Kleine Küstenmorde - Jobst Schlennstedt - E-Book

Kleine Küstenmorde E-Book

Jobst Schlennstedt

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Beschreibung

Kriminelle Kurzgeschichten zwischen Nord- und Ostsee Das Idyll ist trügerisch - zwischen Nord- und Ostsee ist nichts und niemand sicher. Egal ob auf Amrum, Fehmarn, Föhr, Langeoog und Sylt oder aber in Hamburg, Heiligenhafen, Lübeck, Niendorf, St. Peter-Ording und Travemünde - an jeder Ecke lauert das Verbrechen. Siebzehn Kurzkrimis - fesselnd, tragisch, lustig, norddeutsch! Aber Vorsicht, nicht alles ist mit einem Augenzwinkern zu verstehen.

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Zum Autor

Jobst Schlennstedt, 1976 in Herford geboren und dort aufgewachsen, studierte Geographie an der Universität Bayreuth. Seit Anfang 2004 lebt er in Lübeck und ist hauptberuflich Geschäftsführer eines Beratungsunternehmens für die Hafen- und Logistikwirtschaft.

2006 schrieb er seinen ersten Kriminalroman mit dem Lübecker Kommissar Birger Andresen. Seit 2008 erscheinen seine Bücher im Kölner Emons Verlag. Mittlerweile hat Jobst Schlennstedt mehr als ein Dutzend Krimis sowie einen Thriller veröffentlicht, die nicht nur in Lübeck und an der Ostseeküste, sondern auch in Ostwestfalen spielen.

Für zahlreiche Anthologien hat Jobst Schlennstedt zudem kriminelle Kurzgeschichten beigesteuert, die nun in »Kleine Küstenmorde« gesammelt in einem Band vorliegen.

www.jobst-schlennstedt.de

www.instagram.com/jotes.hl

Inhalt

Sylter Royal Deluxe

Post aus Flensburg

Breit

Wir lagen vor Travemünde...

Aufs falsche Zelt gesetzt

Uthlande

Fangfrisch

Das letzte große Ding

Die Muse von Karl Lagerfeld

Picassos Pinsel

Laura

Der Sack

Das Schweigen der Dummersdorfer Lämmer

Das Gold von Steinwerder

Tödlicher Dreh – Die Geschichte von Marco, der Ferres und einem Freizeitpark

Die Möwe mit der Pommesgabel

Simon Strack, 33615 Bielefeld, Germany

Sylter Royal Deluxe

Sylt

Juliane Mittelstädt hob das Champagnerglas und versuchte alles, ihren Mann so verliebt wie möglich anzusehen. Genau wie damals, vor fünfzehn Jahren, als Jens hier im Fährmannshus in Keitum um ihre Hand angehalten hatte. Mit dem großen Unterschied, dass ihre Gefühle damals echt gewesen waren.

Fünfzehn Jahre, in denen zweifelsohne viel passiert war. So viel, dass sie keinen Tag länger an seiner Seite verbringen wollte. An der Seite eines Mannes, der, wie sie mittlerweile vermutete, noch am selben Abend, als sie sich vor siebzehn Jahren kennengelernt hatten, mit ihrer besten Freundin im Bett gelandet war. Eines Mannes, der in ihrer Hochzeitsnacht mit allen anwesenden Frauen unter vierzig hemmungslos geflirtet hatte. Eines Mannes, den die Freunde aus dem Golfclub mit einem Lächeln auf den Lippen schlichtweg den Einlocher nannten.

»Auf die nächsten fünfzehn Jahre«, sagte sie mit der sanftesten Stimme, zu der sie fähig war. Sie deutete einen Kussmund an, ehe sie an ihrem Wein nippte und langsam den Blick auf ihren Teller senkte.

Da lag sie, die gratinierte Auster. Sie verströmte einen Geruch, der ihren Schluckreflex vor eine gewaltige Herausforderung stellte. Sie konnte die Magensäure, die langsam ihre Speiseröhre emporkroch, bereits schmecken. Mittlerweile hatte sie aufgehört zu zählen, wie oft ihr von Austern bereits so schlecht geworden war, dass sie den Rest des Abends über der Kloschüssel in ihrem Hotelzimmer gehangen hatte.

Und doch hatte sie immer wieder gute Miene zum bösen Spiel gemacht, wenn Jens sie Jahr für Jahr hier ins Fährmannshus zu Champagner und gratinierten Austern eingeladen hatte. In Erinnerung an den verhängnisvollen Tag vor fünfzehn Jahren, als sie so überrumpelt gewesen war, dass sie einfach Ja gesagt hatte. Ohne dass er auch nur ansatzweise gemerkt hatte, wie sehr sie sich vor diesem widerlich salzig-fischigen Schleim ekelte. Und wie sehr sie sich inzwischen auch vor ihm ekelte.

»Warte«, sagte er plötzlich. »Bevor wir die Austern genießen und unsere Gaumen explodieren, muss ich dir etwas sagen. Es geht um uns beide.«

Juliane blickte ihren Mann mit großen Augen an. Ihre gespielte Überraschung empfand sie selbst als derart plump, dass sie den Kopf schütteln musste. Und doch war es wie jedes Jahr, wenn Jens zu seiner kleinen Rede auf ihre Liebe ansetzte.

»Du machst mich verlegen. Was hast du vor?«

»Diesmal habe ich mir etwas ganz Besonderes ausgedacht«, antwortete Jens mit einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen. Obwohl er im vergangenen Jahr fünfundfünfzig geworden und mehr als zehn Jahre älter war als Juliane, hatte er noch nichts von seinem Charme eingebüßt. »Ich möchte, dass wir es noch einmal tun.«

»Wie bitte?«

»Ich spreche von unserem schönsten Tag«, antwortete Jens noch immer lächelnd. »Wir werden ihn einfach wiederholen.«

»Ich weiß nicht, ob ich dich richtig verstehe.« Sie blickte ihren Mann einigermaßen fassungslos an. Diesmal jedoch war nichts davon gespielt.

»Ach Juliane, ich liebe dich und deine Naivität einfach«, redete Jens ungerührt weiter, während seine linke Hand vom Tisch glitt und in seiner Jacketttasche verschwand. Sekunden später legte er sie zurück und verdeckte notdürftig eine kleine schwarze Schatulle. Für einen kurzen Moment hob er seinen Kopf und sah sie ernst an.

»Möchtest du mich noch einmal heiraten?«, fragte er schließlich und öffnete mit einer schnellen Handbewegung die Schachtel. Ein funkelnder diamantener Ring kam zum Vorschein.

Juliane Mittelstädt spürte augenblicklich das Kribbeln in ihren Gliedmaßen. Ihr Körper wurde heiß, Adrenalin pumpte durch ihre Adern. Die pulsierenden Halsadern ließen sie nach Luft schnappen.

»Alles in Ordnung?«, fragte Jens besorgt. »Ich möchte dir eine kleine Freude bereiten. Dass wir beide unsere Liebe noch einmal erneuern. Deshalb möchte ich dir diesen Ring anstecken.« Er nahm den Ring zwischen Daumen und Zeigefinger und griff nach ihrer Hand. Im letzten Moment zog sie diese zurück.

»Was ist?«

»Ich weiß nicht«, antwortete sie irritiert. »Das kommt sehr überraschend. Wir sind doch auch so glücklich, oder nicht?«

»Natürlich sind wir glücklich, aber ich glaube, dass es nie dafür zu spät ist, einander unsere Liebe zu zeigen. Sie aufzufrischen, immer wieder daran zu arbeiten, dass es bis an unser Lebensende so bleibt, wie es ist. Darum würde ich dich gerne noch einmal zu meiner Frau nehmen.«

»Du machst mich verlegen. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.«

»Sag nichts, lass dir einfach den Ring anstecken.«

Juliane Mittelstädt schloss die Augen und atmete tief durch. Als sie sie wieder öffnete, steckte der Ring bereits an ihrem Finger. Dort, wo sich bis vor einigen Monaten noch ihr Ehering, ein schmuckloser, aber teurer Weißgoldring, befunden hatte. Schließlich lächelte sie wieder. Ein erzwungenes Lächeln.

»Er ist wunderschön«, sagte sie leise.

»Ja, das finde ich auch. Doch du machst ihn noch viel schöner.«

»Er muss ein Vermögen gekostet haben.«

»Nicht ein Bruchteil von dem, was du mir wert bist.«

Das leichte Grinsen auf seinem Gesicht rief einen kurzen Schauer hervor, der ihr über den Rücken lief.

»Und was, wenn mein alter Ring doch wieder auftaucht? Du weißt, dass ich ihn schon ein paar Mal verlegt habe.«

»Mach dir keine Gedanken, Schatz. Falls du ihn wiederfinden solltest, wirst du ihn als Anhänger tragen. Ich lasse dir eine Kette anfertigen.«

»Du bist süß«, sagte sie mit zusammengepressten Lippen.

»Noch etwas.« Jens griff erneut nach ihrer Hand und suchte den Augenkontakt.

Obwohl es Juliane schwerfiel, ihm in seine flirrenden Augen zu sehen, riss sie sich zusammen und erwiderte seinen Blick.

»Ich will dich noch einmal heiraten«, sagte er mit pathetisch klingender Stimme. »Das heißt nicht, dass ich dir lediglich einen neuen Ring anstecke. Ich möchte, dass wir all unseren Freunden zeigen, wie groß unsere Liebe ist.«

»Welchen Freunden?«, fragte Juliane leise.

»Wie bitte?«

»Schon gut, erzähl weiter.«

»Wir sollten das tun, was wir uns damals nicht getraut haben. Vor den Altar treten und uns ewige Treue schwören.«

Hatte er das gerade wirklich gesagt, fuhr es Juliane durch den Kopf. Treue? Dieser Mann, der womöglich während ihrer gesamten Beziehung fremdgegangen war, redete allen Ernstes von Treue. Ihr Magen verkrampfte sich augenblicklich. Das Gefühl, direkt auf den Tisch brechen zu müssen, war so groß, dass sie reflexartig ihre rechte Hand vor den Mund hielt.

»Was ist denn nur los mit dir?«, fragte er besorgt. »Du bist blass. Hast du dir etwas eingefangen? Wir sollten vielleicht besser auf unser Zimmer gehen.«

»Nein, nein«, entgegnete Juliane mit schwacher Stimme, während sich der Würgereiz nur schwer unterdrücken ließ. »Lass uns den Abend einfach genießen.«

»Du brauchst mir nichts vorzumachen«, sagte Jens. »Ich merke doch, dass es dir nicht gut geht.«

»Vielleicht fühle ich mich nur etwas von der Situation überfordert«, erklärte Juliane. »Hier mit dir zu sein und deine Worte zu hören, das ist etwas, das ...«

»Es tut mir leid«, unterbrach er sie. »Ich hätte wissen müssen, dass ich dich nicht so bedrängen darf. Gerade weil mir klar ist, wie schwierig das Ganze für dich ist.«

»Wovon redest du?«

»Wir beide wissen, dass wir damals nicht ohne Grund auf eine größere Feier verzichtet haben. Wir haben zwar nie darüber gesprochen, aber ich weiß doch, weshalb dir nicht danach war zu feiern.«

»Tut mir leid, Jens, ich kann dir nicht mehr folgen.«

»Lag es etwa nicht an meiner Vergangenheit?«, fragte er sichtlich überrascht. »An diesen Dingen, die man über mich erzählt hat? Du weißt schon, was ich meine.«

Juliane versuchte sich zu sammeln. Natürlich wusste sie, wovon er sprach. Sie hatte es schon damals gewusst, und dennoch alle Alarmglocken ignoriert. Freunde, Arbeitskollegen, selbst ihre Brüder hatten sie vor Jens gewarnt. Und doch war sie so blauäugig gewesen, einen Mann zu heiraten, dessen Ruf es war, Frauen scharenweise ins Bett zu bekommen und nicht selten mehrere Beziehungen gleichzeitig zu führen. Sie hatte ihm vertraut. Jahrelang hatte sie geglaubt, sie sei die einzige Frau in seinem Leben. Dass er ihre ständigen Reisen nach Sylt tatsächlich ihretwegen plante. Weil sie die Nordsee so sehr liebte. Den salzigen Geruch des Meeres. Die Möwen und die Schafe. Die Freiheit der Weite und die Ruhe fernab des Alltagsstresses. Und nicht, weil er sich hier auf der Insel mit anderen Frauen traf. Mit Affären, die er womöglich schon seit Jahren führte.

Sie hatte es geglaubt. Trotz aller Warnungen. Bis zu dem Tag vor exakt einem Jahr, als ihr Leben von einer auf die andere Sekunde aus den Fugen geraten war.

Wie jeden Morgen hatte sie das Hotel in Keitum für ihren täglichen Jogginglauf entlang des Wattenmeers verlassen. Bis kurz hinter Munkmarsch und wieder zurück. Knapp acht Kilometer. Vierzig Minuten. Manchmal auch mehr, wenn sie sich zwischendurch noch einen Latte macchiato und eine Marlboro Gold gönnte. Doch niemals weniger.

An diesem Morgen hatte sie jedoch schon nach einem knappen Kilometer abbrechen müssen. Das Seitenstechen, das ein ständiger Begleiter ihrer sportlichen Aktivitäten war, war stärker als üblich gewesen. Ihr war regelrecht schwarz vor Augen geworden, bis sich plötzlich ihr Magen entleert hatte.

Ohne einen Blick auf das flüssige Etwas vor ihren Füßen zu riskieren, hatte sie sofort geahnt, dass es die gratinierten Austern vom Vorabend gewesen waren, die sich den Weg zurück an die frische Luft gesucht hatten. In diesem Moment hatte sie sich geschworen, Jens reinen Wein einzuschenken. Er sollte endlich wissen, dass ihr von diesen Dingern schon immer schlecht geworden war. Dass sie diese glibschige Masse nie wieder nur ihm zuliebe essen würde.

Mit zittrigen Beinen war sie zurück zu ihrem kleinen, aber feinen Hotel gelaufen. Doch wenige Meter vor dem reetgedeckten Haus war sie schließlich zusammengebrochen. Mitten auf dem Weg hatte sie das Bewusstsein verloren. Für einen kurzen Moment, wenige Sekunden bevor ihre Augen zugefallen waren, hatte sie noch einmal innegehalten. Ihr Blick war an etwas hängen geblieben. Jens hatte auf dem Balkon gestanden. Jedoch nicht, weil er nach ihr Ausschau gehalten hatte. Er war auch nicht allein gewesen. In seinem Arm stattdessen eine Frau, nicht älter als dreißig.

Als sie Minuten später im Rettungswagen wieder zu sich gekommen war, hatte sie die Bilder sofort wieder vor Augen gehabt. Und nicht nur die.

Sofort kam ihr die gratinierte Auster wieder hoch. Die vierzehn gemeinsamen Ehejahre, sie erschienen ihr in diesem Augenblick wie eine einzige Farce. Die Warnungen aus ihrem Umfeld waren keine Hirngespinste gewesen, sondern grausame Realität. Der Mann, den sie geliebt hatte, dem sie mehr als jedem anderen Menschen vertraut hatte, war nichts anderes als ein Ehebrecher. Ein Betrüger. Ein Mistkerl. Ein Schwein. Eine linke Ratte. Kurz gesagt: ein Arschloch.

Rückblickend war es wohl so, dass sie bereits in dem Moment, in dem sie in die Klinik in Westerland eingeliefert worden war, Rache geschworen hatte. All die Schmach, die sie empfunden hatte und noch immer empfand, wollte sie nicht auf sich sitzen lassen. Jens sollte dieselben Schmerzen erfahren, die er ihr zugefügt hatte. Dass sie noch während ihres Klinikaufenthalts jemanden kennengelernt hatte, der ihr helfen würde, sich an ihm zu rächen, kam ihr im Nachhinein betrachtet wie eine Schicksalsfügung vor.

»Ich weiß, dass ich damals nicht immer alles richtig gemacht habe«, unterbrach Jens plötzlich ihre Gedanken. »Aber vieles von dem, was über mich erzählt wurde, entspricht einfach nicht der Wahrheit. Und ich werde das Gefühl nicht los, dass du da etwas vollkommen missverstanden hast. Denn das, was vor einem Jahr passiert ist, als du zusammengebrochen bist, also das, was du glaubst gesehen zu haben, war völlig anders, als du denkst. Diese Frau, die mich besucht hat, während du joggen warst, das war ...«

»Sprich bitte nicht weiter, ich will es nicht hören.«

»Sie ist nicht die, für die du sie hältst«, sagte Jens.

»Tatsächlich?«, brach es aus Juliane heraus. »Und wer bitte schön ist sie dann?«

»Was ich dir jetzt sage, darf niemals jemand anderes erfahren, verstehst du?«

Juliane rutschte immer unruhiger auf ihrem Stuhl umher. Am liebsten hätte sie laut losgeschrien, ihren Mann gewürgt oder ihm den Teller mit der gratinierten Auster ins Gesicht gefeuert, doch noch musste sie sich beherrschen.

»Es fällt mir nicht leicht, darüber zu reden«, fuhr Jens mit nachdenklicher Stimme fort. »Es gibt da tatsächlich eine andere Frau in meinem Leben. Sie heißt Isabel, die Frau, mit der du mich gesehen hast.«

Juliane schluckte schwer. Er gab also zu, ein Verhältnis mit einer anderen Frau zu haben.

»Vergiss alles, was du dir in den letzten Monaten ausgemalt hast. Das mit Isabel ist verdammt kompliziert, sie ist nämlich ...« Jens hielt inne, als ein junger Mann, nicht älter als Mitte zwanzig, an ihren Tisch trat und ihn fixierte.

»Kennen wir uns?«

»Hast du es ihm etwa noch nicht gesagt?«, fragte der Mann und blickte Juliane an.

»Wovon spricht dieser Typ?«, fragte Jens verwundert. »Wer ist er überhaupt?«

»Das ist Mark«, antwortete Juliane unsicher. »Er ist der Souschef im Fährmannshus.«

»Ich glaube, ich verstehe nicht so ganz. Woher kennst du ihn denn?«

»Bevor ich dir das verrate, sagst du mir jetzt endlich die Wahrheit. Ich will es aus deinem Mund hören. Was hattest du mit dieser Frau?« Juliane stützte sich mit beiden Armen auf dem Tisch ab, als wolle sie jeden Moment aufspringen.

»Was ich mit ihr hatte«, wiederholte Jens kopfschüttelnd. »Du glaubst also allen Ernstes, dass ich dich mit Isabel betrogen habe?«

»Alle haben mich vor dir gewarnt«, entgegnete sie. »Doch ich war so dumm, das nicht zu erkennen. Bis ich dich dann mit eigenen Augen gemeinsam mit ihr gesehen habe, innig vereint. Wie zum Teufel kannst du mir so etwas antun?«

»Willst du ihm nicht endlich sagen, was los ist?«, drängte Mark. »Oder soll ich es tun?«

»Ich kläre das, Mark.«

»Sag mir bitte, dass das nicht dein Ernst ist.« Plötzlich klang Jens verunsichert. »Du hast doch nicht tatsächlich etwas mit diesem ...« Er brach ab, als er sah, dass Mark noch einen Schritt auf ihn zukam.

»Für dich gelten also andere Maßstäbe als für mich? Du darfst mich betrügen und belügen, wie es dir passt, und von mir verlangst du, dass ich treudoof an deiner Seite bleibe.«

»Ich habe dich nicht betrogen«, sagte Jens leise. »Kein einziges Mal, seitdem ich dich zum ersten Mal geküsst habe.«

»Du glaubst ihm doch wohl nicht?«, fragte Mark aufgebracht. »Nach allem, was du mir über ihn erzählt hast. Nach allem, was zwischen uns beiden passiert ist.«

»Ich weiß überhaupt nichts mehr«, sagte Juliane. An Jens gewandt fuhr sie fort: »Ich war mir absolut sicher, dass Isabel und du ...« Sie brach ab. »Verdammt, ich war so wütend auf dich«, fuhr sie fort, nachdem sie sich wieder gesammelt hatte. Ich wollte mich an dir rächen. Nur deshalb habe ich mich auf Mark eingelassen. Das Ganze war doch nichts Ernstes.«

»Wie bitte?« Der junge Souschef blickte Juliane fassungslos an.

»Schick ihn weg«, sagte Jens hart. »Ich muss in Ruhe mit dir reden.«

»Würdest du uns bitte allein lassen, Mark. Wir sprechen nachher miteinander.«

Marc nickte und verzog seinen Mund zu einer Grimasse. Mit zusammengekniffenen Lippen entfernte er sich von ihrem Tisch.

»Sag mir jetzt endlich die Wahrheit über dich und diese Frau. Wenn sie nicht deine Affäre ist, weshalb du dann mit ihr auf dem Balkon unserer Wohnung gestanden hast?«

»Ich will es dir schon die ganze Zeit sagen, aber ich weiß nicht wie«, antwortete Jens. »Auch, weil ich weiß, dass es nicht in Isabels Sinn ist, wenn ich mit dir darüber rede. Aber um es kurz zu machen: Isabel ist meine Tochter.«

Juliane öffnete den Mund, schnappte nach Luft, doch sie blieb stumm. Kein Wort wollte über ihre Lippen dringen. Er behauptete ernsthaft, dass diese Frau seine Tochter sein sollte. Sie war bestimmt zwanzig Jahre jünger als er, biologisch wäre es also denkbar, aber sie war sich sicher, dass dem nicht so war.

»Das Ganze ist eine unbedeutende Sache vor sechsunddreißig Jahren gewesen. Mit einer Frau, die ich nur einmal getroffen habe. Ich habe selbst erst vor ein paar Jahren erfahren, dass aus dieser Affäre ein Kind entstanden ist. Vom ersten Moment an wollte ich es dir sagen, aber Isabel hat mich bekniet, es nicht zu tun. Sie war vollkommen überfordert von der Situation, plötzlich ihrem leiblichen Vater gegenüberzustehen.«

»Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll ...«

»Mir ist klar, dass es nicht richtig war, dich so lange im Unklaren zu lassen, aber es ist mir unheimlich wichtig, dass du verstehst, was da auf mich eingeprasselt ist. Schließlich musste ich erst einmal verarbeiten, dass ich plötzlich eine erwachsene Tochter habe.«

»Natürlich«, antwortete Juliane. »Wenn du mir verzeihst, was ich getan habe.« Sie lächelte unsicher und griff nach seiner Hand.

»Ich gebe zu, schockiert zu sein, dass du mit diesem Koch ...« Er sprach den Satz nicht zu Ende, setzte stattdessen aber den abschätzigsten Blick auf, zu dem er fähig war. »Jedoch sehe ich ein, dass ich dich mit meinem Verhalten erst dazu getrieben habe. Ich verzeihe dir also.«

»Stört es dich denn gar nicht?«

»Ich versuche nicht daran zu denken, was in den letzten Monaten passiert ist. Im Grunde kann ich dir nicht einmal einen Vorwurf machen.«

»Danke«, sagte sie beinahe flüsternd.

»Aber ich verzeihe dir nur, wenn du mich noch einmal heiratest.«

Juliane nickte, ohne ein Wort hervorzubringen.

»Dann lass uns jetzt endlich essen«, sagte er zufrieden. »Unser Lieblingsessen, ich kann es kaum erwarten.«

Juliane senkte den Kopf und blickte erneut auf ihre beiden Teller. Jeden Moment würde Jens die gratinierte Kruste auf seiner Auster aufschneiden und entdecken, was Mark ihm zubereitet hatte. Zum ersten Mal empfand sie bei dem Anblick der Muschel kein Ekelgefühl. Stattdessen huschte ein Lächeln über ihre Lippen. Sie schloss die Augen und zählte leise bis drei.

Jens’ Schrei war lauter, als sie vermutet hatte. Als Juliane die Augen wieder öffnete, sah sie gerade noch, wie sich ihr Mann von ihrem Tisch abwandte und auf den teuren Parkettboden des Fährmannshus erbrach. Es vergingen einige Sekunden, dann sprang er aufgebracht auf, sodass sein Stuhl umfiel.

»Das ist nicht dein Ernst?«, rief er fassungslos. »Das hast du nicht wirklich getan?«

Juliane verzog ihren Mund zu einer schrägen Grimasse. Der Marzipanfinger, den Mark eigens mit Kunstblatt präpariert hatte und der täuschend echt aussah, erfüllte seinen Zweck. Jens schien tatsächlich zu glauben, dass der Finger, der in seiner Auster lag, seiner Affäre Isabel gehörte. Vor allem aber deshalb, weil er mit Sicherheit erkannt hatte, was es mit dem am Marzipanfinger befindlichen Ring auf sich hatte. Juliane hatte ihn vor einigen Tagen in seiner Jacketttasche gefunden. Es war der gleiche Ring, den Jens ihr erst vor wenigen Minuten aufgesteckt hatte. Und doch war er nicht derselbe gewesen. Denn die Inschrift war eindeutig und hatte ihre letzten Zweifel beiseite gewischt.

»I + J«. Dazu ein Herz.

»Es ist vorbei, Jens«, sagte Juliane schließlich leise, aber mit fester Stimme. »Fünfzehn Jahre voller Lügen sind einfach genug.« Sie zog den Ring von ihrem Finger und legte ihn bedeutungsvoll auf den Tisch.

Im nächsten Augenblick erschien Mark erneut. Juliane erhob sich langsam von ihrem Stuhl, stellte sich neben ihn und blickte Jens triumphierend an.

»Ich hoffe, es hat Ihnen geschmeckt«, sagte Mark lächelnd. Dann legte er seinen Arm um Juliane, zog sie zu sich heran und küsste sie.

Post aus Flensburg

Lübeck

Peter Nielsen öffnete den Umschlag, den er gerade aus dem Briefkasten gefingert hatte, und wusste sofort, worum es sich handelte. Er erinnerte sich genau an die Situation vor ein paar Wochen. Er hatte wütend auf das Lenkrad seines in die Jahre gekommenen BMW geschlagen. Der rote Blitz hatte noch Sekunden später vor seinem inneren Auge gezuckt, obwohl er den Blitzer an der Neuen Hafenstraße schon längst hinter sich gelassen hatte.

Unzählige Male war er in Richtung Untertrave hinuntergefahren, und jedes einzelne Mal hatte er rechtzeitig abgebremst. Egal ob privat oder beruflich, dieser Blitzer, der erst vor einigen Jahren aufgestellt worden war, hatte ihn noch nie überlisten können. Doch in diesem Augenblick war er einen Moment zu lange mit seinem Smartphone beschäftigt gewesen.

Nielsen faltete das Schreiben der Bußgeldstelle der Hansestadt Lübeck auseinander und begann zu lesen.

Sehr geehrter Herr Nielsen,

dem Führer des PKW HL-PN 76 wird vorgeworfen, am 5. November 2015 um 17.27 Uhr in der Hansestadt Lübeck, in der Neuen Hafenstraße Rtg. Zentrum, folgende Ordnungswidrigkeit gem. § 24 Straßenverkehrsgesetz (StVG) in Verbindung mit § 49 Straßenverkehrsordnung (StVO) begangen zu haben:

Sie überschritten die zulässige Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften um 52 km/h; Festgestellte Geschwindigkeit (abzgl. Toleranz): 102 km/h.

Hundertzwei Stundenkilometer, die Fehlertoleranz des Messgerätes bereits inbegriffen. Verdammt. Nielsen schüttelte irritiert den Kopf. Nie im Leben war er so schnell gefahren. Vielleicht fünfundsechzig oder siebzig, aber doch keine hundertzwei.

Er wusste genau, was das bedeutete. Schließlich kannte er den Bußgeldkatalog besser als jeder andere. Zweihundertachtzig Euro Verwarngeld, zwei Punkte in Flensburg und zwei Monate Lappen weg. Letzteres spielte keine Rolle mehr. Seinen Lappen würde er unter diesen Umständen wohl für immer abgeben müssen, dafür war sein Punktekonto ohnehin schon viel zu hoch.

Nielsen schloss die Augen und dachte nach. Er musste einen Weg finden, diesem Dilemma zu entkommen. Irgendeine Story erfinden oder die Polizei davon überzeugen, dass sie einen Fehler begangen hatte. Viel Hoffnung hatte er nicht. Denn was ihn am unglaubwürdigsten machte, war letztendlich sein Vorstrafenregister in Flensburg.

Nielsens Blick wanderte weiter über den Brief. Über das abfotografierte Kennzeichen seines Wagens. Und über das Foto von ihm, das so unscharf war, dass er sich selbst kaum erkennen konnte. Er kniff die Augen zusammen und versuchte Einzelheiten auszumachen.

Das war doch nicht er, fuhr es ihm durch den Kopf. Der Typ auf dem Foto hatte Ähnlichkeit mit ihm, keine Frage. Aber die Haare waren etwas zu kurz, das Gesicht zu rund.

Nielsens Gedanken ratterten. Wenn er nicht derjenige auf dem Foto war, wer war es dann? Irgendwo in den Mühlen der Bürokratie hatte es ganz offenbar eine Verwechslung gegeben. Foto und Geschwindigkeitsmessung passten nicht zu Kennzeichen und Halter des Fahrzeugs. Wie nur sollte ihm die Polizei glauben? Schließlich war die Ähnlichkeit mit dem unbekannten Mann auf dem Foto einfach viel zu groß.

Er dachte jetzt noch angestrengter nach und massierte seine Schläfen. Spielte alle Optionen durch und verwarf das meiste sofort wieder. Letzten Endes gab es nur eine Möglichkeit, um das Gegenteil zu beweisen: Er musste denjenigen finden, der die Neue Hafenstraße mit über hundert Sachen hinunter gerast war.

Aufmerksam betrachtete er das Foto. Für einen kurzen Augenblick kam ihm sein Bruder in den Sinn. Eine vage Ähnlichkeit war nicht zu verleugnen. Vielleicht waren sie beide geblitzt worden, und jemand auf dem Amt hatte ihre Namen durcheinandergebracht. Er griff nach seinem Handy und wählte die Nummer seines Bruders. Noch bevor ein Freizeichen erklang, fiel es Nielsen wie Schuppen von den Augen, dass Ole auf Dienstreise im Ausland war. Ole, dieser geschniegelte Schleimer, dem jedes Mittel recht gewesen war, um Karriere zu machen. Er war ein erfolgreicher Manager, besaß Geld, Häuser und eine Frau, um die ihn jeder Mann beneidete.

Ole hatte das geschafft, was ihm selbst nicht vergönnt gewesen war. Er mochte ihn nicht, und er war sich sicher, dass die Abneigung auf Gegenseitigkeit beruhte.

Nielsen fixierte weiterhin das Foto. Etwas in ihm ließ ihn plötzlich glauben, den Mann schon einmal gesehen zu haben. Er versuchte sich zu erinnern, doch der lose Gedanke verschwand so schnell, wie er gekommen war. Behutsam faltete er den Brief wieder zusammen, sodass nur noch das Foto des Mannes zu erkennen war. Dann verstaute er ihn in seiner Manteltasche und trank hastig ein Glas Wasser. Ihm war eine Idee gekommen. Er kannte jemanden, der ihm vielleicht helfen konnte.

In den heruntergekommenen Räumlichkeiten in einer der Rippenstraßen in Lübecks Innenstadt ging es ruhig zu. Ruhiger als üblich zu dieser Jahreszeit, wenn sich die Detektivkanzlei von Christian Zieler in den Vorweihnachtstagen vor Aufträgen nicht mehr retten konnte. Eilig betrat Nielsen das Büro von Zieler. Sie kannten sich seit Grundschulzeiten, waren jedoch niemals enge Freunde geworden. Trotzdem liefen sie sich ständig über den Weg, meistens in den einschlägigen Kneipen auf der Altstadtinsel.

»Zille, du musst mir einen Gefallen tun.«

»Peter? Lange nichts von dir gehört. Wie läuft’s?«

»Geht so«, antwortete Nielsen kurz angebunden.

»Man sieht’s. Also, was kann ich für dich tun?«

Wortlos legte Nielsen seinem Gegenüber den zusammengefalteten Brief auf den Schreibtisch und zeigte auf das Foto des unbekannten Mannes.

»Erklärst du mir auch noch, was das soll?«, fragte Zieler nach einer halben Minute des Schweigens.

»Kennst du den Mann?«

»Sollte ich?«

»Hätte ja sein können. Ich muss dringend in Erfahrung bringen, um wen es sich handelt.«

»Darf ich fragen, weshalb?«

»Kannst du mir nicht einfach sagen, ob du weißt, wer das ist«, reagierte Nielsen, genervt von Zielers Fragen. »Ich habe da so eine Vermutung.«

»Ist ja gut«, antwortete Zieler beschwichtigend. »Bei dem Mann handelt es sich zweifellos um Hauke Ehlers.«

»Du meinst ...?«

»Ehlers«, wiederholte Zieler. »Genau der Ehlers.«

Nielsen nickte. Er erinnerte sich. Ehlers war ein mehrfach verurteilter Krimineller, der in regelmäßigen Abständen wegen kleinerer und größerer Delikte einsaß.

»Ist er aktuell ...?«

»Nein«, unterbrach ihn Zieler.

»Gut.« Nielsen war erleichtert.

»Verrätst du mir jetzt endlich, was diese Fragerei soll«, sagte Zieler energisch. »Oder glaubst du allen Ernstes, ich erkenne nicht, um welche Art von Foto es sich handelt? Woher hast du das?«

»Kann ich dir nicht sagen. Ich brauche aber dringend Ehlers’ Adresse.«

»Was willst du denn von dem?«

»Ich muss etwas mit ihm klären«, antwortete Nielsen ausweichend.

»Was hat er jetzt schon wieder verbrochen?«

»Das wird sich zeigen. Gibst du mir die Adresse?«

»Hudekamp«, knurrte Zieler. »In einem der Hochhäuser, die Hausnummer kenne ich nicht.«

»Danke.«

»Jetzt spuck schon aus, was du bei ihm willst.«

»Ein andermal. Ich muss los.« Nielsen sprang auf und hastete aus dem Büro.

»Oder hast du selbst etwa wieder Mist gebaut?«, rief ihm Zieler hinterher, doch Nielsen hörte die Worte des Privatdetektivs längst nicht mehr.

Der Hudekamp war eine Hochhaussiedlung am westlichen Rand des Lübecker Stadtteils Buntekuh. In den siebziger Jahren errichtet, hatte sich das ehemals moderne Wohnprojekt des sozialen Wohnungsbaus innerhalb vieler Jahre zu einem sozialen Brennpunkt entwickelt.

Seit mehr als dreißig Minuten schlich Nielsen bereits von einem Hauseingang zum nächsten, ohne dass er Ehlers’ Namen auf einem der Klingelschilder entdeckt hatte. Konnte es sein, dass Ehlers doch nicht hier wohnte? Oder er bei jemandem zur Untermiete lebte und sein Name nicht auf dem Klingelschild geschrieben stand?

Angespannt atmete er aus. Sollte er dem Mann überhaupt einen Besuch abstatten? Was sollte er ihn fragen? Ob er ebenfalls so einen Brief von den Behörden bekommen habe und sich vielleicht auch frage, ob es zu einer Verwechslung gekommen war?

Und dann? Wie sollte er den Mann davon überzeugen, sich der Bußgeldstelle oder der Polizei zu stellen, um die Wahrheit zu sagen. Dass er es gewesen war, der mit hundertzwei Stundenkilometern geblitzt worden war. Wenn Ehlers klug genug war, würde er alles abstreiten und sein Bußgeld, das wahrscheinlich nicht mehr als fünfzig Euro betrug, einfach zahlen.

Noch ein Haus, dann hatte er alle durch. Wieder scannte Nielsen das Klingelschild, auf dem mehrere Dutzend Namen standen. Etwa wieder ohne Erfolg?

Er wollte bereits umdrehen, als er Ehlers’ Namen plötzlich entdeckte. Während er noch überlegte, ob er den Klingelknopf drücken sollte, öffnete sich plötzlich die Haustür und ein Mädchen mit großen Kopfhörern auf den Ohren trat heraus. Kurz entschlossen schlüpfte Nielsen ins Treppenhaus, wo ihm sofort beißender Gestank nach verbrannten Bratkartoffeln und Urin in die Nase drang.

Auf dem Klingelschild hatte er gesehen, dass Ehlers im vierten Stock wohnte. Mit vor das Gesicht gehaltenem Arm betrat Nielsen rasch den Fahrstuhl, in dem es jedoch nicht viel besser roch. In der vierten Etage angekommen, versuchte er sich zu orientieren. Der Flur war lang gestreckt und von deprimierender Tristesse bestimmt. Der aufgeriebene Teppich und die Pressspantüren, von denen der Lack absplitterte, zeugten von der Baufälligkeit des Hochhauses.

Für einen kurzen Moment kamen in Nielsen wieder die Zweifel auf, was er Ehlers überhaupt fragen sollte, doch schließlich schob er sie beiseite und klopfte an die Tür. Noch bevor er seine Hand zurückgezogen hatte, öffnete sich die Tür und Hauke Ehlers blickte ihn aus trüben Augen an. Es war offensichtlich, dass er nicht vollständig Herr seiner Sinne war. Entweder hatte er getrunken, Drogen konsumiert oder aber er war psychisch vollkommen am Ende. Nielsen vermutete, dass es eine Kombination aus allem war, die sein Gegenüber apathisch und gleichzeitig furchteinflößend wirken ließ.