zu können. Ihre Beine fühlten sich an wie aus Blei. Sie rieb sich über die Schläfen, um den Kopfschmerz zu vertreiben. Es waren zu viele neue Eindrücke gewesen, die auf sie eingestürmt waren. So viele neue Menschen. Und vor allem . . .
Linda schluckte. Alexandra. Sie nahm ihren Block wieder in die Hand, auf dem sie sich einige Notizen zu Krankheitsbildern gemacht hatte. Alexandra hatte angekündigt, sie in den nächsten Tagen zwischendurch immer wieder abzufragen. Aber Linda fiel es schwer, die Augen offen zu halten. Mehrfach musste sie ein Gähnen unterdrücken. Dabei war es erst früher Abend, noch längst nicht Zeit, schlafen zu gehen.
Das Telefon klingelte. Ächzend quälte sich Linda hoch. Den ganzen Tag zu stehen und zu laufen war doch etwas ganz anderes, als am Schreibtisch zu sitzen und zu lernen. Und das, obwohl sich Linda durchaus für sportlich hielt.
Als sie nach dem Telefon griff, erkannte sie sofort die Nummer ihrer Eltern im Display.
»Hallo, mein Kind«, begrüßte Lindas Mutter sie. »Wie war der erste Tag? Dein Vater und ich platzen schon vor Neugierde.«
Das konnte sich Linda bildlich vorstellen. Ihr Vater war sicherlich die letzten Stunden um das Telefon getigert, und als es einfach nicht klingeln wollte, hatte er seine Frau vorgeschickt, bei Linda anzurufen. So war es immer.
Linda ließ sich wieder in den Sessel fallen. »Sehr gut, aber anstrengend. Ich bin völlig erschlagen.«
»Ja, das kann ich mir vorstellen. Ich kann mich noch sehr gut an meine erste Zeit im Krankenhaus erinnern.« Simone Willer lachte leise. »Nach den ersten paar Tagen war ich kurz davor zu kündigen, aber das hat sich schnell wieder gegeben. Hast du denn nette Kollegen?«
»Soweit man das nach einem Tag sagen kann, ja, ich denke schon.« Unvermittelt erschienen diese unglaublichen braunen Augen vor Linda. Mit einem leichten Kopfschütteln versuchte sie dieses Bild zu vertreiben und stattdessen an Andreas und Yvonne zu denken.
»Das ist schön. Ich gebe dich mal an deinen Vater, bevor er mir noch das Telefon aus der Hand reißt. Ich wünsche dir viel Spaß in den nächsten Tagen. Und melde dich zwischendurch mal.«
»Natürlich, Mama.«
Nun klang die tiefe Stimme ihres Vaters durch die Leitung: »Linda.«
»Hallo, Papa.« Linda lehnte sich zurück, atmete tief ein und stieß die Luft dann langsam wieder aus. Dieses Gespräch hatte sie die ganze Zeit vermeiden wollen.
»Wie ist es an einer Uniklinik so?«
»Wahrscheinlich wie es an jeder anderen Klinik am ersten Tag auch gewesen wäre.« Lindas Antwort kam giftiger als beabsichtigt.
Ihr Vater ignorierte das und fragte weiter: »Was hast du denn heute den ganzen Tag so gemacht? Schon operiert?«
Natürlich, sie hatte an ihrem ersten Tag schon allein eine große Magen-OP durchgeführt. Lindas Hand krallte sich in der Sessellehne fest. Was dachte ihr Vater denn? »Ich habe erst einmal die Station kennengelernt. Ich bin zunächst in der Tumorchirurgie eingesetzt. Und nächste Woche darf ich dann wahrscheinlich auch mal im OP assistieren.«
»Tumorchirurgie. Krebspatienten.« Ihr Vater seufzte. »Ob das das Richtige für dich ist?«
»Ich weiß, dass du davon nichts hältst. Aber es gibt auch noch etwas anderes als Neurochirurgie.« Linda fühlte, wie sich ihre Kiefermuskeln anspannten. »Du solltest dich damit abfinden, dass ich nicht in deine Fußstapfen treten werde.«
»Überleg es dir. Wenn du erst mal merkst, wie langweilig Viszeralchirurgie ist . . .«
»Vergiss es«, fiel Linda ihm ins Wort. »Ich werde weder Neurochirurgin werden noch eine wissenschaftliche Karriere machen.«
»Ja, ja«, erwiderte ihr Vater nur. Seinem Tonfall konnte Linda entnehmen, dass er ihre Antwort mal wieder nur für eine Spinnerei hielt. »Den Zahn werden dir deine Oberärzte und der Chef schon noch ziehen.«
»Ich glaube, ich werde mit ihnen gut auskommen«, entgegnete Linda patzig.
»Warten wir es ab«, sagte ihr Vater, deutlich hörbar von der Richtigkeit seiner Worte überzeugt.
Linda gab auf. »Ich muss gleich los zum Hockeytraining«, sagte sie, um das Gespräch zu beenden. Eigentlich wusste sie in diesem Moment nicht, ob sie sich wirklich zum Training aufraffen konnte. Aber sie hatte auch keine Lust, länger mit ihren Eltern zu reden.
»Dann mach dir noch einen schönen Abend«, verabschiedete sich ihr Vater.
»Danke. Das werde ich.«
Alexandras Augen brannten. Vor ihr auf dem Schreibtisch lag ein Stapel Entlassungsbriefe, von ihren unzähligen Korrekturen und Änderungen geradezu entstellt. Eigentlich konnte es nicht so schwer sein, einen vernünftigen Brief zustande zu bringen, aber das, was ihre Assistenten ablieferten, grenzte teilweise an eine Beleidigung.
Sie lehnte sich für einen Moment in ihrem Stuhl zurück und rieb sich über die geschlossenen Lider. Immer wieder drückte sie auf den Knopf des Kugelschreibers und lauschte dem gleichmäßigen Klicken, mit dem die Mine heraus- und wieder hineinsprang. Ob ihre Mitarbeiter überhaupt verstanden, was sie hier tagein, tagaus machten? Wenn Alexandra las, was sie schrieben, zweifelte sie daran.
Es klopfte. »Alexandra?«, drang eine Männerstimme durch die verschlossene Tür.
Alexandra richtete sich wieder auf und strich ihre Bluse glatt. »Ja?«
Die Tür öffnete sich, und der Leitende Oberarzt Rainer Strobel betrat das Büro. »Ich habe mir schon gedacht, dass ich dich noch hier finde. Wie immer fleißig.«
»Oh, hallo, Rainer. Setz dich doch. Möchtest du einen Kaffee?« Ohne die Antwort abzuwarten, drehte sich Alexandra zu ihrem Kaffeeautomaten um und stellte ihn an. Schon bald erfüllte ein angenehmer Duft den Raum.
Rainer Strobel hängte seinen Kittel an einen Haken und nahm Alexandra gegenüber Platz.
»Was verschafft mir denn die Ehre deines Besuchs?«, erkundigte sich Alexandra, während sie die Kaffeetasse vor dem Leitenden Oberarzt abstellte.
Rainer rückte seine Krawatte zurecht. »Ich wollte dir etwas Wichtiges mitteilen.« Er räusperte sich. »Und du solltest – nach dem Chef – die Erste sein, die es erfährt.«
Alexandra hob fragend eine Augenbraue. »Aha? Jetzt bin ich aber gespannt.«
Rainer fuhr sich mit der Hand durch die kurzen grauen Haare, bevor er verkündete: »Meine Zeit ist Ende Juni abgelaufen.«
»Wie meinst du das?«
»Ich werde in Rente gehen. Meine letzten Arbeitstage sind gezählt.« Er nahm einen Schluck aus seiner Kaffeetasse.
Alexandras Finger klopften rhythmisch auf die Tischplatte. Aber ihr Gesicht zeigte keine Regung, als sie sagte: »Das ist wirklich eine Überraschung. Für mich warst du immer so etwas wie Inventar hier.«
Rainer lachte. »Genau deswegen gehe ich auch, weil ich schon viel zu viele Jahre hier bin. Jetzt reicht es.« Er wurde wieder ernst. »Du weißt aber auch, was das bedeutet . . .?« Erwartungsvoll sah er Alexandra an.
Alexandra holte tief Luft, dann nickte sie. Natürlich wusste sie, was das hieß. Und sie konnte sich auch lebhaft vorstellen, was das für die kommenden Wochen bedeutete. »Deine Stelle wird frei. Wir brauchen einen neuen Leitenden Oberarzt.«
»Ganz genau. Und deswegen solltest du das als Erste erfahren.« Rainer fixierte Alexandra. »Du wärst perfekt für diesen Posten.«
Alexandra seufzte. »Abgesehen davon, dass ich noch nicht einmal vierzig bin und . . .« Sie hielt kurz inne. ». . . eine Frau. Unverheiratet noch dazu. Genau die Eigenschaften, die Professor Rosenbusch schätzt.«
»Seit du bei uns an der Klinik bist, konnte ich immer wieder dein Talent bewundern«, konterte Rainer. »Du operierst hervorragend. Kein anderer unserer Oberärzte kommt an dich heran.« Er stand auf, stellte sich hinter seinen Stuhl und stützte sich auf die Lehne. »Und du bist zudem eine großartige Wissenschaftlerin.«
»Ich glaube nicht, dass der Chef das ebenso sieht.« Alexandra zog eine Grimasse.
»Alexandra . . .« Rainer sah sie eindringlich an. »Du weißt, dass ich dich, seit du hier bist, unterstützt habe. Ich habe viele Ärzte gesehen – ich weiß, wovon ich spreche. Meinem Urteil kannst du trauen. Du hast wirklich Talent, und dir steht eine große Karriere bevor.«
Leitende Oberärztin werden. Und vielleicht irgendwann Chefärztin . . . Das war tatsächlich schon immer Alexandras Traum gewesen. Dafür hatte sie tagtäglich hart gearbeitet. Von Anfang an. Schon im Studium. Und Rainer hatte recht. Das wusste sie – so selbstbewusst war sie. Sie war gut.
»Ich werde mich beim Chef für dich einsetzen, wenn du damit einverstanden bist«, fuhr Rainer fort. »Und ich bin mir ganz sicher, dass deine Chancen gut stehen.«
»Danke, Rainer.« Sie sah ihn an, ohne zu lächeln. »Ich weiß es sehr zu schätzen, dass du zu mir gekommen bist.«
»Dann kann ich dich beim Chef für meine Nachfolge vorschlagen?«
Für einen kurzen Augenblick schloss Alexandra die Lider und atmete tief durch. Als sie die Augen wieder öffnete, war ihr Blick fest. »Ja, kannst du.« Mit einem Kopfnicken unterstrich sie ihre Worte.
Rainer löste seine Hände von der Stuhllehne. »Sehr gut, ich freue mich. Dann werde ich mal weiter arbeiten gehen.« Als er die Tür erreicht hatte, drehte er sich noch einmal um: »Du solltest in Zukunft jedenfalls nett zu deiner neuen Assistentin sein.«
»Ich bin immer nett zu meinen Assistenten«, erwiderte Alexandra, eine Spur Entrüstung in der Stimme.
Rainer zwinkerte. »Da habe ich aber schon anderes gehört.«
Alexandra krauste die Stirn. »Wenn der eine oder andere so empfindlich ist und mit Kritik nicht umgehen kann, kann ich auch nichts dafür.«
»Dann beherrsch dich bei Linda Willer eben.«
Die Erwähnung von Lindas Namen ließ Alexandras Laune aus unerfindlichen Gründen steigen. Beinahe lächelte sie nun doch. »Was ist denn mit Linda?«, fragte sie.
»Ihr Vater wird dir das Leben zur Hölle machen, wenn du seiner Kleinen etwas antust.«
»Ihr Vater?«
»Professor Willer. Der Neurochirurg aus Düsseldorf.«
Alexandra erstarrte. »Der Professor Willer?« Ihre Zähne gruben sich schmerzhaft in ihre Unterlippe.
»Genau der.«
Alexandra legte den Kopf in den Nacken. »Verdammt«, murmelte sie.
»Das wusstest du nicht?«
Alexandra schüttelte den Kopf. »Anscheinend ist mir das entgangen.« Wie hatte ihr das nur passieren können?
»Na, dann weißt du es jetzt.« Rainer nickte ihr zu und ging.
Professor Willer. Linda war seine Tochter. Ausgerechnet. Alexandra stand auf, ging zum Fenster hinüber und blickte in den Park.
Willer.
Der Name hätte ihr doch sofort auffallen müssen. Aber wahrscheinlich hatten sie andere Dinge an Linda abgelenkt. Alexandra konnte das Lächeln jetzt nicht mehr unterdrücken. Auf sonderbare Weise war sie vom ersten Augenblick an von Linda fasziniert gewesen. Für ihren Namen hatte sie sich dabei nicht interessiert. Und Linda war so anders als ihr Vater, dass wohl niemand von selbst darauf gekommen wäre, dass sie seine Tochter sein könnte.
Sie atmete ein paarmal tief ein und aus. Ihr Magen zog sich zusammen. Nein. Nein, ich denke jetzt nicht mehr daran. Das ist vorbei.
Entschlossen stand sie auf und nahm ihren Kittel vom Haken. Es war Zeit für die nachmittägliche Visite. Arbeit war immer das beste Heilmittel, gegen alte wie neue Katastrophen. Das hatte sie jahrelang mit Erfolg erprobt.
Auf dem Weg zur Station gingen ihr Rainers Worte nicht aus dem Kopf. Stand ihr wirklich eine große Karriere bevor? Sie hatte sich immer gern ausgemalt, wie sie eines Tages eine Klinik leiten würde, wie sie alle wichtigen Entscheidungen treffen würde und vor allem, wie sie im OP das Sagen hatte. Der Weg dorthin führte unweigerlich über eine Stelle als Leitende Oberärztin, vor allem, wenn sie an einer Uniklinik bleiben wollte. Und das wollte sie. Sie liebte die Wissenschaft, sie wollte weiter forschen, und das mit großen Möglichkeiten.
Alexandras Schritte wurden energischer. Sie musste diese Stelle bekommen. Um jeden Preis. Sie war dafür geeignet, davon war sie überzeugt. Vielleicht war sie wirklich die Beste dafür.
»Hoppla! Nicht so stürmisch.«
Alexandra schreckte zurück. Fast wäre es zum Zusammenstoß gekommen.
»Dabei hätte ich nichts dagegen, dir wieder näherzukommen.«
Erst jetzt wurde Alexandra bewusst, dass sie diese Stimme kannte. Melanies kalte Augen blitzten sie an.
»Das letzte Mal ist so lange her«, fuhr Melanie mit einem Lächeln fort. Sie senkte die Stimme. »Viel zu lange.«
»Was willst du?«, fragte Alexandra barsch.
Melanie stellte sich direkt vor sie. »Das weißt du doch ganz genau.«
Alexandra wollte einen Schritt an ihr vorbei machen, aber Melanie folgte ihrer Bewegung und versperrte ihr den Weg. »Du wirst mir helfen«, flüsterte sie. »Ganz sicher. Du weißt genau, was ich gegen dich in der Hand habe.«
»Lass mich einfach in Ruhe. Wann verstehst du das endlich?« Unsanft stieß Alexandra Melanie zur Seite. Mit durchgedrücktem Oberkörper ging sie an ihr vorbei und drehte sich nicht noch einmal um.
Das mit Melanie musste ein Ende haben. Definitiv.
Alexandra hätte schon vor einer Viertelstunde auf der Station sein sollen. Erneut sah Linda auf ihre Armbanduhr. In dreißig Minuten war Feierabend, und sie musste Alexandra noch drei neue Patienten vorstellen, die für geplante Operationen am Folgetag aufgenommen worden waren. Außerdem musste sie noch einige Entlassungsbriefe vorbereiten, und es warteten mehrere Angehörige darauf, mit ihr zu sprechen. Das würde sie niemals in dieser kurzen Zeit schaffen.
Sie saß im Arztzimmer vor einem PC und studierte die Laborwerte eines Patienten, der am Vortag operiert worden war. Eher war sie dazu nicht gekommen. Sie hatte sich das Arztleben zwar anstrengend vorgestellt, aber die Realität war noch stressiger. Es blieb ihr nur die Hoffnung, dass das auch an ihrer mangelnden Erfahrung lag und sich mit der Zeit geben würde.
»Da bist du ja.« Diese Stimme mit dem dunklen Timbre erkannte Linda sofort. Abrupt hielt sie in ihrer Arbeit inne. Alexandra war unbemerkt ins Zimmer getreten und stand jetzt hinter ihr.
»Die Nierenwerte sind aber ganz schön angestiegen in den letzten Tagen.« Mit schief gelegtem Kopf sah Alexandra auf den Monitor. »Wir müssen aufpassen. Wie viel Flüssigkeit bekommt Herr Huber im Moment?«
Linda schluckte. »Also . . . ich glaube . . .«
»Du sollst hier nicht glauben. Das kannst du in der Kirche«, fiel Alexandra ihr scharf ins Wort. Ihre Augenbrauen zogen sich bedrohlich zusammen. »Du sollst das wissen. Du musst die Patienten kennen. In- und auswendig.«
Linda nickte. »Tut mir leid.«
Da nahm Alexandras Gesicht unvermittelt einen weicheren Ausdruck an. »Na ja, es ist ja erst dein zweiter Arbeitstag, da werde ich etwas nachsichtiger sein. Aber achte für die Zukunft darauf. Und jetzt lass uns die Neuen angucken.«
Eilig nahm Linda die Akten in die Hand, die sie bereits zusammengesucht hatte.
»Wohin müssen wir?« Erwartungsvoll sah Alexandra sie an.
»Zimmer drei.«
Alexandra lief voraus, und Linda folgte ihr. Vor der Zimmertür blieb Alexandra stehen. »Und? Was haben wir hier?«
Für einen kurzen Augenblick trafen sich ihre Blicke, und Linda hatte das Gefühl, dass Alexandras Augen sie durchleuchteten wie ein Röntgenapparat. Sie spürte, wie ihr Gesicht heiß wurde. Ehe die Röte sich vertiefen konnte, spulte sie rasch ab: »Vierzigjährige Patientin zur Cholezystektomie bei multiplen Gallensteinen mit rezidivierenden Entzündungen. Aktuell nur gelegentlich Beschwerden.«
»In Ordnung.« Alexandra klopfte an und öffnete schwungvoll die Tür. Sie befragte die Patientin kurz, dann wandte sie sich wieder an Linda. »Wie war das Labor? Was hast du im Ultraschall gesehen?«
Linda wäre am liebsten im Erdboden versunken. Sie hatte an beides nicht gedacht. Dabei war es das absolut Selbstverständlichste, dass man vor einer Operation Blut abnahm, schon allein um die Gerinnungswerte zu prüfen. Kein Chirurg wollte ein Blutbad anrichten, nur weil eine Assistenzärztin vergessen hatte zu kontrollieren, ob der Patient ein Problem mit der Gerinnung hatte. »Ich wollte das gleich machen«, log Linda, und sie hätte wetten können, dass Alexandra das sofort durchschaute. Aber Alexandra sagte nichts, sondern nickte nur.
Erst als sie wieder draußen auf dem Flur standen, explodierte sie. »Es kann nicht dein Ernst sein, dass es noch kein Labor gibt. Du weißt, wie spät es ist? Die Operationen für morgen sind längst fest eingeplant. Willst du sie etwa morgen früh absagen, wenn die Patientin nicht operationsfähig ist? Dir ist bewusst, dass dann jemand anders, der stattdessen auf dem Tisch hätte liegen können, nicht drankommt?« Ihre Stimme überschlug sich beinahe.
Linda starrte auf den Boden. »Ich habe es einfach vergessen«, gab sie zu.
»Wie kann man so etwas Essentielles vergessen?«, fauchte Alexandra. »Das weiß jeder Student.« Dann holte sie tief Luft. »Egal. Hol das jetzt gleich nach – und dann hoffen wir, dass alles in Ordnung ist. Ist ja auch ziemlich viel Neues, was an den ersten Tagen alles auf einen einstürmt.« Sie legte Linda eine Hand auf die Schulter.
Linda versuchte zu lächeln, aber ihr war eher nach Heulen zumute. Sie kam gar nicht dazu, sich über Alexandras plötzliche Besänftigung zu wundern. Heute vermasselte sie wirklich alles.
Sie sahen sich noch die anderen beiden Patienten an. Auch wenn es bei ihnen deutlich besser lief, war Linda froh, als die Visite beendet war.
Alexandra drückte den Knopf am Aufzug. »Du weißt, was du jetzt zu tun hast«, sagte sie dabei. »Blut abnehmen bei Frau Kuzorra, die Vorbefunde von Herrn Pauli raussuchen, alle drei Patienten ausführlich aufklären, und dann möchte ich morgen früh alle Entlassungsbriefe für den Tag auf meinem Schreibtisch haben, damit ich sie noch korrigieren kann.«
Linda seufzte. Die große Wanduhr verriet ihr, dass sie eigentlich genau in dieser Sekunde Feierabend hatte, aber daran war offensichtlich noch lange nicht zu denken.
Alexandra war ihr entsetzter Blick auf die Uhr nicht entgangen. »Pünktlichen Feierabend kannst du direkt vergessen«, sagte sie. »Ich erwarte vollen Einsatz von dir. Immer. Auch, wenn es schon spät ist.«
»Den werde ich auch bringen. Ganz bestimmt«, entgegnete Linda. Dabei sehnte sie sich insgeheim nach ihrer Wohnung. Auch wenn die Arbeit ihr Spaß machte – irgendwann war es einfach genug.
Der Fahrstuhl war mittlerweile gekommen, und Alexandra stellte sich in die offene Tür, um ihn aufzuhalten. »Wohnst du eigentlich noch bei deinen Eltern?«, fragte sie.
Überrascht von diesem unerwarteten Themenwechsel sah Linda sie an. »Nein, schon lange nicht mehr. Sie wohnen in Düsseldorf, und ich bin zum Studium nach Köln gegangen.«
»Hätte ich mir auch denken können. Dein Vater arbeitet doch in Düsseldorf, oder?«
Ach, daher wehte der Wind. Es war immer das gleiche. Egal, wo Linda war – früher oder später kam zwangsläufig die Sprache auf ihren berühmten Vater. »Ja«, antwortete sie knapp. Sie hatte keine Lust, über ihren Vater zu sprechen.
Alexandra nickte. »Gut, dann bis morgen.« Sie stieg in den Fahrstuhl. »Und nimm es nicht persönlich, wenn ich vielleicht etwas hart war. Ich weiß, dass die ersten Tage schlimm sind.«
Das Letzte, was Linda sah, bevor sich die Fahrstuhltür schloss, war Alexandras bezauberndes Lächeln, das sie viel zu selten auf den Lippen hatte.
Für einen kurzen Moment gestattete sich Linda, die Augen zu schließen und sich gegen die Wand zu lehnen. Alexandra konnte noch so hart zu ihr sein – auf eine seltsame Art war Linda trotzdem von ihr hingerissen.
Das Klingeln ihres Telefons störte sie aus ihren Gedanken auf. Es war die Station. Der Pfleger wollte sie an ein Angehörigengespräch erinnern.
Nach der Blutentnahme und dem Gespräch zog sich Linda in ihr Arztzimmer zurück, um die ausstehenden Briefe vorzubereiten. Ziellos blätterte sie durch die Patientenakten. Wo sollte sie nur anfangen? Verzweiflung ergriff sie. Am liebsten hätte sie sich einfach in eine Ecke verkrochen. Aber es half ja nichts. Sie musste weiterarbeiten.
Linda legte eine Kassette in ihr Diktiergerät ein und startete es. Doch schon nach den ersten Sätzen öffnete sich die Tür, und Yvonne kam herein.
»Oh, entschuldige, ich wollte dich nicht stören.«
»Kein Problem.« Linda war froh über die Ablenkung. Sie schob das Diktiergerät von sich weg.
»Ich muss noch ein paar Sachen von mir hier rausholen.« Yvonne schloss einen Schrank auf und nahm einige Bücher heraus. »Du kannst den Schrank jetzt gern benutzen, wenn du willst. Ich lass dir den Schlüssel hier.«
»Vielen Dank.« Linda griff sich in den Nacken und versuchte die angespannten Muskeln etwas zu lockern.
Yvonne legte die Bücher auf dem Schreibtisch ab und musterte sie mitfühlend. »Du siehst aus, als könntest du einen Kaffee gebrauchen. War es bisher so schlimm?«
Linda nickte stumm.
»Ich bin sofort wieder da.«
Wenig später stellte Yvonne zwei randvolle Kaffeetassen neben Linda ab. Sie zog sich einen Stuhl zurecht und setzte sich. »Und jetzt erzähl mal. Liegt es an Alexandra? Ich habe dich ja gewarnt.«
Linda seufzte. »Es ist einfach alles so viel. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.«
»Das geht jedem am Anfang so«, sagte Yvonne und lächelte aufmunternd. »Nimm dir das nicht zu Herzen. Wenn du dich erst einmal durchgekämpft hast, wird es besser.«
»Meinst du?« Linda umklammerte ihre Tasse. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass es irgendwann wirklich besser werden sollte.
»Ganz bestimmt. Aber hier sind die Bedingungen besonders schwierig.«
»Wieso denn das?«
Yvonnes Blick verdunkelte sich. »Alexandra.«
»Wie meinst du das?« Linda richtete sich auf.
»Du kannst dir nicht vorstellen, wie froh ich bin, hier weg zu sein«, erklärte Yvonne mit Nachdruck. »Sie ist eine hervorragende Chirurgin, ich habe viel von ihr gelernt. Wirklich. Aber sie erwartet viel zu viel. Sie hat mir das Leben zur Hölle gemacht. Es war nie genug. Ihr ist immer noch etwas eingefallen. Glaubst du, ich habe jemals ein Lob von ihr gehört?«
Linda schluckte. Natürlich hatte Alexandra hohe Erwartungen und verlangte viel. Aber dass sie so schlimm war, das konnte Linda sich nicht vorstellen. Oder sie wollte nicht. »Hm«, machte sie und drehte ihre Tasse in den Händen.
»Du glaubst mir nicht? Warte mal ab.« Yvonne wickelte sich eine Strähne ihrer langen, rotblonden Haare um den Finger. »Sie hat nicht umsonst den größten Verschleiß an Assistentinnen. Mit ihr hält es niemand lange aus.« Ein verschwörerisches Lächeln umspielte ihre Lippen: »Und das nicht nur beruflich.«
Linda zog die Stirn kraus. Was wollte Yvonne damit nun wieder andeuten?
»Du willst doch nicht sagen«, fragte Yvonne mit hochgezogenen Brauen, »dass du noch nicht ihre Blicke bemerkt hast? Junge Frauen haben es ihr besonders angetan. Das munkelt man jedenfalls. Ich passte wohl nicht in ihr Beuteschema.«
Alexandras umwerfendes Lächeln schoss Linda in den Sinn. Ihre braunen Augen, mit denen sie Linda so intensiv ansah, dass Lindas ganzer Körper kribbelte.
Yvonne grinste. »Aber du bist genau ihr Typ. Also, sei vorsichtig, wenn du nicht willst, dass sie dich zerlegt. Sie ist gefährlich. Sie hat schon der einen oder anderen Frau das Herz gebrochen.« Damit stand sie auf und nahm ihre Bücher. »Und jetzt lass ich dich weiter arbeiten.«
Doch als Yvonne das Arztzimmer verlassen hatte, konnte Linda sich kein bisschen besser konzentrieren als zuvor. Ganz im Gegenteil. Yvonnes Worte schwirrten in ihrem Kopf umher, immer wieder und wieder, wie in einer Endlosschleife. Jedes Mal, wenn Linda tief einatmete, hatte sie das Gefühl, dass Alexandras Duft noch in der Luft hing. Warum nur musste sie ständig an Alexandra denken?
Nach einer Woche war es endlich so weit: Linda durfte das erste Mal Alexandra im OP assistieren. Natürlich war sie während ihrer zahlreichen Praktika schon im Operationssaal gewesen, aber dieses Mal war es etwas anderes. Erstmals trug sie auch Verantwortung, wenn auch nur ein bisschen.
Routiniert zog sich Linda in der Umkleide um, legte allen Schmuck ab, tauschte ihre normale Garderobe gegen die grüne OP-Kleidung, bedeckte ihre Haare mit einer Haube und setzte sich den Mundschutz auf. Zum Schluss schlüpfte sie in die grünen OP-Latschen. Zufrieden begutachtete sie sich im Spiegel. Genau das war es, was sie sich immer erträumt hatte: Sie war Chirurgin. In diesem Outfit fühlte sie sich wohl.