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Kämpfe gegen die Dunkelheit – oder sie wird dich vernichten!
Charlotte und die Knights haben ihren letzten Kampf gegen Morgana nur mit Mühe und Not überstanden und stehen vollkommen unter Schock. Denn Noel wurde von Morganas Kräften übermannt und ist spurlos verschwunden. Keiner weiß, ob er noch er selbst ist oder ob ihn die Dunkelheit bereits vollkommen vereinnahmt hat. Als KORT beschließt, Jagd auf Noel zu machen, setzen Charlotte und Team Stanham alles daran, ihn vor den anderen zu finden. Ein erbarmungsloser Wettlauf mit der Zeit beginnt, bei dem nicht nur Charlottes und Noels Liebe auf dem Spiel steht, sondern das Schicksal der ganzen Welt …
Das actiongeladene Finale der großen Fantasy-Trilogie von Spiegel-Bestsellerautorin Lena Kiefer!
Alle Bände der Knights-Trilogie:
Knights – Ein gefährliches Vermächtnis (Band 1)
Knights – Ein gnadenloses Schicksal (Band 2)
Knights – Eine erbarmungslose Macht (Band 3)
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Seitenzahl: 538
LENA KIEFER
EINE ERBARMUNGSLOSE MACHT
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© 2023 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Alle Rechte vorbehalten Covergestaltung: Carolin Liepins, München, unter Verwendung mehrerer Motive von © Shutterstock.com (Regina Erofeeva, teinstud, Omelchenko, Arelix, Bokeh Blur Background) sh · Herstellung: AJ Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, PößneckISBN978-3-641-25754-5V001
www.cbj-verlag.de
Für alle, die auch gerne ein Knight wären.
ARTHUR
LANCELOT
GAWAIN
Oscar Blackwell
Noel Mayfield
Xavia Dupree
Macht
Liebe
Mut
Gerechtigkeitssinn
Vertrauen
Furchtlosigkeit
Willensstärke
Hingabe
Hoffnung
Verantwortungsgefühl
Inspiration
Zuversicht
KAY
TRISTAN
PERCIVAL
Zephaniah Marconi
Levi McGuire
Thora Lindholm
Treue
Mitgefühl
Glaube
Loyalität
Höflichkeit
Vertrauen
Ehrgefühl
Großzügigkeit
Zielstrebigkeit
Ergebenheit
Milde
Beharrlichkeit
»Was zur Hölle soll das denn?«
Ich stand in einem der oberen Stockwerke der Millennium Mills, einem verlassenen Gebäude direkt an den Docks. Morgana hatte verlangt, Noel allein zu treffen, und ihr Wunsch war mir grundsätzlich Befehl. Das bedeutete jedoch nicht, dass ich das Geschehen nicht per Fernglas im Auge behalten konnte. Der Rest unserer Truppe war im Hauptquartier geblieben, aber ich war nicht der Typ dafür, irgendwo zu sitzen und Däumchen zu drehen. Deswegen war ich hier, in der Kälte, und schaute durch zerbrochene Fensterscheiben auf die Jacht, die gerade ablegte.
Leider war ich nicht der Einzige, der beschlossen hatte, der Szenerie beizuwohnen: Mehrere Leute rannten über die Victoria Footbridge, und ich fluchte leise, als ich die blonden Haare von Charlotte Stuart erkannte, Merlin-Erbin und irgendwann garantiert der Nagel zu meinem Sarg. Natürlich war sie hier, um Noel von dem Treffen abzuhalten. Wie konnte es auch anders sein.
Hass meldete sich in mir, von dem ich wusste, dass es nicht vollständig meiner war. Dass er von unseren Vorfahren herrührte. Warum Noel und Charlotte trotzdem zusammen gewesen waren, verstand ich nicht, aber vielleicht lag es daran, dass sie sich schon vor Jahren begegnet waren. Oder Liebe war doch stärker als Hass, auch wenn ich das stark bezweifelte. Fakt war jedoch, diese Liebe war stark genug, um das dumme Mädchen dazu zu bringen, mit vollem Speed auf den Kai zu rennen und mit einem großen Satz auf die Jacht zu springen. Morgana und Noel am Bug schienen davon nichts bemerkt zu haben.
Ich überlegte, ob ich hinunterlaufen sollte, um meine Herrin zu warnen. Ich war sicher, dass sie mir meine Einmischung in diesem Fall verzeihen würde. Allerdings entfernte sich die Jacht mit jeder Sekunde weiter vom Kai, und bis ich unten war, würde sie zu weit weg sein. Außerdem … es war lächerlich, zu glauben, Charlotte könnte eine Gefahr für Morgana sein. Viel wahrscheinlicher war, dass sich gleich mehrere unserer Probleme auf einen Schlag erledigen würden. Ob mein Bruder tatsächlich überlaufen würde, konnte ich schwer einschätzen, aber er war schon länger nicht mehr mit seinem Team unterwegs gewesen, und es wurde gemunkelt, er wäre auf einer eigenen, nicht von KORT genehmigten Mission. Als er Morgana kontaktiert hatte, war der Gedanke an eine Falle naheliegend gewesen. Aber sie hatte meine Bedenken weggewischt – und immer, wenn sie mir etwas sagte, wurde es zu meiner Wahrheit. So war das eben zwischen uns.
Halbwegs beruhigt schwenkte ich daher das Fernglas zur anderen Seite und schaute nach dem Rest des Teams. Sie liefen in die entgegengesetzte Richtung, auf ein rotes Boot zu, das vermutlich der Dockaufsicht gehörte. Viel Glück dabei, dachte ich amüsiert. Wir hatten dafür gesorgt, dass niemand sonst in der Nähe war, kein Hafenpersonal oder Passanten. Und die Ausbildung bei KORT beinhaltete eine Menge, aber dass einer von ihnen ein Boot kurzschließen konnte, bezweifelte ich. Mein eigenes Team hatte es jedenfalls nicht gelernt.
Mein Handy klingelte und lenkte mich von dem Geschehen dort unten ab. Ich zog es aus der Tasche und ging ran.
»Was gibt es, Annabelle?«
»Ich wollte nur fragen, ob bei euch alles ruhig ist.« Sie klang nicht besorgt, eher genervt. Morganas Treffen mit Noel war in den Reihen unserer Leute nicht gerade auf Begeisterung gestoßen. Nach allem, was passiert war, wollte keiner von ihnen meinen Bruder auf unserer Seite sehen, aber wir waren keine Demokratie, so wie die ursprünglichen Knights. Morgana entschied und sie hatte entschieden. Daran hielten wir uns.
»Stanham ist aufgetaucht«, gab ich bereitwillig zu und hörte das Schnauben am anderen Ende.
»War ja klar. Ich habe gesagt, es ist eine Falle.«
»Nein, ich glaube nicht, dass Noel sie drum gebeten hat. Sie sind spät dran und nur Charlotte hat es auf die Jacht geschafft.«
Kurze Pause. Dann: »Na, sie wird sehen, was sie davon hat.« Offen blieb, wen Annabelle damit meinte – Morgana oder Charlotte –, aber vermutlich passte es auf beide. »Melde dich, wenn ihr fertig seid. Wir wollen heute noch in den Norden.«
»Na, dann packt schon mal«, gab ich zurück. »Ich schätze, das hier ist bald beendet.«
Annabelle legte auf, ich steckte das Telefon weg und nahm wieder mein Fernglas zur Hand, stellte es auf Nachtsicht. Kurz suchte ich das Wasser ab, fand die Jacht, sah Morgana und Noel. Er hatte ihren Arm gepackt, ein Ruck ging durch meinen Körper, als wollte er eingreifen, was unmöglich war. Ich konnte nur zusehen, und was ich sah, lähmte mich auf eine Weise, die ich nie hätte beschreiben können.
Ich wusste nicht, was davor passiert war, aber ich sah Morgana kurz darauf fallen, nicht ins Wasser, sondern ins Nichts – in einen klaffenden Riss in dieser Welt, der in eine andere führte. Ich wollte schreien, aber kein Laut kam aus meiner Kehle, so groß war mein Entsetzen. Ich hätte sie beschützen müssen. Es war meine Aufgabe gewesen, das zu tun, verdammte Scheiße! Wieso hatte ich auf sie gehört?
Aber die Schuldgefühle und die Wut auf mich selbst waren nicht alles, was mich überfiel. Da war auch Schmerz, ein heftiger, reißender Schmerz, der sich anfühlte, als würde man mir meine Eingeweide bei lebendigem Leib herausreißen. Er wurde stärker und immer gewaltiger, steigerte sich schließlich so weit, dass ich glaubte, sterben zu müssen.
Und dann … nichts mehr.
Die Leere, die der Qual folgte, war das Schlimmste, was ich je gefühlt hatte. Meine Knie machten schmerzhafte Bekanntschaft mit dem Beton, auf dem ich gerade noch gestanden hatte, und ich fiel zu Boden, ohne es verhindern zu können. Ein Wimmern entfuhr mir, kläglich und grauenvoll, bevor auch dieses Geräusch sich in Stille verwandelte. Ich schloss die Augen, ohne zu wissen, ob ich sie je wieder öffnen könnte. Oder wollte.
Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich so gelegen hatte, aber als es besser wurde und ich mich wieder bewegen konnte, fühlte ich mich anders. Leichter. Unbeschwerter. Irgendwie mehr wie ich selbst.
Ich rappelte mich auf, hievte mich auf die Knie, dann in eine aufrechte Position. Alles drehte sich vor meinen Augen, aber dann wurde das Bild wieder klar, und ich begriff, was geschehen war. Endlich begriff ich, was geschehen war.
»Oh Gott«, entfuhr es mir. »Was habe ich nur getan?«
Die Dunkelheit war überall. Genau wie die Kälte.
Mittlerweile wusste ich, warum Morganas Element das Feuer war – sie hatte es gebraucht, um nicht zu erfrieren. Denn die Düsternis, die sie in sich getragen hatte, war wie eine Million Eiszapfen, die sich jetzt in mein Innerstes bohrten. Ich hatte keine Ahnung, wie ich das auch nur einen weiteren Tag überstehen sollte. Aber das hatte man davon, wenn man sich in den Kopf setzte, eine jahrhundertealte Hexe ihrer Kräfte zu berauben.
Über mir sah ich durch das Sprossenfenster schemenhaft die Baumkronen im Mondlicht, das durch die Wipfel drang, in meinem Rücken spürte ich das Holz der Außenwand, Feuer brannte im Kamin, um die Kälte zu vertreiben. Es half nicht. Wenn ich diese Kräfte beherrschen wollte, musste ich einen anderen Weg finden, als dagegen zu kämpfen, aber gerade wusste ich nicht, welcher das sein sollte. Also hatte ich mich erst einmal in Sicherheit gebracht. Nein, falsch. Ich hatte alle anderen in Sicherheit gebracht, indem ich mich so weit wie möglich von ihnen entfernte.
Die Jagdhütte meiner Familie war das erste Ziel, das mir eingefallen war, nachdem ich aus London hatte verschwinden müssen. Wie ich das geschafft hatte, wusste ich nicht. Alles, woran ich mich erinnerte, war eine grauenhafte Leere, die mich verschluckt und wieder ausgespuckt hatte. Schatten, Nebel, Finsternis. Und plötzlich wieder Licht, zu viel Licht, zu viel Schmerz. Also hatte ich mich darauf konzentriert, einen sicheren Ort zu finden. Und war hier gelandet.
Ich erhob mich vom Boden, zittrig und schwankend. Dabei war ich nicht schwach, ganz im Gegenteil – ich konnte die gewaltige Macht in mir kaum kontrollieren. Merlin war davon ausgegangen, dass ich nicht in der Lage sein würde, Morganas Kräfte auf mich zu übertragen, ohne dabei umzukommen. Und doch hatte ich es geschafft. Nur um jetzt dem letzten Funken meines Selbst beim Sterben zuzusehen. In mir war kaum noch Licht. Kaum noch Wärme. Ich wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis die Dunkelheit vollständig übernahm. Bis von mir nichts mehr übrig sein würde. Deswegen hätte ich nur ein Ziel haben müssen: es zu beenden. Mein Leben zu beenden, um die Welt zu beschützen. Aber da war diese ganz leise Stimme, die mir zuflüsterte: Es gibt noch Hoffnung.
Sie klang wie die von Charlotte.
Nur an sie zu denken, tat so weh, dass ich glaubte, der letzte Funken in mir würde erlöschen. Alles in mir kämpfte gegen diese hellen Gefühle für sie, gegen die Reste dieser Liebe, die den Namen kaum noch verdiente. Ich wollte sie vergessen, damit es nicht mehr schmerzte. Gleichzeitig wusste ich jedoch, dass sie alles war, was mich noch am Rande der Klippe hängen ließ, bevor ich in die Tiefe stürzte.
Ich ging zur Küchenzeile hinüber, nahm eine Tasse und füllte etwas von dem heißen Tee hinein, den ich vor ein paar Minuten gemacht hatte. Der erste Schluck tat gut, der zweite weh, der dritte war unerträglich. Morganas Magie, ihre ganze Existenz war gegen die Natur gewesen, und nun spürte ich deutlich, wie ich mich ebenfalls in diesem Zwiespalt befand. Kalt und heiß, lebendig und tot, hell und dunkel. Alles zerrte an mir, um mich auf eine Seite zu ziehen, und ich fühlte mich zerrissen. Unendlich zerrissen.
Konzentrier dich. Du musst eine Lösung finden.
Das war schließlich mein Ding, oder? Rational denken, klug entscheiden, mich nicht von dem beherrschen zu lassen, was in mir tobte. Aber wie sollte ich auch nur einen klaren Gedanken fassen, wenn alles mir befahl, meine Macht auszuleben? Hass kroch wie Gift durch meine Adern, auf niemand Bestimmten, einfach auf die Welt.
Jedes Mal, wenn ich daran dachte, wie ich Charlotte vor einer Stunde auf dieser Jacht verlassen hatte, loderte in mir etwas auf, aber es war nicht, weil ich sie hasste. Es war das Gegenteil. Nur würde diese Liebe bald verschwunden sein, wenn ich nichts unternahm. Na und, fragte eine Stimme, die sehr nach meiner bösartigen Vorfahrin klang. Dann ist sie eben weg. Du wirst dich viel besser fühlen, wenn du akzeptierst, was du jetzt bist. Liebe ist nichts für Leute wie uns.
Vielleicht stimmte das sogar. Charlotte hatte jetzt Oscar, und wenn ich nicht zu ihr zurückkehrte, würde sie mich irgendwann vergessen. Aber ich erinnerte mich nur zu gut daran, wie ich in dieser Zwischenwelt gefangen gewesen war, weder tot noch lebendig, und mitbekommen hatte, wie tief erschüttert Charlotte gewesen war, weil sie gedacht hatte, ich wäre gestorben. Sie liebte mich immer noch. Und wenn es etwas gab, woran ich mich festhalten konnte, um nicht die Kontrolle zu verlieren, dann war es das.
Merlin hatte mir nicht gesagt, was passierte, wenn ich es tatsächlich schaffte, Morgana die Kräfte zu nehmen und sie auf mich selbst zu übertragen. Wie ich damit umgehen, wie ich sie wieder loswerden konnte. Da war jedoch etwas, das mir sagte, dass mein Tod das Problem nicht lösen würde – denn selbst wenn ich es schaffte, mir das Leben zu nehmen, konnte ich nicht sicher sein, dass die Kräfte verschwinden würden. Was, wenn sie sich einen neuen Wirt suchten, einen Spaziergänger hier draußen im Wald, einen Knight oder, noch schlimmer, einen der Darks? Morganas Kräfte in Killians Händen, das wäre das Ende der Menschheit. Mein Bruder würde keine Sekunde zögern, uns alle dem Erdboden gleichzumachen. Vor allem, nachdem die Frau gestorben war, deren Ideologie er sich verschrieben hatte.
Ich musste also versuchen, die Kräfte zu vernichten. Oder einen Weg finden, wie ich sie mit ins Grab nehmen konnte. Allerdings gab es nur eine Person auf dieser Welt, die eventuell wusste, wie ich das schaffen sollte – genau die, die mir auch gesagt hatte, wie ich Morgana besiegen konnte.
Das war es also, was ich nun tun musste: Merlin aufsuchen. Er hatte von den Armreifen gewusst, mit denen die Macht übertragen werden konnte, er musste auch wissen, wie sie zu neutralisieren war. Er hatte so viel Zeit mit Morgana verbracht und war selbst einmal der größte Magier von allen gewesen. Und zum Glück konnte ich ihn ohne Probleme finden. Gerade hielt er sich irgendwo in Schottland auf, um es genauer sagen zu können, musste ich näher heran. Allerdings würde ich dafür den Jeep nehmen, der in der Garage des Jagdhauses parkte. Zwar war ich ohne Transportmittel hierhergekommen, aber es war mir nicht geheuer, diese Methode noch einmal anzuwenden. Und außerdem musste es Grenzen geben, sonst hätte sich Morgana jederzeit in meine oder Charlottes Nähe teleportieren können. Solange ich so instabil war wie jetzt, war es besser, kein Risiko einzugehen.
Ein Ziel zu haben, half ein wenig, die widerstreitenden Mächte in mir zu beherrschen. Ich warf Sand auf das Feuer im Kamin, ging nach oben und nahm ein paar Klamotten aus dem Schrank, die dort für alle Fälle lagerten. Nachdem ich sie hastig in eine Tasche gestopft hatte, wollte ich die Hütte verlassen, war schon fast draußen, als ich etwas spürte. Eine Präsenz, obwohl kein Geräusch zu hören war. Ich versteifte mich, ließ die Türklinke los und stellte die Tasche ab. Da draußen in der Dunkelheit war jemand.
Ich hatte keine Angst vor dem, was dort wartete – man konnte keine Angst haben, wenn man über diese Kräfte verfügte. Mein Gefühl sagte mir, dass es kein anderes Wesen auf dieser Welt gab, das mir momentan etwas anhaben konnte. Allerdings war da trotzdem Unbehagen, als ich die möglichen Besucher durchging. Killian und die Darks. Mein Vater. Mein ehemaliges Team. Charlotte.
Charlotte.
Als wäre ihr Name das Einzige, was mich aus meiner Starre lösen konnte, trat ich eilig ans Fenster und schob den Vorhang ein kleines Stück beiseite. Draußen war nichts zu sehen, aber in der Dunkelheit wäre es auch schwer gewesen, jemanden zu erkennen. Ich streckte meine Gnaden nach den Besuchern aus, um herauszufinden, wer dort war. Charlotte jedenfalls nicht, das hätte ich gespürt, oder bildete mir zumindest ein, dass es so wäre. Der Schmerz und die Kälte hätten sich bestimmt abgeschwächt, wenn sie da gewesen wäre. Aber durch den Schleier der Dunkelheit drang nicht viel Licht. Nur eine Stimme.
Komm zu mir, Lancelot.
Okay, nun war ich tatsächlich wahnsinnig geworden. Schneller als erwartet, aber wenn ich ehrlich war, gab es wohl keine strikten Zeitangaben dafür, wann man den Verstand verlor, weil man sich Morganas Kräfte angeeignet hatte.
Komm zu mir. Die Stimme war sanft und lockend, sie legte sich auf diesen fürchterlichen Schmerz in meinem Inneren, und ich hatte plötzlich das Gefühl, wieder freier atmen zu können. Wer war das? Die Stimme war weiblich, aber sie gehörte niemandem, den ich kannte. Nicht Charlotte oder einem der anderen Mädels aus dem Team, auch nicht Morgana, die mich aus dem Jenseits rief. Dennoch wollte ich dem Aufruf folgen. Wer dafür sorgen konnte, dass das Chaos und der Schmerz in meinem Inneren leiser wurden, war vielleicht auch in der Lage, dafür zu sorgen, dass beides ganz verschwand.
Wo bist du?, fragte ich in Gedanken, so als wäre es vollkommen normal, sich mit jemandem auf diese Weise zu unterhalten. Ich hatte mich ja eh schon von meinem Verstand verabschiedet, dann konnte ich es auch durchziehen.
Aber es kam keine Antwort.
Ich wartete noch eine Minute, dann öffnete ich den Wagen und warf die Reisetasche auf den Rücksitz. Meine Eltern kamen so gut wie nie hierher, wahrscheinlich würde also nur dem Verwalter auffallen, dass der Jeep fehlte. Etwas sehnsüchtig schaute ich in die Richtung, in der Mayfield Manor lag. Ein Teil von mir, der sehr viel jünger war als ich jetzt, wünschte sich, meine Mutter besuchen zu können. Aber zum einen war sie in Frankreich bei ihrer Schwester und zum anderen hätte ich das nie riskiert. Schließlich wusste ich nicht, was diese Kräfte mit mir anstellten, wenn ich in die Nähe einer Person kam, die ich liebte. Wahrscheinlich würde ich mich nicht von ihr verabschieden können, bevor das alles endete. Bevor die Dunkelheit endgültig übernahm.
Komm zu mir.
Ich hatte mich gerade auf dem Fahrersitz niedergelassen, als die Stimme wieder da war, diesmal drängender, flehender, aber auch ungeduldiger als zuvor. So als wäre die Person genervt, weil ich ihre ersten Rufe nicht beantwortet hatte.
»Verflucht noch mal, dann sag mir, wo du bist!«, schnauzte ich und wusste genau, diese Unbeherrschtheit war noch die harmloseste Nebenwirkung von Morganas Kräften. Ich hatte meine Vorfahrin nicht oft getroffen, aber trotzdem eine sehr gute Vorstellung davon, wie es in ihr ausgesehen hatte.
Komm zu mir.
Okay, ich gab es auf. Ich hatte wirklich keine Ahnung, wer sie war, und wahrscheinlich war das ohnehin nur eine Folge der Dinge, die Morganas Kräfte mit meinem Kopf anstellten. Also ignorierte ich die Stimme, startete den Wagen, schaltete die Scheinwerfer ein und setzte ihn rückwärts aus dem Unterstand, drehte und bog auf den Waldweg ein, der mich zur nächsten Hauptstraße bringen würde. Hier war im Umkreis nichts, aber es gab eine Menge Tiere im Wald, also fuhr ich nicht zu schnell und hielt Ausschau zu beiden Seiten, ob ich im Lichtkegel irgendwo ein Reh oder Wildschwein erkennen konnte.
Vermutlich lag es daran, dass ich die Person zu spät entdeckte, die vor mir auf dem Weg stand.
Ich stand unter Schock. Ich konnte mich nicht bewegen, nichts sagen, keinen klaren Gedanken fassen. Alles, was mir immer und immer wieder durch den Kopf ging, war der Blick aus Noels schwarzen Augen, bevor er sich umgedreht hatte und ins Nichts verschwunden war. Damit zurechtzukommen, dass er tot war, hatte mich schon an den Rande des Zusammenbruchs gebracht. Nun zu wissen, dass er lebte, aber Morganas Dunkelheit auf sich übertragen hatte, war zu viel für mich.
»Charles, komm. Wir müssen hier weg.« Ein starker Arm legte sich um meine Schultern und durch den Nebel in meinem Hirn drang hindurch, dass es Oscar sein musste, der mich über das Deck führte. Offenbar hatte die Jacht wieder am Kai angelegt.
»Nein«, wehrte ich mich etwas verspätet. »Wir müssen ihn suchen! Er kann damit nicht umgehen, er braucht unsere Hilfe!«
»Wir werden ihn suchen und ihm helfen, versprochen. Aber erst einmal müssen wir von hier verschwinden und zurück zur Basis der Divines.«
Nur widerwillig folgte ich ihm, obwohl ich natürlich nicht auf dem Schiff bleiben wollte – an dem Ort, wo Noel mir ein weiteres Mal entrissen worden war. Dennoch kam es mir so schrecklich falsch vor, zu den Divines zurückzukehren. Wie viel Zeit würde es brauchen, unser Vorgehen mit den anderen Knights sowie Juleon und Scarlett abzustimmen? Und wie viel Zeit hatte Noel, bevor er doch unter der Last der Magie zusammenbrach? Er hatte die Übertragung zwar überlebt, aber das bedeutete nicht, dass er diese immense Energie auch eine längere Zeit aushalten konnte. Morganas Kräfte waren zerstörerisch, so viel stand fest.
Mal abgesehen von dem Gedanken, den ich gänzlich verdrängte: dass von Noel nichts mehr übrig war und er nur noch aus dieser Dunkelheit bestand.
Oscar und ich gingen über den schmalen Steg, den man vom Schiff zum Kai hinübergelegt hatte. Blaulichter erhellten den Nachthimmel, und ich begriff, dass die irdische Polizei hier war und wir vermutlich schnell verschwinden sollten. Die Jacht gehörte sicherlich jemandem, den Noel dazu gebracht hatte, ihm Zugang zu verschaffen, und auch wenn ich nicht verstand, wie man nach einer Manipulation eines Erben von Lancelot und Morgana noch wissen konnte, was passiert war, stand da doch ein dicklicher Mann bei den Polizisten und gestikulierte wie wild, während er immer wieder zur Jacht zeigte. War Noel so schludrig gewesen? Oder hatte er sich gar nicht die Mühe gemacht, den Jachtbesitzer zu manipulieren?
»Was will der Typ?«, fragte ich Oscar leise.
»Keine Ahnung, aber Levi und Xavia regeln das«, murmelte er, legte eine Hand an meinen Rücken und lotste mich weg von den Autos und dem Tumult. Neben dem nächsten Gebäude stand im Schatten ein dunkler Wagen, von dem ich vermutete, dass er KORT gehörte. Oscar öffnete den Kofferraum und nahm eine Decke heraus, die er mir umlegte. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich zitterte.
Zeph und Thora kamen nur eine Minute nach uns an, ich hatte nicht darauf geachtet, wo sie gewesen waren. In meinem Kopf war nur Platz für Noel – das Bild, wie er sich wortlos umgedreht hatte und einfach verschwunden war, ohne einen Funken Liebe in seinen Augen. Ich schauderte.
»Glaubt ihr, wir können ihn retten?« Die Frage war an alle gerichtet, aber eigentlich sah ich dabei nur Zeph an. Er war unser Experte für Treue und Loyalität, er musste doch einschätzen können, wie stark Noels Bindung an sein Team noch war. Oder an mich.
»Ich weiß es nicht.« Die Stimme des Hünen klang ungewohnt dünn. Dabei hatte er nicht einmal gesehen, was ich gesehen hatte. Als Noel auferstanden war oder wie immer man das auch bezeichnen sollte, war ich mit ihm allein gewesen. »Du sagst, er hat Morganas Kräfte auf sich übertragen, richtig?«
Ich nickte. Selbst wenn ich diese Information nicht von Dex gehabt hätte – wenn mein Vater mir nicht verraten hätte, was Noel vorgehabt hatte –, dann wäre es mir dennoch vollkommen klar gewesen. Allein diese tiefschwarzen Augen und dann noch sein Feld … Ich zog die Decke fester um meine Schultern, obwohl ich sicher war, dass sie nicht gegen die Kälte in meinem Inneren ankommen würde.
»Dann brauchen wir eine Methode, wie er sie wieder loswird.« Thoras Art, die Dinge gleichzeitig pragmatisch und positiv zu sehen, brachte einen kleinen Funken Licht in diese Schwärze, die uns umgab. Aber sie wusste wie wir alle, dass es eine solche Methode vielleicht gar nicht gab. Oder dass Noel sich weigern würde, sie anzuwenden. Niemand von uns hatte jetzt noch eine Chance, bei einem Kampf gegen ihn zu gewinnen, auch ich nicht. Wenn er nicht freiwillig bereit war, sich helfen zu lassen, dann … war nicht nur er verloren.
Levi und Xavia bogen um die Ecke, unterhielten sich leise. Dann sahen sie auf.
»Wir können los«, sagte er. »Das mit der Polizei ist geregelt.«
Niemand fragte, was überhaupt das Problem gewesen war, vermutlich war es uns allen einfach egal, ob der Typ Anzeige erstatten wollte, weil ein Haufen junger Leute seine Jacht für einen Ausflug gekapert hatte. So gut alle Knights – von mir mal abgesehen – unter Druck und Stress funktionierten, ich merkte ihnen an, dass sie im Grunde genauso unter Schock standen wie ich.
Auf der Fahrt zum Flughafen schwiegen wir, während Zeph bei Juleon anrief und ihn über die neuesten Entwicklungen informierte. Als er davon anfing, was Noel getan hatte, war mein Impuls, ihn daran zu hindern – zu verhindern, dass der Divine erfuhr, dass Noel nun Morganas Kräfte besaß. Warum alles in mir danach drängte, es zu verheimlichen, wusste ich nicht. Juleon hatte sich, seit ich ihn kannte, niemals gegen einen von uns gestellt, und er war wohl besser als jeder andere Mensch darin, ein Geheimnis zu bewahren. Aber da war so ein Gefühl in meinem Bauch, ein tiefes, schmerzhaftes Ziehen, das mir sagte: Ab jetzt würde nichts mehr so sein wie vorher.
Als wir in der Festung der Divines ankamen, war es mitten in der Nacht. Aber dennoch herrschte keine Ruhe auf den Gängen, im Gegenteil. Alle schienen wach zu sein, und überall hörte ich Getuschel, Fragen, sah neugierige Blicke. Offenbar hatten Juleon und Scarlett die anderen Teams über die Geschehnisse des Abends informiert. Ich fragte mich, warum sie die ganze Mannschaft geweckt hatten. Mir wäre es lieber gewesen, erst einmal mit den Divines darüber zu reden, wie wir weitermachen sollten.
»Hättet ihr damit nicht bis morgen früh warten können?«, fragte ich Juleon, als wir endlich in ihren Privaträumen angekommen waren. »War es nötig, die Leute aus den Betten zu holen?«
Juleon runzelte die Stirn. »Du meinst, nachdem alle über zwei Jahre lang ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben, um die Darks zu besiegen, verdienen sie nicht sofort die Nachricht, dass Morgana tot ist?«
»Das vielleicht schon. Aber so, wie sie uns angesehen haben, wissen sie auch den Rest.« Dass Noel nicht einfach nur verschwunden war, hätte ich gerne noch ein bisschen länger verschwiegen. Die meisten Knights waren zwar freundschaftlich miteinander verbunden, aber Noel war schon vor all dem als Morgana-Erbe misstrauisch beäugt worden – und wir, sein Team, gleich mit. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie es entspannt aufgenommen hatten, auf welche Art er seine Vorfahrin besiegt hatte.
Juleon seufzte verärgert. »Ich hatte kein Recht, ihnen das vorzuenthalten, Charlotte.«
»Was für ein Bullshit!«, stieß ich aus. »Du behältst seit Monaten für dich, dass ich eine Merlin-Erbin bin, aber schaffst es nicht, wenigstens bis zum Morgen zu warten, bis du Noel zum Abschuss freigibst?«
»Ich habe nichts dergleichen getan!«, motzte er zurück. »Ich habe ihnen gesagt, dass Noel maßgeblich dafür verantwortlich ist, dass wir Morgana los sind. Dass er sich geopfert hat, um sie zur Strecke zu bringen, indem er sich ihre Kräfte aufgeladen hat.«
»Ja super. Und nun denken alle, dass er die noch viel gefährlichere Bedrohung für uns alle ist. Ich sehe ihre Felder, Juleon! Glaubst du wirklich, dass ich Mitgefühl nicht von Misstrauen unterscheiden kann?«
Wir standen einander gegenüber, funkelten uns wütend an – bis jemand dazwischenging.
»Hört auf damit!«, befahl Oscar harsch. »Was soll das denn? Ihr benehmt euch wie Kleinkinder.«
Ich verschränkte die Arme und wusste genau, dass er recht hatte, aber deswegen würde ich trotzdem nicht von meiner Position abweichen. Meine Angst um Noel verwandelte mich in jemanden, der überall nur noch Feinde sah und keine Verbündeten mehr. Was, wenn selbst sein eigenes Team sich von Noel abwenden würde? Dann werde ich eben allein nach ihm suchen. Auf dem Flug zurück hatte ich versucht, ihn zu orten, so wie ich es bei Morgana getan hatte, aber da war keine Verbindung gewesen. Entweder funktionierte es tatsächlich nur bei ihr oder Noel konnte mich abblocken.
»Es gibt gleich eine Vollversammlung«, sagte Juleon und sah mich dabei nicht an. »Diese Sache duldet keinen Aufschub. Wenn die Darks mitkriegen, was passiert ist, dann werden sie alles dafür tun, Noel in die Finger zu kriegen. Und er würde sich vielleicht nicht einmal wehren.«
»Natürlich würde er das!« Das konnte ich nicht wissen – eigentlich hätte ich nach der Begegnung mit seinem neuen Ich eher davon ausgehen müssen, dass Juleon recht hatte.
»Was ist denn hier los?« Xavia kam rein und sah von einem zum anderen.
»Charles und Jules streiten«, gab Zeph bereitwillig Auskunft. »Weil wir ja auch keine wichtigeren Probleme haben.«
»Wir haben genau ein Problem, und das ist die Tatsache, dass wir keine Ahnung haben, wo Noel gerade ist.« Ich sagte es hart, denn es war besser für mich, eisern zu bleiben, statt schwach zu werden. Die Liebe zu Noel war noch nicht wieder vollständig erstarkt, aber es reichte, um jede Vorsicht und jede Vernunft über den Haufen zu werfen und mich in das nächste Auto zu setzen, um ihn zu suchen. Noch hielt ich diesen Drang jedoch zurück. Es war besser, das nicht allein zu tun. Nicht, weil ich Angst vor Noel hatte, aber meine letzte Begegnung mit den Darks hatte ich in keiner guten Erinnerung. Wenn sie tatsächlich auf der Suche nach ihm waren oder ihn bereits gefunden hatten, konnte das gefährlich werden.
»Dann ist es doch besser, wenn wir ein paar Leute mehr haben, um nach ihm zu suchen, oder nicht?« Juleons Ton war schnippisch, und ich wollte etwas antworten, aber da öffnete sich die Tür.
Scarlett kam herein, sie wirkte müde und gleichzeitig besorgt. Nur knapp grüßte sie uns, dann deutete sie hinter sich. »Die anderen warten bereits. Wir sollten kurz absprechen, wer was sagt.«
»Ich kann berichten, was passiert ist«, bot Zeph mit einem Blick auf mich an.
»Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Keiner von euch war dabei, als Noel gestorben und anschließend wieder aufgestanden ist. Ich muss das machen. Und vielleicht sagen wir ihnen bei der Gelegenheit die ganze Wahrheit.« Der Gedanke war mir sehr plötzlich gekommen, aber das waren nicht unbedingt die schlechtesten Impulse.
Juleon verengte die Augen. »Gerade hast du mich noch angemacht, weil ich den anderen Teams zu viel verrate, und nun willst du dich als Merlin-Erbin outen? Woher der Sinneswandel?«
»Ganz einfach: Wenn ich es ihnen sage, glauben sie mir vielleicht, dass ich ihm helfen kann. Schließlich war Merlin der Einzige, der es damals mit Morgana aufnehmen konnte.«
Der Divine schien nicht überzeugt. »Ja, das stimmt – aber Noel hat sich die Kräfte seiner Vorfahrin einverleibt, während du immer noch nur eine Erbin bist.«
»Ich bin nicht irgendeine Erbin, ich bin seine Tochter. Vielleicht reicht das ja.«
Stille.
»Du bist was?« Scarlett starrte mich an, genau wie meine Teammitglieder. Ich hob die Schultern, nun etwas verlegen. Bei allem, was in den letzten Stunden passiert war, hatte ich diese Tatsache wohl selbst verdrängt.
»Bisher hatte ich keine Gelegenheit, davon zu erzählen.« Ich holte tief Luft. »Aber Merlin hat mir bei unserem Gespräch offenbart, dass es keine verborgene Linie gibt. Sowohl Claudine als auch ich sind seine direkten Nachkommen.«
Zeph gab ein überraschtes Geräusch von sich. »Was für ein krasser Scheiß. Und er hat es dir all die Zeit nicht verraten?«
»Nein. Er meint, er hat es verschwiegen, um mich zu beschützen – seine Identität genauso wie den Umstand, dass er mich gezeugt hat. Oder dass er Noel verraten hat, wie man Morganas Kräfte übertragen kann.« Bei der Erinnerung an unsere Unterhaltung regte sich erneut Wut in mir. Mich so im Ungewissen zu lassen, das würde ich ihm niemals verzeihen können. »Aber ich habe ihm gesagt, dass ich fertig mit ihm bin.«
Juleon runzelte die Stirn. »War das klug? Wenn er wusste, wie man Morgana besiegt, dann weiß er vielleicht auch, wie man die Sache mit den Kräften rückgängig macht.«
Da hatte er einen Punkt, auch wenn ich nicht sicher war, ob Merlin mir dabei helfen würde. Er hielt den Fluch für das Gefährlichste, was der Menschheit passieren konnte, und auch wenn ich gespürt hatte, wie er gebrochen war in dem Moment, als Noel und ich entschieden hatten, einander nicht zu hassen … ich hätte meine Hand nicht dafür ins Feuer gelegt, dass er nicht wieder aufleben konnte, jetzt wo Noel über die Kräfte seiner Vorfahrin verfügte. Ob er mich jetzt nicht hassen musste, weil er gar keine Wahl mehr hatte.
»Leute, wir müssen gehen, sonst werden die anderen Teams unruhig«, erinnerte Scarlett.
»Sag ihnen erst mal nichts, Charles.« Juleon sah mich eindringlich an. »Wir müssen das durchdenken, die Konsequenzen abwägen … ich habe kein gutes Gefühl dabei, wenn du diese Entscheidung übers Knie brichst.«
Nur widerwillig nickte ich. »Okay.«
»Versprichst du, dass du dich nicht spontan umentscheidest?«
Oh, er kannte mich mittlerweile wirklich gut.
»Ich verspreche es«, sagte ich noch widerwilliger. Vielleicht hätte ich mehr das große Ganze im Auge behalten müssen, aber darin war ich leider noch nie gut gewesen. Oder darin, mich an die KORT-Regeln zu halten. Nun davon zu berichten, was passiert war, während jede Sekunde auf der Suche nach Noel zählte, erschien mir unerträglich. Nur hatte ich leider keine Wahl.
Wir machten uns auf den Weg zum Besprechungsraum. Und während ich durch die Gänge der Festung lief, tiefe Sorge in meinem Inneren und meine Liebe zu Noel in meinem Herzen, fragte ich mich, ob es jemals den Tag geben würde, an dem wir endlich glücklich sein konnten.
»Fuck!«, stieß ich aus und trat mit voller Wucht auf die Bremse. Zum Glück war der Jeep geländegängig, sodass er gleich zum Stehen kam, sonst hätte ich sie vielleicht überfahren.
Schnell stellte ich den Motor ab und öffnete die Tür. Es war eine Frau, die da im Licht der Scheinwerfer vor mir auf dem Weg stand und mich in der ersten Sekunde an Charlotte erinnerte, bevor mir klar wurde, dass sie es nicht war. Zwar hatte sie ebenfalls blonde Haare, die zu einem Zopf geflochten über ihre Schulter hingen, aber ihre Augen waren hell und ihr Gesicht viel kantiger. Trotzdem spürte ich sofort eine gewisse Anziehung, die nicht aus mir selbst zu kommen schien. Aber ich war zu erschrocken, um dem Bedeutung beizumessen.
»Was sollte das denn?«, herrschte ich sie an. »Ich hätte dich überfahren können!«
»Das hast du aber nicht.« Es war ein normaler Satz, ruhig ausgesprochen, aber meine Augen weiteten sich dennoch. Denn ich kannte diese Stimme. Ich hatte sie vorhin erst in meinem Kopf gehört. Und mir wurde klar, dass diese junge Frau kein normaler Mensch war. Sie war meilenweit davon entfernt.
»Wer bist du?«, fragte ich, nun viel leiser. In ihr pulsierte etwas, das mich zu ihr hinzog, auf eine heftige Weise, gegen die ich mich nur mit Mühe wehren konnte. Liebe. Und Sehnsucht. Zwei Dinge, für die ich ein untrügliches Gespür hatte. Doch vor allem dämpfte ihre Anwesenheit den reißenden Schmerz in meinem Inneren, als wäre sie das Gegenmittel für Morganas tödliche Kräfte.
»Das weißt du nicht?« Sie kam näher und ihr Gang war federnd. Ihre Art, sich zu bewegen, passte nicht zu ihrer Kleidung – Jeans und ein grob gestrickter Wollpullover, darüber ein Wettermantel. Ihre Füße steckten in Trekkingstiefeln, aber ich war mir sicher, dass sie nicht hier war, um zu wandern. Schon gar nicht mitten in der Nacht.
»Nein.« Sosehr ich es auch versuchte, ich konnte sie nicht einordnen. Aber es schien sie nicht zu ärgern, denn sie machte noch zwei Schritte und stand dann direkt vor mir. Als sie ihre Hand hob und auf meine Brust legte, atmete ich aus, weil ich zum ersten Mal seit gestern Abend fast keinen Schmerz mehr spürte. Es war, als würde diese junge Frau ihn einfach vertreiben. Und das tat so gut, dass ich leise aufseufzte.
»Ja, so ist es besser, nicht wahr?« Ihr Tonfall war liebevoll und vertraulich, als würden wir uns seit Ewigkeiten kennen. »Da ist so viel Dunkelheit in dir. Nicht deine eigene offenbar. Sie ist dabei, dich zu übernehmen. Aber das kriegen wir schon hin.«
Es war vermutlich dumm oder wahnsinnig, trotzdem glaubte ich ihr. Oder wollte ich das nur, weil ich das Gefühl hatte, dass sie mir tatsächlich helfen konnte?
»Wer bist du?«, fragte ich erneut. Ich wollte es nicht nur, ich musste es wissen. Das zwischen uns gehörte vielleicht nicht zu mir, es war jedoch so stark, dass ich nicht widerstehen konnte, auch wenn ich es versucht hätte.
Sie lächelte. »Ich bin deine Königin, Noel.«
Meine Augen weiteten sich, als mir endlich klar wurde, woher ich diese Empfindungen in ihrer Nähe kannte: aus meinen Visionen. Als ich mich noch mit Lancelot verbunden hatte, war dieses Gefühl das Zentrum seiner Existenz gewesen. Und endlich erinnerte ich mich auch an ihr Gesicht.
»Guinevere«, stieß ich aus.
»Du weißt es ja doch.« Sie nickte zufrieden.
»Wie kannst du … du bist nicht …«
»Shhh. Dafür ist später noch Zeit.« Guinevere legte mir zwei Finger an die Lippen.
Die Berührung schickte einen angenehmen Schauer über meinen Rücken, aber trotzdem wehrte sich in mir etwas dagegen. Es war nicht richtig, so zu empfinden, das war nicht ich, sondern nur mein Erbe. Und trotzdem war der Teil, der sich zu ihr hingezogen fühlte, sehr stark. Vor allem, weil sie die Dunkelheit von mir fernhielt, als hätte sie einen Kreis aus Licht um sich gezogen, wie die Scheinwerfer des Wagens, vor dem wir standen.
»Wo wolltest du hin?«, fragte sie mich.
»Ich war auf dem Weg nach Schottland. Merlin ist dort. Ich brauche seine Hilfe, um Morganas Kräfte wieder loszuwerden.«
In Guineveres Augen flammte etwas auf, das mir hätte Angst machen können, wenn da nicht diese wahnsinnige Hingabe gewesen war, die mich dazu drängte, dieser fremden und doch nicht fremden Frau zu vertrauen.
»Merlin«, sagte sie in einem Ton, der zu düster für sie zu sein schien. »Wie praktisch, dann haben wir ja das gleiche Ziel. Fahren wir. Und unterwegs erkläre ich dir alles, Liebster.« Sie berührte mich an der Wange, wieder war da ein Schauer, diesmal mit weniger Gegenwehr. Mein Verstand verlangte nach Antworten, bevor ich mit ihr gemeinsame Sache machte, aber da war etwas anderes in mir, das nickte, zur Fahrertür ging und kurz darauf den Zündschlüssel drehte. Guinevere setzte sich neben mich, aber erst als wir bereits auf der Hauptstraße waren, sah sie mich an.
»Was willst du wissen?«
Ich überlegte nicht lange. »Fürs Erste, wieso du all die Zeit überleben konntest. Du hast keine magischen Fähigkeiten, soweit ich weiß.«
»Das stimmt, damals hatte ich keine.« Guinevere hob die Schultern. »Aber wenn du mehr als tausend Jahre in der Anderswelt festsitzt, dann kommen viele Leute auf dem Weg nach Avalon vorbei – mächtige Leute, mit den unterschiedlichsten Kräften, die sie zurücklassen müssen, wenn sie in die Ewigkeit gehen. Es hat ein bisschen gedauert, aber irgendwann habe ich herausgefunden, wie ich diese Kräfte an mich binden kann.«
»Du warst all die Zeit dort gefangen?« Ich erinnerte mich daran, wie Charlotte versucht hatte, Merlin aus der Anderswelt zu befreien – und dabei auf jemanden getroffen war, der sie hatte täuschen wollen. Wut flammte in mir auf, aber sie wurde von diesem beruhigenden Gefühl, das Guinevere auf mich ausübte, schnell geschluckt. »Warum?«
»Merlin«, sagte sie nur, als wäre das Antwort genug. Wieder hatte sie diesen zornigen Unterton, aber nun verstand ich auch, weshalb. »Er hat mich dorthin verbannt.«
»Warum?«
»Das fragst du mich?« Sie klang ungläubig. »Wie weit seid ihr in dieser Zeit über alles informiert, was damals geschehen ist?«
»Halbwegs.« Mehr war es wohl nicht, wenn man sich anschaute, wer gerade auf dem Beifahrersitz saß und meine Fragen beantwortete, während wir durch die Nacht fuhren. »Laut unseren Informationen hast du deinen Mann mit Lancelot betrogen und das wurde entdeckt. Daraufhin hat man ihn in die Verbannung geschickt und du bist zu Arthur zurückgekehrt.«
Guinevere ließ ein Schnauben hören. »Da hat man die Legenden ja ordentlich geschönt«, sagte sie. »Als wäre Arthur bereit gewesen, mich zurückzunehmen, nachdem ich offen zugegeben hatte, mich in seinen engsten Vertrauten verliebt zu haben. Er wäre eher gestorben, als diese Demütigung in aller Öffentlichkeit zu ertragen. Aber er hatte auch nicht den Schneid, sich selbst um mich zu kümmern. Das hat er seinem wichtigsten Berater überlassen.«
Ich musste das Gehörte kurz sacken lassen. Denn auch wenn es möglich war, dass mich Guinevere belog, glaubte ich nicht daran. Ihre Schuld hatte sie längst zugegeben – dass sie den König betrogen hatte, war etwas, zu dem sie stand. Warum hätte sie also eine Geschichte erfinden sollen, nur um Merlin schlecht dastehen zu lassen? Niemand wusste besser als ich, wie intrigant Charlottes Vorfahre war. Wahrscheinlich hatte er gehofft, dass sein Tipp mit den Armreifen mich töten würde, damit ich Oscar und ihr nicht mehr im Weg stand. Jemanden wegen Untreue tausend Jahre in eine grausame Verbannung zu schicken, traute ich ihm ohne Weiteres zu.
»Das bedeutet, er hat dich ohne Option auf Wiederkehr dort gelassen? Wie bist du dann rausgekommen?«
»Durch einen glücklichen Zufall.« Guineveres Stimme klang nun wieder sehr weich. »Ich habe schon eine ganze Weile versucht, mich zu befreien, aber es hat sehr lange gedauert, bis ich herausgefunden habe, dass es nahezu unmöglich ist.« Sie seufzte, als wäre das etwas sehr Bedauerliches. »Doch dann war da plötzlich ein Riss, jemand kam herein, und ich war gerade in der Nähe und konnte rausschlüpfen, bevor die Barriere wieder fest wurde.«
Das musste passiert sein, als Morgana gestorben war. Ich erinnerte mich zwar nicht daran, wie sie zu Tode gekommen war – als ich selbst zusammengebrochen war, hatte sie noch gelebt, wenn auch ihrer Kräfte beraubt –, aber vermutlich hatte das Team den Job erledigt. Das Team … ein Gefühl von Vermissen zog an meinem Herz, als ich an sie dachte. Aber ich würde nie wieder ein Teil von ihnen sein. Ganz egal, was auch passierte, ich würde nicht zu ihnen zurückkehren können.
»Woran denkst du?«, fragte Guinevere.
Ich wusste nicht, welche Fähigkeiten sie im Laufe der Zeit von Besuchern der Anderswelt übernommen hatte, aber ich hatte den Eindruck, dass irgendeine Art von Knight-Empathie dabei gewesen war und sie genau spürte, was ich fühlte. Die Vorstellung löste den Gedanken an die Verbindung zwischen Charlotte und mir aus, und ich bemerkte diesen kleinen Funken von Licht, der noch da war, weil ich sie liebte. Wo vorher jedoch die Dunkelheit mit jeder Sekunde mehr von diesem Funken aufgefressen hatte, war es nun diese heftige Hingabe zu Guinevere, die dafür sorgte, dass ich kaum noch etwas davon wahrnahm.
»Wie machst du das?« Das war keine Antwort auf ihre Frage, aber meine Gedanken wollte ich ihr nicht verraten. »Wieso kannst du dafür sorgen, dass Morganas Kräfte mich nicht mehr aufzehren?« Ich war sicher, ohne Guinevere wäre es bald vorbei. Vielleicht würde ich es nicht einmal in Merlins Nähe schaffen, bevor ich der Dunkelheit verfiele und mein Verstand sich verabschiedete.
»Das ist die Magie zwischen uns«, antwortete Guinevere leichthin. »Lancelot und ich waren auf eine Weise verbunden, die man nicht in Worte fassen kann. Das mit uns war echt, richtig und gut – von dem Umstand abgesehen, dass man mich vor unserem ersten Treffen einem anderen versprochen hatte. In der Gegenwart des jeweils anderen haben Sorgen, Ängste oder Nöte keinerlei Rolle gespielt, und offenbar bin ich in der Lage, das auch auf seine Nachfahren zu übertragen.« Sie sah mich an. »Es gibt jedoch eine andere, nicht wahr?« Guinevere klang eifersüchtig und ich suchte kurz nach den richtigen Worten.
»Sie und ich … sind nicht mehr zusammen.«
»Nicht? Das ist gut. Sie war nicht die Richtige für dich.« Guinevere sagte das mit einer solchen Überzeugung, dass ich kurz versucht war, ihr zu widersprechen. Dabei hatte ich genau das selbst gesagt, schon vor Ewigkeiten.
»Ich weiß.« Mein Inneres hielt dagegen, aber ich drängte es weg. »Was ist eigentlich dein Ziel? Willst du Merlin töten?« Ich hätte das mit weniger Euphorie sagen sollen, aber Morganas Kräfte in mir brüllten mich förmlich an, ihr dabei zu helfen. Es war nicht mein Hass, oder nicht nur. Aber er war da.
»Auf die eine oder andere Art, ja. Aber vorher will ich, dass er leidet.«
»Und danach?« Morgana hatte aus ihren Allmachtsfantasien keinen Hehl gemacht. Was plante Guinevere, wenn sie mit Merlin fertig war?
»Wir werden sehen.« Mehr sagte sie nicht, aber ich nahm deutlich wahr, dass ihre Sehnsüchte weiter gingen, als nur den Tod des Mannes zu fordern, der sie jahrhundertelang an einem grauenvollen Ort wie der Anderswelt eingesperrt hatte. Charlotte war nur ein paar Minuten dort gewesen, und ich wusste, dass es schrecklich gewesen war. Wie viel Menschlichkeit war noch in der Frau, die neben mir saß?
Ich schwieg und trat aufs Gas, checkte kurz Merlins Standort, der sich nicht verändert hatte. Es würde sicher noch einige Stunden dauern, bis wir dort ankamen, aber solange Guinevere bei mir war, musste ich nicht befürchten, in dieser Zeit den Kampf gegen die Dunkelheit zu verlieren. Es war ein fauler Handel und ein Teil von mir wusste das – ein Aufschub, sonst nichts. Aber vielleicht hatte Merlin eine Lösung für die Sache mit den Kräften. Und wenn nicht …
… dann würde ich sein Ende sicher nicht bedauern.
Die Vollversammlung der Knights fand im gleichen Raum statt, in dem uns Ethan Mayfield vor etwa einer Woche gesagt hatte, dass sein Sohn auf die Jagd nach den Darks gehen würde – und Noel selbst allen verraten hatte, dass er von Morgana abstammte. Es kam mir vor, als wäre das Ewigkeiten her. Die Geschehnisse hatten sich derartig überschlagen, dass auch drei Jahre hätten vergangen sein können, nicht nur zehn Tage.
Wir gingen nach vorne, wo eine Reihe Stühle aufgestellt worden war, als müssten wir uns vor einem Tribunal verantworten. In mir sperrte sich alles dagegen, mich dorthin zu setzen, aber obwohl es den anderen aus dem Team ähnlich ging, ließen sie sich das nicht anmerken. Manchmal wünschte ich mir, sie würden mal aus ihrer Knights-Haltung ausbrechen und offen zeigen, wie sie sich fühlten. So konnte nur ich in voller Breite wahrnehmen, was in ihnen vorging. Dass Xavia sich größte Sorgen um Noel machte. Dass Zeph fieberhaft nach Hoffnung suchte. Dass Thora versuchte, positiv zu bleiben. Und Oscar … Oscar war voller Wut. Worauf, konnte ich nicht genau sagen, sein Feld war manchmal schwer zu lesen – was keine Rolle spielte, weil sein Gesicht normalerweise ein offenes Buch war. In diesem Moment jedoch nicht. Als er sich neben mich setzte, schien seine Miene so verschlossen wie nie.
»Charlotte wird euch berichten, was sich in London zugetragen hat«, leitete Juleon die Versammlung ein, schnörkellos und direkt. Scarlett und er hatten sich auch diesmal wieder Plätze an der Wand gesucht, als gehörten sie nicht richtig dazu, obwohl sie doch eigentlich der Mittelpunkt von allem waren.
Ich erhob mich und trat einen Schritt nach vorn. Die Zeit hatte nicht gereicht, um mir Worte zurechtzulegen, also würde ich improvisieren müssen. »Ihr wisst, dass wir lange vergeblich nach dem Gral gesucht haben, um Morgana zu besiegen – ihn aber nicht finden konnten.« Dass ich der Gral war, verschwieg ich, denn das hatte ich bisher nicht einmal dem Team erzählt, und ich war mir sicher, es würde sie vollends aus den Socken hauen. »Währenddessen hat Noel einen eigenen Weg gesucht, um unsere Feindin zu bezwingen, und tatsächlich einen gefunden – Armreifen aus der alten Zeit, die in der Lage sind, Kräfte von einer Vorfahrin auf ihren Erben zu übertragen.«
Ein Raunen ging durch die Reihen. Sie hatten gewusst, dass Noel Morganas Kräfte übernommen hatte, aber offenbar hatten Juleon und Scarlett kein Wort darüber verloren, wie er das geschafft hatte.
»Er hat diese Artefakte angewendet und konnte ihr tatsächlich die Macht entziehen. Anschließend waren Oscar und ich dazu in der Lage, Morgana zu töten. Sie ist in die Anderswelt gestürzt und wird von dort nicht zurückkehren.« Dafür gab es zwar keine Garantie, aber selbst wenn sie es schaffte, herauszufinden, war es ohne magische Kräfte unwahrscheinlich, dass sie je wieder zur Bedrohung wurde.
»Was ist dabei mit Noel passiert?«, fragte Libby aus Team Caerleon. »Wenn er ihre Kräfte auf sich übertragen konnte … ist er dann jetzt Morgana?«
»Natürlich nicht«, sagte Oscar schnell. »Er besitzt ihre Kräfte, aber das macht ihn nicht zu unserem Feind.«
»Woher willst du das wissen? Hast du mit ihm gesprochen, bevor er verschwunden ist?«
Oscar presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf.
»Aber ich«, warf ich ein und sofort richteten sich alle Augen auf mich. Es war nicht die ganze Wahrheit, schließlich hatte Noel kaum etwas gesagt, bevor er sich in Luft aufgelöst hatte. Das spielte jedoch keine Rolle. Ich würde nicht zulassen, dass die Knights Jagd auf ihn machten. Denn ich war nicht mehr sicher, ob sie Noel länger als einen der Ihren betrachteten oder als den Nachfahren von Morgana, der nun auch noch über ihre Fähigkeiten verfügte. Was sie damit anrichten konnte, hatten alle in den letzten Jahren oft genug erlebt.
»Und was hat er dir gesagt?«, fragte Arlo mich.
»Nicht viel.« Ich hätte lügen können, aber bei mehreren Kay-Erben im Raum war das keine gute Idee, also musste ich vage bleiben. »Aber ich bin mir sicher, dass er noch er selbst ist.« Offenbar glaubte ich so sehr daran, dass keiner der Kays Einspruch erhob.
»Warum ist er dann nicht bei dir geblieben, sondern hat sich aus dem Staub gemacht?« Arlo verengte die Augen, und ich wusste, dass die Logik gerade dabei war, mir in den Hintern zu beißen.
»Ich weiß es nicht«, antwortete ich ausnahmsweise ehrlich. »Vielleicht wollte er uns andere schützen, weil er Sorge hatte, die Kräfte noch nicht kontrollieren zu können. Das wäre zumindest das, was ich machen würde, und Noel ist sehr viel verantwortungsbewusster als ich.«
Ich sah einiges an Kopfschütteln in den Reihen und wusste, ich hatte es nicht geschafft, sie zu überzeugen. Ich hatte Noel davor bewahren wollen, als Feind betrachtet zu werden, aber stattdessen hatte ich das Misstrauen nur noch weiter geschürt. Diplomatie war wirklich nicht meine Stärke.
»Sorry, Charlotte, aber das reicht nicht. Wir sind Knights, wir haben geschworen, die Menschheit zu beschützen. Was du da sagst, ist wohl kaum ein Beweis dafür, dass Noel ungefährlich ist. Wenn die Darks ihn schnappen –«
»Er würde sich niemals den Darks anschließen«, beharrte ich. »Meine Güte, ich bitte euch, wir reden hier von Noel! Ihr kennt ihn alle seit Jahren, er ist der aufrichtigste, loyalste Mensch, den es gibt! Wie könnt ihr an ihm zweifeln?« Ich wusste, dass ich wütend klang, aber ich hatte ihrem Misstrauen sonst nichts mehr entgegenzusetzen.
Libby schüttelte den Kopf. »Egal, ob wir ihn kennen, er ist ein Morgana-Erbe und nun im Besitz ihrer Kräfte. Wir wissen schon seit einer ganzen Weile nicht mehr, was Noel treibt – nicht einmal sein eigenes Team wusste, was er vorhat. Wie sollen wir ihm vertrauen? Wie könnt ihr das, nach allem, was passiert ist?«
»Es stimmt.« Levi nickte ernst. »Noel hat uns nicht in seine Pläne eingeweiht, Morgana die Kräfte zu rauben. Aber er hat das getan, um uns zu beschützen, uns alle.«
»Tatsächlich?« Foster aus Team Newcastle verengte die Augen. »Hat er es nicht nur deswegen getan, damit Oscar und Charlotte kein Paar mehr sein müssen? Das ist genau der Egoismus, den man von Morgana kennt. Oder den wir von Killian kannten. Niemand weiß, ob Noel nicht genauso zum Verräter wird wie sein Bruder. Ich bezweifle langsam, dass ihr überhaupt je wusstet, wem ihr da eure Leben anvertraut habt.«
Zeph stand auf und ballte die Faust. »Sag das noch einmal und –«
»Schluss«, sagte Juleon streng. »Es bringt doch nichts, wenn wir uns gegenseitig an die Gurgel gehen. Wir brauchen eine Lösung.«
Foster hob das Kinn. »Na, dann lass mal hören, oh allwissender Divine.«
Der Spott in seiner Stimme ließ Juleons Gesicht finster werden. »Zweifelst du mich an?«, fragte er in ruhigem Ton, aber die Drohung war dennoch deutlich zu hören.
»Würde ich nie. Aber ich frage mich, auf wessen Seite du und deine Schwester stehen. Ihr wusstet doch viel mehr, als ihr uns gesagt habt.«
Juleon sah ihn an. »Es ist unser Recht, euch Dinge vorzuenthalten, wenn wir es für richtig halten. Wenn du ein Problem damit hast, wäre es vielleicht besser, du überdenkst dein Hiersein noch mal.«
»Es weiß jeder, dass Stanham euer Lieblingsteam ist, vor allem seit Charlotte sich ihm angeschlossen hat. Was ist an ihr denn eigentlich so besonders? Sie ist doch nicht anders als die anderen Arthur-Erben, die wir haben.«
»Charlotte genießt den gleichen Schutz wie jeder und jede andere von euch auch«, erwiderte Scarlett. »Sie hat keinen Sonderstatus – und sollten wir den Eindruck erweckt haben, es wäre anders, liegt es wohl eher an ihrer unkonventionellen Vorgeschichte als Knight, nicht daran, dass sie unser Liebling ist.« Sie betonte das Wort, als wollte sie deutlich machen, wie lächerlich diese Diskussion war.
Dabei hatte Foster doch irgendwie recht.
»Wie auch immer.« Er sah zu den anderen. »Wir sind hier, um darüber abzustimmen, was mit Noel geschehen soll. Ich schlage vor, dass alle Teams sich auf die Suche nach ihm machen, um ihn zu ergreifen und zu inhaftieren, bis wir wissen, inwiefern er von Morganas Kräften korrumpiert wurde.«
»Du willst ihn einsperren?« Ich starrte ihn an. Das war es, was nicht nur er, sondern auch die anderen wollten, wenn ich das einhellige Nicken richtig deutete. Dass man jemanden einsperrte, der sich nichts hatte zuschulden kommen lassen.
»Natürlich. Genau, wie wir es mit Morgana gemacht hätten, wenn wir sie je erwischt hätten. Oder mit den Darks.«
Nun setzte er die Darks und Morgana schon mit Noel auf eine Stufe, fantastisch. Konnte es eigentlich noch schlimmer werden?
»Wir sollten das übernehmen«, forderte ich hastig. »Gebt uns zwei Wochen, um ihn zu finden und herzubringen. Solange wird keiner von euch etwas unternehmen, und wenn wir es nicht schaffen, könnt ihr tun, was immer ihr wollt.«
»Du bist völlig verblendet, Charlotte.« Jade schüttelte den Kopf. »Wir haben Noel gern, das weißt du, aber mit diesen Kräften … es wäre fahrlässig, ihn nicht mit allen verfügbaren Möglichkeiten zu suchen und hierherzubringen, damit wir in Sicherheit sind. Niemand weiß, ob die Dunkelheit ihn nicht längst übernommen hat. Und Foster hat recht – wenn Noel den Darks in die Hände fällt, dann sind wir am gleichen Punkt wie vor Morganas Tod. Wir müssen Noel unter Kontrolle bringen.«
Ich schwieg, weil ich diesen Argumenten nichts entgegenzusetzen hatte, und auch Xavia, Levi, Zeph und Thora blieben stumm. Unsere Liebe zu Noel war kein Grund, sich gegen die Vernunft zu stellen, und das wusste Team Stanham so gut wie ich. Damit blieb uns nur eines: schneller zu sein als die anderen. Denn wenn Noel immer noch der Typ mit den schwarzen Augen war, wenn sie ihn fanden, dann war die Gefahr groß, dass eine von beiden Seiten zu Schaden kam. Ich konnte vielleicht zu ihm durchdringen. Also musste ich ihn zuerst finden.
Die Versammlung war noch nicht beendet, stattdessen wurde über Strategien gesprochen, und über mögliche Orte, an denen sich Noel aufhalten könnte, aber ich hörte nicht mehr zu. Ich richtete meinen Blick nach innen und versuchte, zumindest eine Ahnung zu bekommen, wo er war, damit wir einen Vorteil hatten. Aber egal, wie sehr ich mich auch bemühte, da war nur Schwärze. Und als mich Oscars Blick traf und ich nur müde den Kopf schütteln konnte, hatte ich das Gefühl, absolut alle enttäuscht zu haben.
Wo bist du?, fragte ich in Gedanken, als könnte Noel mich hören. Wo zur verdammten Hölle steckst du?
Ich erhielt keine Antwort.
»Okay, wo fangen wir an?« Kaum hatte sich die Tür zu dem Gästezimmer geschlossen, das Levi bewohnte, war die Frage auch schon heraus. »Ihr wisst alles über Noel, wohin würde er in einer solchen Situation gehen?«
Zeph runzelte die Stirn. »Wenn er immer noch er wäre, würde ich vermuten, er geht so weit wie möglich weg von allen Menschen. Aber wo sollen wir ihn suchen? Mit Morganas Kräften kann er sich vermutlich überall hinteleportieren.«
»Nein, das glaube ich nicht.« Xavia setzte sich auf das ordentlich gemachte Bett. »Morgana hat sich nur einmal in unserem Beisein so bewegt, und das war in Dartmoor. Sonst hat sie nie versucht, Charlotte oder Noel auf diese Art zu erwischen, deswegen bin ich sicher, es geht nur unter bestimmten Bedingungen. Vielleicht muss man den Zielort kennen, vielleicht muss man schon dort gewesen sein. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass er Großbritannien verlassen würde. Hier ist alles, das ihm etwas bedeutet.« Ihr Blick fiel auf mich.
»Wenn ich ihm noch etwas bedeute«, murmelte ich.
»Was meinst du damit?« Thora schaute mich an.
»Dass sie nicht die Wahrheit gesagt hat, als es darum ging, ob Noel noch der Alte ist.« Zeph verzog den Mund. »Es war keine richtige Lüge, aber ich kenne dich. Du hast es so gedreht, dass wir Kay-Erben dir nicht nachweisen können, die Unwahrheit gesagt zu haben.«
Ich ließ die Schultern hängen. »Was hätte ich tun sollen? Sagen, dass seine Augen pechschwarz waren und ich ihn nicht mehr erkannt habe? Dass ich eine Scheißangst habe, er könnte längst von ihren Kräften überwältigt worden sein?« Ein Schluchzen kämpfte sich meine Kehle hinauf, ich drängte es zurück. Der Wahnsinn der letzten Zeit wollte mich in die Knie zwingen, aber noch hielt ich mich aufrecht.
»Seine Augen waren schwarz?«, fragte Thora nach und ich nickte.
»Wie die von Morgana. Tiefe, dunkle Brunnen.« Das war mein Gedanke gewesen, damals, als ich sie im Indian Dreams zum ersten Mal gesehen hatte. Morganas Augen waren bei allem, was sonst noch in ihr gelauert hatte, wohl das Gruseligste an ihr gewesen. »Ich weiß nicht, ob es dauerhaft so bleibt oder ob sie wieder ihre normale Farbe annehmen, wenn er die Kräfte verliert. Aber ich weiß, dass wir es sein müssen, die ihn zuerst finden, damit er eine Chance hat.«
Xavia nickte. »Wir sollten mit der Suche da anfangen, wo er sich auskennt. Das Haus seiner Eltern, die Basis in Stanham, unser Ausbildungszentrum im Norden, solche Sachen. Wenn er Halt sucht, wird er es dort tun.«
Ich dachte an Sevilla und das Hotel, in dem wir zum ersten Mal miteinander geschlafen hatten, ich erwähnte es jedoch nicht. Noel war kein sentimentaler Mensch, und was immer er vorhatte – wenn er Halt bei mir hätte finden wollen, wäre er nicht einfach verschwunden.
Es klopfte an der Tür und Levi, der gerade etwas hatte sagen wollen, klappte den Mund wieder zu.
Juleon kam rein. »Ich hatte geahnt, dass ihr euch irgendwo verschanzt, um euer eigenes Ding zu planen.«
Zeph hob die Schultern. »Als würden die anderen Teams das nicht auch tun.« Nach der Versammlung waren alle auseinandergelaufen, als wäre die Suche nach Noel eine Art Wettbewerb.
»Auch wieder wahr. Aber das ist nicht mehr unser einziges Problem.« Der Divine hielt sein Handy hoch. »Ich hatte eben einen ziemlich beunruhigenden Anruf.«
Sofort war mein Körper unter Strom. »Wegen Noel? Hat ihn jemand gesehen?«
»Nein. Aber es gab ein paar merkwürdige Vorfälle in London. Ein Mann ist auf offener Straße gestorben, nachdem er eine junge Frau beleidigt hat, die wirkte, als käme sie aus einer anderen Zeit. Außerdem sind zwei Menschen in einem Bekleidungsladen in der Nähe unter mysteriösen Umständen ins Koma gefallen.«
»Eine Frau aus einer anderen Zeit? Heißt das, Morgana lebt noch?« War sie doch nicht gestorben? Wir hatten sie in die Anderswelt fallen sehen, aber das musste ja nicht bedeuten, dass sie auch dort geblieben war. Ohne ihre Kräfte? Wie soll sie das gemacht haben?
»Nein, es war nicht Morgana.« Juleon schüttelte den Kopf. »Sie wurde als blond und ausgesprochen hübsch beschrieben. Manche der Leute, die sie gesehen haben, waren völlig hin und weg von ihr, sogar noch, als sie Stunden später befragt wurden. Als wäre sie eine Sirene oder so was.«
Die Sirenen waren Meeresfrauen aus der Mythologie, die Seeleute in den Tod gelockt hatten. Das Verhalten der Menschen in London passte dazu, aber ich hatte nie davon gehört, dass es neben Merlin, Morgana und den Knights noch andere übernatürliche Wesen auf der Welt gab.
»Wer war es denn dann?« Xavia wirkte so ratlos wie ich.
»Oh nein«, stöhnte Zeph plötzlich und das war ein wirklich schlechtes Zeichen. Er war unser Guru, wenn es um die Artusgeschichte ging. Und offenbar war ihm etwas eingefallen, denn er sah Juleon an und sagte dann einen Namen: »Guinevere.«
»Guinevere?« Ich starrte ihn an. Die Frau von König Arthur, die ihren Mann mit Lancelot betrogen hatte? »Wie kann sie … sie war doch nicht magisch begabt?« Wenn doch, hatten alle Sagen das verschwiegen. Sie sollte atemberaubend schön gewesen sein, aber keine Hexe. Und wenn man keine magischen Kräfte hatte, konnte man sie nicht gegen Unsterblichkeit eintauschen.
Wieder wechselten die beiden Jungs einen Blick, führten einen stummen Monolog.
»Der Riss wegen Morgana?«, fragte Zeph.
»Könnte sein«, antwortete Juleon.
»Aber –«
»Ja, schon.«
Xavia hob beide Augenbrauen. »Und nun bitte noch mal für Menschen, die kein Zephleon sprechen?«
Zephs finstere Miene hellte sich einen Moment auf. »Wir haben einen Ship Name?«
»Schon lange«, winkte Oscar ab. »Also, was ist die Theorie?«
»Wenn jemand stirbt, der nicht direkt nach Avalon geleitet wird, sondern einen Zwischenstopp einlegt, öffnet sich ein Riss in der Verbindung zwischen der Anderswelt und unserer.« Zeph machte eine Handbewegung von oben nach unten. »Durch den kann man theoretisch von der anderen Seite rüberkommen, wenn man sich zufällig an der richtigen Stelle befindet.«