Kleine Weltgeschichte der Wissenschaft - Hans Joachim Störig - E-Book

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Hans Joachim Störig

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Beschreibung

Vom Autor des Bestsellers ›Kleine Weltgeschichte der Philosophie‹ Die Wissenschaft ist ein selbstverständlicher Teil unserer Kultur und Gesellschaft. Doch das war nicht immer so. Sie hat sich über Tausende von Jahren entwickelt, bis sie zu dem wurde, was sie heute ist. Hans Joachim Störig erzählt anschaulich und spannend ihre Geschichte: von den Vorstufen und Anfängen in der Antike und im Orient über den Beitrag des Islam und des Mittelalters bis hin zur Entstehung der modernen Natur- und Geisteswissenschaft. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 1789

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Hans Joachim Störig

Kleine Weltgeschichte der Wissenschaft

FISCHER Digital

Inhalt

Es läßt sich wohl [...]HinweisErstes Kapitel · Warum Geschichte der Wissenschaft?1 Die Frage2 Blick auf die Vergangenheit3 Die Welt von heute4 Erste Abgrenzung des ThemasZweites Kapitel · Grundgedanken (Methodische Einleitung)I Arten und Gesichtspunkte der Wissenschaftsgeschichte1 Materialgeschichte und Problemgeschichte2 Übernationalität der Wissenschaft3 Überindividueller Charakter der Wissenschaft4 Unvollendetheit der Wissenschaft5 »Einheit der Wissenschaft«II Die Wissenschaft im Kulturganzen1 Wissenschaft und Gesellschaft2 Wissenschaft und Religion3 Wissenschaft und Kunst4 Wissenschaft und Technik5 Wissenschaft und Philosophie6 »Geheime Geschichte«III Zu Art und Methode meiner Darstellung1 Dilettantismus2 Geschichtliches DenkenDrittes Kapitel · Vorbedingungen, Vorstufen, Anfänge (Geschichtliche Einleitung)I Allgemeine Vorbedingungen des Entstehens von Wissenschaft1 Natürliche Vorbedingungen2 Gesellschaftliche Vorbedingungen3 Geistige Vorbedingungen4 ZusammenfassungII Vorstufen und Anfänge wissenschaftlichen Denkens vor den Griechen1 Ägypten2 Babylonien3 Indien4 China5 Israel6 Das Erbe des Ostens (Zusammenfassung)Viertes Kapitel · Die Geburt der Wissenschaft in GriechenlandEinführung1 Die Hauptperioden2 Land, Volk, Umwelt3 Philosophie als Mutterboden4 Philosophie, Mathematik und NaturwissenschaftenI Mathematik1 Thales und Anaximander2 Pythagoras und seine Schule3 Die »Drei Probleme« der Geometrie4 Platon und die Mathematik5 Eudoxos6 MenaichmosII Astronomie1 Älteste Vorstellungen2 Anaxagoras3 Platon4 Aristoteles5 Eudoxos6 HerakleidesIII Physik (Naturphilosophie)1 Die Idee eines allgemeinen Naturgesetzes2 Einzelne Grundvorstellungen griechischen Naturdenkens (Urstoff – Element – Atom)3 Anfänge des ExperimentsIV Biologie1 Aristoteles, Vater der Zoologie2 Theophrast, Vater der BotanikV Hippokrates, Vater der MedizinVI Die Väter der Geschichtsschreibung1 Homer und Hesiod2 Herodot3 ThukydidesFünftes Kapitel · Die ersten Erben · Die Wissenschaft des Hellenismus und der Beitrag RomsEinführung1 Das Zeitalter2 Alexandria als Zentrum der Wissenschaft3 Eigenart der hellenistischen Wissenschaft4 Die Römer und die WissenschaftI Mathematik1 Euklid2 Archimedes3 Andere Mathematiker in AlexandrienII Astronomie1 Aristarch, der Kopernikus des Altertums2 Hipparch3 PtolemaiosIII Andere Naturwissenschaften1 Optik2 Heron von Alexandrien3 Alchimie4 Naturkunde: PliniusIV Geographie1 Phönizier und Karthager2 Die Väter der Geographie3 Pytheas4 Eratosthenes5 Ptolemaios6 Geographie der RömerzeitV Medizin1 Herophilos2 Erasistratos3 Galenos4 Bedeutung der antiken MedizinVI Geisteswissenschaften1 Geschichtsschreibung2 Philologie3 RechtswissenschaftSechstes Kapitel · Der andere Erbe Die Wissenschaft des IslamEinführung1 Ost und West2 Der Aufstieg des Islam3 Die Aufnahme des Erbes4 Die beiden Zentren5 Islamische Religion und heidnische PhilosophieI Mathematik1 Al Khwarizmi2 Omar KhayyamII Astronomie1 Al Battani2 Astronomische InstrumenteIII Physik und Chemie1 Optik2 AlchimieIV Biologie und Medizin1 Botanik2 Die Medizin im Osten: Rhases. Avicenna3 Die Medizin im Westen: Abulcasis, Avenzoar, AverroesV Geographie1 Der Geographische Gesichtskreis2 Die großen Reisenden: Suleiman, Al Massudi, Al Edrisi, Ibn Batuta3 Geologie, mathematische Geographie, KartographieVI Geisteswissenschaften1 Geschichtsschreibung2 Philologen und EnzyklopädistenSiebentes Kapitel · Bewahrung und Inkubation · Die Wissenschaft im abendländischen MittelalterEinführung1 Zur Stellung des Mittelalters in der Wissenschaftsgeschichte2 Hemmende Kräfte3 Bewahrende und fördernde Kräfte4 Berührung mit dem Islam. Das Zeitalter der Übersetzungen5 Das Aufblühen der Universitäten6 Das mittelalterliche ErkenntnisidealI Mathematik und Astronomie1 Die Geburt der abendländischen Mathematik · Leonardo von Pisa und Jordanus2 Nikolaus von OresmeII Physik und Chemie1 Jordanus2 Petrus Peregrinus3 Roger Bacon4 ChemieIII Biologie1 Allgemeines. Physiologus und die Bestiarien. Hildegard von Bingen2 Friedrich II.3 Albertus Magnus4 Conrad von MegenbergIV Geographie1 Pilgerfahrten und Kreuzzüge2 Die Normannen. Erste Entdeckung Amerikas3 Entdeckungen der Genuesen und Venezianer. Marco Polo4 KartenV Medizin1 Die Schule von Salerno2 Arnold von Villanova. Roger Bacon3 Anatomie: Mondino de’Luzzi4 Epidemien und öffentliches GesundheitswesenVI Geisteswissenschaften1 Christliche Geschichtsdeutung2 Kirchengeschichte. Chroniken3 Übersetzer und Grammatiker. Enzyklopädisten4 Anfänge des Humanismus5 JurisprudenzAchtes Kapitel · Instauratio Magna · Das Zeitalter der modernen Wissenschaft beginntEinführung1 Religiöser und philosophischer Hintergrund2 Renaissance und Reformation3 Buchdruck und Bücher4 Leonardo da Vinci als Verkörperung des neuen Geistes5 Francis Bacon als Künder des neuen WegesI Mathematik1 Tartaglia und Cardano2 Vieta3 Napier und BürgiII Astronomie: Das neue Universum1 Cusanus, Peurbach, Regiomontanus2 Kopernikus3 Tycho Brahe4 Kepler5 Galilei6 Bruno7 Die Gregorianische KalenderreformIII Physik und Chemie1 Gilbert2 Stevin3 Galilei4 ChemieIV Geographie: Das Zeitalter der Entdeckungen1 Heinrich der Seefahrer2 Columbus3 Die weitere Entdeckung Amerikas4 Der Seeweg nach Ost-Indien5 Die erste Erdumsegelung durch Magalhães6 Die Aufschließung Asiens7 Folgen der Entdeckungen8 MercatorV Biologische und medizinische Wissenschaften1 Botanik und Zoologie2 Paracelsus3 Vesalius4 Paré5 SanctoriusVI Geisteswissenschaften1 Humanismus in Italien2 Humanismus nördlich der Alpen3 Geschichtsschreibung4 Jurisprudenz: Die Rezeption des römischen RechtsNeuntes Kapitel · Universale Mathematik · Die Wissenschaften im 17. JahrhundertEinführung1 Das neue Erkenntnisideal2 Das neue ErkenntnisproblemI Mathematik1 Projektive und analytische Geometrie: Fermat, Pascal, Desargues, Descartes2 InfinitesimalrechnungII Astronomie1 Beobachtende und messende Astronomie2 Römer mißt die Lichtgeschwindigkeit3 Descartes’ WirbeltheorieIII Physik und Chemie1 Universelle Gravitation. Newton2 Optik3 Gase4 Die Struktur der Materie5 Boyle. Anfänge der wissenschaftlichen ChemieIV Biologie: Die Mikroskopisten1 Hooke2 Leeuwenhoek3 Swammerdam4 MalpighiV Medizin1 Iatrophysik und Iatrochemie2 Harvey3 Sydenham4 Der ärztliche StandVI Geographie1 Entdeckungen2 Geographische TheorieVII Geisteswissenschaften1 Das Ideal einer Wissenschaft vom Menschen2 Geschichtschreibung3 RechtslehreZehntes Kapitel · Natur und Vernunft · Die Wissenschaften im 18. JahrhundertEinführung1 »Natur«2 Die Einheit des Natürlichen und des Vernünftigen3 Das Natürliche und das Vernünftige als Werkzeug der Kritik in Religion, Moral, Gesellschaft4 Religiöser Rationalismus5 Ethischer Rationalismus6 Gegengewichte gegen den Rationalismus7 Die Große Enzyklopädie8 Das metrische SystemI Mathematik und Mechanik1 Die Bernoullis2 Euler. D’Alembert. Lagrange3 Moivre. LaplaceII Astronomie1 Halley2 Bradley3 Herschel4 Kant5 LaplaceIII Physik1 Wärmelehre2 Die Dampfmaschine3 ElektrizitätIV Chemie1 Stahl und die Phlogistonlehre2 Black, Cavendish, Priestley3 Bergmann und Scheele4 Lavoisier5 Die chemischen SymboleV Geologie1 Gesteine und Gebirge2 FossilienVI Biologie1 Linné2 Physiologie3 Weitere Wegbereiter des EntwicklungsgedankensVII Medizin1 Pathologische Anatomie: Morgagni2 Physiologie: Haller3 Histologie: Bichat4 Besondere Arten der Therapie: Mesmer, Hahnemann5 Pockenimpfung: Jenner6 Das Gesundheitswesen im 18. JahrhundertVIII Geographie1 Entdeckungen2 Geographische TheorieIX Geschichte1 Eigengesetzlichkeit und Reichtum der geschichtlichen Welt: Vico und Montesquieu2 Typische Aufklärungshistorik: Voltaire, Schiller, Friedrich d. Gr., Hume, Gibbon3 Der Fortschrittsgedanke: Lessing, Condorcet4 Altertumskunde und Kunstgeschichte: Winckelmann5 Vertiefte geschichtliche Besinnung, IdeengeschichteX Recht, Staat, Wirtschaft1 Rousseau2 Bentham3 Die Begründung der NationalökonomieElftes Kapitel · Evolution Die Naturwissenschaften im 19. JahrhundertEinführung1 Romantik2 Einige weitere allgemeine KennzeichnungenI Mathematik1 Nichteuklidische Geometrie2 Karl Friedrich Gauss3 Zahlen4 Mengen5 Gleichungen6 Funktionen7 Räume8 Invarianz9 Mathematikgeschichte10 Mathematik und LogikII Astronomie1 Neue Entdeckungen im Planetensystem2 Spektroskopie3 Fotografie als Hilfsmittel4 Der Bau des WeltallsIII Physik1 Wärmetheorie und allgemeine Energielehre2 Die kinetische Gastheorie3 Licht und Elektrizität4 Hinweis auf einige praktische AuswirkungenIV Chemie1 Atome und Moleküle2 Die Ordnung der Elemente im periodischen System3 Physikalische Chemie4 Anfänge der organischen Chemie5 Kekulé6 Pasteur, van’t Hoff, Le Bel7 Anwendungen und AuswirkungenV Die Erde1 Alexander von Humboldt2 Lyell3 Ritter und Ratzel4 Das neue Zeitalter der EntdeckungenVI Das Leben1 Embryologie2 Die Zelle3 Physiologie4 Evolution: Darwin5 Ausbreitung und Aufnahme Darwinscher Gedanken6 Vererbung7 Mechanismus und VitalismusVII Medizin1 Neue diagnostische Hilfsmittel2 Sieg über den Schmerz3 Mikrobenjäger4 Antisepsis und Asepsis5 Laienärzte, natürliche Heilverfahren6 Ausblick. Wissenschaftliche HygieneVIII Die Revolution der Physik1 Röntgenstrahlen2 Radioaktivität3 Elektronen4 Radioaktivität als Atomzerfall5 Quantentheorie6 Spezielle RelativitätstheorieZwölftes Kapitel · Geist und Geschichte · Die Geisteswissenschaften im 19. JahrhundertEinführung1 Hegel und die Geschichte2 Hegel und die Geisteswissenschaften3 Die Einheit der Historischen SchuleI Geschichte1 Niebuhr2 Ranke3 Droysen4 Mommsen5 Zwei Hauptinhalte des Jahrhunderts im Spiegel der Geschichtswissenschaft6 Kulturgeschichte7 Die Geschichte im allgemeinen BewusstseinII Das Recht1 Der Auftakt: Hugo und Thibaut2 Savigny als Begründer der Historischen Rechtsschule3 Blick auf die Entfaltung der Schule4 Jhering und die Wendung zum Positivismus5 Otto von Gierke und das Bürgerliche GesetzbuchIII Die Wirtschaft1 Die ersten Gegner der klassischen Schule: Der frühe Sozialismus und List2 Die Weiterbildung der klassischen Theorie bis zu ihrem Höhe- und Wendepunkt3 Gegenströmungen in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts: Die Historische Schule und der spätere Sozialismus4 Die Grenznutzenschule als Beispiel für die Erneuerung der TheorieIV Die Gesellschaft1 Comte und der Positivismus2 Spencer und der Entwicklungsgedanke3 Deutsche Soziologen des 19. Jahrhunderts4 Amerikanische Soziologen des 19. JahrhundertsV Die Sprache1 Die klassische Philologie2 Die Begründung der vergleichenden SprachwissenschaftVI Die Seele1 Ein Rückblick2 Herbart3 Anfänge der Experimentalpsychologie auf physiologischer Grundlage4 Wundt5 Ebbinghaus6 Brentano und Stumpf7 Külpe und die Würzburger Schule8 William James9 Verstehende Psychologie10 Blick auf die Psychiatrie11 Ausblick auf zwei neuere Theorien12 Ausblick auf die Tiefenpsychologie13 Ausblick auf einige praktische Anwendungen und AuswirkungenSchlußwortAnmerkungenPersonenregisterStichwortregister

Es läßt sich wohl behaupten, daß die Geschichte der Wissenschaft die Wissenschaft selbst sei. Man kann dasjenige, was man besitzt, nicht rein erkennen, bis man das, was andere vor uns besessen, zu erkennen weiß.

Der Lobgesang der Menschheit, dem die Gottheit so gern zuhören mag, ist niemals verstummt, und wir selbst fühlen ein göttliches Glück, wenn wir die durch alle Zeiten und Gegenden verteilten harmonischen Ausströmungen, bald in einzelnen Stimmen, in einzelnen Chören, bald fugenweise, bald in einem herrlichen Vollgesang vernehmen.

GOETHE

In den Werken der Wissenschaft aus der Vergangenheit das zu finden, was nicht überholt ist und nicht überholt werden kann, ist vielleicht der wichtigste Teil unseres Suchens. Ein wahrer Humanist muß das Leben der Wissenschaft kennen, wie er das der Kunst und der Religion kennt.

GEORGE SARTON

Hinweis

Lebensdaten sind in der Regel nur der jeweils ersten ausführlichen Erwähnung eines Gelehrten beigefügt. Sie sind – wie überhaupt mehrfache Behandlung eines Mannes in verschiedenen Abschnitten – mit Hilfe des Personenregisters aufzufinden.

Erstes Kapitel Warum Geschichte der Wissenschaft?

Es ist sicher, daß niemals, bevor Gott von Angesicht zu Angesicht erblickt wird, ein Mensch irgend etwas mit endgültiger Gewißheit wissen wird. Denn keiner ist so gelehrt, daß er auch nur die Natur und Eigenschaften einer einzigen Fliege wüßte. Und da im Vergleich zu dem, was ein Mensch weiß, jene Dinge, von denen er nichts weiß, unendlich sind und über allen Vergleich größer und schöner, so ist der von Sinnen, der sich seines Wissens rühmt … Je weiser Menschen sind, desto demütiger sind sie bereit, Belehrung von anderen zu empfangen.

Roger Bacon

Ein Mensch, auch der gelehrteste, kann eben nicht vollkommener in seiner Bildung werden, als daß er in dem ihm eigenen Nichtwissen aufs beste unterrichtet befunden werde, und je mehr sich einer als Nichtwissenden erkennt, um so gelehrter wird er sein.

Nicolaus Cusanus

1 Die Frage

Wissen macht bescheiden. Je tiefer einer in und hinter die Dinge geblickt hat, um so demütiger wird er. Und umgekehrt: Je leerer der Kopf, um so leichter kommen Unduldsamkeit und Überheblichkeit. Fast alle Großen im Reich des Geistes haben gewußt und ausgesprochen, daß sie nur einen Zipfel der Wahrheit erfaßt hatten. Das sokratische »Ich weiß, daß ich nichts weiß« stand oft am Ende ihres lebenslangen Ringens.

Das Beispiel Isaac Newtons nenne ich für viele andere. Jedermann weiß, daß sein Werk zu den größten gehört. Noch nicht 24 Jahre alt, fand Newton, als ihn die Pest aus Cambridge vertrieben hatte, den binomischen Lehrsatz, Differentialrechnung und Integralrechnung, die Farbtheorie und die Grundgedanken seiner Gravitationsgesetze. Er schuf ein Werk für Jahrhunderte, und er wußte das. Und doch hat er am Ende jene ebenso berühmten wie bescheidenen Sätze geschrieben, darin er Sein und Wissen einem uferlosen Meer vergleicht, das nur um so unermeßlicher sich dehnt, je weiter wir auch vordringen.

Erkenntnis macht bescheiden. Macht sie auch glücklich? Darauf scheint es zunächst eine Antwort zu geben: Ja – jedenfalls den Erkennenden, den Forscher, den Entdecker. Das Glück des Erkennenden ist nicht geringer als das Glück dessen, der Werke der Kunst schafft oder Taten des Ruhmes vollbringt. Denn Erkennen ist nichts Passives, auch kein bloßes Abbilden; es ist ein Erobern, ein Gestalten, ein Schaffen – in sich selbst und ganz abseits von seinen vielleicht unabsehbaren Auswirkungen auf das praktische Leben. Es kann wie ein Rausch sein und ist die Befriedigung eines menschlichen Urtriebes.

Den Forscher mag Wissen und Entdecken glücklich machen – aber die Menschheit im ganzen, uns alle, uns Heutige? Blicken wir um uns! Freilich verdanken wir das meiste, was unser Leben äußerlich bequem und angenehm macht, solchen Entdeckertaten – aber ebenso fast alles, was uns bedrängt und mit Angst erfüllt!

Ist es nicht vielleicht besser, nicht zu wissen? Ist nicht alles Wissen eitel? Oder gar vom Bösen? Kam nicht das Übel vom Baum der Erkenntnis? Verschaffen sich jene Einzelnen vielleicht den Rausch und das Glück des Erkennens auf Kosten der Menschheit im ganzen, wenn nicht auch zum Schaden ihrer eigenen Seele?

In der Unrast, die in unsere Welt gekommen ist, mögen heute viele solche Fragen bewegen. Mit Hölderlin möchten sie fragen:

Wer hub es an, wer brachte den Fluch? Von heut’

ist’s nicht, und nicht von gestern, und die zuerst

das Maß verloren, unsere Väter,

wußten es nicht, und es trieb ihr Geist sie.

Wer um sich blickt, hat Anlaß, so zu fragen. Wohin soll er sich wenden? An welche Autorität? Ein Weg ist, und jedenfalls für den abendländischen Menschen ein notwendiger, durch sein Wesen vorgezeichneter Weg: die Geschichte zu befragen, die Geschichte dieses eigenartigen Phänomens der Erkenntnis, der Wissenschaft.

Von der Wissenschaft und ihrem Werden handelt dieses Buch. Aber, und das ist ein naheliegender Einwand: Ist das nicht eine Angelegenheit der wissenschaftlichen Fachleute? Ist es notwendig und sinnvoll, darüber zu Nicht-Wissenschaftlern zu sprechen, und, falls die Notwendigkeit einzusehen ist, ist es überhaupt möglich? Dieses Buch wendet sich in der Tat in erster Linie an den Nicht-Wissenschaftler, und an den Wissenschaftler gerade insofern er nicht »Fach-Mann«, also nicht Spezialist ist – Fachmann zu sein ist beim heutigen Stande der Wissenschaftsentwicklung immer nur auf einem oder wenigen Teilgebieten möglich, ehrlicher gesagt, auf einem Teilgebiet eines Teilgebietes. Es versucht, Wissenschaft als Gesamtphänomen in den Blick zu bekommen.

Was geht denjenigen, der in einem praktischen oder künstlerischen Beruf steht und mit dem wissenschaftlichen Betrieb vielleicht niemals in engere Berührung gekommen ist, die Wissenschaft und ihre Geschichte an? Und ebenso: Welchen Sinn hat es für den wissenschaftlichen Arbeiter und Forscher, sich dem allgemeinen und etwas vage erscheinenden Thema »Wissenschaft als Ganzes« zuzuwenden, wenn Zeit und Arbeitskraft schon kaum ausreichen, im eigenen Fachgebiet auf dem laufenden zu bleiben, wenn er das Gefühl haben muß, schon auf den seiner Arbeit nächstbenachbarten Gebieten nicht mehr wirklich sachkundig urteilen und mitreden zu können?

Man mag zugeben, daß einzelne auch der Geschichte der Wissenschaft ein wissenschaftliches Interesse widmen können. Es gibt an den Hochschulen Lehrstühle und Institute zur Pflege zum Beispiel der Geschichte der Medizin, der Naturwissenschaften, der Mathematik. Aber ist das nicht ein Spezialgebiet unter vielen anderen, das nicht nur für das allgemeine Leben durchaus am Rande des Interesses liegt, sondern sogar auch innerhalb der Wissenschaft: indem der einzelne Forscher – was leicht zu beweisen wäre – auf seinem Arbeitsgebiet durchaus Wertvolles leisten kann, ohne über die Geschichte auch nur dieses Teilgebietes besonders gut unterrichtet zu sein? Und schließlich: Wenn schon Beschäftigung mit wissenschaftlichen Fragen außerhalb des eigenen Berufes oder Arbeitsgebietes – sollte man dann nicht an Hand der für die meisten Gebiete vorhandenen guten populärwissenschaftlichen Bücher sich über die neuesten Ergebnisse der Forschung unterrichten, um an Hand der Wissenschaft ein bildungsmäßig wertvolles, vielleicht auch praktisches verwertbares Wissen von der uns umgebenden Welt zu gewinnen – anstatt die Geschichte der Wissenschaft zu betrachten, die doch vom heutigen Stande der Forschung aus großenteils nur als Vorbereitung und Vorstufe, ja als eine Kette von unzulänglichen Beobachtungen und Erklärungsversuchen, von falschen Theorien, kurz von Irrtümern erscheinen muß?

Ich habe die Antwort im Kern schon zu Beginn vorweggenommen. Für den denkenden Menschen ist eine Beschäftigung mit der Geschichte der Wissenschaft notwendig und sinnvoll, weil er nicht isoliert lebt, sondern in einer Welt, einer Umwelt, in »seiner« Welt, in tausendfältiger Verflechtung und unlöslicher Verbundenheit mit ihr und mit anderen Menschen – und weil die Wissenschaft eine der gestaltenden Kräfte dieser Welt ist.

Immer ist »Leben« nichts anderes als tätige und leidende Auseinandersetzung mit einer Umwelt. Daß der passive, erleidende Anteil dieser Auseinandersetzung nicht weniger bedeutsam ist als der aktive, gestaltende, daß die Einflüsse und Einwirkungen der »Welt« auf uns schwerer wiegen können als diejenigen, die wir ihr handelnd zurückgeben, ja daß sie übermächtig, überwältigend, schlechthin unentrinnbar zu werden vermögen, bedarf heute noch weniger eines Beweises als zu jeder anderen Zeit. Aber auch innerhalb des scheinbar schmal gewordenen Spielraums, welcher der Entscheidung des einzelnen belassen ist, ist ihm verantwortliches Handeln nur möglich, wenn und soweit er diese ihn umgebende, heute mehr bedrohende als verlockende Welt kennt und versteht.

Da diese Welt nicht so, wie sie ist, vom Himmel gefallen, sondern wie alles uns zugängliche Sein geschichtlich geworden ist, ist sie auch nur auf dem Grunde ihrer geschichtlichen Entwicklung zu verstehen, und ebenso nur aus solchem Verstehen sinnvoll handelnd zu beeinflussen. Verdiente der heute den Namen eines Staatsmannes, dem das Völkerschicksal der weiteren und unmittelbaren Vergangenheit nicht in jedem Augenblick politischen Planens und Handelns mahnend gegenwärtig wäre? Wie in der Politik ist es aber überall das Wesen verantwortlichen Handelns, das Gewesene ebenso wie das zukünftig Erwartete und Erhoffte zu »vergegenwärtigen«.

Die Behauptung, es gebe kaum etwas, das im ganzen gesehen mehr dazu beigetragen hat, unsere Welt so werden zu lassen, wie sie ist, als die Wissenschaft – die Behauptung bedarf fast mehr der Illustration als noch des Beweises. Solcher Illustration, und daneben einem ersten Vertrautwerden mit unserem Gegenstand, soll es dienen, wenn wir einen schnellen Blick auf Vergangenheit und Gegenwart dieser Welt werfen – und auf ihre Zukunft: denn wiederum gibt es weniges, von dem ihr weiteres und unser aller Schicksal stärker abhängt als von der Wissenschaft.

2 Blick auf die Vergangenheit

Wenn das Denken den Versuch unternimmt, Grundzüge und Eigenarten unseres irdischen und menschlichen Lebens sich bewußt zu machen oder weitläufige geschichtliche Zusammenhänge zu überschauen, taucht seit dem klassischen Vorgang Voltaires immer wieder die Figur des verstandesbegabten Mars- oder Siriusbewohners auf, der den gedachten Vorgang unbefangen und unvoreingenommen gleichsam von außen betrachten kann. Der Hilfsvorstellung eines außerirdischen Beobachters wollen auch wir uns vorübergehend bedienen, um am Anfang unserer Betrachtung einen möglichst hohen Blickpunkt zu gewinnen. Stellen wir uns also einen Beobachter in großer Höhe über der Erdoberfläche vor, begabt mit einem Fernblick, der ihn Einzelheiten erkennen läßt bis in annähernd diejenige Größenordnung, in der wir Menschen uns bewegen. Statten wir ihn aus mit einem Zeitraffer-Blick, wie wir ihn aus der Filmtechnik kennen. Vorgänge, deren Dynamik unserem normalen Blick entgeht, weil ihr zeitlicher Rhythmus verglichen mit dem unseres eigenen Lebens zu langsam ist – wie das Wachstum der Pflanzen und ihr Drängen zum Licht – werden uns erst in solcher zeitlichen Verdichtung anschaulich.

Drei Milliarden Jahre besteht unsere Erde[1]. Erst im letzten Fünftel ihrer Geschichte bemerkt unser Beobachter die ersten Spuren des Lebens auf ihr. Jedenfalls reichen die ältesten uns bekannten Spuren des Lebens nicht weiter zurück als etwa 600 Millionen Jahre. Unablässig wandelt sich durch diese gewaltigen Zeiträume das Bild der Erdoberfläche auf Grund geologischer und vielleicht kosmischer Vorgänge, die teils mit katastrophenartiger Plötzlichkeit, im ganzen aber doch vorwiegend allmählich und fast unmerklich wirken. Kontinente, Meere und Gebirge entstehen und vergehen. In immer erneuter Anpassung an die geologischen und die mit ihnen verbundenen klimatischen Umbildungen entfaltet sich das Leben im Kommen und Gehen zahlloser Generationen zu immer weiter und vielgestaltiger verzweigten Arten und zu immer höher organisierten Formen. Etwa mit dem Beginn des letzten Zehntels seiner Entwicklung hat es die Stufe der Vögel und höheren Säugetiere erreicht. Wir befinden uns jetzt schon in der zweitjüngsten der geologischen Perioden, dem Tertiär, in dem unser europäischer Kontinent mit der Auffaltung der Alpen die uns jetzt vertraute Gestalt annimmt.

Nur die letztvergangene Million Jahre umfaßt das Quartär als jüngste der geologischen Epochen. Es ist gegliedert durch die großen Eiszeiten, die einander im Rhythmus von Jahrzehntausenden oder Jahrhunderttausenden folgen. In irgendeiner der Eiszeiten oder wärmeren Zwischenperioden (in deren einer auch wir uns vermutlich befinden) tauchen zum erstenmal Wesen auf, die wir nach den gefundenen Überresten als menschenähnlich erkennen. Im letzten Zehntel des Quartär, also im letzten Jahrhunderttausend, tritt der Homo sapiens auf und beginnt, seine besondere und allmählich herrschende Stellung unter den Lebewesen zu erkämpfen.

So sehr nun diese »vor-geschichtliche« Zeit der eigentlichen Menschwerdung für alles, was später aus dem Menschen wird, die wahrhaft entscheidende ist – für unseren fernen Beobachter werden die äußeren Anzeichen dieses Prozesses doch nur langsam und fast unmerklich sichtbar. Hervortretende Züge mögen die Beherrschung des Feuers durch den Menschen, die Herstellung und Verwendung einfacher Werkzeuge, der Bau von Hütten und primitiven Wasserfahrzeugen, die Zähmung der Tiere sein; das Bild der Erdoberfläche im ganzen wird gleichwohl hiervon wenig Spuren aufweisen und nach wie vor durch den jahreszeitlichen Wechsel von Klima und Vegetation so gut wie ausschließlich bestimmt sein.

Das wird erst anders wiederum etwa mit dem letzten Zehntel der Geschichte des Menschen, also im Verlauf der letzten zehntausend Jahre. Es entstehen, ermöglicht durch den Übergang der Menschen von Sammlertätigkeit und primitiver Jagd zu Viehzucht und Ackerbau, mit dem vierten vorchristlichen Jahrtausend – es kommt hier nicht auf Datierungen, sondern nur auf Größenordnungen an – die sogenannten Hochkulturen, von denen an wir erst von menschlicher Geschichte im eigentlichen Sinne sprechen. Nun beginnt die Erde – man ist versucht zu sagen mit einem Schlage, obwohl auch hier der Übergang eher ein gradweiser gewesen sein dürfte – für unseren Betrachter deutliche Spuren der Herrschaft des Menschen und seiner planmäßigen Einwirkung auf die Natur zu zeigen. Denn der Mensch – obzwar selber ein Stück und Glied der Natur – beginnt nun, in der Natur und auf ihrem Boden zwar, »aber im allgemeinen ihrem Stil zuwider«[2], eine eigene Welt zu erbauen. Er schlägt die Wälder, baut Siedlungen, große Städte mit aufragenden Bauwerken, legt Straßen an, Brücken, Kanäle, Bewässerungsanlagen, durchquert die Meere, durchwühlt die Erde nach ihren Schätzen. All dies formt das natürliche Gesicht der Erde zur sogenannten Kulturlandschaft um. Das Ausmaß dieser Veränderungen würde unserem Beobachter auch einen Rückschluß erlauben auf die im Schutz der Zivilisation eingetretene Vermehrung der Menschenzahl. Sie dürfte von wenigen Millionen zur Zeit der kollektiven Jagd bis zur Größenordnung von etwa 100 Millionen im ersten vorchristlichen Jahrtausend zugenommen haben[3].

Die Hochkulturen ergreifen zunächst nur begrenzte und gegeneinander weitgehend isolierte Bezirke der Erdoberfläche. Wie vereinzelte Inseln im sie umwogenden Meere der Natur mögen sie unserem Beobachter erscheinen. Die Veränderungen, die sie hervorrufen, sind auch zunächst zum großen Teile nicht dauernd. Die Straßen, Städte und kunstvollen Bewässerungsanlagen von Mohenjo Daro in Indien, von Assyrien und Babylon, die der mittelamerikanischen Hochkulturen und andere, sie blühen auf und versinken wieder wie Inseln im Meere; Wüstensand oder Urwald überdecken ihre Ruinen. Einzelne Gebiete, vielleicht solche mit besonders günstigen natürlichen Voraussetzungen, behalten aber den Charakter der Kulturlandschaft durch die Jahrtausende.

Das schon erwähnte Anwachsen der Erdbevölkerung steht mit der Ausbreitung menschlicher Kultur im unmittelbaren Zusammenhang – Kultur hier selbstverständlich verstanden in dem weiten Sinne, in dem Zivilisation nicht aus-, sondern eingeschlossen ist. So wie die räumliche Ausbreitung der Hochkulturen zwar in einem Auf und Ab, im ganzen aber doch vorwärts geht, so geht in dem hier betrachteten Zeitabschnitt vom Entstehen der Hochkultur bis zum Beginn der europäischen Neuzeit die Entwicklung der Bevölkerungszahl zwar auf und ab unter dem Einfluß von Naturkatastrophen, Seuchen und Kriegen, im ganzen aber ebenfalls aufwärts. Denken wir sie in einer Kurve dargestellt, so ist deren Verlauf wellenförmig, die Gesamttendenz aber steigend – und um so steiler, je weiter die Zeit fortschreitet. Sie überschreitet in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten die 200-Millionen-Marke und erreicht bis zum Ausgang des europäischen Mittelalters 500 Millionen.

Der letzte Zeitabschnitt, dem wir uns nun zuwenden, ist die sogenannte Neuzeit herkömmlicher abendländischer Zeitrechnung. Das seit dem Stichjahr 1500 n. Chr. verflossene halbe Jahrtausend umfaßt wiederum etwa ein Zehntel der gesamten bisherigen Lebenszeit der Hochkulturen. Die Kurve der Bevölkerungsentwicklung wird jetzt ziemlich stetig in ihrem Verlauf – auch die beiden Weltkriege haben daran nichts geändert – und immer steiler steigt sie an. Mit Beginn des 19. Jahrhunderts wird die Milliardengrenze, im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts die Zwei-Milliarden-Grenze überschritten.

Im Einklang mit der Vermehrung der Zahl der Menschen schreiten die von ihnen hervorgebrachten Veränderungen ihrer Welt fort. Mit dem Zeitalter der Entdeckungen, das am Beginn der Neuzeit steht, werden die bis dahin weitgehend gegeneinander isolierten Kulturlandschaften der Erde erstmalig zu einem einheitlichen globalen Wirkungszusammenhang zusammengeschlossen. Nun erst ergreifen die Menschen eigentlich Besitz von der ganzen Erde. Sie ersteigen die höchsten Berge, durchqueren das ewige Eis der Polargebiete. Ihre Schiffe umfahren die ganze Erde. Neue menschenleere oder menschenarme Kontinente werden von Europa aus entdeckt, erschlossen und besiedelt.

Mit dem Beginn des Industriezeitalters wird der ganze Prozeß sozusagen wiederum mit einem Ruck zu seinem uns heute bekannten Tempo beschleunigt. Millionenstädte und gewaltige Fabrikanlagen schießen aus dem Boden. Ein Netz von Straßen und Eisenbahnen, von Kabeln und Röhren, Strom- und Nachrichtenleitungen überzieht den Erdball. Flüsse und Ströme werden kanalisiert, umgeleitet oder zu riesigen Wasserspeichern gestaut. Endlich wird der Luftraum erobert.

Da der Verstand, mit dem wir unseren Beobachter ausgestattet haben, immer nur ein menschlicher sein kann – denn einen anderen vermögen wir uns nicht wirklich vorzustellen – so dürfen wir nun wohl vermuten, daß ihn angesichts dieses Schauspiels eine brennende Neugierde ergreifen wird. Denn was zeichnet den menschlichen Verstand mehr aus als die aus staunendem Verwundern geborene Frage nach dem Warum? Was ist die Ursache – wird er fragen – welche diese, verglichen mit den vorangegangenen unermeßlichen Zeiträumen langsamen Fortschreitens, schier atemberaubende Beschleunigung des Wandlungsprozesses hervorruft? Und welches ist das unbekannte Ziel, dem der Prozeß in anscheinend immer beschleunigterem Tempo zurollt?

Um das zu bestimmen, muß man die der Entwicklung zugrunde liegende innere Gesetzmäßigkeit kennen. Das verweist aber auf den Menschen als den Träger dieser Entwicklung. Was ist es, das die Menschen angetrieben und das sie befähigt hat, die Erde sich zu unterwerfen und immer stärker nach ihrem Willen zu verwandeln?

Unser Beobachter wird seinen hohen Standort verlassen müssen und unter die Menschen treten, um in ihr Inneres zu schauen. Wenn er das vermag, wird er erkennen, daß das Schauspiel, das vor ihm abgerollt ist, nur die Außenseite eines Entwicklungsprozesses darstellt, der sich am und im Menschen abspielt; und daß innerhalb dieses Prozesses das, was wir Wissen nennen, eine führende, ja ausschlaggebende Rolle gespielt hat. Wissen, gewonnen durch methodisches Forschen, geordnet und bewahrt in der systematischen Form der Wissenschaft, hat dem Menschen Macht gegeben. Je tiefer er in die Geheimnisse der ihn umgebenden Welt drang und je besser er ihre Gesetzmäßigkeiten erkannte, um so mehr konnte er ihre Kräfte in seinen Dienst stellen. Der Herkunft der Wissenschaft und ihrem Wesen nachzuspüren, möchte so immerhin sogar für unseren fernen Beobachter einiges Interesse haben. Für ihn wäre es allerdings ein rein theoretisches.

Für uns aber, die wir hier auf Erden leben wollen, die wir die Träger, aber auch die Objekte und Opfer dieses Prozesses sind – ist es da nicht eine Sache von äußerst dringendem und lebenswichtigem Interesse, uns über diesen Prozeß und unsere Stellung in ihm zu besinnen?

3 Die Welt von heute

Ich sagte, daß nichts das Gesicht unserer heutigen Welt – selbstverständlich soweit die Welt überhaupt vom Menschen gestaltet ist – stärker bestimmt habe und bestimme als die Wissenschaft.

Das gilt zunächst für die bloße Tatsache des Daseins: die reine Existenz von mindestens zwei Dritteln der heutigen Menschheit ist möglich gemacht durch Wissenschaft, angewandt auf die Erzeugung von Nahrung und die Ausschaltung von Krankheiten.

Die durch Wissenschaft ermöglichte Vermehrung der Menschenzahl wirkt sich in Nahrungsspielraum, Wohndichte, Verkehrsdichte usw. unmittelbar auf die Existenz aus. Die durch Wissenschaft zustande gebrachte Eindämmung von Seuchen und Krankheiten sowie der äußere Schutz der modernen, auf Wissenschaft beruhenden Zivilisation haben die statistisch errechenbare Lebenserwartung auf ein Mehrfaches gegenüber früheren Zeiten erhöht. Das allein genügt, um eine völlige Umorientierung des Denkens, Fühlens und Handelns hervorzubringen: ein Mensch, der sechzig oder mehr Jahre zu leben erwartet, stellt sich äußerlich und innerlich anders ein als einer, dem zwanzig oder dreißig Jahre zugemessen scheinen. Vor allem denkt er mehr an das Diesseits als an den Tod.

Der Satz gilt ebenso für die den Menschen umgebende äußere Welt. Das Gesicht unserer Kulturlandschaft ist geprägt durch die zunehmend auf wissenschaftliche Grundlage gestellte Land- und Forstwirtschaft und durch die Technik – die zwar nicht einfach ein Produkt der Wissenschaft ist, aber in ihrer heutigen Ausprägung nicht ohne sie denkbar wäre. Die durch Wissenschaft ermöglichte Welt der Technik umgibt und umstellt den Menschen in einem Ausmaß, dessen er sich kaum je voll bewußt ist. Kaum ein Gegenstand ist in seiner Umgebung, kaum einen benutzt er, der nicht hergestellt ist durch Prozesse, die auf der Auswertung wissenschaftlicher Erkenntnisse beruhen[4].

Unser Satz gilt drittens auch für den heutigen Menschen selbst und die Art seines Denkens, insbesondere für die Art, wie sich die ihn umgebende Welt in seinem Kopfe spiegelt, für sein Weltbild. Was er von der Welt weiß, beruht zum großen Teil auf den Ergebnissen der Wissenschaft, wiederum zwar keineswegs ausschließlich und im einzelnen auch in sehr unterschiedlichem Ausmaß, aber im ganzen doch in einer nie dagewesenen Weise.

Seine innere Welt, sein Denken, Fühlen, Wollen orientiert sich an Objekten und Produkten der Wissenschaft und Technik. Er ist überzeugt, mit den Schwierigkeiten des Lebens um so besser fertig zu werden, je mehr ihm deren Hilfsmittel zu Gebote stehen. Sein Denken, der Blick, mit dem er auf die ihn umgebende Welt schaut, ist durch Wissenschaft mitbestimmt, ist an ihr orientiert. Was ihm die Schule an Wissen vermittelt hat, sind Ergebnisse wissenschaftlichen Denkens und Forschens früherer Generationen. Rätsel in der Welt gibt es auch für ihn zwar genug. Aber er ist überzeugt, daß sie, wenn überhaupt, durch Wissenschaft gelöst werden können. Bricht Krankheit oder Unfall herein – er erwartet Hilfe von der wissenschaftlichen Medizin. Bricht ein Naturereignis über ihn herein oder erfährt er von einem solchen – er erwartet Aufklärung von den wissenschaftlichen Instituten, Sternwarten, Erdbebenwarten, Wetterwarten usw.

Einer Überfülle von Eindrücken ist der Mensch in der von Wissenschaft und Technik bestimmten Umwelt der modernen Zivilisation täglich und stündlich ausgesetzt. Die durch Technik ermöglichte schnelle Ortsveränderung kann ihn in Stundenfrist in andere Kontinente und Klimate versetzen. Kaum jemals ist er ohne Lärm, in wahrhafter Stille. Vor hundert Jahren schrieb Schopenhauer eine wütende Abhandlung über den Lärm, den die Frankfurter Fuhrleute mittels Peitschenknallen vollführten, und behauptete, daß er jedes gesammelte Denken unmöglich mache! Was würde er heute sagen?

Schwerwiegender als der pausenlose Ansturm von Nachrichten und Eindrücken ist die Tatsache, daß die moderne Nachrichtentechnik die Möglichkeit einer ständigen und intensiven, bewußten und planmäßigen Beeinflussung der Menschen geschaffen hat. Niemand vermag sich dieser Einwirkung, sei es Wirtschaftsreklame oder politische oder sonstige Propaganda, auf die Dauer gänzlich zu entziehen. Denjenigen, die den technischen Apparat der Gesellschaft beherrschen, ist damit eine unerhörte Macht in die Hand gegeben, eine Waffe, die als gewichtiger und gefährlicher bezeichnet worden ist als die Atombombe.

Die moderne wissenschaftliche Kriegstechnik endlich braucht man nur zu erwähnen, um ihre fast alles andere überschattende Bedeutung für den heutigen Menschen fühlbar zu machen.

Trifft aber nicht dies und alles, was sich weiter darüber sagen ließe, eigentlich nur für einen Teil der heutigen Menschheit zu, der von der westlichen Zivilisation voll erfaßt ist? Allerdings lebt der übrige Teil der Menschheit nicht in einer derartig von Wissenschaft und Technik bestimmten Umgebung wie wir, infolgedessen auch nicht in der dieser entsprechenden inneren Einstellung. Aber hängt nicht das weitere Schicksal der sogenannten zurückgebliebenen Völker und Gebiete der Erde gerade davon ab, wieweit es gelingt, für ihre weitere Entwicklung und Erschließung die moderne, westliche Wissenschaft und Technik nutzbar zu machen? Und war nicht diese Wissenschaft und Technik gerade das Mittel, mittels dessen diese Völker und Gebiete von den Europäern unterworfen und damit in das heute zu unlösbarer Einheit verkettete Gesamtschicksal der Menschheit hineingezogen wurden?

Diese skizzenhafte Aufzählung würde schon genügen, um das Ausmaß bewußt zu machen, in dem unsere heutige Welt von der Wissenschaft und ihren Auswirkungen mitbestimmt ist. Und doch habe ich bisher erst die eine Seite der Sache ins Auge gefaßt: das Wissen des Menschen von der ihn umgebenden lebenden und toten Natur, dasjenige also, was wir, soweit es die Form der Wissenschaft hat, Naturwissenschaft nennen, und deren Auswirkung in der abendländischen Technik.

Neben diesem Naturwissen aber und wahrscheinlich gleich ursprünglich mit ihm steht das Wissen des Menschen von sich selbst und von seiner selbst geschaffenen Welt. Bei unserem Blick auf die Vergangenheit haben wir es nicht in den Blick bekommen, weil seine Auswirkungen, von ferne und von außen gesehen, freilich weniger ins Auge springen als beim Naturwissen. Auch hat es sich in wissenschaftlicher Form in den sogenannten Geisteswissenschaften erst später konstituiert als das Naturwissen – wobei wir gleich vermuten, dies hänge mit dem andersartigen und weniger distanzierten Verhältnis dieses Wissens zu seinem Gegenstand zusammen, aus welchem Grunde es auch andere Struktur und andere Eigenarten als das Naturwissen haben muß. Es liegt auf der Hand, daß dieses Wissen für den Menschen, je mehr er sich aus dem ursprünglichen Naturzusammenhang löst und in seiner eigenen selbstgeschaffenen Welt lebt, eine um so größere Bedeutung gewinnen muß. Wenn wir vom heutigen Staatsmann erwarten, daß er im Bewußtsein des Vergangenen handle, so fordern wir hier ja nicht etwa ein Naturwissen, sondern ein Wissen um die geschichtliche Welt des Menschen.

Der Mensch also – der natürlich, insofern er ein physikalisch-chemischer Gegenstand und ein Lebewesen unter anderen Lebewesen ist, auch zu den Objekten der Naturwissenschaft gehört – steht in diesen Geisteswissenschaften im Mittelpunkt und wird von ihnen erfaßt, gerade insofern er nicht bloßes Naturwesen, sondern etwas anderes, Kulturwesen, Geistwesen, ist[5].

Jedes Tier und auch der Mensch, soweit er ein Lebewesen unter anderen ist, kann nur gekannt und verstanden werden, wenn man das Lebewesen nicht für sich und isoliert betrachtet, sondern eingeordnet und eingepaßt in die ganz spezifische »Umwelt«, in der es lebt. So auch der Mensch als Kulturwesen. Ja, sieht man genau zu, so ist uns der Mensch als Erkenntnisobjekt überhaupt nirgends als ein bloßes animalisches Lebewesen gegeben, sondern immer schon, wohin wir auch blicken, in der durchgeformten und auf eine lange Vergangenheit zurückblickenden Umwelt einer Kultur, mögen wir diese auch im Vergleich mit der unsrigen als »primitiv« zu bezeichnen geneigt sein. Und weiter: der Mensch ist uns auch nirgendwo als allgemeines und abstraktes Kulturwesen gegeben, sondern immer und überall als Träger und Glied einer ganz bestimmten, geschichtlichen Kultur[6].

Den Menschen wissenschaftlich kennen und erkennen heißt daher: seine Lebensäußerungen kennen, das, was er tut, denkt, fühlt, spricht, schafft und glaubt. Deshalb erstreckt sich geisteswissenschaftliches Wissen vor allem auch auf die großen Ordnungen des menschlichen Lebens, wie sie sich in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft, Recht, Sitte, Erziehung darstellen. Von diesen seinen Gegenständen her empfängt es seine Aufgliederung in die großen Hauptzweige geisteswissenschaftlichen Erkennens, wobei jedes dieser Gebiete nun unter ganz verschiedenen Gesichtspunkten wissenschaftlich betrachtet werden kann, unter anderen und vor allem auch im Hinblick auf sein geschichtliches Werden und seine verschiedenartige Ausprägung in den verschiedenen Zeitaltern und Kulturkreisen.

Auch damit haben wir seinen Umkreis noch nicht erschöpft. Ist der Mensch nur zu verstehen im Zusammenhang mit seinen Lebensäußerungen und Schöpfungen und mit den Ordnungen, die die Menschen sich in ihrem gesellschaftlichen Zusammenleben gegeben haben, so ist dies alles wiederum nur zu verstehen im Zusammenhang mit dem Sinn, den der Mensch seinem Leben gibt und der sich in allen seinen Schöpfungen und Ordnungen niedergeschlagen hat. Wenn wir sagen: Das Fragen des Menschen in die äußere Welt hinein und seine hier gefundenen Antworten sei gleichursprünglich mit dem Fragen des Menschen nach sich selbst und seiner eigenen Welt und den hier gegebenen Antworten, so liegt doch hinter diesen beiden Arten des Wissens und unter ihnen, sie erst tragend und fundierend, das Fragen des Menschen nach dem Sinn seines Lebens und damit auch alles dessen, was ihn umgibt und was er schafft. In dieses letzte und ursprünglichste Fragen sind jene beiden anderen Bereiche schließlich eingebettet. Von ihm aus erst erhalten sie ihren Sinn und gleichsam ihr Licht. Die Antworten des Menschen auf solche Fragen, die ursprünglichen Deutungen des Lebens, wie sie sich niedergeschlagen haben in der Sprache, im Mythos, in Religion, Kunst und Philosophie, bilden ebenfalls einen Gegenstand geisteswissenschaftlichen Forschens und Wissens. Und insofern die Wissenschaft, ein spätes Produkt verglichen mit diesen ursprünglichen Deutungen, schließlich auch eine Antwort auf solches Fragen darstellt beziehungsweise solche Antworten enthält, bildet nun auch sie selbst wieder gewissermaßen ihren eigenen Gegenstand: Wissenschaft, ihr Wesen und Werden, werden wissenschaftlich betrachtet. Dies ist erst recht ein verhältnismäßig spätes Stadium, da dem ursprünglichen Denken mehr die Richtung nach außen, die Richtung auf die »Sachen« hin eigentümlich ist und es einer gewissen Anstrengung bedarf, die Umkehrung, die Rückwendung auf sich selbst zu vollziehen.

Die Bedeutung geisteswissenschaftlichen Wissens für das Leben und im besonderen für die Gestalt unserer heutigen Welt erschöpft sich ebensowenig wie beim Naturwissen etwa darin, daß es in den Köpfen der Gelehrten, die diese Dinge studieren, oder in den entsprechenden Büchern und Bibliotheken aufgestapelt ist. Vielmehr bildet es einen genauso lebenswichtigen und lebensbestimmenden und nicht wegzudenkenden Teil unserer Welt wie die Naturwissenschaft; nur daß, den verschiedenen Richtungen des Erkennens gemäß, die Auswirkung der letzteren mehr auf dem Gebiet der äußeren Lebensverhältnisse und -umstände liegt, die der Geisteswissenschaften dagegen im gesellschaftlichen und kulturellen Leben im weitesten Sinne.

Unsere Rechtsordnung zum Beispiel beruht, mindestens seit wir das römische Recht rezipiert haben, auf dem Vorhandensein einer Rechtswissenschaft und der wissenschaftlich gebildeten Juristen. Ob der einzelne eines Richters, eines Rechtsbeistandes oder Beraters bedarf, er ist immer auf den wissenschaftlich Rechtskundigen angewiesen. In unserem Erziehungssystem bilden die Geisteswissenschaften neben den Naturwissenschaften einen Zweig von gleichem Range, ja, ein wichtiger Punkt in allen heutigen Auseinandersetzungen über Erziehungsfragen ist, ob sie nicht noch zu wenig im Vordergrunde stehen. Unser Wirtschaftsleben, sowohl im großen Rahmen staatlicher Wirtschaftspolitik und -lenkung wie im einzelnen Unternehmen, ist nicht denkbar und funktionsfähig, vom schon genannten Recht und vielem anderen abgesehen, ohne die Hilfsmittel der wissenschaftlichen Statistik, zum Beispiel der Bevölkerungs-, Berufs-, Produktions-, Verkehrsstatistik und so weiter und ohne Nationalökonomie, Finanzwissenschaft und Betriebswirtschaftslehre.

Diese Beispiele mögen nur die Bedeutung der Geisteswissenschaften in praktischer Hinsicht, für das äußere Leben und seine Ordnungen, andeuten – daß sie aber für das eigentliche geistige Leben einen Faktor von entscheidender Bedeutung darstellen, ja daß dieses zum weiten Teil gerade in den Geisteswissenschaften sich abspielt, in ihnen selbst besteht, ist offenkundig.

Erst mit der Einbeziehung der Geisteswissenschaften haben wir die Möglichkeit, die Bedeutung der Wissenschaft für die Gestalt unserer Welt in ihrer ganzen Breite zu übersehen. Selbstverständlich haben Menschen früher ohne Wissenschaft – in unserem Sinne – gelebt. Der Mensch lebt nicht von Wissenschaft, nicht durch Wissenschaft und nicht für Wissenschaft. Diese ist nur eine ganz spezifische, vielleicht »einseitige«, aber geschichtlich mächtig entfaltete Ausprägung seines ursprünglichen und vorwissenschaftlichen oder vortheoretischen Lebenkönnens und »Seinsverstehens«[7]. Insofern würden Menschen auch in der Zukunft wieder ohne Wissenschaft leben können. Aber: nicht in unserer Form! und vor allem auch: nicht so viele Menschen wie heute leben! Würde etwa alles naturwissenschaftliche Wissen – also nicht einmal alles Naturwissen, sondern nur seine wissenschaftlich entfaltete Form, morgen schlagartig aus der Welt verschwinden: der Menschheit wäre buchstäblich die Grundlage ihres nackten Daseins entzogen; eine unausdenkbare Katastrophe die Folge. Der größte Teil der Menschheit würde in Seuchen und Krankheit, in Hunger und dem aus diesem zwangsläufig entstehenden Kampf aller gegen alle in gegenseitiger Selbstzerfleischung zugrunde gehen. Verschwände das geisteswissenschaftliche Wissen, so wären zwar für den Augenblick die äußeren Grundlagen der Existenz, Nahrung, Wohnung, Kleidung, nicht gleich zerstört. Aber die gesellschaftlichen Ordnungen des Zusammenlebens, Staat, Wirtschaft, Recht müßten in Kürze verfallen. Damit wäre der Bestand unserer Kultur angegriffen – im weiteren würde die mit dem gesellschaftlichen Zerfall unvermeidlich aufkommende allgemeine Anarchie binnen kurzem auch die äußeren Grundlagen der Existenz zerstören.

 

Von fast allen Völkern der Erde wird die abendländische Wissenschaft und Technik in immer steigendem Maße übernommen. Wenn man sagen kann, daß noch niemals in der Geschichte der Menschheit von so vielen Menschen, an so vielen Stellen der Erde, mit so großen äußeren Mitteln und mit solcher Verbissenheit wissenschaftlich geforscht und gearbeitet wurde wie heute, so muß man weiter sagen: Schon morgen werden voraussichtlich noch mehr Menschen an noch mehr Stellen mit noch mehr äußeren Mitteln und innerer Energie wissenschaftlich forschen. In gleichem Schritt mit diesem Prozeß vollzieht sich das Eindringen der abendländischen wissenschaftlichen Denkweise in immer neue Völker, wenn auch, gerade in diesem Punkte, nicht ohne Gegenwirkungen.

Wissenschaft hat die Vermehrung der Erdbevölkerung auf den jetzigen Stand erst möglich gemacht und ermöglicht im Augenblick ihr weiteres Fortschreiten. Wenn überhaupt die Ernährung der wachsenden Menschenmassen in Zukunft gesichert werden soll, so wird das nur durch ganz neue und grundstürzende Entdeckungen und Fortschritte der Wissenschaft möglich sein. Sollten etwa neue Lebensmöglichkeiten für Menschen außerhalb unserer Erde erschlossen werden, so wird dies ebenfalls das Werk der Wissenschaft sein. Sollte die Menschheit sich zu einer einschneidenden Verminderung ihres ferneren Wachstums entschließen, so wird das zwar nicht ein Werk der Wissenschaft allein, aber ohne wissenschaftliche Mittel und Methoden ebenfalls nicht durchführbar sein.

Wissenschaft hat unsere heutige Welt gestalten helfen und bestimmt sie in immer zunehmendem Maße. Die planmäßige Umgestaltung der Kontinente ist geplant mit Hilfe der Wissenschaft und wird durchgeführt zwar unter Führung der politischen Macht, aber nur mit Hilfe riesiger Stäbe von Wissenschaftlern wie Geologen, Botanikern und Zoologen, Mineralogen, Geographen aller Sparten, Soziologen, Pädagogen, Siedlungsplanern, Statistikern, Wirtschaftswissenschaftlern und vielen anderen, die alle dabei in großem Maßstab zusammenwirken. Wissenschaft hat mit der Erschließung der Atomkräfte eine Energiequelle eröffnet, die bei friedlicher Ausnützung vorerst noch kaum ausdenkbare Möglichkeiten für den Menschen ahnen läßt.

Wissenschaft hat, auf der anderen Seite, einen entscheidenden Anteil an der Entstehung der modernen Zivilisation mit allen ihren sozialen und sonstigen Unruhen, mit allen ihren schwerwiegenden Gefahren für den Menschen und sein Inneres, die so oft schon eindringlich von Kritikern unserer Kultur beschworen worden sind. Wissenschaft endlich hat bei kriegerischer Verwendung der Atomenergie oder auch noch anderer wissenschaftlich entwickelter Kampfmittel den Weg zur totalen Zerstörung unserer, vielleicht aller menschlichen Kultur, vielleicht allen Lebens eröffnet.

Diese Gegenüberstellung, so unvollständig sie noch ist, zeigt mit zureichender Schärfe den Anteil der Wissenschaft an den auf uns zukommenden Entscheidungen. Welche Stellung nimmt der einzelne, sei er Wissenschaftler oder nicht, in und zu diesem gewaltigen Prozeß ein?

Äußerlich betrachtet ist seine Lebensführung nicht nur weitgehend von den Auswirkungen der Wissenschaft und Technik geformt und bestimmt, sondern er scheint die ihm zur Verfügung stehende Welt auch zu regieren. Er bedient sich des technischen Apparates, so scheint es, souverän. Das Kind schon lernt spielend mit Elektrizität und vielem anderen, der Halbwüchsige mit Kraftfahrzeug und Radio umgehen. Jeder erledigt fast automatisch und halbbewußt eine Unzahl technischer Verrichtungen, setzt oft mit einfachen Handgriffen Prozesse großen Ausmaßes in Gang und lenkt sie zum gewünschten Ziel. Aber ist er ihnen auch innerlich wirklich gewachsen? Was weiß er zunächst einmal überhaupt von den Dingen, mit denen er umgeht? Weiß er – vergleichsweise betrachtet – wirklich mehr von der Welt, in der er täglich lebt und handelt, als der sogenannte Wilde? Oder nicht eher weniger? Ist der Indianer, der alle Pfade in Steppe und Urwald kennt und sich fast in jeder Lage zu helfen weiß, nicht eigentlich in seiner Welt, auch rein wissensmäßig und im Hinblick auf technische Lebensbeherrschung gesehen, ohne das Seelische zu berücksichtigen – weit besser zu Hause als wir? Was weiß der einzelne wirklich von den Geräten, mit denen er umgeht, den Gesetzen, nach denen sie funktionieren, von dem, was der Arzt an seinem Körper vornimmt, oder, um auch die Geisteswissenschaften einzubeziehen, etwa von den Gesetzen, nach denen sich in Volkswirtschaft und Weltwirtschaft die Bewegungen der Preise und Löhne vollziehen, von denen doch seine Existenz unmittelbar abhängen kann?

Mag dies alles eine unvermeidliche Folge der Arbeitsteilung in der modernen Gesellschaft sein und hingenommen werden, solange der gesellschaftliche und technische Apparat im ganzen funktioniert und überall »Fachleute« bei Bedarf zur Verfügung stehen – die entscheidende Frage ist erst die: Ist der Mensch mit seinen seelischen und moralischen Kräften der von ihm selbst geschaffenen Welt gewachsen oder befindet er sich vielleicht in der Lage des Zauberlehrlings, der die Kräfte, die er leichtfertig beschworen, nicht mehr bändigen kann? Wir haben hier jenen tiefen und schicksalsschweren Zwiespalt in der modernen Kultur vor uns, den die Amerikaner »cultural lag« nennen.

4 Erste Abgrenzung des Themas

Fassen wir die Gesamtentwicklung, die ich oben zu schildern versuchte, ins Auge und fragen nach ihren Ursachen, Gesetzmäßigkeiten und Zielen, so ist damit – auch wenn wir die unermeßlichen Zeiträume der Entstehung und Entwicklung der Erde und der allmählichen Entfaltung des Lebens auf ihr übergehen und uns gleich zu dem kurzen letzten Abschnitt wenden, in dem der Mensch auftritt – noch immer eine wahrhaft unabsehbare Kette von Fragen aufgerührt.

Diese Fragen gehen zunächst auf das, was im biologischen Sinne die Sonderstellung des Menschen unter den Lebewesen ausmacht – Fragen nach der besonderen biologischen Artung des Menschen, wie sie der als Humanbiologie oder biologische Anthropologie bezeichnete Zweig der Biologie zu beantworten sucht. Die Fragen stoßen weiter in das Dunkel, das über den Anfängen der geschichtlichen Menschwerdung und über den Jahrtausenden der menschlichen Frühentwicklung liegt, und das aufzuhellen die vorgeschichtliche Forschung in allen ihren Zweigen sich bemüht. Sie gehen weiter auf die Grundlagen menschlicher Kultur, auf das, was den Menschen bewegte und befähigte, zum Kulturmenschen im engeren Sinne zu werden, was das Aufblühen, Wachsen und Vergehen seiner verschiedenen Kulturen, und darunter der unseren, was ihre Ausprägung im einzelnen auszeichnete und bestimmte – Fragen also der Kulturgeschichte in dem weiten Sinne, der alle Zweige geschichtlicher Forschung in sich begreift, sowie der Kulturanthropologie und Kulturphilosophie. Sie gehen schließlich über – je mehr wir uns der Gegenwart und unserem eigenen Leben mit seinen Aufgaben und Entscheidung nähern – in die Fragen nach dem tieferen Sinn und Ziel dieser ganzen Entwicklung, nach der Bestimmung des Menschen und den richtigen Grundsätzen und Maßstäben unseres Handelns – Grundfragen der Philosophie und der Religion.

Es ist selbstverständlich und im Titel dieses Buches zum Ausdruck gebracht, daß ich weder diesen tiefen und umfassenden Fragen weiter nachgehen noch auch mich vermessen will, zu der oben angedeuteten Schicksalsfrage der heutigen Menschheit eine Voraussage zu machen. Meine Aufgabe ist gegenüber solchen Fragen durchaus begrenzt, in sich freilich immer noch umfassend genug. Die Begrenzung ist zweifach.

Die erste sachliche Einschränkung ist gegenständlicher Art: aus dem bezeichneten Gesamtzusammenhang greife ich den Teilzusammenhang heraus, den wir mit dem Namen der Wissenschaft bezeichnen, und betrachte nur diesen. Solches Herausgreifen setzt aber immer schon einen wenigstens vorläufigen Begriff der Sache voraus, die herausgegriffen werden soll. Ohne einen solchen vorläufigen Arbeitsbegriff kann man gar nicht entscheiden, welche Erscheinungen zum Thema gehören. Alles Erkennen, auch das naturwissenschaftliche – mag es noch so »voraussetzungsfrei« sein und »die Natur selbst zum Sprechen bringen« – nimmt ja seinen Ausgang zunächst von einer vorläufigen Annahme, der sogenannten Arbeitshypothese. Bevor ich den Gegenstand selbst befragen und ihn zum Sprechen bringen kann, muß ich zunächst eine Frage richtig gestellt haben. Ich muß allerdings bereit sein – und darin besteht das Wesen einer wissenschaftlichen Denkweise – die ursprüngliche Annahme nach Maßgabe der Antworten, die ich aus der Sache selbst erhalte, jederzeit zu berichtigen. Gleichwohl bedarf es immer der Ausgangsannahme.

Von alters her hat man im Leben des Menschen unterschieden die Welt der Praxis, des Handelns; die Welt der Theorie, des Erkennens; und die Welt der Kunst, des Bildens[8]. Offensichtlich ist Wissenschaft wesentlich der zweiten dieser Welten, der Welt des Erkennens, zugehörig – so sehr auch in der allseitigen Verflechtung des Lebens die drei Welten einander fast ununterscheidbar durchdringen mögen, so sehr also im besonderen Wissenschaft jederzeit in den Dienst praktischer oder bildender Tätigkeit treten wie auch umgekehrt wieder diese jederzeit in ihren Dienst stellen kann und muß.

Das Ziel dieser theoretischen Tätigkeit ist Erkenntnis. Der Gegenstand dieser Erkenntnis ist alles Seiende, alles, was irgendwie besteht, Gott, das All, die Natur, der Mensch selbst und seine Werke, dazu auch Zahlen und ihre Verhältnisse, Werte, bloße Meinungen und Fiktionen. Ihr oberster Endwert ist Wahrheit. Ihr Ergebnis ist das, was wir als »Wissen« im weitesten Sinne bezeichnen.

Es gibt verschiedene Stufen des Wissens. Im weitesten Sinne meint Wissen den Inbegriff alles von Menschen je Gewußten, alles dessen, was Menschen je als »Bewußtsein von etwas« gehabt haben. In einem engeren Sinne bezeichnet Wissen das durch Fragen und Forschen gewonnene begründete Wissen, im Gegensatz zum bloßen Meinen (ein relativer Unterschied vielleicht) und auch im Gegensatz zum Glauben. In einem dritten, noch engeren Sinne – wenn wir von weiteren Zwischenstufen, die man annehmen kann, absehen – wird Wissen gleichbedeutend mit »Wissenschaft«. Wann ist das der Fall?

Ich kann gleich hier einen im Leser vielleicht bereitliegenden Einwand aufnehmen: auch dieser Unterscheidung könnte man entgegenhalten, sie sei nur relativ. Tatsächlich ist sowohl für eine systematische wie erst recht für eine geschichtliche Betrachtung die Grenze zwischen nicht- oder vorwissenschaftlichem und wissenschaftlichem Wissen durchaus fließend. Kämpfen doch zum Beispiel viele in ihrem äußeren Bestand und Betrieb schon längst als solche entfalteten »Wissenschaften« noch immer um ihre Anerkennung als »eigentliche« oder »strenge« Wissenschaft! Es mag in Grenzen eine Sache des Übereinkommens oder Standpunktes sein, wo man die Trennungslinie annehmen will. Aber doch nur in Grenzen:

Das Entscheidende liegt in der Art, wie Wissen gewonnen und wie es geordnet wird. Wissenschaftliches Wissen ist gewonnen durch planmäßiges, methodisches Forschen, und es ist systematisch in einen Zusammenhang geordnet. Was wollen Ausdrücke wie »methodisch« und »systematisch« hier besagen? Was ist eine Methode? Was ist System? In beidem liegt zunächst ein Element des Notwendigen, Gesetzmäßigen, wie es etwa an der Gegenüberstellung von methodischem Forschen und dem »zufälligen« Gewinnen des bloßen Erfahrungswissens in Erscheinung tritt. Unserem Denken liegt offenbar als ein letztes und nicht weiter abzuleitendes Postulat die Voraussetzung einer Ordnung zugrunde.

Treten wir an dieser Stelle gleichsam noch einmal einen Schritt von unserem Gegenstande zurück und versuchen, das Erkennen als eine Tätigkeit des lebendigen Menschen unter anderen Tätigkeiten, eingebettet in die unteilbare Gesamtheit seines Daseins, zu sehen, so erweist sich, daß diesem Dasein als Ganzem in allen seinen Äußerungen und Tätigkeiten schon eine noch allgemeinere Voraussetzung zugrunde liegt, nämlich die der Sinnhaftigkeit allen Seins und Geschehens. Was wir auch anfassen, tun oder denken mögen, immer liegt ihm schon die Annahme einer »Bedeutsamkeit« zugrunde, so selbstverständlich, daß sie fast niemals ausdrücklich ins Bewußtsein erhoben wird. Eine vertiefte Besinnung könnte zeigen, daß ohne diese Voraussetzung uns schlechthin nichts im Leben überhaupt »angehen« oder auch nur begegnen könnte[10]. Auch wo wir etwa von »Sinnlosigkeit« eines Geschehnisses sprechen, sagen wir damit nur aus, daß wir an einer Stelle des Seienden Sinn vermissen, wo eigentlich Sinn sein sollte und müßte. Wir erkennen die Voraussetzung einer »Ordnung« als die dem theoretischen Verhalten des Menschen zugeordnete Seite der allgemeinen Voraussetzung der Sinnhaftigkeit allen Seins.

Für die Frage nach der Abgrenzung wissenschaftlichen Wissens von vor- und nichtwissenschaftlichem haben wir damit einen vertieften Ausgangspunkt, aber noch keine Antwort. Denn die Voraussetzung einer »Ordnung« liegt offensichtlich nicht nur dem wissenschaftlichen, sondern auch jedem anderen Wissen zugrunde. Wenn ein Schreiner im Laufe langjähriger Praxis ein »Wissen« um die verschiedenen Holzarten, ihre Eigenheiten, ihre Verwendbarkeit oder Ungeeignetheit für bestimmte Zwecke und die bei ihrer Bearbeitung jeweils zu beachtenden Grundsätze gewonnen hat, so ist hier zweifellos ein Wissen vorhanden, dem auch die Voraussetzung einer Ordnung als selbstverständlich zugrundeliegt; denn solches Wissen zu sammeln wäre offenbar gänzlich sinnlos, wenn man nicht erwarten könnte, daß »Lindenholz« sich im späteren Falle auch wieder so verhalten wird wie anderes Lindenholz in früheren Fällen und so weiter. Gleichwohl ist dieses Wissen keine Wissenschaft. Warum nicht?

Können wir den entscheidenden Unterschied darin finden, daß das Wissen des Schreiners seiner praktischen Berufsarbeit, der Bearbeitung des Holzes dient, und daß diese praktische Zweckbestimmung dem wissenschaftlichen Wissen nicht eigen wäre? Offenbar ist es nicht so. Auch Wissenschaft wird überall oder jedenfalls vielfach praktisch ausgewertet; um beim Beispiel zu bleiben: es gibt ja auch eine wissenschaftliche Materialkunde, welche, wie die Praxis zeigt, dem Wissen des Handwerkers in vielen Fällen gerade auch in der praktischen Auswertbarkeit durchaus überlegen sein kann. Oder liegt der Unterschied darin, daß das Wissen des Schreiners ein sehr spezialisiertes Wissen ist? Das ist es der Sache nach: es erstreckt sich nur auf Holzarten, die in der praktischen Schreinerarbeit normalerweise vorkommen oder allenfalls vorkommen können. Und auch dem Gesichtspunkt nach: den Schreiner interessiert am Holz nur das für die praktische Verarbeitung ins Gewicht fallende: Härtegrad, Elastizität, Zeitbedarf für genügendes Austrocknen – nicht aber etwa die Fragen: Seit wann gibt es Lindenholz? Wo stammt die Linde her? Oder: Woher stammt der Name »Linde«? Auch solche Beschränkung auf einzelne Gegenstände und auf ganz bestimmte Gesichtspunkte ist der Wissenschaft eigen. Auch den Forscher der organischen Chemie, der ein Stück Lindenholz untersucht, interessiert weder die Frage nach der möglichen Einwanderung der Linde nach Europa noch die sprachliche Herkunft dieses Wortes. Auch dies kann nicht den Unterschied ausmachen.

Daß wir gleichwohl mit diesen Fragen schon in die Nähe des entscheidenden Punktes gelangt sind, erkennen wir, wenn wir die Frage so stellen: Liegt der Unterschied nicht doch darin begründet, daß das Wissen des Schreiners sich in seiner praktischen Auswertung und Auswertbarkeit erschöpft? In der Tat: Was will der Schreiner? Er will bestimmte Gegenstände aus Holz herstellen. Wissen erwirbt und verwendet er dabei, wenn und genau insoweit es dafür nötig und zweckdienlich ist, gleichsam als Nebenprodukt und Zwischenglied, wobei aber ein großer und vielleicht der wichtigste Teil seiner Fertigkeit gar nicht auf einem Wissen, sondern auf einem Können beruht: einem »Wissen, wie man es macht«, welches ganz unausdrücklich oder unbewußt sein kann, nicht aber einem »Wissen, wie es ist«. Was will dagegen der Chemiker? Er will zunächst und vor allem wissen, wie die chemische Struktur des Lindenholzes ist. Vielleicht und wahrscheinlich wird das so erworbene Wissen dann auch wieder in den Dienst praktischer Zwecke gestellt, möglicherweise gerade wieder der Holzbearbeitung durch die Schreinerei; vielleicht kann er auch nur deshalb forschen, weil eine an der praktischen Holzbearbeitung interessierte Stelle ihm ein Institut und die Mittel zu forschen gegeben hat. Das ändert nichts daran, daß für ihn der Ausgangspunkt Wissenwollen ist, die praktische Anwendbarkeit dagegen Nebenprodukt.

Dieser andersartige Ausgangspunkt bedingt die andersartige Weise, in der hier Wissen gesucht und gewonnen wird. Die Prozesse, denen der Chemiker sein Stück Lindenholz unterwirft, haben einen eigenen und von den Arbeitsprozessen der Schreinerei grundsätzlich verschiedenen Charakter. Wenn er etwa das Holz in hauchdünne Scheiben zerlegt und unter dem Mikroskop betrachtet, oder wenn er das Holz mit bestimmten Säuren chemisch reagieren läßt, so wird die praktische Verwendbarkeit dieses Holzes dabei gerade zerstört, zerstört für ein reines Wissenwollen.

Er bedingt weiter die andersartige Weise, in der das Wissen hier bewahrt und geordnet wird. Das Wissen des Schreiners ist nicht systematisch geordnet, so wenig es durch ein methodisches Forschen gewonnen ist. Der Schreiner sieht seine Aufgabe dann als beendet an, wenn das betreffende Werkstück aus Holz fertiggestellt ist. Er wird sich kaum die Mühe nehmen, sein dabei gewonnenes Wissen etwa aufzuzeichnen und anderen mitzuteilen; fordert man ihn dazu auf, so wird er in den meisten Fällen gar nicht ohne weiteres dazu in der Lage sein; es wird sich erweisen, daß sein Wissen gar kein ausdrückliches und geordnetes ist, sondern ein in ihm schlummerndes und aus Anlaß der praktischen Arbeit jeweils wieder erwachendes Können für den Einzelfall. Wann sieht der Chemiker seine Aufgabe als beendet an? Nicht eher, als bis er die hier am Einzelobjekt gewonnene Erkenntnis mit den von ihm und von anderen an Lindenholz gewonnenen Erkenntnissen, darüber hinaus mit den an anderen Holzarten gewonnenen Erkenntnissen, und weiter mit den allgemeinen Forschungsergebnissen der Chemie über die chemischen Eigenschaften des Holzes, ja der organischen Substanz überhaupt, in einen systematischen Zusammenhang gebracht hat! Die Aufgabe der Wissenschaft ist aber an dieser Stelle auch noch nicht beendet; ihr niemals zur Gänze erreichbares und darum ständig erneutes Ziel ist vielmehr, die Erkenntnisse der organischen Chemie wiederum in einen umfassenderen Zusammenhang der allgemeinen Naturwissenschaften einzuordnen, und diese in das wissenschaftliche Weltbild als Ganzes.

Dieses Beispiel könnte man ausbauen und seinen Ertrag vertiefen; andere aus anderen Gebieten ihnen an die Seite stellen. Es vermittelt aber schon einen überschlägigen Eindruck von der Besonderheit wissenschaftlichen Wissens.