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Das perfekte Foto – oder doch die große Liebe? "Magnus griff zur Kamera und richtete sie auf mich. Er drückte auf den Auslöser, obwohl ich sah, dass die Kamera ausgeschaltet war. 'Klick!', raunte er mir zu." Ava ist immer auf der Suche nach dem perfekten Moment, die Welt sieht sie meist nur durch die Kameralinse. Sie will unbedingt als Fotografin ins Team der Campus-Zeitung, um damit ihrem großen Traum näherzukommen. Doch die freie Stelle geht an den chaotischen Paparazzo-Sohn Magnus. Ava ist bitter enttäuscht. Auch, dass ihre selbstbewusste und verrückte Freundin Viola nach Berlin ziehen und dort Schauspielerin werden will, belastet sie. Was, wenn sich ihre Lebenswege bald nicht nur räumlich voneinander trennen? Doch dann bietet sich Ava eine neue Chance. Ihr Traumarbeitgeber, eine große Werbeagentur, veranstaltet den Wettbewerb "Drei Tage, drei Fotos". Der Gewinn: eine eigene Kampagne! Leider ist bei den Fotos Spontaneität gefragt. Und die liegt der planungsverrückten Ava überhaupt nicht! Auch hier scheint Magnus ihr immer einen Schritt voraus zu sein. Als er ihr eine Zusammenarbeit vorschlägt, ist Ava zunächst verwirrt. Was bezweckt er? Will er sie als Konkurrentin ausschalten? Oder soll sie sich auf ihn und sein Angebot einlassen? Alles über große Träume, Freundschaft und die eine Person, die auch den gewöhnlichsten Moment perfekt werden lässt …
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Seitenzahl: 375
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Barbara Schinko
Klick – Der perfekte Moment
Roman
Das perfekte Foto – oder doch die große Liebe?
Magnus griff zur Kamera und richtete sie auf mich. Er drückte auf den Auslöser, obwohl ich sah, dass die Kamera ausgeschaltet war. „Klick!“, raunte er mir zu.
Ava ist immer auf der Suche nach dem perfekten Moment, die Welt sieht sie meist nur durch die Kameralinse.
Sie will unbedingt als Fotografin ins Team der Campus-Zeitung, um damit ihrem großen Traum näherzukommen. Doch die freie Stelle geht an den chaotischen Paparazzo-Sohn Magnus. Ava ist bitter enttäuscht.
Auch dass ihre selbstbewusste und verrückte Freundin Viola nach Berlin ziehen und dort Schauspielerin werden will, belastet sie. Was, wenn sich ihre Lebenswege bald nicht nur räumlich voneinander trennen?
Doch dann bietet sich Ava eine neue Chance. Ihr Traumarbeitgeber, eine große Werbeagentur, veranstaltet den Wettbewerb „Drei Tage, drei Fotos“. Der Gewinn: eine eigene Kampagne!
Leider ist bei den Fotos Spontanität gefragt. Und die liegt der planungsverrückten Ava überhaupt nicht! Auch hier scheint Magnus ihr immer einen Schritt voraus zu sein. Als er ihr eine Zusammenarbeit vorschlägt, ist Ava zunächst verwirrt.
Was bezweckt er? Will er sie als Konkurrentin ausschalten? Oder soll sie sich auf ihn und sein Angebot einlassen?
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- oder Bildteile.
Alle Akteure des Romans sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind von der Autorin nicht beabsichtigt.
Copyright © 2024 by Maximum Verlags GmbH
Hauptstraße 33
27299 Langwedel
www.maximum-verlag.de
1. Auflage 2024
Lektorat: Diana Schaumlöffel
Korrektorat: Angelika Wiedmaier
Satz/Layout: Alin Mattfeldt
Umschlaggestaltung: Alin Mattfeldt
Umschlagmotiv: © Hybrid_Graphics/ Shutterstock, -strizh-/ Shutterstock, sini4ka / Shutterstock
E-Book: Mirjam Hecht
Druck: CPI books GmbH Leck
Made in Germany
ISBN: 978-3-98679-010-3
Die Autorin dankt dem österreichischen Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport für die Unterstützung während der Arbeit an diesem Buch.
Über das Buch
Impressum
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
Epilog 1
Epilog 2
Die Autorin Barbara Schinko
Weitere Titel der Autorin
Weitere Liebesromane
„Ava, du weißt, dass ich dich liebe. Oder?“, begann meine beste Freundin Viola.
Ich hörte nur mit einem halben Ohr hin. Zum Glück genügte das für die Erkenntnis, wann ich nicken musste. Hauptsächlich war ich damit beschäftigt, die Einstellung der Blende an meiner digitalen Spiegelreflexkamera zu perfektionieren.
Viola fuhr fort: „Ich habe dir ohne zu meckern geholfen, als du vorige Woche Spaghetti auf euren Terrassenfliesen verteilt hast. Und mit dir darüber diskutiert, ob Dinkelspaghetti auf Fotos besser aussehen als die aus Weizen! Ich habe für dich Muster aus Schokoküssen auf euren Porzellantellern gelegt. Ich bin sogar mit dem Bus durch die halbe Stadt gefahren und habe die Porzellanteller meiner Oma geholt, weil deren Weiß schöner ist als das von eurem Geschirr. Ich tue alles für dich! Aber würdest du jetzt bitte endlich die Kamera weglegen und mit mir ins Einkaufszentrum auf eine Pizza gehen? Ich verhungere sonst!“
„Gleich“, gab ich abwesend zurück. Dass Viola maßlos übertrieb, war nichts Neues. Ich drückte ein paar Mal ab und klickte mich dann durch die letzten paar Fotos auf der Speicherkarte.
Unscharf.
Fast perfekt.
Unscharf.
Fast perfekt, aber nicht ganz so fast perfekt wie das andere fast perfekte Foto.
Unscharf.
Unscharf.
Und … na bitte. Sogar ziemlich perfekt!
Violas Hand mit den klimpernden Armreifen und den lila lackierten Nägeln wedelte vor meiner Nase. „Erde an Ava Pelier! Hörst du mir überhaupt zu?“
„Ja, sicher.“
„Beweis es mir“, forderte sie mich heraus. Sie trug eine Sonnenbrille. Darum konnte ich ihre Augen nicht sehen, nur mein eigenes blasses, sommersprossiges Gesicht in den verspiegelten Gläsern.
Ich ließ die Kamera sinken. „Also erstens habe ich die Muster aus den Schokoküssen gelegt. Du hast mir nur die Schokoküsse weggefuttert.“
„Ich habe dich moralisch unterstützt!“
„Zweitens wohnt deine Oma exakt eine Bushaltestelle entfernt …“
„Okay, das mit der halben Stadt war vielleicht ein klitzekleines bisschen übertrieben.“
„… und drittens bist du erst seit fünf Minuten bei mir! So schnell verhungert man nicht.“
Viola grinste. Zu spät erkannte ich, dass sie ein einziges Ziel verfolgt hatte: mich abzulenken. Und es war ihr gelungen. Rasch löschte ich alle Bilder bis auf das letzte, ziemlich perfekte, strich mir eine rötlich braune Locke aus der Stirn und konzentrierte mich wieder auf den Schatten an der Hausmauer. Der Samstag war für Anfang Mai ziemlich heiß. Die Sonne knallte auf die Terrasse herab.
Viola störte das nicht. Im Gegenteil: Sie trug ein tief ausgeschnittenes Tanktop und würde bis zum Beginn der Freibadsaison schön gebräunt sein. Davon konnte ich mit meinen Sommersprossen und meiner Schneewittchenhaut nur träumen! Ich wurde nie braun, höchstens rot wie Klatschmohn. Deshalb hatte ich mir vorhin vom Garderobenhaken eine Baseballkappe meines Vaters geschnappt. Das Logo der Staubsaugerfirma, für die er arbeitete, prangte Weiß auf Blau über meiner Stirn. Ich sah garantiert bescheuert aus.
Egal. Das war es mir wert.
Ich schoss ein weiteres Foto und betrachtete es kritisch. Vielleicht mit kleinerer Blende und dafür etwas längerer Belichtungszeit?
Viola hatte sich schiefgelacht, als ich ihr gestanden hatte: „Ich bin in meine Ausrüstung verliebt!“ Doch es stimmte. Die Kamera war der absolute Traum. Das Spitzenmodell des Vorjahres, im Fachhandel noch heute völlig unerschwinglich und auch gebraucht so gut wie nicht bezahlbar. Jedenfalls für mich. Wochenlang hatte ich wie eine Besessene die Fotografieforen, Auktionsplattformen und Kleinanzeigen durchstöbert. Und endlich – der Volltreffer! Ein Hochzeitsfotograf wollte die Marke seiner Ausrüstung wechseln. Zusätzlich zur Kamera hatte er mir zwei Objektive angeboten und mein Budget damit auch gleich wieder gesprengt.
Als er geschrieben hatte: Alles zusammen oder nichts, hätte ich heulen können! Meine gesamten Ersparnisse – mühsam mit Babysitting verdientes Geld –, hatten gerade mal für die Kamera gereicht. Natürlich war das Angebot ein Superschnäppchen gewesen, gebrauchte Objektive gingen genauso teuer weg wie gebrauchte Kameras, bloß – ich konnte mir die hier schlicht und ergreifend einfach nicht leisten.
„Verkauf die Objektive weiter“, hatte mir Viola damals geraten. „Wer weiß, vielleicht machst du dabei noch Gewinn.“
Ich hatte den Kopf geschüttelt. „Erstens brauche ich die Objektive. Und zweitens will er Vorauskasse. Das heißt, ich müsste sie verkaufen und das Geld dafür einstreichen, bevor sie mir überhaupt gehören.“ Was nicht nur verboten war, sondern auch äußerst riskant.
„Wir könnten eine Bank ausrauben?“ Auf meinen entsetzten Blick hin hatte meine Freundin nur mit den Schultern gezuckt. „Du überfällst die Bank, ich stehe Schmiere. Mit der Beute kaufst du die Kamera samt den Objektiven, und wenn du mit Fotos genug Kohle gemacht hast, bringst du das Geld zurück. Betrachte es als eine Art von Kredit.“
„Als eine Art von Straftat!“
„Dann kommst du eben in den Knast. Na und? Du kannst die Gitterstäbe vor deinem Fenster fotografieren, die sind bestimmt schön symmetrisch.“ Viola hatte mich breit angegrinst. „Stell die Bilder auf Instagram: Gefängnis-Ästhetik. Vielleicht wirst du sogar berühmt.“
Das Schlimmste an Viola? Sie konnte sehr überzeugend sein. Und im Gefängnis durfte man sich weiterbilden, oder? Gab es dort vielleicht sogar Fotokurse?
Als ich ernsthaft mit dem Gedanken zu spielen begonnen hatte, mir eine Strumpfmaske zu besorgen, waren zum Glück Paps und meine Stiefmutter Angie eingesprungen. Sie hatten mir das fehlende Geld zum achtzehnten Geburtstag geschenkt, dabei war der erst einen Monat später gewesen.
„Könnt ihr euch das wirklich leisten?“, hatte ich besorgt gefragt. Angie arbeitete bloß halbtags und das auch erst seit mein kleiner Bruder Justin in die Kita ging. Paps verdiente ganz okay, mehr aber nicht.
„Das lass unsere Sorge sein, Schätzchen“, hatte mich Angie beruhigt. Und mir mit einem Augenzwinkern zugeflüstert: „Wenn uns das Geld ausgeht, essen wir eben nur mehr Gummibärchen.“
Justin hatte das klasse gefunden! Ich dagegen hatte mich schuldig gefühlt. Musste ich mich denn ausgerechnet in die teuerste Kamera verlieben? Warum hatte ich mir kein billigeres Hobby ausgesucht?
Obwohl Fotografie für mich natürlich viel mehr war als bloß ein Hobby. Und Paps und Angie wussten das. Sie unterstützten mich nach Kräften. Im Gegenzug nahm ich mir fest vor, eine erfolgreiche Fotografin zu werden. Eine, die davon leben konnte. Die viel Geld verdiente, die sogar Preise und Auszeichnungen einheimste. Die Werbeagentur Neilson & Söhne, der Traum-Arbeitgeber jedes Fotografen, hatte ihren Hauptsitz in unserer Kleinstadt. Wenn das mal kein Wink des Schicksals war!
So lautete also mein Ziel: für Neilson zu arbeiten und meine Familie stolz zu machen. Der erste Schritt auf diesem Weg war der Kauf einer professionellen Kamera gewesen.
Schritt Nummer zwei: Ich hockte mit der Baseballkappe auf der Terrasse unseres Vorgartens und knipste den Schatten, der von der Jalousie auf den gelben Verputz der Hausmauer fiel. Heute war meine letzte Chance. Für morgen, Sonntag, meldete die Wetter-App nämlich Regen. Und am Montag musste mein Portfolio schon fertig sein. Dann endete die Abgabefrist für alle, die sich um die freie Fotografenstelle im Redaktionsteam der Campus-Zeitung bewarben.
Der Presseclub unserer Uni war einsame Spitze. Er brachte nicht etwa wie anderswo ein- oder zweimal pro Semester einen Vierseiter heraus, in dem dann bloß stand, wer für die Wahlen zur Studentenvertretung kandidierte. Nein – dank des Medienschwerpunkts unserer Uni lieferte der Presseclub das volle Programm. Monatlich reguläre und dazwischen Sonderausgaben, professionelles Layout, eigene App und Website mit Online-Archiv. Der Presseclub wurde zu Bundestreffen mit den Medien-AGs von anderen Unis eingeladen, und die von ihm herausgegebene Campus-Zeitung war bei den landes- und bundesweiten Uni- und Schülerzeitungs-Rankings immer top platziert. Bekannte Journalisten und Fotografen hielten Gastvorträge, und es gab sogar Workshops in Zusammenarbeit mit den lokalen Zeitungen, bei denen unser Redaktionsteam eine komplette Ausgabe gestalten durfte. Mein Vater könnte in seiner Mittagspause den Kreisanzeiger aufschlagen und Fotos von Ava Pelier darin finden – wenn ich genommen wurde.
Eines war klar: Ich musste mir diese Fotografenstelle schnappen, koste es, was es wolle.
Leider war die Konkurrenz groß. Journalistik-Studenten gab es – na logo angesichts des Schwerpunkts unserer Uni – wie Sand am Meer. Ziemlich viele von denen fotografierten auch. David, der Chefredakteur, hatte was Bewerber anging die freie Auswahl.
„Zeig mal her!“, befahl mir Viola.
Ich hielt ihr die Kamera so hin, dass sie auf das Display schauen konnte. „Wie findest du das Motiv?“
Schweigen.
„Sonnig“, erwiderte Viola nach einer gefühlten Ewigkeit.
„Und …?“
„Symmetrisch?“ Sie grinste. Trotzdem stiegen Zweifel in mir hoch. Viola war immer ehrlich, sogar wenn sie schauspielerte. Und dass sie die Gelegenheit ausließ, sich über meine Vorliebe für Symmetrie lustig zu machen, verhieß nichts Gutes.
„Aber …?“, bohrte ich nach.
Sie seufzte. „Aber glaubst du wirklich, David will Fotos eurer Jalousien sehen?“
„In der Stellenausschreibung stand: freie Motivwahl. Und: Zeig uns deinen Stil!“ Geometrische Muster entsprachen meinem Stil. Der Kontrast zwischen Schatten und Sonne ebenso. Auch zwei der Schokoküsse- und das beste der Spaghetti-Fotos befanden sich schon in meinem Portfolio. Kritisch zoomte ich in das letzte Bild und überprüfte noch einmal die Schärfe. Einen Schatten technisch einwandfrei abzubilden, war unglaublich schwierig. Gerade deshalb hatte ich ja diese Herausforderung gewählt.
„Mit deiner Technik schlägst du alle anderen Bewerber um Längen.“ Las Viola meine Gedanken? „Ich frage mich bloß, ob nicht ein anderes Motiv …“
„Du meinst die Schokoküsse?“
„Vergiss die Schokoküsse! Auch die Spaghetti“, fegte Viola meinen nächsten Vorschlag, bevor ich ihn auch nur äußern konnte, gleich im selben Atemzug beiseite. Sie gestikulierte theatralisch mit den Armen. „Was du brauchst, ist ein Model. Und ich rede nicht von Pasta oder Süßkram, sondern von einem echten Hingucker. Jemandem wie …“ Sie holte tief Luft. „… dem zukünftigen Star von Hollywood!“
„Aber wie soll ich an Tebby Wells’ Nummer kommen?“, stellte ich mich ahnungslos. Tebby Wells spielte die Hauptrolle in Girl Outside, unserer absoluten Lieblingsserie. Viola und ich hatten sie schon mit dreizehn für uns entdeckt, doch jetzt wo Girl Outside in der fünften Staffel lief und sogar einen Spin-off bekam, kannten sie plötzlich alle. Erst gestern hatte mir von der Titelseite von Angies Fernsehmagazin Tebbys Gesicht entgegengelacht. Die Schauspielerin war Violas großes Vorbild.
„Wer redet von Tebby Wells?“ Viola warf sich in Pose. Resigniert zielte ich mit der Kamera in ihre Richtung und drückte ein paarmal ab.
Viola und ich waren einfach grundverschieden! Sie stand am liebsten im Mittelpunkt. Ich bevorzugte es, hinter der Kamera verborgen, alles zu überblicken, ohne dass mich jemand wahrnahm. Wir ergänzten einander perfekt, aber manchmal, so wie heute, wünschte ich mir ein Stück von Violas Selbstsicherheit. Ich traute mich zu wetten, dass sie die Stelle beim Presseclub kriegen könnte, wenn sie wollte. Dabei hatte sie von Fotografie keinen blassen Schimmer.
Glaub an dich, dann tut es der Rest der Welt auch: Viola verkörperte diesen Spruch besser als irgendjemand sonst.
Sie lehnte sich über meine Schulter und betrachtete mit mir die Fotos. Die Schnappschüsse waren gut geworden, vor allem der letzte: Mit ihrer verspiegelten Sonnenbrille und dem gespielt erstaunten Gesichtsausdruck sah Viola tatsächlich aus wie ein Filmstar, den die Paparazzi beim Müllraustragen oder Gassigehen überrascht hatten. Die lila Strähnchen in ihren kurzen, pechschwarzen Haaren passten perfekt zur Farbe ihrer Fingernägel und zu der glitzernden Aufschrift In meiner Welt regiere ich auf ihrem Tanktop.
„Nimm das hier fürs Portfolio.“ Sie tippte mit dem lackierten Nagel ihres rechten Zeigefingers auf ein Bild. „Oder das … oder das … Am besten die ganze Serie! Wäre doch ein Knaller für die Titelstory der Campus-Zeitung.“
„Und mit welcher Schlagzeile bitte? Studienanfängerin steht vor Haus rum?“
„Ist doch egal. Glaubst du echt, irgendjemand liest die Artikel? Alle gucken sich doch nur die Bilder an.“ Als ich schwieg, schubste sie mich auffordernd. „Sag schon, wie sehe ich aus?“
„Wie Tebby Wells mit lila Haaren“, musste ich zugeben. Sogar das Tanktop und die Frisur passten einigermaßen. „Aber Schnappschüsse sind nicht mein Stil“, wandte ich ein.
Viola rollte die Augen. „Gut. Wenn du wirklich und ernsthaft glaubst, dass eure Jalousien der große Renner sind, lass dich nicht stören. Während ich hier verhungere!“ Dramatisch betonte sie das letzte Wort.
Mir kam ein Geistesblitz. „Geh doch rein, und bitte Angie um einen Snack. Sie hat Teigtäschchen gebacken. Und bis du wieder rauskommst, bin ich fertig. Versprochen!“ Es war halb drei. Der Schatten fiel exakt von 14:10 Uhr bis 14:35 Uhr auf die Mauer. Das hatte ich überprüft.
„Welche Teigtäschchen? Die mit Käse?“
„Die mit Spinat.“
„Und Knoblauch? Nein, danke!“ Viola verzog angewidert das Gesicht. „Knoblauchküsse stinken.“
Ich starrte sie an. „Wen planst du bitte schön zu küssen?“ Erst vorige Woche hatten wir in der Mensa unsere selbst erfundene Formel für die Attraktivität von Typen überarbeitet – und dabei festgestellt, dass es an unserer Uni offensichtlich keine attraktiven Kerle gab.
„Ich plane nie!“ Wenn du das Schicksal zum Lachen bringen willst, erzähl ihm deine Pläne – so lautete Violas Lebensmotto. „Aber Einkaufszentren sind total romantisch. Wer weiß, was sich ergibt?“
„Romantisch? Das Gedränge auf der Placa, der überteuerte Cappuccino und die Tatsache, dass das Clio die tollsten Klamotten immer in allen Größen führt, nur nicht in unserer?“
Viola nickte. „Szene“, begann sie, als zitierte sie aus einem Skript. „Sommerschlussverkauf im Clio. Fünfzig Prozent auf alles. Die Leute fangen vor den Grabbeltischen an, sich zu prügeln. Du greifst nach dem letzten Paar Jeans. So ein total knackiger Typ auch. Eure Hände berühren sich. Bingo!“
„Was will er mit Jeans in meiner Größe?“, warf ich ein.
Aber Viola war in Fahrt. „Nächste Szene: Du kommst mit einem halben Dutzend Tüten raus. Du weißt schon, diesen billigen aus Papier. Eine reißt. Du kniest am Boden und sammelst deine Einkäufe auf. Dir ist nach Heulen zumute, weil die Leute einfach an dir vorbeirennen oder sogar auf deine neuen Klamotten trampeln. Aber … die Rettung naht! ‚Brauchst du Hilfe?‘, hörst du jemanden sagen und hebst hoffnungsvoll den Kopf. Und dieser unverschämt gut aussehende Typ beugt sich zu dir herab und hilft dir, deine Klamotten aufzusammeln. Dankbar lächelst du ihn an.“
„Und dann haut er mit meinen neuen Jeans ab? Wo er doch auf Frauenjeans steht.“
„Dritte Szene“, fuhr Viola unbeirrt fort. „Auf der Rolltreppe. Du stolperst, klammerst dich erschrocken an deinen Vordermann und …“
„… küsst ihn?“ Ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie sie sich irgendeinem armen, verwirrten Shopper an den Hals warf! „Du bist verrückt“, stellte ich kopfschüttelnd fest, aber heimlich wünschte ich mir, genauso mutig und selbstbewusst zu sein wie meine Freundin. Jemand, dem alle Blicke folgten. Violas Leben war eine Dauerpremiere, die ganze Welt ihr Publikum. Die Jungs flogen auf sie.
Und ich?
Viola las mal wieder meine Gedanken. „Mach dich nicht klein! Ich wette, eine Menge Kerle wären hin und weg, wenn du dich auf der Rolltreppe an sie klammerst.“
Von wegen! Sosehr ich Viola ihre Beliebtheit gönnte – verglichen mit ihr fühlte ich mich, als stünde ich im Dunkeln neben einem grellen Bühnenscheinwerfer. „Welche Kerle denn?“
„Na, zum Beispiel Diego.“ Er war im Presseclub, belegte ein paar der gleichen Journalistik-Kurse wie wir beide und hatte außer „Hallo“ und „Tschüss“ noch nie ein Wort mit mir gewechselt.
„Quatsch. Diego weiß nicht mal, wie ich heiße“, wehrte ich ab.
„Das vielleicht nicht“, musste Viola einräumen. „Aber ich schwöre, er hat gestern in der Mensa andauernd zu dir rübergeguckt.“
„Weil über meinem Kopf die Tafel mit den Tagesmenüs hing!“ Ich glaubte ihr das mit dem Rübergucken sowieso nicht. Doch was spielte es für eine Rolle? Diego mochte zwar ein Typ sein, aber er war nicht mein Typ. Wenn ich erst mal auf jemanden stehen würde und der mich geflissentlich ignorierte, bliebe mir noch immer genug Zeit, um in Selbstmitleid zu versinken.
Und bis dahin hatte ich zu tun. David, Diego und der Rest des Redaktionsteams würden mich am Montag jedenfalls beachten. Oder wenn schon nicht mich, dann meine Fotos. Und nur darauf kam es an.
Frisch motiviert wandte ich mich wieder der Hausmauer zu – und ließ die Kamera sinken. Der Schatten war weg!
Viola sah meinen Gesichtsausdruck und kapierte sofort. „Sorry. Ich hätte weniger quasseln sollen, oder?“
„Schon okay“, murmelte ich.
„Kopf hoch!“, versuchte sie mich aufzumuntern. „Du brauchst nur ein Foto. Wie viele hast du?“ Sie grinste mich an. „Lass mich raten: vierhundertneunundneunzig?“
„Fünfzehn.“ Und gelöscht hatte ich ungefähr hundertdreißig. Jetzt bereute ich, dass ich die Zeit mit dem Löschen vergeudet hatte, während mein kostbarer Schatten zumindest bis zum Abgabetermin verschwunden war. „Bloß von den fünfzehn ist keines perfekt.“ Auch das beste war nur ziemlich perfekt, aber eben nicht ganz.
„Dann … Wie wär’s damit?“ Viola klatschte begeistert in die Hände. „Vampire sind total in. Denk an die letzte Staffel von Girl Outside! Und wir haben in der Requisite echt geiles Zeug. Falsche Reißzähne. Kunstblut. Und Korsetts!“
Dass Viola unbedingt ans Theater oder zum Film wollte, war kein Geheimnis. Dass ihre Eltern von so was nichts hielten auch. Das Ergebnis? Sie studierte zurzeit mit mir Journalistik und jobbte nebenbei in der Requisite unseres Stadttheaters.
Bei ihrem letzten Auftritt in einem Stück der Theater-AG unserer Oberstufe hatte sie die Rolle einer Vampirkönigin gespielt. Von daher wusste ich, dass sie das mit dem Blut und den Reißzähnen hundertprozentig ernst meinte. Aber kostümierte Theatralik war so gar nicht mein Ding. Fotografie erforderte Planung. Zeit.
Inspiration.
Ein perfektes Foto war wie ein Song. Man komponierte es. Ein guter Songwriter kritzelte Noten auf Papier und verwarf, ergänzte, variierte sie. Er fing nicht fünf Minuten vor dem Auftritt an, auf dem Keyboard rumzuklimpern. Genauso wenig spritzte ein ambitionierter Fotograf mit Kunstblut in der Gegend rum, bloß weil welches zur Verfügung stand. Ich jedenfalls nicht!
„Erstens: nein! Zweitens – glaubst du echt, dein Boss würde dir die Sachen für so was leihen?“
„Er muss es ja nicht erfahren.“
„Du würdest sie klauen?“
Lässig zuckte sie mit nur einer Schulter. „Für dich? Na klar. – Und außerdem ist es mir egal, ob er mich rauswirft. In ein paar Monaten bin ich sowieso von dort weg.“
Wie immer versetzte mir die Erwähnung ihres Plans einen Stich ins Herz. Violas Eltern hofften noch immer, sie würde sich damit begnügen, als Kulturjournalistin später mal gratis Premieren besuchen und diese in der Zeitung verreißen zu dürfen. Dabei hatte Viola längst die Zusage einer Berliner Schauspielschule in der Tasche und sogar schon ein Zimmer dort. Nur wusste das niemand außer mir. Sie plante, ihre Familie im September vor vollendete Tatsachen zu stellen.
Und Hunderte Kilometer weit wegzuziehen. Mich alleinzulassen. Viola sah das natürlich nicht so tragisch. „Du hast doch deinen Paps. Und Angie und Justin“, pflegte sie mich zu trösten. „Und … Glaub mir, sobald du mal ohne mich auf einer Studentenparty aufkreuzt, kannst du dich vor Verehrern gar nicht mehr retten.“
Als ob! Außerdem wollte ich keine Verehrer. Ich wollte meine beste Freundin seit der Kita bei mir haben. Viola versprach zwar, wir könnten täglich chatten oder telefonieren. Und sie hatte mich gefragt, ob sie Pelier als ihren Künstlernamen verwenden dürfe, weil das allemal besser klang als Oberhuber. Pelier war eigentlich der Name meiner Mutter, Paps hatte ihn bei der Hochzeit angenommen und nach der Scheidung behalten – zum Glück, sonst hieße ich jetzt Ava Leberschmitz. Aber in der Zeitung von Viola Pelier zu lesen, wäre nun mal nicht das Gleiche, wie mit ihr abzuhängen.
Nun legte sie nachdenklich den Kopf schief. „Wenn du was gegen Vampire hast, dann vielleicht Zombie-Bräute? Wir hätten da dieses zerfetzte Hochzeitskleid, das wie frisch ausgebuddelt aussieht …“
Ich legte eine Hand ans Ohr. „Hörst du das? Deine Pizza ruft nach dir!“
„Dazu das richtige Make-up und …“
„Schinken! Salami! Extra Oliven!“, übertönte ich sie, weil ich uns beide schon bei Vollmond über eine Friedhofsmauer klettern sah. „Knusprig gebräunter Käse!“ Die Pizzen im Einkaufszentrum waren die besten der Stadt. Sie würden hoffentlich nicht nur Viola auf andere Gedanken bringen, sondern auch mich. Ablenkung war hin und wieder notwendig. Inspiration ließ sich leider nicht erzwingen.
Und wer wusste? Vielleicht kam mir ja gerade beim Pizzastand auf der Placa eine grenzgeniale Idee für ein Fotomotiv in den Sinn.
Viola folgte mir durch die Terrassentür ins Haus. Beim Reingehen zog ich mir hastig die Kappe vom Kopf und kämmte mit den Fingern meine Locken. Angie saß mit Justin auf der Wohnzimmercouch und las ihm aus einem seiner Comics vor.
„Der Räuber greift den Helden an. Pow! Wow!“ Sie unterstrich ihre Worte mit dramatischen Handkantenschlägen durch die Luft.
„Das heißt ‚Pooow! Wooow!‘“, verbesserte Justin sie. Er war fünf und trug mal wieder seinen Spider-Man-Anzug. Ein Sonnenstrahl fiel durch die Jalousien auf seine und Angies blonde Haare.
„Deine Stiefmutter sieht aus wie eine Barbiepuppe“, hatte mir Viola mal anvertraut. Das war nicht böse gemeint gewesen, es entsprach einfach der Wahrheit. Mit einer lebensgroßen Kartonbox als Verpackung hätte Angie perfekt in jedes Spielzeugregal gepasst. Entweder als Business-Barbie in ihren schicken Kostümen mit den extra kurzen Röckchen oder zu Hause als Yoga-Mama-Barbie in Leggings und bequemen Tops.
Auch auf den zweiten und dritten Blick erfüllte sie alle Klischees, die einem zum Thema Stiefmutter so einfallen mochten. Sie trug High Heels in schreienden Farben, hatte ein zuckersüßes Lächeln und einen Job als Assistentin des Marketingleiters bei einem großen Kosmetikkonzern. Ich glaubte, nicht einmal Paps wusste, wie sie ohne Make-up aussah. Zu allem Überfluss war sie fünfzehn Jahre jünger als er und bloß acht Jahre älter als ich.
Angie hob den Kopf. „Seid ihr draußen fertig?“
Kaum nickte ich, sprang Justin mit einem Triumphgeheul von ihrem Schoß und flitzte barfuß an Viola und mir vorbei. Die Terrassentür knallte hinter ihm zu.
Viola zog eine Braue hoch. „Was ist denn in den gefahren?“, hieß das wohl. Angie folgte ihrem Sohn zur Glastür und öffnete sie einen Spalt weit. „Justin, Schuhe!“, schrie sie ihm nach.
Durch die Glasscheibe sah ich, wie Spider-Man nach seinen Sneakers haschte. Er hopste zunächst auf dem linken Bein und zwängte den rechten Fuß in den Schuh – natürlich ohne die Klettverschlüsse zu öffnen. Beim anderen Fuß wandte er die gleiche Methode an.
„Fertig!“, brüllte er und sprang von der Terrasse in den Garten.
Mit einem belustigten Kopfschütteln wandte sich Angie zu uns um. „Ich habe gesagt, er darf erst draußen herumtoben, wenn du fertig bist“, erklärte sie mir. „Ich wollte nicht, dass er dich stört.“ Sie schenkte mir ein Lächeln. „Und sind die Fotos toll geworden?“
„Ganz okay“, murmelte ich verlegen. Angie glaubte felsenfest an mein Talent. Hin und wieder wünschte ich mir, sie täte es nicht. Vielleicht war ich ja als Fotografin in Wahrheit eine totale Niete und würde nie den Erfolg haben, von dem ich träumte? Was dann?
Damit klarkommen zu müssen, wäre schlimm genug. Noch viel mehr Bauchschmerzen bereitete mir aber der Gedanke, Angie und Paps zu enttäuschen.
„Ich bin mir sicher, deine Bewerbung wird die vom Presseclub umhauen, Schätzchen.“ Angie gab mir einen Klaps auf die Schulter. „Denk immer daran: Glaub an dich, dann …“
„… tut es der Rest der Welt auch. Ich weiß.“ Den Spruch kannte ich längst in- und auswendig. Kunststück, er hing an meiner Zimmertür. Angie hatte mir das Motivationsplakat zum Geburtstag geschenkt.
„Wollt ihr Teigtäschchen?“ Sie ging an uns vorbei zu einer großen Tupperdose auf der Anrichte und hob den Deckel. Ein durchdringender Duft nach Blätterteig und Knoblauch erfüllte die Küche.
„Nein, danke“, wehrte ich ab. Und konnte mir einen Seitenhieb nicht verkneifen: „Viola steht nicht so auf Knoblauch. Sie ist heute nämlich ein Vampir.“ Aus dem Augenwinkel sah ich, wie meine beste Freundin die Zähne bleckte. „Wir holen uns im Einkaufszentrum eine Pizza.“
Angie nahm uns das nicht übel. Sie war als Stiefmutter eben in jeder Hinsicht ein echter Glücksgriff.
Wir gingen rauf in mein Zimmer, und ich legte meine Kamera auf die hohe Kommode, damit Justin nicht rankäme. Zwar war mein Reich für ihn eigentlich tabu, er schlich aber trotzdem rein, um seine heiß geliebten Gummibärchen zu suchen. Seit Angie mal eine Packung in seiner Spielzeugkiste versteckt hatte, vermutete er überall welche!
Sollte ich die Fotos rasch auf den Computer überspielen? Lieber nicht. Viola trommelte schon ungeduldig mit den Fingern am Türrahmen. Ich faltete den Gurt und schob ihn unter die Kamera. Für einen Herzschlag ließ ich die Hand auf dem Auslöser liegen.
„Diego wäre neidisch!“, tönte es hinter mir. „So wie du das Ding anstarrst …“
„Du mit deinem Diego!“ Seufzend wandte ich mich zu ihr um. „Und wenn ich ein klitzekleines bisschen in meine Ausrüstung verknallt bin, na und?“
„Verknallt?“, echote sie und schüttelte den Kopf. „Du hast die Kamera jetzt seit fast einem Jahr! Da kann man doch nicht mehr von Verliebtsein reden. Das ist …“, sie unterbrach sich und suchte offenbar nach dem passenden Wort. „Eine Dauerbeziehung!“, entschied sie. „Verlobt, verheiratet und auch schon wieder aus den Flitterwochen zurück. Wir brauchen für euch beide eine Heiratsurkunde. Oder wenigstens eine Hochzeitsannonce. Ava Pelier freut sich, ihre Vermählung mit Armand bekanntzugeben …“
Viola schlug mir andauernd Männernamen für die Kamera vor. Letzte Woche war Fynn der Glückliche gewesen und davor Luca. Aber Armand?
„Meine Kamera ist kein Vampir!“
„Wer hat was von Vampiren gesagt? Ich meinte natürlich einen französischen Austauschstudenten“, behauptete Viola, obwohl ich mir hundertprozentig sicher war, dass sie an Anne Rice’ Armand gedacht hatte. „Gut, dann meinetwegen … Jacques-Armand?“ Sie schnalzte mit der Zunge. „Klingt auch sexy.“
„Meine Kamera ist nicht sexy!“ Ich schnappte mir das türkise Umhängetäschchen, das zu meinem türkis-blau-rosa gemusterten Frühlingskleid passte, und stopfte meine Geldbörse hinein. „Gehen wir.“
Viola lehnte sich an die Kommode und klimperte mit den Wimpern. „Gück mir in meine Objektiiiv, Jacques-Armand“, flötete sie mit einem schauderhaften französischen Akzent. „Iiisch lasse diiisch nasch-er auch mit dem Putztüüüch an meine Liiins …“
Was, wenn Justin ausgerechnet jetzt auftauchen würde? Und einen Schock fürs Leben bekäme? Rasch schubste ich Viola durch die Zimmertür in den Flur. „Los, bevor uns noch jemand die letzten Pizzen wegschnappt.“
Das Einkaufszentrum am Rande der Innenstadt war ziemlich neu. Erst vor ein paar Jahren hatte ein Immobilienentwickler die alten Häuser abgerissen und durch einen modernen Glas-und-Stahlbeton-Tempel ersetzt. Es gab darin ein paar gute Läden für Klamotten, aber der Hauptgrund, warum Viola und ich so gern dort abhingen, bestand in den Pizzen. Und natürlich in Violas ständiger Hoffnung, jemand könnte sie für einen Film entdecken.
„Glaubst du das wirklich?“, wagte ich zu fragen. Wenn Casting-Agenten nach neuen Gesichtern suchten, dann doch wohl eher in Hollywood oder wenigstens Berlin. Sicher nicht im Placa Center unserer Kleinstadt.
„Ja! Vergiss nicht: Tebby Wells wurde …“
„… in einer Pizzeria entdeckt“, beendete ich Violas Satz, während der Bus in die Schleife beim Einkaufszentrum einbog. „Weiß ich doch! Aber das war in Hollywood. Nicht in Oberdumpfrechtshausen.“
Sie ließ sich nicht beirren. „Was glaubst du, wie viele Pizzerien es in Hollywood gibt? Und jede Kellnerin dort war garantiert auf der Schauspielschule und träumt vom großen Durchbruch. Bei so viel Konkurrenz musst du schon wahnsinniges Glück haben, dass ein Casting-Agent ausgerechnet in deine Pizzeria kommt und dich sieht.“
Der Bus hielt an. „Bei uns stehen die Chancen also hundertmal besser“, beendete Viola ihre Erklärung. Sie wies auf das Neonschild des Placa Center direkt vor unserem Fenster. „Und angenommen, jemand würde in unserer Stadt einen Film drehen – wo anders sollte das Casting-Team abhängen als hier?“
Das klang logisch. Wenigstens fast. Der einzige Haken: „Wer will in unserer Stadt einen Film drehen? Worüber denn?“
„Egal worüber.“ Sie tänzelte rückwärts zur Bustür und redete dabei weiter auf mich ein. „Kleinstädte und Vororte sind total in. Denk bloß an Pretty Little Liars …“
„… von Oberdumpfrechtshausen?“
„Oder die letzte Staffel von Girl Outside!“, triumphierte Viola. „Davon brauchen wir sowieso ein deutsches Remake. Ich übernehme Tebbys Rolle. Du kannst die Reporterin sein. Du weißt schon. Die mir ständig hinterherspioniert.“
„Bis ich im Finale der dritten Staffel ermor…“ Als sich die Türen öffneten, verlor ich Viola kurzzeitig aus den Augen. Der Bus war voll, und alle wollten hier raus.
„…det werde?“ Ich erspähte meine beste Freundin und joggte ein paar Schritte, um zu ihr aufzuschließen. Vor der gläsernen Drehtür des Einkaufszentrums holte ich sie ein.
Sie winkte lässig ab. „Ach, das schreiben wir um. Du wirst eben nur fast ermordet.“ Klimatisierte Luft und ein verführerisches Aroma von Cappuccino schlugen uns entgegen, als wir das Placa Center betraten. Gleich beim nächsten Schritt mischte sich der Duft von Croissants dazu. Die Planer waren eben echte Sadisten gewesen. Dass sich die Bäckerei direkt am Eingang und noch dazu unter der Luftumwälzungsanlage befand, grenzte an Folter!
Vor uns erstreckte sich die Placa, wie der riesige Platz unter der Glaskuppel hieß. Palmen und Oleandersträucher in Töpfen, ein paar Bronzestatuen, dazu die terracottafarbenen Mosaikfliesen und die mit Marmor verkleideten Säulen verliehen ihm ein südländisches Flair. Aus der Smoothie-Bar roch es nach frisch gepressten Orangen, vom asiatischen Nudelstand dagegen nach Sojasauce. Eine ganze Grundschulklasse bemühte sich gerade, den mannshohen Pappmaché-Donut neben der Donut Boxx zu erklimmen.
Die Menschenschlange vor der Pizza Piazza war natürlich wieder endlos lang.
„Folge mir!“, zischte Viola. Sie schlängelte sich zwischen den rot-weißen Plastiktischen hindurch. Mit einem frechen „’tschuldigung, darf ich mal?“ wollte sie sich vor einer Familie mit drei Kleinkindern einreihen.
„Unerhört!“, rief der Mann, und die Frau sagte laut zu den Kindern: „Guckt mal, das Mädchen drängelt sich einfach vor. Wir tun so was nicht!“
Ein halbes Dutzend Kinderaugen starrten uns vorwurfsvoll an. Ich wollte im Mosaikboden versinken! Peinlich berührt packte ich Violas Arm und zog sie ans Ende der Schlange.
„Man stellt sich hinten an. So lautet die Regel.“
Viola hielt dagegen: „Regeln sind dazu da, um gebrochen zu werden.“ Sie schnitt eine schmerzliche Grimasse, als sie sah, wie viele Leute vor uns anstanden. „Wetten, bis wir dran sind, bin ich verhungert?“ Theatralisch umfasste sie mit ihrer Rechten ihr linkes Handgelenk, wie um zu prüfen, ob sich noch Fleisch über den Knochen befand.
Sammelst du Erfahrung aus erster Hand für deine Zombie-Rollen? Ich verkniff mir die Bemerkung, um Viola nicht auch noch zu ermutigen. Einmal hatte sie mir im Clio eine Todesszene vorgespielt. Die anderen Kunden hatten applaudiert, doch eine Verkäuferin hatte gedacht, es handle sich um einen echten Notfall. Wie es Viola hingekriegt hatte, dass wir beide dort kein Hausverbot bekommen hatten, war mir bis heute ein Rätsel.
Sie zupfte mich am Ärmel. „Das mit dem Verhungern war kein Witz! Wenn ich nicht sofort was zwischen die Zähne kriege, falle ich tot um. Hast du einen Kaugummi? Einen Müsliriegel?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Ein Gummibärchen?“
Auch nicht. „Justin“, murmelte ich abwesend und überlegte dabei, ob Viola mal wieder maßlos übertrieb oder ob ich sie in der Schlange stehen lassen und rasch zum Bäcker hetzen sollte, bevor ihr Blutzucker im Keller war und sie ohnmächtig wurde. Gemeint war natürlich „Justin ist der mit den Gummibärchen“, doch Viola beschloss, mich falsch zu verstehen.
„Justin?“, wiederholte sie laut und schockiert. „Du bietest mir deinen Bruder als Snack an?“
„Was? Nein!“ Alle Köpfe in der Schlange drehten sich nach uns um. Ein paar Leute zückten ihre Handys. Ich sah uns schon die unfreiwilligen Hauptrollen in einem Video mit dem reißerischen Titel Kannibalen-Girls im Shopping-Center!!! spielen.
„Und warum denkst du gleich an so was?“, zischte ich. „Probt ihr mit der Laientruppe fürs Sommertheater ein Kannibalenstück?“
„Leider nicht. Nur Shakespeare. Obwohl … Romeo und Julia als Menschenfresser, das wär doch was! Er trinkt aus dem Becher. Sie beißt ihn und bekommt davon eine Lebensmittelvergiftung …“
Die Leute vor uns rückten enger zusammen und von uns ab.
„Du bist echt durchgeknallt.“
Viola grinste zufrieden. „Weiß ich.“
„Wir sind nicht befreundet“, informierte ich sie laut. „Ich habe keine Ahnung, warum ich neben dir stehe.“
Sie lachte und hakte sich demonstrativ bei mir unter. Spielerisch tat ich, als wollte ich sie abschütteln. Dabei erahnte ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung auf der Rolltreppe – und duckte mich im nächsten Moment.
Viola hob fragend eine Braue.
„Da drüben!“, murmelte ich. „Guck nicht hin. Magnus Hiller.“
„Magnus-der-Mistkäfer?“, vergewisserte sie sich lauthals.
Meine Wangen röteten sich vor Scham. Dabei hatte ich den Namen erfunden. Für private Zwecke! Nicht um ihn in einem Einkaufszentrum hinauszuposaunen.
Soeben verließ eine Frau mit zwei Kindern die Rolltreppe. Hinter ihr kam eine Gruppe kichernder Teenies im Hijab und … Als letzten Ausweg versuchte ich mich hinter Viola zu verstecken.
„Zu spät. Er hat dich gesehen“, verkündete sie mir schadenfroh.
„Woher willst du das wissen?“
„Weil er …“
„Hey!“, erklang eine vertraute Stimme. Ohne dass ich es wollte, schweifte mein Blick zu Magnus, der auf uns zuhielt.
Uns trennten etwas weniger als zwanzig Meter. Schrittlänge, Entfernung, Geschwindigkeit pro Minute, wie lautete noch mal die mathematische Formel? Mir bliebe hoffentlich genug Zeit, um abzuhauen. Mich hinter den Stand der Pizza Piazza zu ducken, von dort zur Donut Boxx zu sprinten und …
Violas Frage machte meine Fluchtpläne zunichte: „Glaubst du, er bewirbt sich auch?“
Ich erstarrte. Keine Ahnung warum. Die Schlussfolgerung war vollkommen logisch, sie war das Natürlichste auf der Welt. Magnus und Fotografie passten zusammen wie Hollywood und Viola. Wie Justin und Gummibärchen. Wie die Sonne auf der Hausmauer und der Schatten der Jalousie.
„Los, fragen wir ihn, ob er …“
„Nein!“, unterbrach ich sie streng. „Versprich, dass du das nicht tust. Noch besser, schwör es mir.“
Viola musterte mich verdutzt. „Warum sollte ich ihn denn nicht fragen?“
Beschämt wich ich ihrem Blick aus. „Weil er vielleicht nicht weiß, dass eine Stelle frei ist“, flüsterte ich und kam mir schäbig vor. Die Chancen standen außerdem schlecht. Der Aushang am Schwarzen Brett der Uni war kaum zu übersehen gewesen.
Aber Magnus gehörte zu der Sorte Chaoten, die vermutlich sogar ihren eigenen Geburtstag vergaßen.
„Und du hast Angst, er könnte sie dir sonst wegschnappen?“
Das zuzugeben tat weh. Ich nickte trotzdem.
„Quatsch!“, entgegnete Viola im Brustton der Überzeugung. „Du bist eine tolle Fotografin. Und zuverlässig“, betonte sie. „Magnus würde die halbe Zeit nicht mal zu den Redaktionssitzungen aufkreuzen. Darauf wette ich.“
Sie hatte wahrscheinlich recht. Magnus war älter und schon im vierten Semester, weshalb sich unsere Kurse kaum überschnitten. Nur einmal hatte ich unglaubliches Pech gehabt. Ich hatte dieselbe Lehrveranstaltung belegt wie er. Und war ausgerechnet an dem Tag krank gewesen, an dem sich die Paare für die Gruppenarbeiten zusammengefunden hatten.
Der einzige andere Kursteilnehmer, der gefehlt hatte? Genau.
Zwei Wochen später war ich bereit gewesen zu morden.
„Und was bringt dich an ihm nun wirklich so auf die Palme?“, hatte Viola neugierig wissen wollen, nachdem ich in der Mensa meinem Ärger Luft gemacht hatte.
„Habe ich doch gesagt!“ Ich hatte meine Argumente gleich noch mal an den Fingern abgezählt: „Er ist erstens schlampig, zweitens unzuverlässig und drittens ein totaler Chaot!“
Sie hatte sich zurückgelehnt und unbeeindruckt mit ihrem Croissant herumgefuchtelt. „Ja, ich weiß, wie sehr du Ordnung und Regeln liebst“, hatte sie versucht, mich zu beschwichtigen. „Aber mal ehrlich: Dieser Magnus klingt, als wäre er mein Seelenverwandter. Und mit mir kommst du super klar! Außerdem …“ Sie hatte mit dem Gefuchtel aufgehört. „… ist er heiß.“
„Magnus Hiller? Heiß?“, hatte ich schockiert wiederholt. Das war so ziemlich das letzte Adjektiv, mit dem ich ihn beschrieben hätte. Oder das viertletzte. Nach „zuverlässig“, „sorgfältig“ und „organisiert“.
Viola hatte sich bedeutsam geräuspert. Sie hatte an der Wand gegenüber dem Eingang gesessen, ich mit dem Rücken zur Tür. Und weil mich das Schicksal offenbar hasste, war Magnus in diesem Moment in die Mensa geschlendert. Sein breites Grinsen hatte jeden Zweifel zerstreut: Er musste meine letzten Worte gehört haben.
„Er ist nicht heiß!“, hatte ich gezischt, während Magnus seinen Rucksack auf einen freien Stuhl geschmissen und seine dunkelblaue Sweatjacke über die Lehne von dem daneben gehängt hatte. Normale Leute belegten in der Mensa einen Platz, Magnus drei. Lässig hatte er sich auf den dritten Stuhl gesetzt, sich mit den Knien an der Tischkante abgestützt, ihn leicht nach hinten gekippt und auf seinem Tablet rumgetippt. Seine schwarzen Locken hingen ihm ins Gesicht wie bei einem Star, der anonym bleiben wollte.
Dabei zählte Magnus doch zur Spezies der Paparazzi, nicht zu jener der Stars. Echte Stars trugen auch nicht tagelang dieselben zerknitterten T-Shirts mit den Logos irgendwelcher Punkbands, die aussahen wie von der Altkleidersammlung. Was umso mehr auffiel, weil Magnus’ Tablet das allerneueste Modell war. Jeder wusste, dass er vor der Uni auf einer sauteuren Privatschule gewesen war und dass er bei seinem stinkreichen Vater lebte. Nicht normal reich. Hollywood-reich. Der Arme-Leute-Look gehörte zur Show wie alles andere auch.
Ich hatte mich Viola zugewandt und gemurmelt: „Er sieht aus wie … wie ein Mistkäfer!“
Das war natürlich unfair den Mistkäfern gegenüber gewesen. Die armen Tiere trugen schließlich keine punkigen T-Shirts und zerfetzten Jeans. Sie hatten auch kein unverschämtes Dauergrinsen im Gesicht. Mir war nur leider nichts Besseres eingefallen. Etwas an Magnus’ Anblick sorgte dafür, dass mein Gehirn nicht mehr ordentlich funktionierte.
„Wir fragen ihn nicht!“, schärfte ich Viola ein letztes Mal ein, bevor uns Magnus erreichte. Sein heutiges Outfit der Marke Straßendealer bestand aus einer offenen, dunkelroten Sweatjacke mit Kapuze, einem weißen T-Shirt mit einem Muster wie Blutspritzern und Jeans mit Löchern an den Oberschenkeln.
„Hey, Viola. Hey …“
Ertappt wandte ich sofort den Blick von Magnus’ Schenkeln ab. Sonst käme er womöglich noch auf den Gedanken, ich himmelte ihn an. Wenn er mich Alles-an-seinem-Platz-Ava nannte, würde ich mir ein Extrastück Pizza bestellen, nur um es ihm ins Gesicht zu klatschen.
Zu unserem ersten gemeinsamen Projekttreffen war ich pünktlich mit einem neuen Collegeblock, der ausgedruckten Aufgabenstellung und einer Liste möglicher Quellen gekommen. Magnus war schlaftrunken eine halbe Stunde später in die Uni-Bibliothek gewankt. Er hatte sich die Aufgabenstellung mit Kuli auf seinem Unterarm notiert, über meine Liste gewitzelt und mir den Spitznamen Alles-an-seinem-Platz-Ava verpasst, nur weil ich ihn gebeten hatte, meine Textmarker dort zu lassen, wo sie lagen.
Okay, nicht gebeten. Eher angefaucht. Zu meiner Verteidigung: A) Es war Magnus! B) Sein selbstzufriedenes Grinsen hätte jeden zum Ausrasten gebracht.
„Danke für die Zusammenarbeit“, hatte ich am Ende des Kurses nach unserer gemeinsamen Präsentation kühl zu ihm gesagt. „Ich hoffe, wir sehen uns nie wieder.“
„Gleichfalls.“ Er hatte vor mir salutiert und dabei noch gelächelt, als hätte ich ihm ein Kompliment gemacht.
Was also wollte er jetzt von Viola und mir? Ich öffnete den Mund.
Viola war schneller. „Fotografierst du?“ Magnus trug seinen Rucksack über der Schulter. Der Reißverschluss stand offen, ein Stück eines Kameragurts hing heraus. Ich funkelte Viola an, obwohl oder gerade weil ich wusste, dass sie Magnus für mich unauffällig aushorchen wollte. „Unauffällig“ war aber leider nicht das passende Wort für Violas Herangehensweise.
Magnus nickte. „Und du?“, fragte er mich direkt. „Wo ist deine Kamera?“
„Warum sollte Ava ihre Kamera mithaben?“, versuchte ihn Viola abzulenken.
Magnus ignorierte sie. Der Blick seiner dunklen Augen bohrte sich in meinen. „Hier laufen jede Menge Motive rum“, sagte er zu mir. „Könnte sogar sein, dass man mit einem davon in die Campus-Zeitung kommt.“
Er grinste mich an. Kein Zweifel. Fragen unnötig. Er wusste von der freien Stelle. Er wusste auch, dass ich mich darum bewarb.
So wie er.
Bitterkeit stieg in mir hoch. In diesem Moment hätte ich alles gegeben, um Magnus das Grinsen vom Gesicht zu wischen. Er mochte ja so tun, als hätten wir beide die gleichen Chancen – aber dieser sogenannte Wettbewerb zwischen uns war eines definitiv nicht: fair.
Aus mehreren Gründen. Erstens hatte ich nur die eine gebrauchte Kamera mit zwei gebrauchten Objektiven. Sie war toll, und ich war Paps und Angie für ihre finanzielle Unterstützung beim Kauf unglaublich dankbar – aber bei Magnus lagen zu Hause vermutlich ein Dutzend neuere Modelle herum. Und eines davon trug er gerade in seinem zerschlissenen Rucksack mit dem kaputten Reißverschluss durchs Einkaufszentrum spazieren, obwohl an jeder zweiten Marmorsäule ein Schild vor Taschendieben warnte. Warum auch nicht? Konnte ihm ja egal sein, wenn jemand seinen Fotoapparat klaute.
Grund Nummer zwei: Mein Vater war Staubsaugervertreter, Magnus’ Vater Paparazzo. Jede Fotografie-Technik, die ich beherrschte, hatte ich mir mühsam selbst beigebracht. Hatte im Internet gebrauchte Fachliteratur ersteigert und ganze Blöcke mit Notizen vollgekritzelt. Hatte mein zusammengespartes Geld für teure Zeitschriften-Abos ausgegeben und jede freie Sekunde in Fotografieforen verbracht, mich durch Fotoblogs geklickt oder mir Video-Tutorials reingezogen. Privatunterricht bei einem anerkannten Profi? Davon konnte ich nur träumen.
Magnus hatte Hilfe. Und das vermutlich vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Sein Vater konnte ihm nicht bloß beibringen, wie man das perfekte Foto knipste. Er konnte ihm auch gleich das eine oder andere eigene Bild für seine Bewerbungsmappe überlassen.
Oder … oder David, den Chefredakteur des Presseclubs, anrufen und zu ihm so was sagen wie: „Hey, mein Sohn möchte gern bei euch mitmachen. Tu ihm doch diesen kleinen Gefallen, und ich besorge dir dafür ein signiertes Porträt von Tebby Wells.“ Mal ehrlich, wie sollte ich dagegen ankommen?
Erst als mich Viola mit dem Ellenbogen anstieß, tauchte ich aus meinen düsteren Gedanken auf, und mir wurde klar, wo und vor allem in wessen Gesellschaft wir uns befanden. Magnus’ Stimme drang zu mir durch: „… brauche ein Model. Eine von euch hat nicht zufällig Lust, für mich zu posieren?“
„Kommt darauf an“, erwiderte Viola lässig. „Wie viel zahlst du für ein Shooting, und geht es um Nackt- oder bloß Bikinifotos?“
Entgeistert starrte ich sie an. Was zum Teufel sollte das? Sie konnte doch nicht ernsthaft daran denken, für Magnus-den-Mistkäfer zu posieren. Egal ob angezogen oder nackt! Wollte sie ihm noch helfen, mir die Stelle beim Presseclub wegzuschnappen?
Magnus wirkte ebenfalls ein bisschen überrumpelt, doch er fasste sich schnell. „Ist Verhandlungssache“, erwiderte er lässig. „Schick mir erst mal dein Portfolio, dann reden wir weiter.“ Grinsend wandte er sich an mich. „Und du, was ist mit dir?“
„Nein, danke!“, fauchte ich.
Normalen Leuten hätte mein scharfes Nein genügt. Aber nicht Magnus. „Warum? Nenn mir einen guten Grund.“ Er sah mich herausfordernd an.
Ich straffte die Schultern. „Wenn du glaubst, ich würde noch mal mit dir zusammenarbeiten …“
„Wieso? Wir haben das Projekt doch gut hingekriegt“, tat er ganz erstaunt.
Das langte. „Ich habe das Projekt gut hingekriegt!“, verbesserte ich ihn genervt. „Dein Beitrag hat darin bestanden, mich andauernd zu versetzen.“ Und dämliche Spitznamen für mich zu erfinden.
Er seufzte. „Meinst du das Treffen an einem Samstag um acht Uhr morgens? Ich hatte dir gesagt, dass ich nicht weiß, ob ich da kann.“
„Du hast verschlafen!“
„Natürlich! Normale Studenten schlafen samstags um acht Uhr morgens.“
„Und was ist an dir schon normal?“, gab ich hitzig zurück.
Er lachte. „Stimmt“, gestand er bereitwillig ein. „Ich bin nicht normal, sondern einzigartig.“
Meine Reaktion auf so viel Selbstverliebtheit hätte vermutlich das Wort „Mistkäfer“ beinhaltet, doch bevor es so weit kommen konnte, tippte mir Viola auf die Schulter. Ich holte tief Luft und wandte mich von Magnus ab. Die Schlange vor dem Pizzastand hatte sich ohne uns ein ganzes Stück vorwärtsbewegt, und die Hitze stieg mir in die Wangen, als mir klar wurde, wie viele der wartenden Leute zu uns herblickten. Während Magnus und ich uns mitten im Einkaufszentrum stritten.
Magnus musste es ebenfalls bemerkt haben. Er zwinkerte mir verschwörerisch zu und meinte: „Siehst du? Du wärst ein super Model. Alle gucken schon.“
Sie gucken, weil du bescheuert bist!, lag mir auf der Zunge. Ich biss mir auf die Lippe und verkniff mir die Bemerkung.
Er beugte sich plötzlich näher zu mir. Im ersten Moment wich ich zurück, dann zwang ich mich stillzuhalten. Sein Geruch hüllte mich ein. Ich kannte ihn von unserem Projekt. Magnus roch unvergleichlich gut, auch wenn ich mir das nicht eingestehen wollte.