KnieFall - Jürgen Edelmayer - E-Book

KnieFall E-Book

Jürgen Edelmayer

4,4

  • Herausgeber: Prolibris
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2012
Beschreibung

Tim Strecker, eigentlich Knie-Model für Werbeaufnahmen, wird zum Detektiv wider Willen. Er soll Warendiebstähle und Unterschlagungen aufklären. Unerschrocken ermittelt er drauflos. Statt zu befragen, flirtet er. Statt Informationen einzuholen, gibt er die wenigen preis, die er hat. Dann wird es ernst: Eine Leiche fällt ihm buchstäblich vor die Füße. Gut, dass er Freunde hat, die ihm helfen: Le Meur, ein französischer Kommissar im Exil, und 'Maschine', ein Computerhacker mit besten Beziehungen. Kann das Trio einen weiteren Mord verhindern?

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Seitenzahl: 230

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Jürgen Edelmayer

KnieFall

Wiesbaden Krimi

Prolibris Verlag

Dieser Roman spielt in Wiesbaden und Umgebung. Namen, Personen und Handlung sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Gewidmet Anne-Rose

– wem sonst?

1. KAPITEL

Kein Zweifel, der Mann hatte Durst. Dicke Schweißtropfen perlten auf der Stirn von Oswald Blabber, der mir seit drei Minuten gegenübersaß. Ich bot ihm ein Mineralwasser an, und der knapp fünfzigjährige, runde Mann stürzte es gierig in einem Zug runter. Er nickte dankbar, als ich ihm nachschenkte und kippte auch den Inhalt des zweiten Glases weg, ohne abzusetzen. Ich holte eine neue Flasche und stellte sie Blabber mit generöser Geste vor die Nase. Insgeheim hoffte ich aber, dass er die nicht ebenso schnell leersoff, denn mein Wasserkasten war jetzt leer.

Heute war der bisher heißeste Tag in diesem Supersommer. Wiesbaden schwitzte in seinem von den Ausläufern des Taunus’ umgebenen Kessel, und die Sonne brannte gnadenlos auf die großen Fensterscheiben meiner Dachwohnung. Die Hitze ließ die Raumtemperatur locker die Dreißiggradmarke überspringen, dabei war es erst elf Uhr vormittags.

Der kleine Tischventilator gab sicher sein Bestes. Ich hatte ihn auf höchste Stufe gestellt, aber sein Wirkungsbereich endete leider ungefähr fünf Zentimeter hinter dem Schutzgitter. Auch hatte er bei hoher Umdrehungszahl die Angewohnheit, ständig umzukippen, denn sein Standfuß war nicht stabil genug. Also war ich alle paar Sekunden damit beschäftigt, den Luftquirl wieder aufzurichten, den meine Mutter mir als Werbegeschenk von einer ihrer Butterfahrten mitgebracht hatte.

Wie in jedem anständigen Detektivbüro gab es hier zwar noch einen gigantischen Deckenventilator mit riesigen Flügeln, aber der war schon kaputt, als ich in die Wohnung einzog. Auf den Rotorblättern lag eine mehrere Zentimeter dicke Staubschicht, in der die Schmeißfliegen versanken, kaum dass sie sich darauf niedergelassen hatten. So ersparte ich mir zwar den Anblick toter Fliegen auf Klebebändern (die ich als Vegetarier und Tierfreund sowieso nicht benutzen würde), aber schöner war das, was über Blabbers und meinem Kopf zu sehen war, deshalb noch lange nicht. Ich hoffte, dass mein Klient nicht zur Decke schauen würde, aber genau das tat Oswald Blabber in diesem Moment, denn er war meinem Blick gefolgt. Angewidert schob er das Glas von sich und lehnte sich zurück.

Etwas Feuchtwarmes fuhr in regelmäßigen Abständen über meine Zehen, die vorne aus meinen Sandalen herausragten. Fatzo, Blabbers gut fünfzig Kilogramm schwerer Rottweilermischling, schlabberte meinen Fuß mit seiner Zunge ab und unterband meinen vorsichtigen Versuch, das Bein zurückzuziehen, indem er seine Pranke auf meinen Fußrücken legte und ein unwirsches Grunzen von sich gab.

Ich einigte mich mit dem Köter darauf, ihm meinen Fuß zu überlassen, wenn er dafür meine Knie in Ruhe ließ. Es war eine einseitige Abmachung und es war mehr als fraglich, ob ich auf ihrer Einhaltung bestehen würde. Wahrscheinlich eher nicht, obwohl ich meine Beine noch heute unbeschadet für Werbeaufnahmen in Sigrids Fotostudio in Taunusstein zu präsentieren hatte. Als Teilkörpermodell war ich auf die Makellosigkeit meiner Knie mindestens ebenso angewiesen wie auf den Job als unerschrockener Privatdetektiv, den Blabber mir in Aussicht stellte.

Meine Unerschrockenheit reichte allerdings gerade mal für ein flehentliches »Bitte nicht!«, als Fatzos Krallen über meine Kniescheiben fuhren und dort ein paar blutigrote Striemen hinterließen. Blabber reagierte immerhin, wenn auch spät, und zerrte Fatzo von mir weg. Der Rottweilermischling schüttelte sich und plumpste so hart neben Blabbers Stuhl, dass der Boden zitterte. Ich schickte dem Monstrum einen wütenden Blick hinterher und widmete mich wieder meinem Klienten. Der fingerte gerade eine Zigarette aus der Brusttasche seines verschwitzten Hemdes und hielt den Giftstängel unentschlossen in der rechten Hand.

»Haben Sie etwas dagegen ...«

»Habe ich«, erwiderte ich schroff. Erstens war es mir unbegreiflich, wie man bei dieser Hitze rauchen konnte, und zweitens war ich immer noch sauer darüber, dass Fatzo mir die Knie zerschrammt hatte. Dafür würde Blabber bluten müssen, aber anders als ich, nämlich in bar, sobald es darum ging, die Honorarfrage zu klären.

Privatdetektiv, das hört sich entweder nach Freiheit und Abenteuer oder nach miesen kleinen Schnüfflerjobs an, je nachdem von welchem Ende der Karriereleiter man das betrachten will. Ich habe noch nicht einmal eine Lizenz und deswegen inseriere ich auch nicht unter dieser Berufsbezeichnung. Die Leute, die zu mir kommen und auf die mit meinem Namen, Tim Strecker, beschriftete Türklingel drücken, haben in der Regel auf folgende Kleinanzeige geantwortet: »info-hunt. Arbeiten aller Art. Diskretion Ehrensache!« Darunter dann die E-Mail Adresse, die ich bei einer dieser so genannten Kommunikationsplattformen eingerichtet habe. Das mit der Ehrensache zieht bei Typen wie Blabber anscheinend gut.

Damals, als ich innerhalb weniger Stunden Job, Frau und Wohnung verloren hatte und nicht wusste, was ich nun mit mir anfangen sollte, also etwa zwei Wochen bevor Oswald Blabber mich aufsuchte, hatte mich ein Kumpel auf die Idee mit der Anzeige gebracht. Bezeichnenderweise habe ich den Kerl seither nicht mehr wiedergesehen. Allerdings fielen für einen Vierundvierzigjährigen wie mich die Jobs nicht gerade haufenweise vom Himmel. Zumal ich über keine abgeschlossene Berufsausbildung verfügte.

Wer als Klient zu mir kommt, ist in der Regel mein Hauptverdächtiger. Welcher normale Mensch würde schon die in meiner Anzeige offerierten Dienste in Anspruch nehmen, wenn er andere Möglichkeiten hätte? Zur Polizei gehen, zum Beispiel, oder sich an eine richtige Privatdetektei wenden. Eine mit Lizenz, guten Kontakten zu den Bullen und was sonst noch so dazugehört. Die Antwort lautet ganz einfach: Weil meine Klienten selbst Dreck am Stecken haben. So ist das.

Ich betrachtete den mir gegenüber schwitzenden Blabber und fragte mich, wann er wohl mit seinem wirklichen Problem herausrücken würde. Bis jetzt jedenfalls schien mir das, was er von sich gegeben hatte, den Besuch bei mir nicht zu rechtfertigen. Nachdem Blabber die Fluppe seufzend wieder weggesteckt hatte, versuchte ich eine geschäftsmäßige Miene aufzusetzen und beugte mich nach vorn.

»Ich fasse jetzt einmal zusammen, Herr Blabber. Sie sind der Marktleiter dieses großen Supermarktes an der Mainzer Straße, Kaufdas mit Namen.«

»Ganz recht, Herr Strecker.«

»Sie verdächtigen Ihren Lagerarbeiter Freddy Kissler der Unterschlagung, sowohl von Waren als auch von Bargeld, und Sie möchten, dass ich ihn überführe.«

Blabber nickte schnell und heftig. »Wir reden hier nicht nur über Butter und Käse«, sagte er und beugte sich nach vorn, um seinen Worten mehr Gewicht zu verleihen.

Noch einen Zentimeter weiter und er kippt vom Stuhl, dachte ich.

»Bei Kaufdas führen wir auch ein umfangreiches Sortiment an Kleidung und elektronischen Geräten.«

»Aber wie ist es möglich, dass Herr Kissler Geld aus der Kasse entwendet, wenn er im Lager tätig ist?«

Blabber sah mich an, als müsse er mir die Welt erklären. »Kissler arbeitet hauptsächlich« – er betonte das Wort und sein Kinn ruckte energisch nach unten – »als Lagerarbeiter und hat auch einen entsprechenden Arbeitsvertrag. Wie jedes moderne und kundenorientierte Unternehmen verlangen aber auch wir bei Kaufdas ein gewisses Maß an Flexibilität von unseren Mitarbeitern. Wenn irgendwo Not am Mann ist, springt einer von der anderen Abteilung ein.«

Nach ein paar Sekunden Überlegung übersetzte ich mir Blabbers Äußerung so, dass bei Kaufdas permanenter Personalmangel herrschte und daher ständig irgendwer irgendwo einspringen musste. Ich zückte meinen Notizblock und schrieb dick das Wort Kapitalistenschwein auf eine leere Seite. Dann strich ich es wieder durch, weil ich Schweine gut leiden mag und die armen Tiere nicht beleidigen wollte, aber auch, weil ich Blabbers misstrauischen Blick spürte.

»Wie kommen Sie darauf, dass Freddy Kissler Sie hintergeht? Welche Anhaltspunkte haben Sie dafür?«

»Er muss es sein«, antwortete Blabber, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor seiner Brust, als sei damit alles erklärt.

Ich schaute ihn fragend an und wartete, bis der Marktleiter sich zu weiteren Auskünften bequemte.

»Kissler ist der Einzige von der Belegschaft, der mir ständig Schwierigkeiten macht. Sieht man einmal von den üblichen Problemen mit dem Personal ab, von denen ich hier gar nicht reden will, wie zum Beispiel Krankheit, Unpünktlichkeit und so weiter. Immer wieder droht Kissler, mich bei allen möglichen Behörden zu denunzieren. Ich wüsste wirklich nicht weswegen. Aber wissen Sie, was er zu mir gesagt hat? Mir ist jedes Mittel recht, wenn ich Ihnen schaden kann!«

»Hm.« Ich war noch nicht überzeugt, aber Blabber schaute jetzt so abweisend drein, dass es momentan wohl keinen Sinn hatte, weiter in ihn zu dringen. Also beschloss ich, mich dem Fall von anderer Seite her zu nähern.

»Eine andere Frage, Herr Blabber, warum sind Sie zu mir gekommen? Ich meine, bei einem konkreten Verdacht hätten Sie doch auch die Polizei informieren können.«

»Ich wollte diese leidige Angelegenheit nicht gleich an die ganz große Glocke hängen. Wenn ich eine Strafanzeige stelle, trete ich womöglich eine Lawine mit ungeahnten Konsequenzen los.«

Diese Befürchtung schien mir nicht unbegründet zu sein.

»Bliebe für Sie immer noch die Möglichkeit, eine reguläre Detektei zu engagieren«, insistierte ich.

»Das habe ich versucht«, platzte der Marktleiter heraus. »Wissen Sie, was das kostet?«

Ich senkte schnell den Kopf , damit ich Blabber nicht offen ins Gesicht grinste. Das hätte ich mir gleich denken können. Natürlich, der Mann wollte Geld sparen! Ich kramte wieder meinen Notizblock hervor und setzte ein dickes Ausrufezeichen neben das durchgestrichene Kapitalistenschwein. Insgeheim beschloss ich, die Höhe meines Tagessatzes künftig kräftig nach oben zu korrigieren.

Um ehrlich zu sein, Oswald Blabber war mein erster Klient.

Ich inserierte ja erst seit knapp zwei Wochen und verfügte bisher über keinerlei Berufserfahrung. Das, was ich vorhin gesagt habe, von wegen meine Klienten hätten in der Regel Dreck am Stecken, war etwas dick aufgetragen, zugegeben. Es entsprang eher meiner eigenen Voreingenommenheit und entbehrte, zumindest zu diesem Zeitpunkt, jeder Grundlage. Dass Blabber ein Pfennigfuchser war und sparte, wo er nur konnte, war ihm hingegen kilometerweit anzusehen. Das brachte mich zu meiner nächsten Frage.

»Hat Herr Kissler irgendwann in letzter Zeit mehr Gehalt von Ihnen verlangt?«

»In letzter Zeit?«, blaffte Blabber. »Kissler liegt mir ständig in den Ohren, dass er angeblich zu wenig Geld bekommt.«

»Und? Stimmt es?«

»Natürlich nicht.« Blabber schaute beleidigt.

»Möglich, dass er versucht, sich anderweitig schadlos zu halten.«

Blabber beugte sich zu mir über den Schreibtisch. »Ich glaube, Sie sind auf dem richtigen Weg.«

Sein Drängen gefiel mir nicht, aber Blabbers wieder gehobene Stimmung kam mir gelegen, um auf meine Forderungen zu sprechen zu kommen. »Zweihundert für die ersten drei Tage, heute eingerechnet. Danach erhalten Sie einen Zwischenbericht und können entscheiden, ob Sie mich weiter engagieren wollen.«

Zu meiner Überraschung ging Oswald Blabber nicht nur ohne Widerspruch auf meine Forderung ein, er legte sogar noch einen Fünfziger drauf.

»Ich glaube, Sie sind der richtige Mann«, sagte er. Seine Gesichtszüge wurden plötzlich weich. »Bitte helfen Sie mir. Ich weiß gute Arbeit zu schätzen. Es soll Ihr Schade nicht sein.« Er sah mich jetzt beinahe flehentlich an. Ich erkannte seinen Gesichtsausdruck als den eines Mannes, der in großen Schwierigkeiten steckte, und schämte mich, so vorschnell und abfällig über ihn geurteilt zu haben. Außerdem wusste ich gutes Geld zu schätzen, besonders, wenn es anscheinend so leicht verdient war wie dieses hier. Ich stopfte die Banknoten in die Schreibtischschublade, und Blabber verabschiedete sich.

Fatzo war offensichtlich froh, aus der heißen Wohnung zu kommen, denn vom Treppenhaus her hörte ich lautes Gepolter, stampfende Schritte und zwischendurch Blabbers mit Flüchen durchsetzte Kommandos.

Ich zog die Schreibtischschublade wieder auf und ließ die Scheine in meiner Hand knistern. Zweihundertfünfzig Euro. Nicht schlecht für ein bisschen Rumschnüffeln. Dann fiel mir wieder ein, dass ich ja heute Nachmittag ein Fotoshooting bei Sigrid hatte, was meine Laune schlagartig dämpfte. Ich begab mich in die Küche, in der gleichzeitig mein Badezimmer, bestehend aus Duschkabine und Rasierspiegel, untergebracht war, und pinselte etwas Jod auf die Striemen, die Fatzo mir beigebracht hatte. Das Ergebnis machte mich mutlos. Ich konnte nur hoffen, dass Sigrid etwas Schminke besaß, mit der sich die Schrammen vertuschen ließen.

Es war spät geworden, und ich musste mich sputen, wenn ich den Bus nach Taunusstein noch erreichen wollte. Vor lauter Eile vergaß ich wieder einmal meinen Hausschlüssel einzustecken. Das war jedoch nicht weiter schlimm, da ich im Außenklo meines Nachbarn im Erdgeschoss einen Ersatzschlüssel deponiert hatte.

Die nächste Haltestelle für die Überland-Busse befand sich um die Ecke in der Emser Straße am Dürerplatz. Der Weg nach Taunusstein war der erste Teil der Strecke, die nach weiteren 45 Kilometern zu jenem Dorf führte, wo ich mit meiner Freundin gelebt hatte.

Während ich im Abgasdunst auf den Bus wartete, erinnerte ich mich an diese gar nicht so lange zurückliegende Zeit, als ich noch zusammen mit meiner Freundin in einem kleinen Dorf wohnte. Das Leben auf dem Land ist wirklich anders als in der Stadt. Im Dorf spionieren einem die Leute nicht hinter halb zugezogenen Gardinen nach, sondern Sie starren einem minutenlang auf offener Straße hinterher, besonders wenn man fremd ist. Wenn man zugereist ist, kann es mitunter Jahre dauern, bis man zurückgegrüßt wird. Das ist in der Stadt nicht so. Hier dauert es manchmal ein ganzes Leben lang.

Als der Bus kam, fläzte ich mich auf eine Sitzbank und vertiefte mich in einen Krimi. Da es mir nicht gelang, meine Aufmerksamkeit dem Buch zu widmen, packte ich es wieder in meinen kleinen Rucksack und griff nach Papier und Kugelschreiber. Auf der obersten Seite meines Notizblocks stand ein durchgestrichenes Wort und daneben ein dickes Ausrufezeichen. Ich klappte das Blatt um und versuchte, mich an das Gespräch mit Oswald Blabber zu erinnern. Zwar hatte ich während der Unterredung mit dem Marktleiter heimlich ein Tonbandgerät mitlaufen lassen, aber dies war nun mal mein erster Fall, und bevor ich losfuhr, hatte ich keine Zeit mehr gehabt, die Aufzeichnung abzuhören.

Viel war es sowieso nicht, was ich an verwertbaren Informationen in dem Gespräch zusammengetragen hatte. Der Bus neigte sich gerade in die Felsenkurve hinter dem Adamstal, und schon hatte ich meine Notizen beendet. Es blieb mir noch genug Zeit zu überlegen, wie ich vorgehen wollte. Nach und nach wurden mir die durch meine Unprofessionalität bedingten Unterlassungssünden bewusst. Ich hatte zum Beispiel keine Ahnung, wie der von Blabber verdächtigte Freddy Kissler überhaupt aussah. Ich hoffte, dass das nicht allzu sehr ins Gewicht fallen würde.

Der Bus bog hinter dem Hahner Ortsschild links ab in Richtung Bleidenstadt. Ich drückte den Halteknopf und stieg an der nächsten Station aus. Mir war eingefallen, dass sich hier, entlang der Aarstraße, mehrere Großmärkte befanden, und da ich nun bis zum Fotoshooting noch etwas Zeit hatte, hielt ich es für eine gute Idee, einen davon zu besuchen und mich mit der Atmosphäre vertraut zu machen. Bisher hatte ich das Einkaufen gern anderen überlassen, wohl auch deshalb hatte ich mir den Unmut meiner Freundin zugezogen. Ich besorgte mir einen Einkaufswagen und nahm einen der im Eingangsbereich ausliegenden Prospekte.

Zuerst fielen mir die an der Decke aufgehängten, großformatigen Schilder auf: »Sie bekommen zwei Euro fünfzig von uns, wenn Sie an unseren Kassen länger als zehn Minuten warten müssen!« Weiter hinten, gegenüber der Käsetheke, stand eine hohe Glasbox auf einem Tischchen, daneben lagen ein mit Kordel am Tisch befestigter Bleistift und ein Stapel Zettel mit dem Aufdruck: »Als Kunde habe ich folgende Verbesserungsvorschläge.«

Ich eierte mit meinem immer noch leeren Einkaufswagen zwischen den hohen Regalen entlang und fühlte mich von dem Warenangebot völlig überfordert. Vor mir kniete eine Frau. Sie war etwa Mitte fünfzig und räumte Dosen in das unterste Regalfach. Als sie mich kommen sah, erhob sie sich mit einem Seufzer, um mir Platz zu machen. Ich schob mit dem Wagen rechts um die nächste Abbiegung und erreichte wieder den Tisch mit der Glasbox. Dort schnappte ich mir einen der Zettel und schrieb: »Sorgt gefälligst für anständige Arbeitsbedingungen eures Personals und zahlt ihnen anständige Gehälter!«

Auf Einkauf hatte ich keine Lust mehr. Ich ließ meinen Wagen neben der Glasbox stehen und begab mich zu den Kassen. Dort ließ man mich jedoch nicht so ohne Weiteres durch. Als Nichtkäufer hatte ich mich dort an eine äußerst streng und missbilligend dreinblickende Angestellte zu wenden, die über die Macht verfügte, mittels Knopfdruck die Drehtür nach außen zu öffnen. Eine gezielte Demütigung für Konsumunwillige, die unter anderem die Funktion hatte, unsichere Marktbesucher einzuschüchtern, damit sie irgendetwas kauften, wenn sie das, was sie eigentlich benötigten, nicht bekommen hatten. Ich jedenfalls hatte genug von diesem Laden und machte mich auf den Weg zu Sigrids Fotostudio am Hahner Mühlfeldplatz.

2. KAPITEL

Neben meiner Tätigkeit als, na ja, Privatdetektiv, für den zumindest mein Klient Blabber mich hielt, verdiente ich also seit Neuestem einen Teil meiner Brötchen als Teilkörpermodell. Ungefähr eine Woche vor Blabbers Besuch hatte ich in kurzen Hosen am Tisch eines Straßencafés am Marktplatz gegenüber dem Wiesbadener Rathaus gesessen und versucht, für eine halbe Stunde den Sommer zu genießen und die mich drückenden Sorgen beiseitezuschieben.

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