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Pia und Jakob sitzen im Klassenzimmer der 2B, ihnen gegenüber die Lehrerin ihres Sohnes. Es habe einen Vorfall gegeben, mit einem Mädchen. Pia kann zunächst nicht glauben, was ihrem siebenjährigen Kind da vorgeworfen wird. Denn Luca ist ein guter Junge, klug und sensibel. Sein Vater hat daran keinen Zweifel. Aber Pia kennt die Abgründe, die auch in Kindern schlummern, das Misstrauen der anderen erinnert sie an ihre eigene Kindheit. Sie lässt ihren Sohn nicht mehr aus den Augen und sieht einen Menschen, der ihr von Tag zu Tag fremder wird. Bei dem Versuch, ihre Familie zu schützen, wird Pia schließlich mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert. Ein fesselndes psychologisches Drama über die Illusion einer heilen Kindheit.
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Seitenzahl: 275
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Pia und Jakob sitzen im Klassenzimmer der 2B, ihnen gegenüber die Lehrerin ihres Sohnes. Es habe einen Vorfall gegeben, mit einem Mädchen. Pia kann zunächst nicht glauben, was ihrem siebenjährigen Kind da vorgeworfen wird. Denn Luca ist ein guter Junge, klug und sensibel. Sein Vater hat daran keinen Zweifel. Aber Pia kennt die Abgründe, die auch in Kindern schlummern, das Misstrauen der anderen erinnert sie an ihre eigene Kindheit. Sie lässt ihren Sohn nicht mehr aus den Augen und sieht einen Menschen, der ihr von Tag zu Tag fremder wird. Bei dem Versuch, ihre Familie zu schützen, wird Pia schließlich mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert. Ein fesselndes psychologisches Drama über die Illusion einer heilen Kindheit.
Jessica Lind
Kleine Monster
Roman | Hanser Berlin
Ein Kind verlieren. Wenn man im Supermarkt kurz nicht aufpasst und das Kind versteckt sich zwischen Nudeln und Packerlsuppen. So klingt das. Und dann wird es ausgerufen, du nimmst es mit, gibst ihm Abendessen, putzt ihm die Zähne und deckst es zu. Aber etwas ist seltsam. Ein Unbehagen beschleicht dich, als hättest du das falsche Kind mit nachhause gebracht.
Als ich mit dem Auto vorgefahren komme, wartet Jakob schon vor dem Schulgebäude. Sein Fahrrad lehnt am Geländer. Ich bin aus der Arbeit gekommen, er von Zuhause.
»Ich weiß auch nicht mehr«, antworte ich, als er nachfragt, was die Lehrerin am Telefon gesagt hat, und merke, wie gereizt ich bin. Ich spüre seine Hand auf meinem Rücken und muss mich zusammennehmen. Er meint es gut. Aber so war ich schon immer: im Zweifel besser nicht berühren. Wir treffen uns mit Frau Bohle beim Lehrerzimmer, gehen hinter ihr her in einen leeren Klassenraum. Die Tische sind in Form eines U angeordnet. Frau Bohle deutet uns, Platz zu nehmen. Jakob zögert, die Stühle sind in Kindergröße. Ich setze mich auf einen der Tische und verschränke meine Arme vor der Brust.
»Sie sagt, es ist mehr als einmal passiert«, schließt Frau Bohle ihren Bericht. Sie hat am Lehrerpult Platz genommen, wir sitzen ihr gegenüber.
»Gibt es Zeugen?«, frage ich.
»Zeugen?«, wiederholt Frau Bohle mit einem Stirnrunzeln.
»Hat sie jemand dabei gesehen.«
Frau Bohle schüttelt den Kopf. »Es war in der großen Pause. Die anderen Kinder waren im Hof. Die zwei waren alleine in der Klasse.«
»Ist es nicht Ihre Aufgabe, aufzupassen?« Ärger mischt sich in meine Stimme.
Frau Bohle sieht mich an.
»Wir wissen ja noch gar nicht, was wirklich passiert ist«, versucht Jakob die Situation zu beruhigen.
»Sie glauben mir nicht? Mädchen behaupten so etwas nicht einfach«, sagt Frau Bohle.
»Nein, das habe ich nicht …«
»Wir als Schule nehmen den Vorfall ernst. Auch wenn es in dem Alter dazugehört, sich auszuprobieren und Grenzen auszutesten.«
»Wir nehmen das auch sehr ernst«, sagt er.
Frau Bohle atmet ein. »Hat Luca vielleicht etwas gesehen, das ihn verwirrt haben könnte?«, fragt sie.
Ich spüre Trotz in mir aufsteigen. »Wir schließen die Schlafzimmertür, wenn wir miteinander schlafen«, sage ich trocken.
»Pia«, flüstert Jakob.
»Ist er manchmal mit anderen Erwachsenen allein? Einem Onkel, zum Beispiel, oder einem Nachbarn?«
»Nein«, sagt Jakob.
»Mit dir ist er doch allein«, sage ich. »Du bist auch ein Mann.«
Jakob sieht mich entsetzt an.
»Können wir mit den Kindern reden?«, fragt er an Frau Bohle gewandt. »Mit dem Mädchen?«
Sie schüttelt entschieden den Kopf. Sie selbst hat bereits mit ihr gesprochen und auch eine der Hortpädagoginnen. Sie glauben ihr. Natürlich glauben sie ihr.
»Und was sagt Luca?«, fragt Jakob.
Ich kann es mir vorstellen. Wie Luca nichts sagt. Die Lippen aufeinanderlegt und den Mund nicht mehr öffnet. Zugesperrt, Schlüssel weggeworfen.
»Bisher hat er nichts gesagt«, sagt Frau Bohle und fügt hinzu, dass sie sein Schweigen nicht automatisch als Schuldeingeständnis deutet, sie weiß ja, wie er ist. Ihre Stimme wird heller. Schwingt von Moll nach Dur. Für einen kurzen Moment ist sie wieder Lucas freundliche Lehrerin.
Mich täuscht sie damit nicht, ich lehne mich zurück, ohne ihr Lächeln zu erwidern. Der Angeklagte hat das Recht zu schweigen.
Ich knie mich hin und lasse Luca in meine Arme laufen, wie ich es immer tue, wenn ich ihn abhole. Bald wird er zu groß dafür sein und ich ihm peinlich. Aber heute lässt er sich in meine Arme fallen und ich fange ihn auf.
Die Schulsekretärin hat auf ihn aufgepasst, während wir mit der Lehrerin gesprochen haben. Im Hinausgehen nicke ich ihr zu.
Wir setzen uns ins Auto. Jakob auf die Rückbank, ich auf den Beifahrersitz. Nur Luca sitzt an seinem gewohnten Platz. Ein komisches Bild, als wäre unser alter Ford ein Fluchtauto, in dem die Bankräuber darauf warten, dass der Fahrer zurückkommt. Wir warten auf jemanden, der weiß, wo es hingehen soll. Luca hat den Blick gesenkt, die Schultern eingezogen.
»Was war da genau los?«, frage ich.
Luca beginnt auf seiner Unterlippe herumzukauen.
»Jetzt sag schon«, sage ich in dem lockeren Ton, in dem ich normalerweise mit ihm spreche. Aber etwas Bemühtes schwingt mit.
»Nichts«, flüstert Luca fast tonlos.
»Wegen nichts haben wir dich aber nicht abgeholt. Frau Bohle hat gesagt …«
Jakob legt Luca eine Hand auf die Schulter. Die Geste hat etwas Tröstliches. Sie ärgert mich. Wir sollten alle wütend sein.
»Lasst uns in den Hammerpark gehen«, schlägt Jakob vor. »Treffen wir uns da?«
Ich nicke. Wir steigen aus. Jakob schließt sein Fahrradschloss auf. Er ist einer, der sein Fahrrad immer absperrt. Deswegen ist es ihm auch noch nie gestohlen worden. Ich beeile mich, auf der Fahrerseite wieder einzusteigen, das Auto ist ein Schutzraum. Ich starte den Motor und fahre los.
»Bist du böse, Mama?«
»Weiß ich noch nicht.«
Unsere Blicke treffen sich im Rückspiegel, bevor ich auf die Bremse springe.
»Fuck!«
Luca japst nach Luft. Es hat ihn unsanft in den Gurt gedrückt. Fast hätte ich eine rote Ampel übersehen.
Wir waten durch Blätter, gelbe, rote, orange. Unsere Schuhe verschwinden darin. Ich hebe meinen Blick, das Laubwerk wirkt nicht ausgedünnt. Prall und voll und bunt sind die Baumkronen. Dazu das goldene Herbstlicht und diese ganz bestimmte Luft, noch warm, aber mit der Ahnung auf Kälte. In der Sonne will man die Jacke ausziehen, im Schatten eine Mütze aufsetzen. Wir gehen an dem Teich mit den Enten vorbei. Luca läuft vor auf den Spielplatz. Er klettert auf das Gerüst, das wie ein Spinnennetzball aussieht, bis ganz nach oben. Jakob und ich bleiben am Rand des großen Sandkastens stehen, die Hände in den Jackentaschen, schweigend. Heute ist ein höchst ungewöhnlicher Tag, Luca hat es aufgegeben, zu raten, was als Nächstes kommen wird. Er hat seine Sorge abgeschüttelt, nur ab und zu wirft er einen zögerlichen Blick über seine Schulter.
»Scheiße«, sage ich. Ich flüstere, obwohl wir beinahe alleine am Spielplatz sind. Daneben ist der Bereich für die Kleinen, dort sind mehr Mütter, auch ein Vater, aber hier sind wir die Einzigen. Ich drehe mich zu Jakob.
Jakob zieht die Unterlippe in den Mund. Wenn er das macht, sieht er aus wie Luca. Es macht ihn traurig, dass alle sagen, Luca sei ganz die Mama. Die blonden Haare, die grauen Augen, die helle Haut. Aber die Gesichtsausdrücke, die Mimik, die haben sie gemeinsam. Nur, dass Jakobs Lippenkauen meistens etwas ankündigt. Etwas Unangenehmes.
»Frau Bohle hat gesagt, Kinder machen so etwas nicht ohne Grund.« Er sieht mich so von unten an, es ist mir ein Rätsel, wie er das schafft, obwohl er größer ist als ich. »Was könnte ein Grund sein?«, fragt er. Die Andeutung der Lehrerin beunruhigt ihn.
Ich mache eine abwehrende Handbewegung. »Wir wissen doch gar nicht, ob es wirklich so passiert ist. Ein Mädchen hat eine Geschichte erzählt und jetzt sind alle in heller Aufregung.«
»Glaubst du, sie hat es erfunden?«
Ja — das glaube ich.
Ich halte inne.
Glaube ich das wirklich?
Frauen muss man glauben — ohne Wenn und Aber. Zu viele Frauen trauen sich nicht, etwas zu sagen, aus Angst, dass ihnen nicht geglaubt wird. Deswegen, glauben, immer. Das ist meine Überzeugung. Ich denke an Lucas kleine Finger, wie er als Baby eine ganze Hand brauchte, um meinen Zeigefinger zu umgreifen.
»Er muss uns sagen, was passiert ist. Seine Perspektive. Ich will es von ihm hören«, sage ich.
Jakob seufzt.
Wenn sich Luca erschreckt, wird er ganz still. Wenn wir schimpfen, zieht er die Schultern ein und senkt den Blick. Wie eine Schnecke, die sich in ihr Haus verkriecht. Nicht einmal wenn wir ihn zu Unrecht bestrafen, rechtfertigt er sich. Deswegen sind wir vorsichtig geworden.
»Hast du nicht Jesper Juul gelesen?«, frage ich.
Jakob lacht auf. »Das war vor hundert Jahren, Pia. Du hast doch gesagt, ich soll aufhören mit den Elternratgebern, weil das deine Intuition kaputtmacht.«
»Aber jetzt habe ich keine Intuition«, sage ich.
Wir blicken gleichzeitig zu Luca. Er hängt in den Seilen, wie ein Äffchen. Seine blonden Haare hängen herunter. Seit er auf der Welt ist, habe ich diese Gedanken: Ich stelle mir vor, wie er einschläft und nicht mehr aufwacht. Wie der Kinderwagen auf die viel befahrene Straße rollt, weil ich die Fußbremse nicht richtig reingegeben habe. Wie er eine unheilbare Krankheit bekommt. Ich stelle mir den Schmerz vor. Die Taubheit. Das Leugnen. Den unbändigen Wunsch, die Zeit zurückzudrehen, und die Verzweiflung, weil es nicht geht.
Ich sehe die Gefahren, ich stelle mir vor, wie er vom Klettergerüst fällt und sich das Genick bricht, und ich halte das Gefühl aus, ohne einzugreifen.
Am Abend will Luca jetzt immer beten. Dafür müssen wir uns vor sein Bett knien. Jakob nervt es irrsinnig. Ich sage ihm, es ist nur eine Phase, wenn wir ihn lassen und es ignorieren, legt es sich von selbst. Also bin seit einigen Wochen nur ich beim Abendritual dabei. Ich spiele mit. Ich falte meine Hände. Aber heute schließe ich meine Augen nicht. Lucas Lippen formen tonlose Worte.
»Darf ich dich etwas fragen?«, sage ich, nachdem er laut »Amen!« gerufen hat und ins Bett geklettert ist.
»Weiß Gott alles?«
Luca sieht mich an.
»Oder erzählst du ihm, was passiert ist, wenn du betest?«
»Er weiß alles«, sagt Luca.
»Und was sagst du ihm dann?«
»Das ist ein Geheimnis«, flüstert er, mit feierlichem Ernst.
Auf einmal bin ich so unendlich müde. Ich lösche das Licht und lege meinen Nasenrücken an seine Wange. Ich kenne ihn besser als jeden anderen Menschen. Aber die Stunden, die er ohne mich verbringt, all die Dinge, die er ohne mich erlebt, werden mehr, je älter er wird. So muss das auch sein. Er gehört mir nicht. Er gehört sich selbst. Und doch wünsche ich mir gerade, er hätte so eine Kamera eingebaut, wie einige dieser modernen Autos, wo man nach einem Verkehrsunfall zurückspulen und nachsehen kann, wer Schuld hat.
Lucas Atem geht gleichmäßig, er ist eingeschlafen. Ich greife nach meinem Telefon auf dem Nachtkästchen. Den ganzen Nachmittag habe ich gegoogelt. »Verhaltensauffällige Kinder«, »Kinder Sexualität«, »Kinder zum Reden bringen«. Mir raucht der Kopf von den ganzen Seiten und Foren. Ich öffne die WhatsApp-Gruppe der Eltern. Dass keine Nachrichten gekommen sind, hat mich eigentlich beruhigt. Jetzt sehe ich, warum. Ich wurde aus der Gruppe entfernt.
»Dann halt nicht«, brülle ich ins Telefon und lege auf, ohne mich zu verabschieden. Dass ich zittere, macht mich noch wütender. Und Jakobs verdutzter Gesichtsausdruck. Er hat nicht gehört, was Sophie gesagt hat, hat nur meinen Teil des Gesprächs mitbekommen. Gerne würde ich das Telefon auf den Boden schleudern, aus dem Fenster, gegen den flackernden Fernseher. Jakob hat den Ton abgedreht, als ich vorhin aufgeregt ins Zimmer gekommen bin, das Telefon in die Höhe haltend, wie einen Beweis. Wir haben nachgesehen, auch er ist nicht mehr in der Elterngruppe. Jakob will nicht verstehen, was das bedeutet. Er glaubt an ein Missverständnis. Aber ich weiß es besser. Es bedeutet, dass sie über uns reden, die Eltern, hinter unserem Rücken, über Luca. So fängt es an. Jakobs Versuche, es zu relativieren, sie helfen nicht. Es war seine Idee, Sophie anzurufen. Sophie ist Mattis’ Mutter. Mattis ist Lucas bester Freund. Sie ist alleinerziehend und Deutsche. Ich mag ihren Berliner Dialekt, ihre direkte Art, ich unterhalte mich gerne mit ihr. Manchmal, nicht oft, aber doch, haben wir ein richtiges Gespräch geführt, anstatt nur Floskeln auszutauschen. Außerdem, weil sie Deutsche ist, gehört sie nicht wirklich dazu. Zu den anderen, zu den Eltern. Wir gehören auch nicht dazu. Jakob stört es nicht, darüber bin ich froh. Es bleibt unausgesprochen, aber wir wissen beide, ich bin der Grund. Es gibt etwas, das mich von den anderen trennt.
Jakob will wissen, was Sophie gesagt hat. Und ich versuche, es möglichst genau wiederzugeben. Wie sie abgehoben hat und ich schon an ihrer Stimme erkennen konnte, dass es aus Versehen passiert sein muss, wahrscheinlich hat sie meinen Namen auf dem Display aufleuchten sehen und kurz vergessen, dass es Probleme in der Schule gibt. Wie sie versucht hat abzuwiegeln, aber dann doch zugegeben hat, dass in der Gruppe über Luca geschrieben wird. »Aber wirklich nichts Schlimmes«, hat sie gesagt. »Die müssen einfach ein bisschen Dampf ablassen.« Sie wollte mir nicht sagen, wer die Eltern sind, wer das Mädchen ist. Stattdessen sagte sie, dass in so Chats schnell mal was hochkocht. Sie riet mir, Ruhe zu bewahren und abzuwarten. Wie zuversichtlich das klang. Wie einfach. Ich würde ihr gerne glauben, dass wir nichts tun müssen, dass alles vorbeigehen wird, ohne Spuren zu hinterlassen. Aber dann fragte sie mich, ob es denn stimmt, was Luca vorgeworfen wird. Und ich sagte nein, natürlich nicht, und dass sie mir bitte genau sagen soll, was in dem Chat steht. Von mir aus auch ohne Namen. Dafür hatte sie angeblich gerade keine Zeit. Ich bat sie um Screenshots. Sie fragte mich, was das bringen soll, und ich konnte es nicht beantworten. Das Schweigen hing zwischen uns, unsere Stimmen so nah, unsere Körper in ganz unterschiedlichen Räumen. Meinem Vorschlag, Mattis am nächsten Tag direkt in der Schule einzusammeln, wich sie ungelenk aus, es passe diese Woche nicht so gut, und das ist eben doch ein Beweis dafür, dass die ganze Sache einen Unterschied macht, dass sie nicht einfach über uns hinwegziehen wird wie ein Gewitter.
»Die haben ja alle keine Ahnung!« Meine Stimme ist laut. »Sie sind sieben Jahre alt. Das war ein Spiel, das haben wir alle gemacht. Er ist ein Kind und kein Kinderschänder!«
»Das hat Sophie gesagt?«
»Sophie ist ein verdammter Feigling.«
Jakob nimmt mich in den Arm. Ich wundere mich kurz, dann bemerke ich die warmen Tränen, die mir über die Wangen laufen.
Wer ist das Mädchen? Fieberhaft denke ich darüber nach. Welche Mädchen gibt es in der Klasse? Zwei Emmas, eine Lisa, eine Siri, eine Anna, eine Alena, eine Mila, eine Karolina, eine Emeshe — wen noch? Luca spielt mehr mit den Jungs. Mit Mattis und Nael und Oliver und Finn. Es macht mich rasend, dass wir einfach sang- und klanglos aus der Gruppe ausgeschlossen worden sind. Dass niemand den Mut hat, direkt bei uns nachzufragen. Stattdessen wird lieber über uns geredet. Es ist nicht nur unfair, es ist feig.
Jakob rutscht nah an mich heran. Wir liegen im Bett, können beide nicht schlafen. Jetzt greift er nach meiner Hand. Vorhin gab es doch noch richtig Streit. Er tröstet mich, wenn ich weine, das ist wie ein Reflex bei ihm. Aufgeschlagene Knie zu küssen, die richtigen Worte zu finden, eine Schulter zum Anlehnen zu sein. Da nimmt er sich ganz zurück, geht auf in der Rolle des Trösters. Ich habe schon oft davon profitiert, zum Beispiel, wenn sich Luca in der sogenannten Autonomiephase auf den Boden geschmissen hat, ganz überwältigt von dem Gefühl der Wut, und meine eigenen Nerven zum Zerreißen gespannt waren, dann war es Jakob, der sich zu ihm auf den Boden gekniet hat, die kleinen Schläge abfangend und das Mantra wiederholend: »Alle Gefühle sind okay, alle Gefühle sind okay.« Weil er sich gekümmert hat, konnte ich mir die Ohren zuhalten oder ins andere Zimmer gehen; und trotzdem. Auch wenn Jakob kein Lob dafür erwartet, es nervt mich, wie selbstzufrieden es ihn macht. Jakob, der unerschütterlich ist wie ein Stein, dabei tröstlich wie ein Kuscheltier. Nur halt nicht aufrichtig.
Nachdem ich mich aus seiner Umarmung gelöst hatte und er sicher war, dass es mir wieder gut ging, wollte er reden. Dass ich nicht reden wollte, hat ihn nicht abgehalten. Er erzählte mir, wie er das Telefonat wahrgenommen hat. Ich war ja schon bei dem Gespräch mit Frau Bohle feindselig gewesen. Nein, das hat er nicht gesagt, sondern »unkooperativ« — das ist ein Wort, das Jakob benutzt. Er findet, ich übertreibe. Aber ich weiß, wie das ist, wenn die Leute über einen reden. Ich weiß, wie gefährlich das sein kann. Ich ärgere mich noch immer über ihn, mag seinen warmen Körper nicht an mir spüren, mag nicht einmal seinen Geruch.
»Alles okay«, fragt Jakobs Stimme in die Dunkelheit.
Ich nicke, was er nicht sehen kann, und sage: »Klo.«
Ich stehe vor dem Spiegel im Badezimmer und betrachte mein Gesicht. Blasse Haut, graue Augen. Jakob sehe ich in Lucas Mimik. Die anderen sehe ich, wenn er stillhält. Wenn er schläft. Meinen Vater. Meine Mutter. Aber am häufigsten sehe ich Linda. Von Anfang an. Als mir das winzige Neugeborene auf die Brust gelegt wurde — gerade war es noch in meinem Bauch —, da dachte ich: Linda.
Jakob meint, das ist Blödsinn. Ich weiß nicht genau, was ihn daran ärgert, wenn ich Luca mit Linda vergleiche. Er sagt, ich sehe selber aus wie meine Schwester und deswegen sieht Luca nicht ihr, sondern mir ähnlich. Die DNA von Geschwistern unterscheidet sich weniger als die von Eltern und ihren Kindern. Das ist gut, sollte man einmal eine Organspende brauchen, aber Nähe untereinander garantiert es nicht. Jakob telefoniert selten mit seiner Schwester, sie lebt in Tirol. Sie führt ein ähnliches Leben und doch ist da eine Distanz.
Im Schlafzimmer drehe ich das Licht auf. Jakob schirmt sein Gesicht mit den Händen ab. Das Licht ist grell, es blendet auch mich. Ich schalte es wieder aus.
»Entschuldige«, sage ich. Die Dunkelheit ist jetzt noch viel schwärzer als vorhin. Aber ich höre, wie Jakob sich aufsetzt.
»Ich kann nicht schlafen«, sagt er.
»Ich auch nicht.«
»Wollen wir jetzt reden?«
Ich krieche zu ihm unter die Bettdecke, setze mich neben ihn. Jetzt kommt mir sein Körper vertraut vor, nicht mehr fordernd, sondern wie eine Boje, an der ich mich in der Dunkelheit festhalten kann.
Ich spüre einen Tropfen und blicke hinauf zu den Baumkronen. Durch das Blätterdach kann ich den Himmel sehen, er ist dunkel verhangen von Regenwolken. Wir sind in den Wald gegangen, um zu spielen. Eigentlich schirmen uns die Bäume ab, so sind wir sicher vor dem Regen. Der Wald beschützt uns. Wir kennen ihn gut. Wir können uns orientieren, selbst wenn wir den Weg verlassen. Aber manchmal kommt es mir doch so vor, als hätten zwei Bäume miteinander den Platz getauscht, oder es kommt eine Biege, die ich ganz woanders hingetan hätte. Der Wald behält ein Geheimnis. Schnell wird der Regen dichter. Es donnert und blitzt. Das Gewitter hat uns überrascht. Wir halten uns an den Händen und laufen, laufen, so wie Kinder eben laufen, mit jedem Mal, dass sich unsere Füße vom Boden abstoßen, könnten wir fortfliegen. Linda kann nicht mehr, also nimmt Romi sie huckepack, obwohl die nasse Kleidung genauso schwer an ihr kleben muss wie an mir. Wie ein Äffchen hängt die kleine Schwester an der mittleren, ich als größte gehe voran, lotse uns durch den dichten Regen. Aber Romi schafft es nicht weit. Mit dem Fuß bleibt sie an einer Wurzel hängen und stürzt. Mittlerweile ist der Regen so stark, die Blätter halten ihn nicht mehr auf. Blitz. Einundzwanzig, zweiundzwa… — Donner. Das Gewitter ist jetzt ganz nah. Ich sage: »Eichen sollst du weichen, Buchen sollst du suchen.« Wir wissen aber nicht, wie Buchen aussehen — allein an den Bucheckern könnten wir sie erkennen. Also finden wir Zuflucht unter einer Tanne, deren Geäst am Boden nicht ganz so dicht ist. Wir sitzen beieinander und zittern, weil wir nass sind bis auf die Knochen, und ich schaue zu Linda und bin mir nicht sicher, ob das Tränen in ihrem Gesicht sind oder nur Tropfen. Und ich sage, du musst keine Angst haben, hier passiert uns nichts, und sie sagt, ich weiß. Und Romi fragt, warum, und Linda sagt: »Wir drei sind eins.«
Ich wache auf und fühle mich orientierungslos. Als hätte mir jemand den Boden unter den Füßen weggezogen. Ich greife nach dem Wasserglas auf dem Nachtkästchen und nehme einen großen Schluck. Das Telefon sagt mir, es ist 6:30 Uhr. Normalerweise würde jetzt der Wecker läuten, aber wir haben gestern beschlossen, Luca heute zuhause zu lassen. Jakob gibt vormittags nie Schlagzeug-Unterricht und ich habe Herrn Eduard noch in der Nacht Bescheid gesagt, dass ich später komme. Trotzdem stehe ich auf. Rechter Fuß, linker Fuß. Ich bin nicht abergläubisch, aber darauf achte ich, seit ich ein Kind bin. Die kleinen Dinge. Nützt es nichts, schadet es nicht.
An der Tür höre ich, wie Jakob sich im Bett auf die andere Seite wälzt. Ich bin es, die Luca morgens auf dem Weg zur Arbeit absetzt. Ich mag die Zeit mit ihm allein. Die Stille der Wohnung am Morgen. Wir erzählen uns gegenseitig unsere Träume, während wir im Herbst Haferbrei, im Frühling Chia-Pudding löffeln. Luca träumt genauso gern wie ich. Träumen kann man üben und das Erinnern daran auch, indem man sich davon erzählt. Es sind nicht nur schöne Träume. Es gibt auch die, aus denen man verschwitzt oder sogar weinend aufwacht. Dennoch sehne ich mich gerade nach diesen, weil die Gefühle so stark sind und gleichzeitig ohne Konsequenzen. Aus dem gleichen Grund habe ich Horrorfilme immer gemocht.
Vorsichtig öffne ich die Tür zu Lucas Zimmer. Ich will einen Blick auf mein schlafendes Kind werfen. Aber Luca liegt nicht in seinem Bett. Ich eile hin, schlage die Decke zurück. Ein nasser Fleck am Laken.
Ein Gespenst sitzt auf dem Sofa im Wohnzimmer. Es hat sich die weiße Wolldecke über den Kopf gezogen und rührt sich nicht. Als könnte ich es nicht sehen, wenn es sich nicht bewegt. Ich setze mich daneben. Ich versuche, die Decke anzuheben, aber es hält sie fest. Also bleibe ich still neben dem Gespenst sitzen. Ich höre es atmen und schließlich spüre ich, wie sich seine Hand in meine legt. Ich drücke die Geisterhand und jetzt lässt mich das Gespenst zu sich herein. Das Licht kriecht durch die Ritzen des gewebten Stoffs und wirft ein Muster auf sein Gesicht. Das hier ist nicht nur ein Deckenzelt, es ist ein Versteck. Er hat mich hereingelassen. Lucas Augen sind groß und traurig. Weil er schon wieder etwas falsch gemacht hat.
»Mama«, sagt er und ich lasse die Decke fallen, die ich mit meinen Händen hochgehalten habe, und schlinge meine Arme um ihn.
»Ist nicht so schlimm«, sage ich und meine mehr als nur das nasse Laken. Und ich weiß nicht, warum, aber ich glaube mir selbst und spüre die Erleichterung, die sich wie die Decke um uns beide legt.
Ich überlege, ob jetzt der richtige Moment ist.
In der Nacht haben Jakob und ich ausgemacht, dass wir nach dem Frühstück mit ihm reden. Nach dem Frühstück. Nicht jetzt.
Wir haben auch besprochen, wie wir mit Luca reden wollen: Wir machen ihm keine Vorwürfe. Wir unterstellen ihm nichts und legen ihm keine Worte in den Mund. Wir wollen seine Version hören. Dass Kinder früher oder später ihre Körper entdecken wollen, gehört dazu. Wir wollen nicht, dass er sich schämt. Wirklich bedenklich ist doch nur, dass es heißt, er hat sie gezwungen. Wir werden ihm also erklären, dass Sexualität und Neugierde etwas Normales sind, aber auf Konsens beruhen müssen.
So weit die Theorie.
Nach dem Frühstück werfen Jakob und ich uns einen langen Blick zu. Luca ist damit beschäftigt, die letzten Müslireste mit seinem Löffel zusammenzukratzen. Keiner möchte anfangen. Unsere Augen führen einen stillen Ringkampf. Bis Jakob sich geschlagen gibt. »Also, Kumpel«, sagt er. Und ich finde es schon falsch. Er sagt sonst nie »Kumpel«.
»Du weißt, es gibt nichts, was du uns nicht sagen kannst.«
Luca nickt ganz leicht, aber dabei wandert sein Blick tiefer.
»Frau Bohle hat uns ja schon erzählt, was passiert ist.«
»Was sie glaubt, dass passiert ist.« Ich kann nicht anders, als Jakob zu unterbrechen.
»Bin ich deswegen heute nicht in der Schule?«, fragt Luca kleinlaut.
Jakob und ich sehen uns an.
»Das ist, damit wir darüber reden können«, sage ich, »ganz in Ruhe.« Es wäre so einfach, zu sagen, er muss den Mund aufmachen, damit er wieder in die Schule darf. Aber so erziehen wir nicht. »Damit wir ein bisschen Familienzeit haben.« Ich lächle und schenke mir Kaffee nach, nebenbei, harmlos. »Also, was war da wirklich los?«
Luca verzieht die Mundwinkel nach unten.
»Hast du Angst, dass wir schimpfen?«, fragt Jakob.
»Das ist kein Spaß«, sage ich. »Du musst mit uns sprechen, damit wir …« — dich beschützen können — »damit wir damit umgehen können.«
Luca sitzt da, ohne sich zu rühren.
»Du und … das Mädchen, ihr seid in der Pause in der Klasse geblieben«, versucht Jakob einen anderen Ansatz. »Was wolltet ihr tun? Wolltest du sie küssen?«
Luca müsste nur den Faden aufnehmen und weitererzählen. Egal was er sagt, alles wäre mir lieber als dieses Schweigen. Wie ist er auf die Idee gekommen? War es als Scherz gemeint oder steckt mehr dahinter? Wir können nicht einfach die Version der anderen übernehmen, ich brauche seine. Jakob lächelt tapfer gegen die Luca-Wand. Wir zwei unserem Kind gegenüber, das ist ein Verhör. Klar ist das einschüchternd. Warum habe ich vorhin unter der Decke nicht weitergefragt?
»Es ist völlig in Ordnung, neugierig zu sein«, probiert Jakob es weiter. »Berührungen sind etwas Schönes.«
Was redet er denn da? »Nicht alle Berührungen sind schön«, sage ich. Genau darum geht es doch!
Jakob räuspert sich. »Luca, was ich sagen will, man darf anderen keine Berührungen aufzwingen. Du musst vorher immer fragen. Und dann müssen beide einverstanden sein.«
In Lucas eingezogenen Schultern, dieser Schutzhaltung, steckt auch ein Stolz, den ich von mir kenne.
»Du machst es nur schlimmer, wenn du nicht redest.«
Lucas Unterkiefer beginnt zu zittern.
»Du hast etwas gemacht«, sagt Jakob, sein Blick fängt Lucas ein und sie sehen sich an. Bis aus Lucas Zittern ein Nicken wird.
Ich bin alleine in der Wohnung. Jakob ist mit Luca Fußball spielen gegangen, in den kleinen Park ums Eck. Mehr als dieses Zucken war nicht aus ihm herauszubekommen. Reicht es als Schuldeingeständnis? Ich bin mit der Zeit vorsichtiger geworden. Auf dem Spielplatz beginnt ein Kind neben Luca zu weinen und er sagt: »Es war keine Absicht.« Später kommt heraus, das Kind ist auf eine Biene getreten. Wir liegen zusammen im Bett und ich küsse seinen Bauch und er küsst mich zurück, seine weichen Lippen auf meiner Haut, bis er zubeißt. Ich zucke erschrocken zurück und merke erst da, dass ich ihn mit meinem Ellbogen eingeklemmt hatte. Ich hole Luca aus dem Kindergarten ab und er sagt mir, dass die Leiterin mit mir reden möchte. Seine Stimme klingt dabei anders, fast fremd. Das macht er auch beim Spielen, jedes Kuscheltier hat seine eigene Stimme. Diese kenne ich noch nicht, sie klingt kurzatmig und geht mir unter die Haut. Ich greife nach seiner Hand, aber er sagt mir nicht, was passiert ist. Als die Leiterin erzählt, er habe ein Spielzeug kaputtgemacht, bin ich einfach nur erleichtert, dass kein anderes Kind zu Schaden gekommen ist.
Ich weiß, dass Kinder erst lernen müssen, mit ihren Gefühlen umzugehen. Ich weiß, dass es normal für ein Kleinkind ist, von der Wut oder Scham überwältigt zu werden, zu beißen, zu schlagen, zu kratzen. Sie tun es nicht aus Bösartigkeit, sondern weil die Gefühle über sie hereinbrechen wie Wellen, die alles mitreißen. Deswegen habe ich Luca früher Angebote gemacht: »Der Luftballon ist zerplatzt — macht dich das traurig, wütend oder hat dich das Geräusch erschreckt?« Das soll Kindern helfen, sich ihrer Gefühle bewusst zu werden, aber ich war mir nie sicher, ob ich ihm damit nicht doch etwas einredete oder ob er sich nur deswegen für ein Gefühl entschied, um mich zufriedenzustellen.
Wie einen Ohrwurm höre ich Jakobs Satz in meinem Kopf: »Du hast etwas gemacht.« Lucas Nicken. Ich hänge diesem Bild nach, betrachte es von verschiedenen Seiten. Es ist wie die Antwort auf eine Ahnung, die ich schon lange in mir trage. Als hätte ich damit gerechnet, dass früher oder später etwas geschehen wird. Nun ist es so weit und ich bin doch nicht vorbereitet. Oder aber es ist wie damals mit der Biene.
Ich trinke den kalten Rest meines Kaffees. Der Ekel lässt mich erzittern. Ich sammle die Tassen ein und trage sie zur Spüle. Mit einem feuchten Lappen wische ich über die Küchenablage und den Tisch. Die Möbel in unserer Wohnung sind sorgfältig ausgewählt, gebrauchte Lieblingsstücke, dazu das schwarz-weiß karierte Linoleum auf dem Küchenboden. Es sieht aus, als lebten wir in einer Puppenstube. Das liegt auch an den niedrigen Decken in unserem Fünfziger-Jahre-Bau. Als wir hier eingezogen sind, ich im siebten Monat schwanger, hatte es nur eine Übergangslösung sein sollen. Und es liegt nicht nur am Geld, dass wir siebeneinhalb Jahre später immer noch hier sind, sondern auch daran, dass uns die bunte Schuhschachtel ans Herz gewachsen ist. Wir haben uns eingerichtet im Ungefähren, da ist zum Beispiel die wuchtige türkisfarbene Kredenz mit den aufgemalten Blumen, ein altes Bauernmöbel, in das ich mich sofort verliebt habe, für das die Wohnung aber eigentlich zu klein ist. Jetzt ragt sie etwas unbeholfen in den Raum hinein, unsere Hüften weichen automatisch aus, wenn wir durch die Küche ins Wohnzimmer gehen. Der wackelige Haken im Vorraum bleibt frei. Und das verzogene Fenster in der Speisekammer wird nie geöffnet. Diese Wohnung ist mehr Zuhause, als es das große Haus am Wald oder die WG in Wien je waren. Sie ist das einzige Zuhause, das Luca kennt.
Als ich ins Badezimmer gehen will, fällt mir das nasse Laken ein. Luca hat ins Bett gemacht. Auf seltsame Art beruhigt mich das. Denn auch wenn ihm die Worte fehlen, gibt es eben doch eine Reaktion. Einmal habe ich ihn in die Badewanne gesetzt. Ich war gestresst, meine Gedanken kreisten um etwas anderes. Erst als ich ihm die Haare waschen wollte, merkte ich, wie heiß das Wasser war. Danach wollte er zehn Tage keine Socken tragen. Das war kein Einzelfall. Mit Übung gelingt es mir, Auswirkung und Auslöser in Zusammenhang zu bringen.
Ich gehe rüber in sein Zimmer und ziehe das Laken ab, wie meine Mutter es getan hat. Mit eleganten, großen Bewegungen, die Arme weit ausgebreitet, schüttle ich den Bettbezug über die Decke, es ist wie ein Tanz mit dem Stoff. Romi hat auch ins Bett gemacht. Lange. So oft, dass Mutter ihr eine Unterlage unter das Leintuch legte, die knisterte, wenn sich Romi in der Nacht wälzte. Wenn ich das hörte, wusste ich, dass sie wach lag, aber ich sagte nichts, weil ich nicht wollte, dass sie zu mir kam und vielleicht mein Bett einnässte. Ein paar Mal ist es passiert. Dieses Gefühl, wenn sich die feuchte Wärme unter den Oberschenkeln und dem Po ausbreitet. Der Geruch.
Ich blicke auf das Laken in meinen Händen. Ich schnuppere daran. Rieche nichts. Es ist kein Fleck zu sehen, nicht einmal ein leichter ausgefranster gelblicher Rand, auch nicht auf der Matratze. Auf dem Nachtkästchen steht ein leeres Wasserglas. Jeden Abend stelle ich Luca ein Glas mit Wasser neben das Bett, in der Hoffnung, dass er mehr trinkt.
Ich stelle die Matratze auf, nehme die Decke mit und hänge sie zum Lüften über die Brüstung des Balkons. Was eigentlich nicht notwendig ist, weil es nicht stinkt. Dann, endlich, ziehe ich mich an.
Auf dem Weg zum Park blicke ich mehrmals über meine Schulter. Ich werde dieses Gefühl nicht los. Ich kenne es von damals. Nach Lindas Unfall haben die Leute über uns geredet. Ist sie die, die beim Unfall dabei war? — Nein, das war die andere, die Zarte, Dunkelhaarige, die Adoptierte … Damals wollte ich mich verstecken. Damals war ich froh, dass sie nicht mit mir geredet haben, sondern nur über uns. Mitbekommen habe ich es trotzdem. Und ich bin gut darin geworden, unauffällig zu sein, wenn ich meinen Namen höre, nicht den Kopf in die Richtung zu drehen, sondern beschäftigt auszusehen, während ich konzentriert lausche.
Auch jetzt höre ich ihre Stimmen. Ein Kind macht so etwas nicht ohne Grund. Vielleicht hat er ja zuhause etwas erlebt.