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Den Tod hält niemand auf: Nach einem traumatischen Erlebnis zieht Emma Graustett in die Alpen, um sich zu erholen. Doch kurze Zeit später verschwindet ihre Nachbarin spurlos. Hat der unbekannte Anrufer seine Finger im Spiel, der Emma schon tagelang tyrannisiert? Ihre Ängste werden neu entfacht, aber Emma will sich nicht unterkriegen lassen. Die Lage im bayerischen Idyll spitzt sich zu, als weitere Frauen vermisst werden. Während Emma sich mutig in die Ermittlungen stürzt, ist der „Klingeltod“ längst im Anmarsch.
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Impressum
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Epilog
Rezept Kaiserschmarrn
Bayerisches Wörterbuch
Impressum
Klingeltod und Kaiserschmarrn.
Alpenkrimi.
Kate Delore
1. Auflage 2020
© 2020 Kate Delore
c/o AutorenServices.de
Birkenallee 24
36037 Fulda
Herausgeber/Autor: Kate Delore
Cover/Layout/eBook: Grit Bomhauer, www.grit-bomhauer.com
unter Verwendung von
© Adobe Stock – Atelier M | Nik_Merkulov
© Depositphotos – Ennessy | DigitalArt B | Chuhail |
SimpleFoto | interactimages | Anton_Lunkov | Vladvitek
Lektorat, Korrektorat: Christine Spindler, www.christinespindler.com
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Alle Rechte vorbehalten.
Alle Personen und Handlungen in diesem Buch sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit echten, lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und vom Autor nicht beabsichtigt.
Den Tod hält niemand auf: Nach einem traumatischen Erlebnis zieht Emma Graustett in die Alpen, um sich zu erholen. Doch kurze Zeit später verschwindet ihre Nachbarin spurlos. Hat der unbekannte Anrufer seine Finger im Spiel, der Emma schon tagelang tyrannisiert? Ihre Ängste werden neu entfacht, aber Emma will sich nicht unterkriegen lassen. Die Lage im bayerischen Idyll spitzt sich zu, als weitere Frauen vermisst werden. Während Emma sich mutig in die Ermittlungen stürzt, ist der „Klingeltod“ längst im Anmarsch.
Für meine lieben Eltern.
Danke, Papa, für deine Inspirationen.
Danke, Mama, für deinen Glauben.
Jede Nacht kann tödlich sein
Ein heller Angstschrei schallte durch das Landhäuschen. Medina Tschenko lag am Boden und starb augenblicklich tausend Tode. Die Dame wusste, dass etwas mit ihr passieren würde. Längst hatte sich die Schandtat bei ihr angekündigt, die sie schon Wochen zuvor in ihren nächtlichen Albträumen durchleiden musste. Das garantierte Versprechen des Lebens, dem sie nicht entrinnen würde. Den gefräßigen Tod, der vor ihrer Türe auf sie lauerte und sich in ihren Visionen ankündigte. Nur nicht genau, wie es sich abspielen würde. Was ihr blühte. Und dass sie schon heute Abend zu einem leichten Opfer ihrer Vorahnung werden würde. Das düstere Ereignis, das sie als Mittdreißigerin nicht auszusprechen wagte. Etwas, das kein Erbarmen mit ihrem Wesen kannte und dem sie schutzlos ausgeliefert wäre.
Medina roch den Angstschweiß, der aus jeder ihrer Poren nach außen drang. Sie konnte ihre Lippen kaum mehr bewegen. Immer wieder versuchte sie es. Sie wollte schreien. So kräftig. Gedanklich schrie und kreischte sie um ihr Leben. Aber es war ihr nicht mehr möglich, ein einziges Wort zu formulieren. Was war überhaupt passiert? Ihre Augen fielen zu. Sie fühlte sich zermartert und hilflos. Ausgeliefert. Wie jenes verletzliche Rehkitz, das einst angeschossen vor ihrer Türe gelegen und gewinselt hatte und dem sie letztlich das Leben rettete. Kurz vor Schluss. Sie hatte damals mit der Tierrettung Gutes bewirkt und war kurz darauf bei den Grauen Bergwolpertingern eingestiegen. In diesen Sekunden war es bei ihr kurz vor Schluss und so hoffte sie diesmal auf ihre eigene Rettung. Allein ihr Geist, der von Sekunde zu Sekunde schwächer wurde, konnte ein paar halbwegs klare Gedanken produzieren. Sie registrierte kräftige Pranken, die schonungslos an ihr ansetzten. Das Wesen packte sie grob an den Schultern und zog sie hastig nach draußen. Verschleppt aus ihrem eigenen Haus. Die zeitig hereingebrochene Dunkelheit breitete sich rasch über das Land aus und verfärbte den sonst weiß-blauen Himmel schwarz. In Medinas Schädel herrschte ebenso tiefe Finsternis, als ihr Geist dem lichtlosen Nichts nachgab.
Ein großer Schatten, der auf der beleuchteten Hausmauer einem überdimensionalen Ungeheuer glich, entfernte sich schnell auf listigen Tritten von jenem friedlichen Haus nahe dem Eibsee, das still und abgeschieden am Waldrand lag und in dem weiterhin trügerisches Licht brannte. So als wäre nicht das Geringste gewesen. Rein gar nichts. Das Monster packte die Frau an den Fußknöcheln, lief hastig den Abhang hinunter und schleifte ihren Körper in die Finsternis hinaus. Es musste sich beeilen und zog schwer atmend sein Opfer, nur von einer dunklen Decke umwickelt, hinter sich her. Vor ihm lag ein steiler Abgrund, in den er sich selbst begeben hatte. Es schien, als hätte das hungrige Monstrum sein weites Maul aufgerissen, um seinen Fang zu vertilgen. Und keine Menschenseele nahm Kenntnis davon. Niemand? Zwei Äuglein, die von einem großen Baum versteckt hervorblitzten, sahen den bösen Wolf, wie er zuschlug und sein Etappenziel, die Trophäe, erfolgreich erlegte. Aber es war nicht der Wolf, ein Tier, das Böses verrichtete. Es war der ungeheure Mensch, der Abscheuliches verbrach und mit schnellen Tritten hangabwärts entwischte.
Nur die Eule blieb wachsam auf dem Ast sitzen. Der einzige Zeuge dieses merkwürdig anmutenden Verbrechens.
Im Nebel bleibt vieles verborgen
Ein unauffälliger Mann lauerte im dunklen Parka hinter ein paar großen, unförmigen Ästen. Sein Atem wurde schneller. Er beobachtete eine junge zurechtgemachte Blondine, die in ihren braunen Lederstiefeln durch einen herbstlichen Park stolzierte und dabei ihre leuchtend roten Lippen erwartungsfreudig öffnete. Wie eine seit Tagen ausgehungerte Hyäne lechzte er nach ihr und starrte auf ihre makellosen Beine, die zwischen ihrem enganliegenden Minirock und dem Stiefelschaft in seidig umhüllter Strumpfhose hervorblitzten. Geräuschlos trat der Typ aus seinem Versteck hervor und schlich sich von hinten an sein Opfer heran. Pfeilschnell presste er der Frau mit seiner großen Pranke den Mund zu, mit der anderen umklammerte er kräftig ihren Hals und würgte sie bis zur Ohnmacht.
»Verfluchter Scheiß«, schimpfte Emma und schaltete schnell das laufende TV-Programm um. Uffff. Nervlich angespannt ließ sie sich mit ihrem Oberkörper auf die verschlissenen Polster ihrer durchgesessenen Couch zurückfallen. Früher mochte sie die Art des Genres und ließ sich gerne abends mit einem Gläschen Aperol Spritz und gesalzenem Popcorn auf einen Schocker à la Scream ein. Mittlerweile war das aber nichts mehr für ihre angeknacksten Nerven. Schließlich wurden die ihren schon bis zum Anschlag strapaziert und waren frisch in flauschige Watte eingepackt. Und das soll genauso bleiben, beschloss sie im Geiste. Bloß eine ergiebige Popcornparty der gezuckerten Art gab sie weiterhin gelegentlich abends für sich selbst, wenn sie sich eine Komödie oder einen Kitschfilm reinzog. Ein Gaumenreiz als Überbleibsel von früher. Damit meinte sie ihre ausgelassene, sorgenlose Zeit, als jede ihrer Körperzellen glücklich war. Als sie seelisch unbeschädigt war. Jetzt sah sie sich unmöglich in der Lage, einen weiteren Thrill in ihrem Leben zu ertragen. Nicht seit ihrem persönlichen Tag X in ihrer Lebensakte. Und das wenige Wochen vor Halloween, wenn das Programm schon jetzt ein mehr als reichhaltiges Angebot auffuhr. Ich hab die Schnauze gestrichen voll, dachte sich Emma und schwor sich hoch und heilig, künftig jeglichen Gefahren auszuweichen. Keine offensichtlichen Schlaglöcher mehr in ihrem Leben, in die sie mit voller Wucht hereinrauschen würde.
Zumindest bot ihr neues Heim genügend Ruhe für ihre empfindlichen Nerven. Ein altes Bauernhaus in Untergrainau, wenige Kilometer von Garmisch-Partenkirchen, in das sie erst vor ein paar Monaten eingezogen war. Neuanfang im Neuland. Es war der perfekte idyllische Platz, um zu seinen inneren Frieden zu finden. Das galt selbst für Fuchs und Hase, die sich hier in der wild wuchernden Natur dem Anschein nach gute Nacht sagten. Die Stille in der alpinen Region war eine Wohltat, insbesondere für angekratzte Personen wie Emma. Gänzlich anders als ihr lautes, chaotisches Leben in der Bundeshauptstadt, wie sie es sonst gewohnt war. Und dieses Mal hatte sie eigenständig dafür gesorgt. Niemand anderes. Emma liebte es, wenn sie unabhängig war und sich selbst helfen konnte. Außenstehende um Unterstützung zu bitten, war ihr ein Gräuel, von dem sie Magenschmerzen bekam. Ihr graute es vor jeder Abhängigkeit, die mit gewissen Personen oder Ereignissen einherging. Angewiesen zu sein war eine unerträgliche Vorstellung für sie, dagegen wehrte sie sich mit Händen und Füßen. Selbst ist die Frau. So Emmas Devise. Daher hatte sie bei ihrem ländlichen Umzug in das Zugspitzdorf vor drei Monaten alles selbst organisiert.
Die Angst vor dem Alleinsein, die sie seit dem grauenhaften Erlebnis fest umklammerte, bettelte endlich um Auflösung. Einer Therapie, der sie sich aufgrund des erschütternden Ereignisses drei Jahre lang unterzog, hatte ihr zwar anfangs streckenweise geholfen. Das Ergebnis war allerdings futsch, als sie damals im dritten Monat ihr Baby verlor und sich ihr Zustand wieder verschlimmerte, weil das Geschehene erneut in ihr aufflackerte. Zu jener Zeit hatte Emma mit ihrem heutigen Ex-Freund den Gang zum Standesamt geplant, denn als Mutter unverheiratet zu sein, empfand sie als kleine Sünde. Sie hatte sich das Kind zutiefst gewünscht, mit ihm wäre sie nie wieder allein gewesen, höchstens irgendwann alleinerziehend. Solche Erinnerungen ließen sie traurig werden. Sie putzte sich die leicht in Gang getretene feuchte Nase. Wie ein Diamant funkelte dabei ihr silbriger Nasenstecker, den sie sich kurz vor einer wilden Partynacht in Berlin hatte stechen lassen und den sie seitdem ständig trug. So halbwegs das Einzige, was sie an ihr früheres, souveränes Ich erinnerte. Neben den vereinzelt getragenen Kleidungsstücken, die sie durch Lederoptik und Nietenbesatz rockig und frech wirken ließen. Das waren Zeiten, als mein Leben nur aus Feiern, Jungs und Shoppingorgien bestand, seufzte sie und sah auf ihre abgelatschten schwarzen Treter, die trotz der neu beklebten Strasssteine längst fällig zum Aussortieren gewesen wären. Und die als Straßenschuhe gar nicht ins Wohnzimmer gehörten. Ursprünglich. Aber ihre Lieblinge konnte sie unmöglich im Flur stehen lassen. Schon der kleinste Gedanke daran brach ihr das Herz und daher wandelte sie sie abends konsequent in ihre Hausschuhe um. Schwarz trug sie bis jetzt gerne, weil es ihrem eher pessimistischen Blick auf die Welt entsprach. Nun war Rückzug für sie angesagt anstatt sorgloser Feten. Die effektivste Methode, ihrer Vergangenheit ein für alle Mal zu entrinnen, war in ihren Augen die Learning by Doing Praxis. Der neueste Versuch, sich ihrer Angst zu stellen. Kurzerhand hatte Emma beschlossen, nach Abschluss ihrer Uni in Berlin ein Sabbatical Year in Angriff zu nehmen und so das Erbe ihrer Lieblingsoma anzutreten, die ihr nach ihrem Tod vor einigen Monaten das alte Häuschen hinterlassen hatte. Emma hätte es nicht für möglich gehalten, dass sie, die einstige taffe, von den Männern umworbene Lederjacken-Braut, den Ereignissen entfloh und sich als junge Frau gewandelt hatte. Eine 180-Grad-Drehung, die sie durchlebte.
Sabbatical Year, wiederholte sie langsam den Begriff, so als könnte sie ihr gestartetes Vorhaben selbst nicht glauben. Ein wohlig klingender Begriff für das faulige Nichtstun, dachte sie sich. Im besten Fall würde sie sich in ihr Wohnzimmer verschanzen, um dort reihenweise Bücher über seltene Tierarten zu verschlingen und sich ihrer neu entdeckten Leidenschaft, der Tier- und Pflanzenfotografie, zu widmen. Sie wusste längst Bescheid über die überwältigende Artenvielfalt, der sie hier bei Wanderungen, nicht nur im nahegelegenen Huberpark, begegnen würde.
Zuletzt hatte sie bei einem stundenlangen Spaziergang durch die Bergregion selten gewordene Breitblättrige Rohrkolben, die gerne als Mooskolben bezeichnet werden, entdeckt und mit der Kamera festgehalten. Sogar einen seltenen Alpenbock hatte sie zufällig am Rande eines gerodeten Waldstücks gesehen, der zu den schönsten und größten Käfern Europas zählt. Sie betrachtete es als neue Herausforderung, sämtliche landschaftliche Schönheiten zu erkunden und sich damit erfolgreich abzulenken.
Die größte Herausforderung, der sie sich annehmen musste, war aber, sich ihrer inneren Panik zu stellen, und das möglichst weit weg von ihrem einst vertrauten Zuhause. Auge um Auge. Und seit dem traumatischen Erlebnis ihre bittere Vergangenheit, soweit ihr dies möglich war, zurückzulassen. Eine Therapie, die keine Stange Geld kostet, nur etwas Durchhaltevermögen und eisernen Willen. Wo hätte das besser für sie funktionieren können als in einem anspruchslos gehaltenen, ländlichen Bauernhaus, das nur einen unmittelbaren Nachbarn hat? Wo sie vollkommen auf sich gestellt war? Wo sie die Angst, die sie regelmäßig lähmte, fühlen und bekämpfen konnte? Einen räumlichen und seelischen Neuanfang, der ihr irgendwann ein neues Leben ohne Angst bescheren sollte. Das Haus bot zwar keinen Luxus, dennoch gab es normale Dinge wie einen Fernseher, Telefon und eine funktionierende W-Lan-Verbindung als Anschluss in die restliche Welt. Na, bitte, das ist doch schon mal was, hatte sie sich am ersten Tag ihres Einzugs gedacht und wurde positiv von dem Haus überrascht. Innerlich war sie dort auf die schlimmsten Gegebenheiten eingestellt. Mehr oder weniger. Fast hatte sie schon befürchtet, sich mit einem Plumpsklo auseinandersetzen zu müssen, wie sie es einmal vor Jahren in einem Urlaub auf einer eingeschneiten Berghütte in Österreich erlebt hatte. Schockgefrostet nannte sie dieses einprägende Erlebnis, als sie ihr nacktes Unterteil im ersten Stock des Hauses im Freien entblößte. Genauso gut hätte sie für ihr kleines Geschäft in das angrenzende Waldstück gehen können.
Aber glücklicherweise waren die Zeiten selbst in ländlicher Atmosphäre in einem noch so alten Bauernhaus vorbei. Gemütlich trank sie ein paar Schlucke ihres Milchkaffees aus ihrer Lieblingstasse, einer ovalen dunkelgrünen Keramiktasse, und stellte bei ihrem Blick aus dem großen, mit dunklem Holz umkleideten Panoramafenster in ihrem Wohnzimmer fest, dass der goldene Oktober in der Zugspitzregion Einzug hielt. Klarer Abendhimmel. Die Baumkronen der umliegenden Ahornbäume leuchteten in Gelb, Orange und roten Tönen, die einer Farbexplosion glichen. Ein echter Hingucker vor dem imposanten Alpenpanorama waren die in diesem Jahr letzten, üppig gedeihenden Geranien, die bunt gestreut von dem gegenüberliegenden dunkelbraunen Holzbalkon hingen. Beim genaueren Hinsehen entdeckte Emma vor dem Nachbarhaus zum ersten Mal eine angsteinflößende Vogelscheuche, die aus Stroh und zerfledderten Kleidungsstücken zusammengesetzt war und die vor einer angebauten Maispflanze in einem wuchtigen Kübel thronte. Wegen des steinigen Untergrunds war es in diesem bergigen Gebiet unmöglich, Maisfelder anzubauen. Daher lebten die landwirtschaftlichen Betriebe hier hauptsächlich von Wiesen- und Viehwirtschaft, deren Stroh in den zahlreich in der Umgebung gestreuten kleinen Holzhütten lagerte.
Die Vogelschreck-Methode musste ein neuer Einfall der Schafsmama sein. So nannte Emma ihre Nachbarin, die wie jeden Abend fast pünktlich um Schlag 19 Uhr aus der Haustüre trat und so wie eben nicht weit von Emmas Fenster ihre Schafe in den Stall leitete.
Längst hatte Emma beim Vorbeigehen Freundschaft mit den nebenan in der Wiese eingezäunten Schafen der Nachbarin geschlossen, die allesamt stattliche Halsbänder trugen. Lisa, Loni, ein frisch geborenes namenloses Lämmchen … und Lenz, ein schwarzer Bock in der Schafsfamilie. Ab und an pflückte sie den Tierchen ein paar am Wegesrand wachsende Gräser und schmiss sie ihnen ins Gehege. Damit befasste sich Emma gerne als Abwechslung, wenn sie schon einen kleinen Nutztierzoo vor der Haustüre hatte.
»Servus, Emma«, grüßte Wilhelmine Meiringer von weitem sie lächelnd mit einem Handgruß. Emma winkte freudig, ihren Kopf aus dem Fenster streckend, zurück. Sie mochte ihre Nachbarin, die für sie etwas Tröstliches ausstrahlte. Wie eine größere Schwester, die in der Fremde auf sie aufpasste. Doch bis auf den ein oder anderen spontanen Plausch am Gartenzaun über das fade Singleleben, missglückte Männerdates und die abgeschiedene Gegend wusste sie erschreckend wenig über diese Frau. Ein bescheidener Kontakt in der einsamen Umgebung, bei dem es blieb, aber nicht bleiben sollte. Meistens nahm Emma die Schafsmama nur als weibliche Silhouette im entfernt liegenden Häuschen gegenüber wahr. Immer dann, wenn Wilhelmine Meiringers Wohnzimmer abends von einem goldgelben Licht durchflutet wurde. Dann ähnelte das Haus einem freundlichen kantigen Gesicht, das seine eckigen, mit weinroten Fensterläden umkleideten Augen öffnete. Als Bart dienten die vielen dunklen Holzbriketts, die links und rechts neben der Eingangstüre lagerten.
Dafür hatte Emma den richtigen Blick. Die Fantasie, in Gegenständen und in der Natur Gesichter zu erkennen. Pareidolie war der Fachbegriff hierfür. Sie selbst heizte seit ihrem ländlichen Umzug mit einem Ofen, was zu Anfang eine ziemliche Umstellung für Emma bedeutete. Mittlerweile hatte sie sich an ihre neue Heizquelle gewöhnt. Es war ja nicht schwer, immer mal wieder Holz nachzuschieben. Nur vor dem Holzhacken hatte sie sich bis jetzt erfolgreich gedrückt. Sie lächelte ein wenig.
Ein Rabe, der sich eine am Boden liegende Walnuss aus dem fremden Garten stibitzte, setzte sich völlig unbeteiligt auf den rechten Arm des Konstrukts und flog nach einem kurzen Verweilen mit der errungenen Beute davon.
Glückspilz, gratulierte Emma dem Vogel schmunzelnd zu seinem Diebesgut. Der schweifende Blick in die Ferne gab Emma die Beruhigung, nach der sie sich insgeheim sehnte. Und für die ich hierhergekommen bin. Endlich mal eine richtige Entscheidung getroffen, dachte sie und zwirbelte eine dicke Haarsträhne zusammen. Eine stinknormale Frauenpraktik, bei der sie innerlich etwas herunterfuhr und die für Emma die beste Strategie darstellte. Zumindest besser, als sich im Frauenclub der unappetitlich aussehenden, abgekauten Fingernägel wiederzufinden, dachte sie. Verdammt.
Aufgeschreckt sah Emma auf ihre Uhr. 20:37 Uhr. Gleich war es wieder so weit. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als die grauenhaften fünf Minuten des Tages zu überstehen. Fünf Minuten, die sich in ihr eingebrannt hatten. Eine Narbe auf ihrer Seele, die sie nie wieder loswerden würde. Zwanghaft fixierte sie mit ihren Augen die Handinnenflächen und verfiel in Schockstarre, während sie auf das Ereignis wartete, das gleich einsetzen würde.
Erste Blutstropfen traten aus ihren Händen und bahnten sich ihren Weg entlang ihrer schmalen Handgelenke. Altes, vertrocknetes Blut, das weiterhin zum Vorschein kam und sich dennoch frisch anfühlte. Zu frisch. Ihre digitale Uhr sprang auf 20:38 Uhr. Die längste Zeit des Tages war für sie hereingebrochen, in der ihre größte Angst sie überwältigte und sie in einen Abgrund aus Finsternis schleuderte. In ihr heulte ein Orkan, der jeden klaren Gedanken unmöglich werden ließ und die Welt mit Dunkelheit erfüllte.
Zwischen Gut und Böse liegt ein schmaler Grat
Tanja rang mit den Tränen, deren Fülle bei jedem Wimpernschlag größer wurde und kurz vor dem Ausbrechen stand. Reiß dich zusammen, du Weichei, ermahnte sie sich streng und betrachtete ihr mattes, eingefallenes Gesicht in dem großen Schrankspiegel des Ärztezimmers. Eine weißliche Narbe, die von einem früheren Unfall stammte, zierte Tanjas Kinn. Sie weinte nur noch äußerst selten, was mit einer strengen Erziehung einherging. Willst du kämpfen oder aufgeben, mmhh?, traten ihre verhärteten Gedanken erneut bei ihrem Anblick hervor. Du bist nicht wie dieser Loser. Ihre Augen schielten auf das veraltete Ärztefoto von vor einem Jahr, das bis heute die Wand mit Walter Saalhoff schmückte und den sie bis jetzt in ihrer Kontaktliste abgespeichert hatte. »Eingebildeter Mistkerl«, knurrte sie vor sich her und warf einen raschen Blick auf die Uhr. Die letzten Minuten ihrer Mittagspause waren angebrochen. Tanja schob ihr gedankliches Trümmerfeld beiseite und düste zu ihrem nächsten Patienten ab. Sie holte tief Luft, bevor sie die Tür öffnete. Ihre persönliche Tür, hinter der die alte Bestie auf sie lauerte, mit der sie seit einer geschlagenen Woche fast jeden Morgen zu kämpfen hatte. Wie eine belastende, ernstzunehmende Grippe, die sie nicht mehr loswurde. Ein lästiger Parasit, der sich in ihr festgesaugt hatte.
»Hallo Medina«, grüßte sie eine raue männliche Stimme.
»Ich heiße nicht so und das wissen Sie.« Sie tippte sich mit ihrem Zeigefinger kurz auf ihr silbrig unterlegtes, metallenes Namensschild, auf dem der Name Dr. Tanja Talovski lesbar war.
»Klar, Schätzchen. Aber Medina ist doch ein äußerst anziehender Name, nicht wahr?«
Sie presste die Lippen zusammen. Wütend auf ihn – und auf sich selbst. Sie stand kurz davor, sich auf die Idee eines völlig Fremden einzulassen. Auf etwas, das ihr die Haare gewaltig aufstellte, und auf Dinge, vor denen sie sich gewöhnlich sträubte. Aber es war die letzte Möglichkeit. Das einzige Fünkchen Hoffnung. Aussicht auf eine hereinschwappende Schönwetterfront.
»Der erste Versuch mit dieser Dame lief schon reibungslos. Gäben wir nicht ein erfolgreiches Team? Unsere Verbindung wird zu deinen Gunsten ausfallen«, redete er weiter ungehalten auf sie ein.
»Diese Frau war doch Ihr Verdienst und nicht meiner. Ich habe nichts, rein gar nichts damit zu tun«, wehrte sie energisch ab.
»Ich weiß, Schätzchen. Bisher nicht … Aber der Erfolg kommt dir zugute, wenn du einsteigst. So ist das bei einem Team.«
Tanja sah verunsichert zu Boden. Nach außen hin gab sie weiter den Eisblock, aber innerlich merkte sie, wie die Bestie sie weichgeklopft hatte.
»Denk daran, was ich dir versprochen habe … Ist das nicht Lohn genug?«, stocherte der alte Typ weiter in ihrem Gewissen.
»Und was ist, wenn mich jemand künftig verrät? Dann war‘s das für mich. Ich kann das nicht. Herr Naulich, bitte.«
»Doch, doch. Du kannst und du wirst mir liefern. Keine Widerrede.« Die Stimme wurde energischer. »Ich merke doch, dass du es kannst und willst. Du sitzt ohnehin an der sprudelnden Quelle.« Seine buschigen, grauschwarzen Augenbrauen, die schon länger nicht mehr in Schwung gebracht wurden, zog er dabei bedrohlich nach oben.
»Aber bitte nur das Beste. Kein Durchschnitt. Nur Einser mit Sternchen, klar?«, fügte er hinzu. »Du kennst meinen Plan. Reine Ware ist Goldwert und führt dich zu deinem Ziel. Zu deinem größten Wunsch.«
Tanjas Kopf ratterte. Wer war dieser alte Mann, der haufenweise Macht ausstrahlte? Der ihr das Gefühl vermittelte, unter seiner Führung an der richtigen Adresse zu sein? Naulich, Naulich, überlegte sie fiebrig. Bin ich ihm schon mal begegnet? Seit Tagen wühlte sie vergebens in ihrem Kopf, aber sie erinnerte sich nicht.
»Wieso ich?«, fragte sie verunsichert.
»Weil du etwas hast, was viele andere nicht haben.«
»Und was ist das?«
»Mut«, antwortete Naulich knapp. »Eine mutige Frau muss belohnt werden.«
»Tssss«, zischte sie mit schmalen Lippen. Sie hatte es satt, seit Tagen von der Bestie mental eingelullt zu werden.
Vorsichtig beugte sich Tanja zu ihm herunter. »Wenn Sie mich mit der Aktion verarschen, werde ich Sie verraten«, drohte sie ihrem Gegenüber leise.
»Du drohst mir, meine Liebe?« Er lachte hörbar auf. »Du bist nicht in der richtigen Position dafür. Sei besser dankbar, dass du mir begegnet bist. Und für dein Gott gegebenes Leben.«
Tanja hantierte neben ihm mit einem Fläschchen Kochsalzlösung und beugte sich anschließend über seinen vom Alter gezeichneten Schädel, der ein wenig an einen Truthahn erinnerte.
»Sieh an, sieh an. Ist er das?«, fragte die alte Fratze, deren Gesicht mit reichlich Falten überzogen war.
Sie nickte mit gefrorener Miene und steckte sich blitzschnell die herausgefallene Halskette zurück in ihren Pullover. Tanja wusste, dass sie in Not war. Sie musste sich an jeden möglichen Strohhalm klammern, der ihr gereicht wurde.
»Vergiss nicht: Ich werde dir das größte Geschenk deines Lebens machen, wenn du die Aufgaben pflichtbewusst erfüllst.« Er umklammerte mit seiner Hand sanft ihr Handgelenk. »Eine Hand wäscht immer die andere«, flötete er und streckte ihr versöhnlich seine deutlich mit dunklen Härchen versehene Hand entgegen.
»Und Sie können so etwas in die Praxis umsetzen?«, fragte Tanja misstrauisch nach und warf nochmals kontrollierend einen Blick in seine Patientenakte. Professor Dr. Zederik Naulich. Den Namen, den sie seit seiner Aufnahme in die Klinik gelesen und längst innerlich aufgesogen hatte.
»Willst du ernsthaft an mir und meinem Können zweifeln?«, fragte er sie zeitgleich. Naulich schüttelte ungläubig den Kopf. »Na, schön. Vergessen wir es. Vergiss alles, was ich gesagt habe. Die Sache ist für mich gegessen.« Trotzig wandte er sich mit seinen Augen von Tanja ab.
»Hören Sie … Das war nicht so gemeint. Ich steige ein«, ruderte sie plötzlich zurück. »Die Sache gilt.« Tanja presste ihre dünnen, kaum zu erkennenden Lippen aufeinander. Ohne ein Lächeln und mit kaltem Handschlag besiegelte sie die Vereinbarung mit dem speziellen Patienten.
»Na, bitte. War das so schwer? Manche Menschen muss man zu ihrem Glück zwingen«, beschwerte sich der grauhaarige Mann. »Dann gratuliere ich dir für diese beträchtliche Entscheidung, meine Liebe. Ab sofort bist du die verantwortliche Leiterin meiner Mission. Du wirst das Projekt mit deinen scharfen Augen überwachen. Ist das nicht ein kolossales Gefühl, die Fäden selbst in der Hand zu halten?«
Sie nickte verschämt und traute sich nicht, ihre Zustimmung laut auszusprechen.
»Geh zu meinem Schrank. In dem Innenfutter der Jacke findest du den passenden Zugangsschlüssel. Zack, zack.« Mit einer unwirschen Handbewegung untermauerte der Professor seine Aussage.
Tanja folgte rasch der Anweisung. Sie holte den Schlüssel heraus und versteckte ihn pfeilschnell in ihrer weißen Hose, bevor eine hereinplatzende Krankenschwester entdecken konnte, was hier eben vorgegangen war.
»Denk daran, nur wenn meine Mission erfüllt wurde, wird dir das Geschenk zuteil. Ganz oder gar nicht. Und nur korrekt ausgesuchte Ware zählt. Es geht für mich um meinen Ruf und massenhaft Geld.« Er hob mahnend seinen sehnigen Zeigefinger. »Ich verlange saubere Arbeit. Und wehe, dir unterläuft ein einziger Fehler, verstanden?«
Tanja nickte etwas zaghaft.
»Schön. Dann wird es sich für uns beide lohnen. Bianca wird dich dort empfangen und einweisen und mit den entsprechenden Dingen vertraut machen.«
»Welche Bianca?«, fragte sie vorsichtig nach.
»Bianca Kuhlsen. Du kennst sie sicher. Sie arbeitet als Krankenschwester hier und genauso für mich«, erklärte Naulich.
»Kuhlsen von Station A? Ach ja …«, schien es ihr wieder einzufallen. »Kaum zu fassen, dass dieses zarte Pflänzchen bei Ihnen mitmacht. Haben Sie ihr auch etwas versprochen? Etwa mehr Gehalt als Krankenschwester?«, fragte Tanja spitz.
»Manchen Menschen muss man nichts versprechen. Sie glauben fest an eine Sache«, betonte Naulich.
Tanja ging beherrscht zu ihm zurück, aber innerlich hatte sie erst recht das Bedürfnis, ihm weh zu tun. Ihn dafür bluten zu lassen, dass er sie und ihre Karriere gefährdete, indem er sie zu illegalen Handlungen überredete. Sie stach ungestüm in seine Vene, was die Bestie aufzucken ließ.