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Liebe, Leid, Lachen − ein Tagebuch der Großstadt und ihrer Menschen. Linda Rachel Sabiers sammelt besondere Momente: ein unfreiwillig komischer Wortwechsel unter Fremden, eine zarte Geste zwischen zwei Menschen, die sich schon lange kennen, ein pointierter Schlagabtausch unter Freundinnen. Jede ihrer Beobachtungen erzählt eine kleine Geschichte – mal rau, mal liebevoll, verzweifelt oder urkomisch. So vielfältig wie das Leben selbst. «Sollten Sie auf der Suche nach einem Gegengift gegen Misanthropie sein: Hier haben Sie es. Linda Rachel Sabiers' Miniaturen leuchten vor Zuneigung und Interesse an Menschen und ihren Geschichten. Was für ein Glück, dass wir für kurze Momente die Welt aus ihren Augen betrachten dürfen.» Dana Vowinckel «Das Leben ist die Summe vieler Momente, und niemand fängt die Wahrhaftigkeit des Moments so wundervoll ein wie Linda. Detailverliebt, klug und achtsam lässt sie uns im Augenblick und mit allen Sinnen dabei sein – mitten im Zauber des Lebens.» Susan Sideropoulos
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Seitenzahl: 142
Veröffentlichungsjahr: 2024
Linda Rachel Sabiers
Beobachtet vom Nebentisch
Liebe, Leid, Lachen − ein Tagebuch der Metropole und ihrer Menschen
Fast jeder kennt diese Momente: Man sitzt im Café oder Bus, hört ein Gespräch mit und muss unvermittelt lächeln. Linda Rachel Sabiers ist Meisterin im Sammeln und Wiedergeben dieser besonderen Momente: ein unfreiwillig komischer Wortwechsel unter Fremden, eine zarte Geste zwischen zwei Menschen, die sich schon lange kennen, ein pointierter Schlagabtausch unter Freundinnen. Jede dieser Miniaturen erzählt eine kleine Geschichte, mal rau, mal roh, mal liebevoll, verzweifelt oder urkomisch. So vielfältig wie das Leben selbst. Ein wunderbares Buch für Menschen, die Sinn für Geschichten des Alltags haben.
«Sollten Sie auf der Suche nach einem Gegengift gegen Misanthropie sein: Hier haben Sie es. Linda Rachel Sabiers’ Miniaturen leuchten vor Zuneigung und Interesse an Menschen und ihren Geschichten. Was für ein Glück, dass wir für kurze Momente die Welt aus ihren Augen betrachten dürfen.» Dana Vowinckel
«Das Leben ist die Summe vieler Momente, und niemand fängt die Wahrhaftigkeit des Moments so wundervoll ein wie Linda. Detailverliebt, klug und achtsam lässt sie uns im Augenblick und mit allen Sinnen dabei sein – mitten im Zauber des Lebens.» Susan Sideropoulos
Linda Rachel Sabiers, Jahrgang 1984, ist Autorin und Kolumnistin. Sie schreibt für verschiedene Magazine, verfasste für die Süddeutsche Zeitung eine Kolumne über jüdisches Leben in Deutschland und einen Beitrag für die Anthologie Wir schon wieder. 16 jüdische Erzählungen, die im September 2024 im Rowohlt Verlag erschien. Sie lebt in Berlin.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Dezember 2024
Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Covergestaltung zero-media.net, München
Coverabbildung Irmela Schautz
www.irmela-schautz.de
ISBN 978-3-644-02117-4
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Für Flora von Mama
«Kurzgeschichten verkaufen sich nicht.»
Anonym
Ich erinnere mich noch sehr gut an den Moment, an dem ich verstand, dass die Unendlichkeit existiert. Zumindest das, was sich ein neunjähriges Kind unter ihr vorstellt. Ich lag in meinem Hochbett, starrte an die Zimmerdecke und versuchte, so weit nach oben zu schauen, bis ich an etwas stoßen würde, das mich aufhielt. Durch den Beton des Hauses, in den Himmel, über die Wolken, ins Weltall, durch die Milchstraße und dann – für lange, lange Zeit – einfach nur durch schwarzes Universum. Die Weite, die dieses Gedankenspiel zuließ, erschreckte mich. Ich realisierte zum ersten Mal bewusst, dass es außerhalb unserer Erde, unseres Landes, unserer Stadt, unseres Hauses, unserer Wohnung und meines Zimmers etwas gab, das größer war, als ich verstehen konnte.
«Was würde tagein, tagaus passieren, wenn es unsere Erde nicht gäbe?», fragte ich mich. Mit welchen Ereignissen wäre die Unendlichkeit beschäftigt, wenn niemand frühstücken, zur Schule gehen, hinfallen, lachen oder geboren werden würde? Was passiert, wenn überall gleichzeitig nichts und alles ist? Eine zugegebenermaßen sehr menschzentrierte Art, das Leben beziehungsweise das «Nicht-Leben» zu betrachten, aber Kinder sind allgemein dafür bekannt, sich als Mittelpunkt der Welt zu sehen. Doch genau so muss es sein. Kinder sollen so lange wie möglich daran glauben, dass diese Welt nur für sie geschaffen wurde. Aber das ist ein anderes Buch.
Jedenfalls schlug mein Herz während dieses gedanklichen Experiments immer schneller, mir wurde heiß, und ich strampelte mit beiden Beinen die Daunendecke von meinem Körper. Und doch, als eine Art Mutprobe, ließ ich mich immer wieder auf diesen Gedanken ein. Ganz so, als würde ich erst einen Zeh und dann den gesamten Fuß über eine Klippe halten. Vorsichtig die Leere und den Wind spüren, um mich dann voller Schreck mit dem Rücken an das Felsmassiv zu lehnen, das Sicherheit und Nähe bedeutet.
Ich kehre seit dreißig Jahren immer wieder an diesen einen Tag zurück. Gedanklich, aber auch tatsächlich. Ich habe – das realisiere ich erst so richtig, seitdem ich dieses Buch schreibe – mein gesamtes Leben an diesem Spiel zwischen ultimativer Nähe und unendlicher Weite ausgerichtet. Ich lebte und lebe immer in großen Städten, ich bin immer gerne – auch alleine – gereist, ohne zu wissen, was mich hinter der nächsten Straßenecke erwartet. Ein Zeh vorsichtig im Makrokosmos, während mein Herz für den Mikrokosmos schlägt. Das Nahe, die Nähe, das Zwischenmenschliche, meine Nachbarn, meine Familie, meinen Mann, mein Kind.
Mit meiner heutigen Lebenserfahrung meine ich zu erkennen, dass das Gruseln vor dem Unendlichen, das übrigens darin resultierte, dass ich bis heute keine Dokumentationen über das Weltall oder die Tiefsee schaue, ein Vorbote meiner Ängste war. Denn Angst ist, anders als die Depression, die Furcht vor dem Unbekannten, vor dem, was morgen sein könnte, etwas, das real nicht existiert, das keiner Materie entspricht. Für mich ist Angst ein Gefühl, mit Dingen überfordert zu sein, die noch nicht eingetreten sind und in den meisten Fällen nie eintreten werden. Und auf diese Angst treffe ich vorwiegend in haltloser, anonymer Atmosphäre.
Als ich 2009 nach Berlin gezogen bin – ich war Mitte zwanzig, frisch verliebt und so planlos, wie man in diesem Alter sein sollte –, fühlte ich mich oft in das zwanzig Jahre zurückliegende Gedankenspiel zurückversetzt. Mit dem Unterschied, dass ich in keinem sicheren Bett lag, während meine Zehen langsam den Sog dieser großen Stadt ertasteten. Ich lebte und erlebte inmitten des Unbekannten. Jeden Tag ein wenig mutiger, jeden Tag eine neue Ecke, tausend neue Gesichter, Erfahrungen, Herausforderungen. Scheitern, Lieben, Hoffen, Hinfallen, Aufstehen – Berlin war damals für mich das grenzenlose Universum, das mir Angst bereitete und mich gleichzeitig in seinen Bann zog.
Ich erinnere mich auch noch sehr gut an den Moment, an dem ich verstand, dass Angst nicht nur ein Warnsignal des Körpers ist. Denn Angst kann, wenn sie außer Kontrolle gerät, vereinnahmend und allumfassend werden. Etwa so fühlte ich mich, als ich an jenem Morgen im Jahr 2014, wenige Monate vor meinem 30. Geburtstag, in der U-Bahn saß. Wir überquerten gerade die Warschauer Brücke, als mein Herz bis zum Hals pochte, meine Hände schwitzten und ich das Gefühl hatte, trotz tiefer Atemzüge zu ersticken. Ich suchte im Waggon nach Halt, ohne aufzufallen, und fand nur Rücken. Rücken in Mänteln, Rücken unter einem Rucksack, Rücken unter langem Haar, Rücken, die an der Trennscheibe zwischen meinem Sitz und dem Eingangsbereich lehnten. Ich erinnerte mich daran, dass man in einem Moment der Panik ganz bewusst alle Sinne wahrnehmen sollte. Ich atmete und atmete, während ich den Gummiboden und die Mischungen aus Aftershave, kalter Zigarette und nasser Wolle aufnahm. Ich atmete, während ich mit meiner Hand die kühle Haltestange neben mir ertastete, atmete weiter, als ich einem Paar dabei zuhörte, wie sie auf Englisch darüber diskutierten, wo sie aussteigen müssten, um zum Jüdischen Museum zu gelangen. Ihr Halt lag zu diesem Zeitpunkt bereits vier Stationen hinter uns. Und ich sah eine Frau, die ich heute noch bis ins letzte Detail beschreiben könnte. Sie saß mit verknoteten Beinen auf der gegenüberliegenden Sitzbank und stocherte gedankenverloren in einer Schale mit Obstsalat. Mein Fokus verlagerte sich vom Inneren aufs Äußere, von meiner Panik auf ihr Menschsein, das mir in diesem Augenblick Halt in der Anonymität gab.
Dieses Schlüsselerlebnis ist der Grundstein meiner nunmehr zehn Jahre anhaltenden Beobachtungsreise. Eine Art Therapie, die mich – außer unzähligen Tassen Kaffee – nichts kostet. Von West nach Ost habe ich mich durch sämtliche Cappuccinos probiert und könnte, als Nebeneinnahme, einen zuverlässigen Reiseführer für kaffeeversessene Touristen schreiben. Ein Laptop oder Handy, ein Tisch, eine Tasse Kaffee und Menschen – mehr brauche ich nicht. Mehr habe ich in den letzten zehn Jahren gefühlt nicht gemacht. Sitzen, Nippen, Beobachten, Tippen. So zogen die Jahre, meine Mitmenschen an mir vorbei, so bin ich gereift, so habe ich gelernt, so ist dieses Buch entstanden. Ich reise ohne Koffer, jedoch mit offenen Augen für den Alltag, der so oft übersehen und von der Sensation, die vor allem in Berlin hinter jeder Ecke lauert, übertüncht wird.
Ich werde häufig gefragt, ob all das, was ich aufschreibe, «wirklich so passiert» sei. Ich lächle und beantworte diese Frage auch hier nicht. Was ich jedoch verraten kann, ist, dass all das, was in diesem Buch steht, wirklich so geschehen kann, wenn man wach für seine Mitmenschen bleibt. Für mich liegt die Magie tatsächlich im Unaufgeregten, im Unmittelbaren, darin, dass ich mich im Gespräch anderer verlieren kann und dabei meine eigenen Gedanken für einen Moment vergessen darf.
Ich mache übrigens keine Fotos. Ich erwähne keine Namen, und es liegt mir beim Beobachten fern zu urteilen. Bin ich ein stummer Spiegel? Ein Abbild der Gesellschaft, die uns Tag für Tag umgibt, die sich einerseits immerzu wandelt und – das sind die sehr innigen Momente des Beobachtens – andererseits dem Zeitgeist trotzt? Menschen zu beobachten, während sie unbeobachtet einfach Mensch sind und sein dürfen, ist eine alte Zunft, die ich natürlich nicht erfunden habe. Ich begebe mich damit in Fußstapfen früherer Großstadtflaneure, die – ich nehme es einfach mal an – Ähnliches wie ich vorhatten: das Große für das Kleine einzutauschen und die Miniatur dem urbanen Circus Maximus vorzuziehen. Für mich ist das Sammeln der Geschichten für dieses Buch eine essenzielle Zeitreise in meine jüngere Vergangenheit gewesen, während der ich wieder einmal viel über mich selbst lernen durfte. Die Gedanken, die mich vor zehn Jahren beschäftigten, und die Menschen, die mir heute auffallen, sind nicht miteinander zu vergleichen.
Vor euch, liebe Leserinnen und Leser, liegt ein Tagebuch der Großstadt – ohne Schloss und Schlüssel. Denn unsere Mitmenschen sind offene Bücher, wenn man sich die Zeit nimmt, sich ihrem Schmerz, ihrer Liebe, dem Leid, dem Lachen – ihrem Alltag – zu widmen. Setzt euch einfach zu mir an den Nebentisch und überzeugt euch selbst.
Ich sitze in der U1 und beobachte die Dame mittleren Alters, die vor zehn Minuten gegenüber von mir Platz nahm. Etwa genauso lang ist die Frau mit ihrem Obstsalat beschäftigt, den sie mit einer Plastikgabel aus einer Tupperware-Schale isst. Versunken in ihrer eigenen Welt, trennt sie die verschiedenen Obstsorten in einer Endlosschleife voneinander, schiebt diese in eine der vier Behälterecken und murmelt immer wieder die Obstnamen vor sich hin. Apfel, Banane, Traube, Ananas. Apfel, Banane, Traube, Ananas. Apfel, Banane, Traube, Ananas. Es ist mir unmöglich, wegzuhören und wegzuschauen. Ich ertappe mich dabei, wie ich sie innerlich als verrückt abstemple und darüber nachdenke, ob sich die eigenen Sorgen dadurch relativieren. Apfel, Banane, Traube, Ananas wird zum Mantra meines heutigen Weges.
Die Dame scheint mich nicht zu beachten und sieht glücklich aus. Doch kurz bevor ich aussteige, blickt sie hoch, lächelt mich mit einem sehr zufriedenen Gesichtsausdruck an und sagt: «Ananas ist ein schönes Wort.» Mit fragendem Blick steige ich aus, stehe auf dem Bahnsteig und sage leise «A-na-nas» vor mich hin. Stimmt, Ananas ist ein sehr schönes Wort.
In der Mommsenstraße läuft ein altes Paar langsamen Schrittes vor mir her. Er ist in ihrer Armbeuge untergehakt, hinkt leicht und zieht mit der rechten Hand einen quietschenden Einkaufstrolley hinter sich her.
«Gut, dass wir jetzt zum Doktor gehen, Ursel. Die Hüfte tut mir wirklich sehr weh.»
«Wir sind auf dem Weg zum Ohrenarzt, Karl», sagt Ursel und tätschelt seine Hand.
«Ach, die Ohren. Ja, die sind auch beschissen.»
«Ick hätt jern dit Bismarck-Brötchen, bitte.»
«Das ist Seelachs, kein Bismarck, die Dame»
«Ick seh doch’n Bismarck, wenn’s vor mir liegt!»
«Dort drüben liegt Bismarck. Das Brötchen, auf das Sie zeigen, das ist Seelachs.»
Die Dame schaut stumm in die Auslage, in der Fischbrötchen neben Fischbrötchen sauber aufgereiht ist. Ihre Freundin stupst sie an.
«Mensch, Gitte, wenn die Frau sagt, dass dit Seelachs und keen Bismarck is, dann wird dit wohl stimmen.»
Sie widmet sich der Verkäuferin und spricht weiter: «Schon inner Schule war die Gitte stur. Sie hat dann früh abjebrochen und den Rainer jeheiratet. Der hatte Jeld und Jeduld!»
«Mit dem Jeld gehn wa übrijens jeden Tag essen, du jemeine Kuh!», entgegnet Gitte und lacht.
«Also, eenmal dit Seelachs-Brötchen, dit aussieht wie Bismarck, bitte. Und ’ne Cola.»
Wir stehen an der Eingangstür eines Cafés in einer Seitenstraße des Kurfürstendamms. Zwei ältere Herren, gekleidet in Sommerleinen, sehen sich konfrontiert mit der Crux tadelloser Manieren.
«Bitte, gehen Sie ruhig!»
«Ach, danke, aber gehen Sie ruhig vor!»
«Na, aber Sie waren doch vor mir an der Türe.»
«Ja, aber ich habe es nicht eilig, Sie können also gehen!»
«Ich habe es auch nicht eilig.»
«Dann gehen wir gemeinsam durch!»
«Gute Idee, bitte, Sie zuerst!»
Ein Vater und sein Sohn im Grundschulalter sitzen am Nachbartisch. Es gibt schwarzen Kaffee, einen verschütteten Kakao und Croissants. Als der Junge den ersten Bissen nimmt, schließt er seine Augen.
«Bist du noch müde?», fragt der Vater.
«Nein, ich muss mich konzentrieren.»
Manche Lederjacken kauft man für 900 Euro in einer Boutique. Glänzendes, schwarzes Leder, akkurat gesetzte Nähte, Knöpfe, so silbern, dass sie die Sonne reflektieren. Und dann gibt es diese anderen: solche, die einfach schon immer da waren, deren Leder kein Fabrikat, sondern tatsächliche Haut ist. Eine zweite Haut des Trägers. Kühl und trocken im Winter, speckig und schwitzig im Sommer. Sie riechen nach Lippenstift und Bier, manchmal nach Benzin, selten nach Meer. Ein Mann, der zu dieser Art Jacke gehört, nicht andersrum, sitzt neben mir, trinkt schwarzen Kaffee. Denn Milch und Leder, das geht nicht. Buschige Brauen, ein von der Sonne gegerbtes Gesicht. Könnte Mitte vierzig sein, vielleicht aber auch sechzig. Die Schultern breit und gerade unter seiner Jacke.
Als ich näher an ihn heranrücke und möglichst unauffällig tief einatme, stelle ich mir vor, dass sie und er, die Jacke und der Mann, Dinge erlebten, die ihn manchmal nachts aufwachen und wortlos lächeln lassen. Die Schnallen wippen im Takt seiner sich am Kopf kratzenden Arme, mit jeder Bewegung strömt Lederduft in meine Richtung.
Als wir beide zeitgleich unsere Kaffees leeren, frage ich: «Ihre Jacke, wo kann man die kaufen?», woraufhin er einige Sekunden ins Nichts schaut und mit den Schultern zuckt. «Dieses olle Ding? Das ist eine lange Geschichte.»
Ich sitze in der prallen Sonne und trage einen Wollblazer. Mir ist warm, sehr warm. Dieses eine «warm», das man spürt, wenn man sein Gesicht etwas zu nah an offenes Feuer hält. Am Nachbartisch sitzt ein Typ, der so durchschnittlich aussieht, dass ich ihn, wenn es dazu käme, der Polizei nicht beschreiben könnte. Das rechte Bein liegt über dem linken, sein Fuß wippt, während er sich eine Zigarette dreht. Als er eine scheinbar bekannte Frauenstimme hört, blickt er auf.
«Matts, bitte entschuldige, die Ringbahn, du kennst das ja.»
Matts’ Augen leuchten.
«Merle, es ist so, so, so schön, dich zu sehen.»
Matts’ Stimme klingt warm. Eine der wärmsten Männerstimmen, die ich jemals gehört habe.
«Wie geht’s dir, Merle?»
«Ach … mir geht’s richtig gut. Ich komme gerade vom Boot. Also, es ist beinahe ein Boot und kein Schrotthaufen mehr. Schau dir die Schwielen an!»
Merle hält ihre Hände vor seine Nase, und er streichelt vorsichtig über ihre Finger.
«Das sind wirklich beeindruckende Schwielen.» Matts lächelt, während er die Rillen abtastet.
«Und dir? Wie geht’s dir, Matts?»
«Grauenvoll. Ich wünschte, du könntest die Schwielen in meinem Kopf berühren.»
Im Tierreich gibt es etliche Formen von Symbiosen unter den Arten. Wölfe und Kolkraben, Clownfische und Seeanemonen, Ameisen und Blattläuse, Madenhacker und Nashörner – sie profitieren voneinander, sie geben sich einander das, was sie zum Leben brauchen. Solch eine Symbiose verbindet mich mit alten Menschen: Sie reden, und ich höre zu. Ich brauche Erlebnisse, um Geschichten erzählen zu können. Und sie brauchen Menschen, denen sie ihre Erlebnisse wie Geschichten erzählen können.
Alte Menschen sind oft allein unterwegs. Sie sitzen allein im Café, im Schnellrestaurant, im Bus oder auf einer Parkbank. Da ich oft einfach ruhig dasitze oder stumm spaziere, bin ich ein leichtes Ziel, das in der Hektik der Großstadt so anziehend ist wie ein Meisenknödel im kalten Winter. Nur sind die Vögel, die meine Nähe suchen, nicht bunt gefiedert, sondern beige. Milchkaffeebeige, sandbeige, eierschalenbeige. Die Farbe des Alters, die Senioren von der Kleidungsindustrie aufgezwungen wird, um sie unsichtbar zu machen.