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»ICH MÖCHTE EINFACH NUR, DASS DU GLÜCKLICH BIST, FAIRYTALE.«
»OHNE DICH, KANN ICH NICHT GLÜCKLICH SEIN, ELI.«
Elijah Coldwell hat genug - genug von der Panik, genug von all dem Leid, genug von seiner Angst. Alles, was er jetzt will, ist, Harrison Grant ein für alle Mal das Handwerk legen und ihn für seine Taten zu bestrafen. Denn Grant verwandelte Elijahs Leben vor dreizehn Jahren nicht nur in einen Albtraum; er sorgt seither auch dafür, dass dieser Albtraum nicht endet. Eli weiß, dass er seine Familie nur vor seinem mächtigen Gegner beschützen kann, wenn er bereit ist, alles aufs Spiel zu setzen. Selbst wenn das bedeutet, dass er nicht nur die Frau verlieren könnte, die ihm mehr alles andere auf der Welt bedeutet, sondern auch sein eigenes Leben ...
»Über Elijah und Felicity zu lesen, ist wie Fallen und Fliegen; ein bisschen Angst, ein bisschen Schmerz, ganz viele Wolken im Bauch und Tapferkeit im Herzen. Lena Kiefer macht es einem leicht, den Figuren und ihrer Geschichte zu verfallen.« ZWISCHENZEILENUNDGEFUEHLEN
Band 3 der COLDHART-Reihe von Platz-1-SPIEGEL-Bestseller-Autorin Lena Kiefer
Die COLDHART-Reihe:
1. Coldhart - Strong & Weak
2. Coldhart - Deep & Shallow
3. Coldhart - Right & Wrong
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Seitenzahl: 618
Titel
Zu diesem Buch
Leser:innenhinweis
Widmung
Playlist
Motto
Prolog
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Epilog
Danksagung
Die Autorin
Die Romane von Lena Kiefer bei LYX
Leseprobe
Impressum
LENA KIEFER
COLDHART
RIGHT & WRONG
Roman
Nach dem skrupellosen Anschlag auf die Farm seines Bruders ist Elijah sich einer Sache vollkommen sicher: Wenn er den Albtraum beenden will, in den Harrison Grant sein Leben vor dreizehn Jahren verwandelt hat, dann muss er dem Verbrecher ein für alle Mal das Handwerk legen – koste es, was es wolle. Doch schlimm genug, dass Grant der Vater der Frau ist, in die Eli sich Hals über Kopf verliebt hat, und sie nach wie vor keine Wahl haben, als ihre Liebe weiterhin um jeden Preis geheim zu halten. Eli muss auch feststellen, dass er seine Familie nur schützen kann, wenn er nach Grants Regeln spielt. Denn dieser droht, seine schrecklichen Taten niemand anders als Trish anzuhängen, sollte Eli gegen ihn vorgehen. Gemeinsam mit seinen Freunden setzt Eli dennoch alles daran, einen Weg zu finden, Grant zu überführen, auch wenn er weiß, dass er damit nicht nur sein eigenes Leben aufs Spiel setzt …
Liebe Leser:innen,
dieses Buch enthält Elemente, die triggern können.
Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.
Wir wünschen uns für euch alle
das bestmögliche Leseerlebnis.
Eure Lena und euer LYX-Verlag
Für Andrea.
Wenn es dich nicht gäbe,
müsste man dich erfinden.
Coldhart Theme – technokrates
Close to Me – Ellie Goulding, Diplo, Swae Lee
Love In The Dark – Adele
Falling Like The Stars – James Arthur
Broken – Thomas Meilstrup
Beautiful Things – Benson Boone
Mercy – Shawn Mendes
Here’s Your Perfect – Jamie Miller
When It Goes Down – Gugu Zulu, Nico Santos
National Anthem – Lana Del Rey
Shape of My Heart – Backstreet Boys
Hold Me Like You Used To – Zoe Wees
In The Stars – Benson Boone
Hurt Lovers – Blue
Strip Me – Natasha Bedingfield
Forever Young – Youth Group
Take The Ride – Story Of The Year
More Than Enough – Sarah Reeves
Cold Heart – Acoustic – Elton John, Dua Lipa
New Romantics (Taylor’s Version) – Taylor Swift
»Not a whit, we defy augury: there’s a special
providence in the fall of a sparrow. If it be now,
’tis not to come; if it be not to come, it will be
now; if it be not now, yet it will come: the
readiness is all.«
William Shakespeare, Hamlet
Harrison Grant hatte schon immer gewusst, wann es an der Zeit war, zu handeln. Das war so etwas wie seine Superkraft, ein Instinkt, der ihn warnte, wenn die Dinge sich in eine brenzlige Richtung entwickelten. Als man ihm vor ein paar Stunden gesagt hatte, dass Elijah Coldwell sich mit Carpenter im 405 House getroffen hatte, war dieser Instinkt angesprungen. Mit Argwohn hatte er den Jungen in den letzten Monaten beobachtet, nicht nur wegen Felicity. Es lag vor allem an der Sorge, dass Elijah sich offenbar doch noch mit dem Fall von Sissy Goldsteen befasste, obwohl Grant sämtliche Register gezogen hatte, damit er sich von den Gründen für seine Entführung fernhielt.
Also hatte er ihn beobachtet, hier und da ein Zeichen geschickt und alles dafür getan, dass er ihm nicht zu nahe kam. Aber dann war ihm entgangen, dass sich der junge Coldwell offenbar auf den Weg nach New Orleans gemacht hatte, um die Familie von Sissy Goldsteen zu besuchen. Dass er herausgefunden hatte, was da mit der Sallinger Bank und diesem Wendehals Carpenter gelaufen war. Und nun war es allerhöchste Zeit, zu handeln und dem Jungen klarzumachen, dass er diesen Kampf nicht gewinnen konnte.
»Danke, ich melde mich«, sagte er in sein Telefon und legte dann auf. Rex Farragano hatte ihm gerade Bescheid gegeben, dass der Plan mit dem Hund von Coldwell nicht aufgegangen war. Buddy, wie der Labrador wohl hieß, hatte keine bleibenden Schäden erlitten, da er schnell genug in die Klinik eingeliefert worden war. Und nun befand sich sein Herr auf dem Weg upstate, um die Farm seines Bruders aufzusuchen. Es war nicht schwer, sich auszurechnen, was er dort vorhatte: Offenbar wollte er nun Verbündete für seinen Krieg gewinnen. Und das bedeutete, dass er einen kräftigen Schuss vor den Bug brauchte. Sehr viel kräftiger als bisher.
Grant drehte sich zu den beiden Männern um, die in seinem Arbeitszimmer warteten. »Es wird noch dauern, Coldwell ist auf dem Weg zu seinem Bruder. Die Sache mit dem Hund war offenbar nicht eindrucksvoll genug. Wir müssen die nächste Stufe zünden.« Im wahrsten Sinne. Wenn das, was Farragano nun vorhatte, Coldwell nicht endlich dazu bringen würde, auszurasten und hier aufzutauchen, dann war er vermutlich der Cyborg, für den ihn alle hielten. Es hätte zu seiner Mutter gepasst, aber Grant wusste genau, dass ihr Sohn sehr viel emotionaler war als Trish. Wenn man die Menschen angriff, die er liebte, würde er reagieren. Und dann konnte Grant ihm endgültig klarmachen, dass es eine verdammt schlechte Idee war, sich mit ihm anzulegen.
»Was, wenn er nicht herkommt?«, fragte einer der beiden Handlanger. »Sollen wir die ganze Nacht darauf warten, ob er auftaucht?«
»Dafür werdet ihr bezahlt«, blaffte Grant ihn an. »Und nicht zu knapp, wenn ich das richtig in Erinnerung habe.«
»Ja, aber nicht von Ihnen«, erinnerte der andere ihn. »Deswegen sollten Sie uns lieber nicht verärgern.«
Grant schwieg, er wusste genau, wovon der Typ sprach, doch etwas daran ändern konnte er nicht. In dieser Hinsicht waren ihm die Hände gebunden, schon so lange, dass er sich gar nicht mehr erinnerte, wie es sich ohne diese Fesseln lebte. Er hatte einen hohen Preis für seinen Erfolg gezahlt – etwas, das ihm damals nicht bewusst gewesen war. Aber nun kam er da nicht mehr raus.
»Coldwell wird auftauchen und dann werden wir das Ganze erledigen«, beharrte er. »Bis dahin bedient euch einfach am Whiskey im Wohnzimmer.«
Das ließen die beiden sich nicht zweimal sagen, sondern gingen aus dem Arbeitszimmer, und Grant lehnte sich in seinem Stuhl zurück, ohne sich auch nur einen Funken zu entspannen. Das hier war eine ernste Situation und er musste sie schnell bereinigen, sonst würde er alles verlieren, wofür er so hart gearbeitet hatte. Immerhin hatte sich das mit Felicity und Coldwell erledigt. Ein kleines Plus in dieser ganzen Misere.
Der Abend zog sich endlos in die Länge und es war bereits nach Mitternacht, als Farragano per Textnachricht meldete, dass er den Brand gelegt hatte und nun darauf wartete, dass die Coldwells ihn bemerkten. Der Plan war sehr simpel – wenn Elijah merkte, dass man seinen Bruder und dessen Freundin angriff, würde er nicht länger stillhalten, nicht länger auf seine neutrale, rationale Art vertrauen, sondern auf seinen Zorn, der darunter lauerte. Und das war genau das, worauf Grant setzte.
Eine weitere Stunde verging, dann rief Farragano an. Er klang etwas gepresst, so als hätte er Schmerzen oder wäre eine weite Strecke gerannt. Was immer es war, Grant interessierte es nicht. Er wollte nur hören, ob der Plan funktionierte.
»Und?«, fragte er.
»Er ist auf dem Weg«, antwortete Farragano. »Und die nehmen mich gleich fest, fürchte ich. Wenn Sie das nicht regeln, werde ich reden. Ich weiß mehr über Sie, als gut für Ihre saubere Weste ist.«
»Drohungen sind unnötig, Rex. Sie wissen, dass ich es nicht so weit kommen lasse.« Damit legte er auf, bereits eine andere Nummer auf dem Display.
»Coldwell wird bald hier sein, das habe ich im Griff«, meldete er. »Aber ich bräuchte Hilfe mit Farragano in Swan Lake.«
»Sehen Sie es als erledigt an«, antwortete die Stimme am anderen Ende.
Dann war die Leitung tot.
Wie so oft.
Das Haus auf der Upper West Side war dunkel, als wir darauf zusteuerten, und ich wartete nicht, bis Jess vollständig gehalten hatte, bevor ich aus dem Auto sprang. Mein Herz schlug so schnell, dass ich meinen Puls nur als Flattern in meiner Brust wahrnahm, während ich die Stufen zur Haustür hinauflief. Ich konnte mich gerade noch daran hindern, wütend an die Tür zu klopfen, obwohl ich es am liebsten getan hätte. Stattdessen spähte ich durch den schmalen Glaseinsatz in den dunklen Eingangsbereich. Dort war nichts zu erkennen – was an jedem anderen Tag um 5 Uhr morgens normal gewesen wäre, aber nicht heute. Wir waren gerade in Rekordzeit von Swan Lake nach Manhattan gerast, um zu verhindern, dass Elijah irgendetwas passierte. Und nun stand ich hier, atmete wie nach einem Marathon und wusste nicht, was ich tun sollte. Ich hatte eine Katastrophe erwartet, Polizei, Krankenwagen, überall Blaulicht, aber es war komplett still. War Elijah überhaupt hierher gefahren? Und wenn ja, wo war er jetzt? Hatte Grant ihn verschleppt, ihn erneut entführen lassen? Bitte nicht.
Bitte nicht, bitte nicht.
»Farraganos Wagen ist nirgendwo zu sehen.« Jess kam hinter mir die Treppe hinaufgerannt. »Ist Eli hier?«
»Sieht nicht danach aus. Aber wo soll er dann sein?« Ich drehte mich um, mein Hirn war kaum in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Auf dem Weg nach New York hatten Jess und ich uns die Hälfte der Zeit gegenseitig versichert, dass alles gut gehen würde, obwohl niemand von uns tatsächlich daran glaubte. Den Rest hatte ich vergeblich damit verbracht, Alec anzurufen – und Jess damit, es bei seiner Mutter zu versuchen. Keiner von beiden war ans Telefon gegangen, was keine Überraschung war, schließlich schliefen alle. Und an Malia hatten wir uns nicht wenden wollen, bevor wir nicht wussten, was Sache war. Wenn Elijah gar nicht zu Grant gefahren war, hätten wir diesen so auf jeden Fall vorgewarnt und damit all unsere Karten aus der Hand gegeben. Sobald er erfuhr, dass Elijah hinter ihm her war, würde er reagieren. Ganz zu schweigen davon, was passierte, wenn meine Beteiligung an der Sache zu ihm durchdrang.
»Man hört nichts.« Jess hatte das Ohr an die Tür gelegt und richtete sich nun wieder auf. »Wenn er da drin wäre, würde sicher keine Totenstille herrschen.«
Der Ausdruck ließ mich zusammenzucken. Elijahs Bruder bemerkte es.
»Bitte entschuldige.«
Ich schüttelte nur den Kopf. Wir machten uns beide fürchterliche Sorgen, da war Rücksichtnahme nicht notwendig. Auch wenn sich in meinem Hirn hundert verschiedene Horrorszenarien die Klinke in die Hand gaben, seit wir wussten, dass Elijah mit dem Auto von Rex Farragano weggefahren war. Das Schlimmste davon war, dass Grant ihm etwas angetan hatte. Ich hatte keine Ahnung, was ich machen sollte, wenn es sich bewahrheitete. Mit mir. Oder mit meinem Vater.
»Hast du einen Schlüssel?«, fragte Jess, sichtlich um Fassung bemüht. Wenn man bedachte, wie oft er sich in seinem Leben schon Sorgen um jemanden aus seiner Familie gemacht hatte, war es ein Wunder, dass er nicht vollkommen ausflippte. Vor meinem inneren Auge flackerten immer noch die Flammen über die Wände des Pferdestalls. Wie grausam musste man sein, so etwas zu tun?
»Ja, er ist hier.« Ich kramte meinen Schlüsselbund aus der Tasche, den ich schnell geholt hatte, bevor wir losgefahren waren. Daran befand sich seit der Zeit, als ich nach dem Einbruch auf die WG hier gewohnt hatte, ein Schlüssel für das Haus. Grant hatte damals gesagt, ich solle ihn behalten. Ich möchte, dass du das hier als Zuhause betrachtest. Ich hätte kotzen können, als ich mich daran erinnerte.
»Vielleicht wäre es besser, wenn du draußen wartest.« Ich deutete auf den Gehsteig. »Wenn doch jemand da sein sollte, wird es schwierig, deine Anwesenheit zu erklären.«
»Und wie erklärst du ihnen deine Anwesenheit?«, fragte Jess skeptisch.
Ich hob die Schultern. »Indem ich auf betrunken mache und so tue, als hätte ich nicht allein in meiner Wohnung schlafen wollen. Das funktioniert immer.«
Er hob eine Augenbraue. »Du hast definitiv zu viel Zeit mit Eli verbracht.«
Nein, ich habe definitiv zu wenig Zeit mit ihm verbracht, dachte ich und die Angst, die seit dem Moment in mir tobte, als wir festgestellt hatten, dass er auf dem Weg nach New York war, brach sich unkontrolliert Bahn. Mein Herzschlag beschleunigte, ohne dass ich mich einen Millimeter bewegte. Würde ich ihn wiedersehen? Und wenn ja, in welchem Zustand war er dann?
»In Ordnung, ich warte am Wagen«, sagte Jess. »Wenn du allerdings in zehn Minuten nicht wieder da bist, komme ich rein.«
Ich nickte und es beruhigte mich zumindest ein bisschen, dass Jess hier war. In seiner Nähe hatte man das Gefühl, dass alles in Ordnung kommen würde, wie auch immer er das machte. Vielleicht wollte ein Teil von mir einfach daran glauben, dass wir glimpflich davonkamen.
Er zog sich zurück und ich schob den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn und öffnete die Tür, so leise es mir möglich war, ließ sie angelehnt. Es roch wie immer schwach nach Holzpolitur und Leder, als ich den Eingangsbereich betrat. Aber was hatte ich auch erwartet? Dass man riechen konnte, ob hier gerade jemand verletzt oder entführt worden war – oder sogar Schlimmeres? Das war lächerlich.
Grants Arbeitszimmer war verschlossen und es drang kein Lichtschein unter der Tür hervor. Die Durchgangstür zum Wohnzimmer war ebenfalls zu. Als ich sie aufschob, zerrte ein Luftstrom an der Klinke und ich bemerkte, dass der Ausgang zum Garten offen stand. War Elijah hier hereingekommen? Oder hatte Grant ihn hinten rausgeschafft? Meine Angst drückte auf meinen Körper, der mir zu klein für all die Gefühle vorkam, die gerade auf mich einprasselten: Sorge, Panik, Wut, Zuneigung. Erst vor ein paar Stunden hatte ich Elijah gesagt, dass ich ihn liebte. Würde er das je erwidern können, so wie er es mir versprochen hatte?
Ich ging zur Terrassentür und warf einen prüfenden Blick in den dunklen Garten. Er war von einer drei Meter hohen Mauer umschlossen, von daher war es unwahrscheinlich, dass Grant diesen Weg gewählt hatte, wenn er mit jemandem hätte verschwinden wollen. Auch auf dem Boden gab es keine Spuren, soweit ich es im Licht des Mondes erkennen konnte. Die Tür rastete nicht richtig ein, wenn man nicht dagegendrückte, vielleicht war sie einfach aufgeflogen. Vielleicht bedeutete es gar nichts.
Im Haus war es weiterhin ruhig, also schloss ich die Terrassentür und schlich die Treppe in den ersten Stock hoch. Mir war bewusst, dass man mich für eine Einbrecherin halten konnte, falls Alyssa oder Grant da waren. Ich hatte jedoch keine Wahl. Wenn ich nicht direkt die Betrunkene spielen wollte, dann musste ich erst nachsehen, ob jemand zu Hause war.
Das Zimmer meiner Halbschwester war leer, die Tür stand offen und auf dem Bett sah ich die dunklen Schemen verschiedener Kleidungsstücke. Entweder war sie ausgegangen oder übernachtete bei Wade. Gegenüber von ihrem Zimmer lag das von Grant und diese Tür war zu. Ich war nie dort drin gewesen und wollte auch jetzt nicht reingehen. Aber wenn er im Bett lag und schlief, gab es immerhin Entwarnung – denn dann war Elijah sicherlich nicht hier gewesen. Er hatte etwa eine halbe Stunde Vorsprung gehabt, in der Zeit wäre es für Grant nicht möglich gewesen, ihm etwas anzutun und danach wieder schlafen zu gehen.
Ich hielt die Luft an, als ich die Hand auf den Knauf legte und ihn Millimeter für Millimeter drehte. Er gab ein leises Quietschen von sich und ich stoppte in meiner Bewegung, dachte über die Konsequenzen nach. Was, wenn mein Vater eine Waffe auf dem Nachttisch liegen hatte und sie benutzte, sobald ich hineinging? Zuzutrauen wäre es ihm.
Hinter mir raschelte es und ich ließ den Knauf los, er schnappte zurück und klackte dabei laut. Mein Herz schlug bis zum Hals, als ich mich umdrehte, aber da war niemand. Noch einmal traute ich mich nicht, einfach so den Türknauf zu drehen, stattdessen hob ich die Hand, ballte sie zur Faust und klopfte gegen das Holz. Einmal, kurze Pause, dann ein zweites Mal. Keine Reaktion. Also nahm ich meinen Mut zusammen, öffnete die Tür nun doch mit einem Ruck und erkannte auf den ersten Blick, dass das Zimmer leer war.
Mehr noch, das Bett war ordentlich gemacht, die Tagesdecke festgesteckt, wie Myra es jeden Vormittag in allen Schlafzimmern des Hauses zu tun pflegte. Grant hatte sich nie schlafen gelegt. Mein Herzschlag drehte erneut auf volle Leistung, Angst machte meinen Hals eng. Was bedeutete das?
Hatte er etwa auf Elijah gewartet? Hatte er gewusst, dass er kommen würde? Aber dann hätte das ja alles geplant sein müssen – das mit Buddy, der Brand … wenn er so vorging, würde es schwieriger sein als geahnt, ihn für irgendetwas davon dranzukriegen.
Ich schloss die Tür wieder, lief eilig zur Treppe, achtete nicht länger darauf, leise zu sein, schließlich war niemand im Haus. Als ich im Erdgeschoss ankam, sah ich durch die Eingangstür Jess, der gerade die Stufen hinaufkam, offenbar waren die zehn Minuten um. Schnell ging ich raus.
»Niemand da, weder meine Schwester noch Grant, sein Bett ist unbenutzt«, gab ich ihm knapp eine Antwort auf die Frage, die er gar nicht gestellt hatte. »Vielleicht war er heute Abend nicht hier im Haus und Elijah hat ihn verpasst.« Diese Schlussfolgerung war eher hoffnungsvolle Beruhigung als alles andere, denn das klamme Gefühl in meinem Magen hielt dagegen.
»Oder er hat auf ihn gewartet«, sprach Jess das aus, was ich vorhin selbst gedacht hatte. »Aber –« Kaum hatte er Luft geholt, klingelte sein Handy. Er zog es so schnell hervor, dass es ihm beinahe aus der Hand fiel. Als er den Namen auf dem Display erkannte, stieß er einen Seufzer aus, der trotzdem nicht nach Entspannung klang. »Malia, hast du was zu dem Wagen?«
Ich ging mit Jess die Treppe hinunter, konnte aber leider nicht verstehen, was die Detective zu berichten hatte – und aus den knappen Erwiderungen von Elijahs Bruder wurde ich auch nicht schlau, schließlich hatte ich bislang nicht gewusst, dass er sie in der Zwischenzeit angerufen und nun doch informiert hatte. Er gab kurz durch, dass er kommen würde, dann legte er auf.
»Was ist los?«, fragte ich, noch bevor er sein Telefon wieder in die Tasche gesteckt hatte.
»Das NYPD hat den Wagen gefunden, mit dem Elijah hergefahren ist. Ein Officer hat ihn entdeckt, ganz unabhängig von meiner Nachfrage bei Malia. Er ist ihm aufgefallen, weil er mit offenen Türen auf dem Parkplatz stand.« Jess war schon auf dem Weg zu seinem Pick-up, zog die Fahrertür auf und sprang hinein. Ich folgte ihm, so schnell ich konnte.
»Und wo?« Verdammt, wieso ließ sich der Typ alles aus der Nase ziehen? War das so ein Familiending?
»Rockaway Beach.« Jess drehte den Zündschlüssel und fuhr los, während ich noch nach dem Gurt angelte. »Aber keine Spur von Eli, soweit der Officer es feststellen konnte. Entweder hat er das Auto nicht selbst abgestellt, oder er ist von dort aus losgelaufen. Malia hat angeboten, ein paar Kollegen hinzuschicken, um die Umgebung abzusuchen, aber ich habe sie gebeten, noch zu warten, bis wir selbst nachgesehen haben.«
Rockaway Beach war der Strand auf der Peninsula in Queens, an dem man surfen gehen konnte. Ich hatte es nicht dorthin geschafft, solange es noch warm genug gewesen war, aber ich wusste, dass Elijah mein Hobby – und das seines Bruders – nicht teilte. Es konnte demnach keinen harmlosen Grund geben, warum er dort hingefahren war. Was hatte Grant ihm angetan? Ihn irgendwo vergraben? Mir wurde übel.
»Du kennst dich dort aus, oder?« Ich atmete tief ein und aus, um meinen Magen zu beruhigen. »Gibt es in der Gegend irgendwelche Gebäude, wo man ihn festhalten könnte?«
»Direkt am Strand nicht, aber es stehen viele Wohnblöcke in den Reihen dahinter. Trotzdem ergibt es für mich keinen Sinn. Wenn Grant ihn entführen wollte, warum sollte er das Auto dann als Hinweis auf seinen Aufenthaltsort stehen lassen?« Jess’ Stimme brach ein wenig am Ende des Satzes und mir kam erst jetzt in den Sinn, dass diese Situation nicht nur eine ganz aktuelle Angst in ihm heraufbeschwor. Sondern auch eine aus der Vergangenheit.
»Es erinnert dich an damals, oder?« Er musste ungefähr sechzehn oder siebzehn Jahre alt gewesen sein, als man Elijah entführt hatte.
Er nickte. »Man hat keine Vorstellung davon, wie sich so etwas anfühlt, bevor es einem passiert«, antwortete er leise. »Und ich wünsche es niemandem, nicht einmal meinem ärgsten Feind, dass er das erleben muss, was wir damals erlebt haben. Diese Sorge, dass er tot sein könnte, verfolgt mich bis heute, genau wie die Hilflosigkeit, weil wir nichts tun konnten. Dass er gerettet wurde, kam uns wie ein Wunder vor.«
Ein Wunder, das sich hoffentlich wiederholen würde. Das sagte ich jedoch nicht laut und ich drückte auch nicht mein Mitgefühl aus, weil es abgedroschen klang, das zu sagen. Er hatte recht, ich hatte keine Vorstellung davon. Aber die Angst, die ich gerade empfand, reichte mir, um eine Ahnung zu bekommen.
Wir fuhren Richtung Queens und ich hielt mein Smartphone so fest umklammert, dass es in meiner Handfläche schmerzte. Jess und ich schwiegen, während sich in meinem Kopf ein Plan formte, der ziemlich gewagt war – wenn auch nicht gewagter als sich nachts in das Haus von Grant zu schleichen, um nachzusehen, ob er dort war.
»Ich könnte ihn anrufen«, fasste ich meine Gedanken schließlich in Worte.
»Wen meinst du?« Jess wechselte die Spur.
»Grant. Ich rufe an und sage ihm, dass ich in Not bin und seine Hilfe brauche. Was immer er gerade tut, er wird vermutlich damit aufhören und zu mir kommen.«
Jess überlegte kurz, dann schüttelte er den Kopf. »Wenn ich das richtig verstanden habe, erledigt er die Drecksarbeit nicht selbst, sondern hat dafür seine Leute. Es würde also nichts bringen, wenn du ihn von dort wegholst, wo er gerade ist. Außerdem wäre es doch ein großer Zufall, wenn du ihn ausgerechnet in dieser Nacht erneut anrufst, oder?« Elijah hatte ihm gestern Abend auch von Rex’ Angriff auf unseren Wagen erzählt und dass ich es mit einem Anruf bei Grant geschafft hatte, uns in Sicherheit zu bringen.
»Vielleicht, aber es ist immer noch besser, als gar nichts zu tun.« Es machte mich wahnsinnig, dass wir nicht wussten, wo Elijah war oder ob es ihm gut ging. Er war nach dem Brand und dem Kampf mit Farragano sicher außer sich gewesen vor Wut und Rachegelüsten. Und auch wenn er sonst unglaublich rational war, ließ sich nicht sagen, ob er sich wieder abgekühlt hatte, bis er in New York angekommen war.
»Warte noch damit«, bat Jess. »Vielleicht haben wir ja Glück und es geht ihm gut. Vielleicht hat er es sich anders überlegt und ist zum Strand gefahren, um zu laufen und sich abzureagieren.«
Sein Telefon klingelte wieder und er ging über die Freisprecheinrichtung dran.
»Helena, alles okay?« Erneut dieser Unterton, der mir verriet, dass er sich gerade um alle Menschen sorgte, die er liebte. Der Brand war zwar gelöscht gewesen, als wir gefahren waren, aber was bedeutete das schon? Grant konnte schließlich noch jemanden geschickt haben, der irgendetwas zerstörte.
»Ja, hier ist alles unter Kontrolle, die Feuerwehr überprüft die Glutnester und reagiert sofort, falls etwas passiert.« Helena klang gleichermaßen müde und besorgt. »Ich wollte wissen, ob es bei euch etwas Neues gibt.«
»Malias Kollegen haben den Wagen gefunden, er steht am Rockaway. Felicity und ich fahren hin, um Eli zu suchen. Bei Grant zu Hause war niemand.«
Die beiden sprachen miteinander, doch ich hörte nicht mehr zu, weil ich in meinem Kopf diese Bilder bewältigen musste, die mir immer wieder eingeblendet wurden. Ich hatte Elijah natürlich damals nicht gesehen, nachdem er befreit worden war, aber seinen Narben nach zu urteilen, war er in einem fürchterlichen Zustand gewesen. Ich wusste nicht, was ich tun würde, wenn das wieder geschah. Oder noch Schlimmeres als das, was ihm vor über dreizehn Jahren passiert war.
»Wir finden ihn«, sagte Jess zu mir und sicherlich auch sich selbst, nachdem er aufgelegt hatte. »Eli ist der vernünftigste Mensch, den ich kenne, er wird sich gedacht haben, dass er es auf die Art nicht durchziehen kann, weil es nur dazu führt, dass er selbst im Gefängnis landet.«
Vielleicht war es so, aber ich hielt es nicht für wahrscheinlich. Wenn er es sich anders überlegt hätte, warum hatte er sich dann nicht gemeldet? Er hatte zwar sein Smartphone auf der Farm gelassen, aber es gab auch noch andere Möglichkeiten, zum Beispiel das Festnetz in seiner Wohnung. Er hätte zu Alec fahren können, zu seiner Mutter, in den Park. Aber ausgerechnet zum Strand, einem Ort, mit dem ihn rein gar nichts verband? Warum zum Teufel sollte er das machen?
Wir verließen den Highway und fuhren Richtung Rockaway Beach, zumindest sagten mir das die Schilder, an denen wir vorbeikamen. Jess wurde langsamer, als wir einen Parkplatz passierten, auf dem ein Zivil- und ein Streifenwagen neben einem vermutlich grauen Wagen mit offenen Türen standen – in der Dunkelheit war das schwer zu erkennen. Trotzdem hielt Jess nicht an und bog ab, sondern fuhr weiter geradeaus.
»Was hast du vor?«, fragte ich und schaute über die Schulter zu den Polizisten, die immer kleiner wurden.
»Ich folge einer Eingebung«, antwortete er kryptisch.
»Einer Eingebung?«
»Mir ist gerade etwas eingefallen. Etwa einen Kilometer von hier am Breezy Point Tip gibt es eine Buhne, so eine Art Steindamm, auf dem ein Aussichtsturm steht. Einmal, als Eli eine Attacke hatte, bin ich mit ihm dort gewesen, damit er durchatmen kann, und wir haben uns hingesetzt und aufs Wasser geschaut. Er meinte damals, das wäre der friedlichste Ort, den es in New York gibt. Ich hatte es nur vergessen, weil es ewig her ist.«
Aufregung machte sich in mir breit, mehr als ohnehin schon. »Dann denkst du, er könnte dort sein?«
»Ich hoffe es. Denn wenn nicht …« Er musste den Satz nicht beenden, um mir klar zu machen, was er dachte – dass Elijah entführt worden sein könnte. Schon wieder.
»Wenn er nicht da ist, werde ich Grant anrufen.« Ich versicherte das eher mir als Jess, weil ich dann einen Plan hatte, wie es weitergehen sollte. Allmählich verstand ich Elijahs Wunsch nach vollkommener Kontrolle immer besser. Es war grauenhaft, wenn man das Gefühl hatte, nichts in der Hand zu haben.
Wir fuhren durch Straßen mit zweistöckigen Häusern, die mich ein wenig an Venice Beach erinnerten, und parkten schließlich an einem kleineren Parkplatz neben einem Gebäude, das ein Schild mit »Breezy Point Surf Club« an der Stirnseite trug. Dann stiegen wir aus.
»Es ist da drüben, wir müssen ein Stück laufen. Hier, zieh die an, es ist kalt am Meer.« Jess gab mir eine Windjacke vom Rücksitz seines Pick-ups mit dem Logo eines seiner Clubs und dem Zusatz »Valet Service«, die wohl für seine Mitarbeiter gedacht war. Anschließend zog er sich selbst etwas über und wir gingen los.
Der Wind pfiff eiskalt um unsere Köpfe und ich bereute es, dass ich nicht wärmer angezogen war. Immerhin drang die Kälte nicht durch die Jacke hindurch, aber meine von Helena geliehene Jogginghose hielt sie nicht ab. Wir waren noch nicht einmal an der Buhne angekommen, da waren meine Beine bereits zwei Eiszapfen, die ich kaum mehr spürte.
»Ich dachte, wir hätten so was wie Frühjahr«, murrte ich und war froh, dass der Wind sich in diesem Moment ein wenig legte.
Jess schnaubte nur. »Willkommen in New York.«
Der Damm bestand aus großen, würfelförmigen Steinen, über die man ganz gut laufen konnte, und es war hilfreich, dass endlich der Morgen graute und man mehr von der Umgebung erkennen konnte. Je weiter wir uns dem kleinen Aussichtsturm aus dunklem Metallgestänge näherten, desto angespannter wurde ich. Hatten wir uns umsonst auf den Weg gemacht und verschwendeten hier gerade wertvolle Zeit, die wir damit verbringen sollten, Grant zu finden? Oder konnte es sein, dass Jess’ Instinkt richtig lag?
»Pass auf, es ist rutschig«, warnte er mich, als wir auf Höhe des Wassers weiter in Richtung Ende liefen. Die Gischt spritzte auf die Steine und durchnässte meine Hose. Ich versuchte, gleichzeitig auf den Untergrund zu achten und Ausschau nach Elijah zu halten – oder eher danach, ob ich am Turm jemanden sehen konnte. Aber erst, als wir nur noch zwanzig Meter entfernt waren, wurde klar, dass niemand dort oben saß. Der Turm war leer.
Er war nicht hier.
Fuck.
Jess schien zum gleichen Schluss zu kommen, denn er fluchte und wandte sich um, als erwarte er, Elijah irgendwo zu entdecken, obwohl links und rechts von uns nichts war außer Steine und Meer. Ich ging noch ein Stück weiter, ohne zu wissen, warum. Etwas trieb mich vorwärts, vielleicht war es Hoffnung, vielleicht auch nur die Weigerung, die Tatsachen zu akzeptieren.
Als ich ein paar Meter vorangekommen war, sah ich einen dunklen Schatten hinter dem Aussichtsturm. Erst wirkte es wie ein weiterer Stein, doch dann erkannte ich, dass es ein Mensch war. Jemand kauerte auf dem Vorsprung direkt am Wasser, scheinbar reglos.
»Jess, komm her!«, rief ich und setzte mich schnell in Bewegung, glitt auf den feuchten Steinen beinahe aus, bevor ich endlich bei der Person ankam. Als ich erkannte, dass es tatsächlich Elijah war, der dort saß, schluchzte ich auf vor Erleichterung. Bis mir klar wurde, dass er sich nicht rührte.
Ich fiel neben ihm auf die Knie, meine Gelenke machten schmerzhafte Bekanntschaft mit dem Beton. Es kümmerte mich nicht. Ich sah nur Elijah, dem das Wasser von den dunklen Haaren ins Gesicht tropfte und den das nicht zu kümmern schien. Seine Augen waren offen, starrten jedoch leer vor sich hin. Meine Erleichterung, weil er lebte, wurde sofort wieder von tiefer Sorge abgelöst.
»Elijah«, sprach ich ihn an, ziemlich laut, um den Wind und die Wellen zu übertönen. »Bist du okay?« Er schaute mich nicht an, schien aber immerhin zu registrieren, dass ich da war, denn er sagte etwas, das zu leise war, um es zu verstehen. Ich berührte ihn nicht, scannte allerdings mit dem Blick seinen Körper, um festzustellen, ob er Verletzungen hatte. Außer der Tatsache, dass er komplett durchnässt war und zitterte, war jedoch nichts zu erkennen.
»Ist er verletzt?« Jess kam neben uns zum Stehen, hockte sich hin. Im Gegensatz zu mir hatte er keine Skrupel, Elijah zu berühren, sondern fasste ihn an den Schultern, als hätte er das schon Hunderte Male getan – sanft, aber so, dass er es spürte. »Rede mit mir, Kleiner. Was ist passiert?«
Wieder sagte Elijah etwas, wieder war es nicht laut genug, um den Inhalt seiner Worte wahrnehmen zu können, weder für mich noch für Jess. Der schüttelte den Kopf und drehte sich zu mir um.
»Wir müssen ihn von hier wegbringen.« Er zog seine Jacke aus, um sie Elijah zu geben, dann brachte er seinen Bruder dazu, sich zu erheben. Der ließ das alles geschehen, ohne richtig zu reagieren. Auch nicht, als wir ihn zwischen uns nahmen und langsam über die Buhne Richtung Strand liefen. Es war lächerlich zu glauben, dass ich mit meiner Statur jemanden wie ihn tatsächlich halten konnte, aber Jess erledigte den Großteil der Arbeit. Auf mich wirkte es, als wären wir Stunden unterwegs, und allmählich spürte ich meinen Körper kaum noch vor Kälte und Sorge. Irgendwann erreichten wir jedoch den Strand und dann den Parkplatz. Jess öffnete die Autotür und bugsierte Elijah auf den Beifahrersitz seines Wagens. Danach holte er eine Decke von der Rückbank und legte sie seinem jüngeren Bruder um.
»Sag uns, was passiert ist«, bat er dann. Mit den geöffneten Türen war der Wind immer noch laut, aber bei Weitem nicht so heftig wie vorne am Aussichtsturm.
»Grant hat auf mich gewartet. Das war alles geplant.« Elijahs Stimme klang dünn. Resigniert. Als hätte ihn jeglicher Mut verlassen. »Es ist vorbei.«
»Was ist vorbei, was meinst du damit?«, fragte ich. »Hat er dir was getan?«
»Nein.« Er schüttelte leicht den Kopf. »Darum ging es nicht.«
»Dann hat er dir gedroht?« Jess hakte nach.
»Mir? Nein.« Elijah schnaubte und zog die Decke enger um seine Schultern. Es war die erste Reaktion, die zeigte, dass ihm nicht alles egal war, und das machte mir ein wenig Hoffnung.
»Wem dann?«
»Ich …« Er brachte den Satz nicht zu Ende, weil er heftig schauderte und zu zittern begann wie bei Schüttelfrost, und ich machte mir Sorgen, dass er eine Lungenentzündung bekommen würde, wenn er nicht bald die nassen Klamotten loswurde und ins Warme kam.
»Wir sollten fahren.« Jess schien die gleichen Gedanken zu haben wie ich. »Gehen wir erst mal in die Wohnung, dann kannst du heiß duschen und was Trockenes anziehen. Und wir auch.« Er warf mir einen Blick zu und ich konnte nicht leugnen, dass ich mich wie ein Eisblock fühlte. Aber das lag nicht nur daran, dass ich durchgeweicht war und mich im kalten Wind aufgehalten hatte. Sondern vor allem an Elijah.
Ich zog meine Jacke aus und rutschte dann auf den Rücksitz, wo es keine Sitzheizung gab, aber eine zweite Decke, die ich mir umlegen konnte. Viel lieber hätte ich vorne bei Elijah gesessen, um sicherzugehen, dass es ihm gut ging, wenn ich jedoch ehrlich war, wusste ich, dass es nicht so war. Irgendetwas war passiert, das ihn hatte erstarren lassen. Und falls es keine physische Verletzung war, musste Grant ihn psychisch angegriffen haben. Ich hätte ihn dafür umbringen können. Elijah hatte doch seinetwegen wirklich genug gelitten.
Mein Handy war in der Tasche und ich nahm es hervor, ging in meinen Messenger, rief den Chat mit meinem Vater auf. Keine der Nachrichten, die in der letzten Zeit hin- und hergeschickt worden waren, deutete daraufhin, was für ein Monster er war. Oder dass ich wusste, was er getan hatte. Aber in diesem Moment wollte ich es ihm sagen, ihm einfach schreiben, dass mir all seine Taten bekannt waren. Sissy, Elijah, Buddy, der Brand. Ich wollte ihm sagen, dass er auch mich beinahe getötet hatte, zweimal. Und dass ich alles dafür tun würde, damit er seine gerechte Strafe bekam.
Nur wäre es nicht klug gewesen und ich musste mich klug verhalten, so schwer es mir in diesem Moment auch fiel. Also steckte ich das Telefon wieder weg, schob meine Hand über die Kante des Rücksitzes und berührte Elijah an der Schulter, streichelte ihn. Er reagierte nicht und es tat mir weh, auch wenn ich kein Recht hatte, verletzt zu sein. Also nahm ich meine Hand wieder weg, legte sie in meinen Schoß, lauschte dem Schweigen, das sich im Wagen ausbreitete. Es gab gerade keine Verbindung zwischen uns, das musste ich für den Moment akzeptieren.
Ich hoffte nur, dass es ab jetzt nicht für immer so sein würde.
Auf der Fahrt sprach keiner von uns viel, denn die zaghaften Versuche von Jess, Elijah zu Infos über das zu bewegen, was passiert war, prallten an einer Mauer aus Stille und Zittern ab. Ich selbst versuchte es erst gar nicht, weil ich wusste, dass ich keine Chance hatte. Dabei hätte ich ihn am liebsten gepackt und so lange geschüttelt, bis er mit der Wahrheit herausrückte – während ich gleichzeitig Angst davor hatte, sie zu erfahren. Daher war das einzige Gespräch, das im Auto geführt wurde, das von Jess mit Helena, die er anrief, um ihr in knappen Worten mitzuteilen, dass wir Elijah gefunden hatten.
Schneller als gehofft kamen wir wieder in Manhattan an und parkten vor dem Haus. Mittlerweile war es hell draußen und auf den Straßen waren Menschen mit ihren Hunden unterwegs oder joggten auf dem Gehsteig. Niemand beachtete uns, während wir aus dem Wagen stiegen, aber ich sah mich dennoch um, ob uns jemand beobachtete. Rex Farragano war zwar in Haft, aber vielleicht hatte Grant weitere Leute, die auf seinen Befehl handelten und mich im Auge behielten. Die Vorstellung war gruselig, in diesem Moment jedoch mehr als real. Allerdings konnte ich niemanden entdecken, der verdächtig wirkte.
Ich war bereits ein paarmal in der Wohnung von Helena und Jess gewesen – schließlich lag sie direkt über der Agentur und manchmal kochte er für das Team, dann aßen wir hier oben. Aber heute hatte ich keinen Blick für die gemütliche Einrichtung oder die angenehme Wärme, die der Holzboden und die Backsteinwände ausstrahlten. Sondern nur für Elijah, dessen Hände vor Kälte bebten, während er sich mühsam aus der Jacke von Jess schälte.
»Geh am besten sofort duschen, damit du wieder warm wirst«, sagte sein Bruder und ging zu der entsprechenden Tür, um sie zu öffnen. »Du weißt ja, wo die Handtücher sind. Kommst du allein klar?«
»Du meinst, ob ich mich ohne fremde Hilfe unter eine Dusche stellen kann? Natürlich.« Elijah wirkte immer noch gedämpft, aber nicht länger vollkommen apathisch. Es erleichterte mich, obwohl wir nicht wussten, was geschehen war. Er würde zu uns zurückkommen, ganz sicher. An diesen Gedanken klammerte ich mich.
Elijah verschwand im Bad und die Tür schloss sich hinter ihm. Jess und ich blieben allein zurück.
»Ich besorge dir was zum Anziehen, warte einen Moment.« Er ging zu einer anderen Tür, hinter der sich offenbar eine Art Ankleidezimmer befand, denn nur eine Minute später kam er mit einem Sweatshirt und einer Jogginghose zurück – quasi mein aktuelles Outfit, nur in trocken. Man hörte, wie das Wasser im Bad angestellt wurde.
»Was glaubst du, ist passiert?«, fragte ich.
»Schwer zu sagen. Ich kenne so ein Verhalten von ihm nicht – wenn er früher Panikattacken hatte, hat er sich eigentlich immer von mir rausholen lassen, und da war er auch nicht so … dumpf, eher das Gegenteil.« Jess’ Sorge trieb eine tiefe Falte zwischen seine Augenbrauen. Er befürchtete sicher genau wie ich, dass Elijah erneut traumatisiert worden war. Wie viel konnte man davon ertragen, bis man endgültig zerbrach?
»Ich hätte gute Lust, Grant anzurufen und ihn anzuschreien.« Meine Hände bebten immer noch, nun allerdings vor Wut. »Er hinterlässt nichts als Leid und Schmerz. Man muss ihn aufhalten.«
»Wir werden ihn aufhalten«, antwortete Jess grimmig. »Genau wie wir damals Adams und Valeries Mörder geschnappt haben.«
Ich erinnerte mich an Elijahs Worte. »Aber er hat gesagt, es wäre vorbei.«
»Ja, also muss Grant etwas in der Hand haben, um zu verhindern, dass wir ihn zu Fall bringen. Ich hoffe, Eli sagt es uns, wenn er da wieder rauskommt.« Dann deutete er auf die Kleidung in meinen Händen. »Du kannst dich oben umziehen, wenn du möchtest.«
Ich nahm das Angebot an und ging die Treppe hoch auf die zweite Ebene, wo offenbar das Schlafzimmer war. Es war mir unangenehm, auf diese Art in die Privatsphäre von Helena und Jess einzudringen, aber ich beeilte mich und ließ den Blick so wenig wie möglich schweifen. Als ich fertig war und wieder nach unten ging, öffnete sich zeitgleich die Badezimmertür.
Elijah hatte sich kein Shirt übergezogen und trug nur eine tiefsitzende Jeans, die Jess ihm vermutlich in der Zwischenzeit gegeben hatte, aber zum ersten Mal schenkte ich seinem Körper keine Beachtung, sondern sah besorgt in sein Gesicht. Es war verschlossen wie so häufig und ich konnte kaum eine Regung erkennen – es war jedoch nicht mehr so leer und hilflos wie vor einer Stunde. Die Haare waren noch feucht und er rieb mit einem Handtuch darüber, bevor er von seinem Bruder einen Hoodie entgegennahm und ihn anzog. Ich wusste nicht so recht, wie ich mit ihm umgehen sollte, also ging ich die letzten Stufen hinunter und sah mich nach einer Beschäftigung um, ohne eine zu finden. Jess war in der Küche dabei, die Kaffeemaschine in Betrieb zu nehmen, und die Geräusche der Mühle waren das Einzige, was den Raum erfüllte.
»Ist dir … jetzt wärmer?«, fragte ich und fühlte mich, als hätte ich noch nie in meinem Leben mit Elijah gesprochen. Selbst bei unserer Begegnung in der Garderobe des Lestrange war es nicht so verkrampft zwischen uns gewesen.
Er nickte müde und schaute mich dann zum ersten Mal, seit wir ihn gefunden hatten, direkt an.
»Es tut mir leid, dass ich einfach losgefahren bin, ohne jemandem etwas zu sagen. Ich wollte nicht, dass du dir Sorgen machst.«
Ich schluchzte auf, obwohl ich eigentlich hatte schnauben wollen, weil es mich so sehr erleichterte, dass er mit mir sprach, als wäre er wieder er selbst. Schnell presste ich die Hand auf den Mund, um meine Gefühle zu ersticken. Trotzdem brauchte ich einen Augenblick, bis ich erneut etwas sagen konnte.
»Ist schon okay. Ich hätte das Gleiche getan wie du, schätze ich.« Ich wagte es nicht, zu ihm zu gehen oder ihn zu umarmen – und es kam mir lächerlich vor, wenn ich daran dachte, auf welche Art wir uns nur ein paar Stunden früher berührt hatten. Aber da war diese unsichtbare Wand zwischen uns und ich hatte nichts, um sie einzureißen.
Jess kam zu uns, drückte jedem von uns einen Becher mit dampfendem Kaffee in die Hand und zeigte zum Bad. »Willst du dir die Haare trocknen, Felicity? Nicht, dass du dich erkältest.«
Ich schüttelte den Kopf, weil ich den Verdacht hatte, dass ich etwas Wichtiges verpassen würde, wenn ich jetzt ging. Außerdem hatte ich in meinem Leben vermutlich mehr Zeit mit feuchten Haaren verbracht als mit trockenen, ich würde das schon überleben.
Jess setzte sich auf die Couch und ich nahm den Sessel gegenüber. Fast erwartete ich, Elijah würde sich dem Gespräch entziehen wollen, aber er nahm neben seinem Bruder Platz und sah in seinen Becher.
»Du hast gesagt, es wäre vorbei«, begann ich erneut sanft die Befragung. »Was meinst du damit? Was ist bei Grant passiert?«
»Spielt keine Rolle«, murmelte Elijah abweisend und nahm einen Schluck von seinem Kaffee. »Wichtig ist nur, dass ich nicht weiter gegen ihn vorgehen werde. Und ihr auch nicht.«
Ich starrte ihn an, fassungslos. »Was willst du damit sagen? Wir lassen ihn davonkommen?« Das konnte nicht sein Ernst sein. Ich warf einen Hilfe suchenden Blick zu Jess und der stellte seinem Bruder die einzige Frage, die jetzt noch zu helfen schien.
»Was hat er gegen dich in der Hand?«
Ich hatte keine Ahnung, wie viel Zeit verging, bis ich endlich wieder etwas fühlte. Nicht nur in meinem Körper, der komplett durchgefroren gewesen war, weil ich ohne Jacke in der eiskalten Gischt gesessen hatte. Sondern auch sonst. Ich nahm Felicity und Jess zwar immer noch wie durch eine dicke Plexiglasscheibe wahr, so als wären sie nicht richtig da – oder vielmehr ich –, aber ich fühlte wieder etwas. Hilflosigkeit. Und Wut, die von der Gewissheit erstickt wurde, dass mein Kampf vorbei war.
»Was hat er gegen dich in der Hand?«, fragte Jess und traf damit nur halb ins Schwarze.
»Gegen mich?« Ich lachte verzweifelt auf. »Gar nichts.« Als hätte ich in meinem Leben jemals etwas getan, mit dem man mich erpressen konnte. Mir hatte es gereicht, dass ich auf der Abschussliste eines Menschen stand, der über Leichen ging. Und ich hatte mir zudem geschworen, dass ich das Gesetz nie auf die gleiche Weise dehnen würde, wie es meine Mutter früher getan hatte. Wenn ich nicht auf ehrlichem Wege in dieser Stadt meine Marke setzen konnte, würde ich es lassen. Das war es einfach nicht wert.
»Gegen wen dann?« Jess blieb dran, weil er genau wusste, dass es irgendein Druckmittel geben musste.
»Es ist Mom.« Ich holte tief Luft, als würde Sauerstoff etwas besser machen. Als würde es dann weniger wehtun, mich zwischen meinem eigenen Frieden und der Freiheit meiner Mutter zu entscheiden. Dabei schmerzte es so grauenhaft, dass ich das Gefühl hatte, mein Körper stünde in Flammen. Weil keine von beiden Optionen etwas war, mit dem ich leben konnte. Und trotzdem musste ich es tun.
»Mom?« Es war vermutlich das erste Mal seit immer, dass Jess sie nicht beim Vornamen nannte und es hätte mich berührt, wenn ich nicht entschieden hätte, gerade so wenig wie möglich zu fühlen. Es war ein Überlebensmodus, den ich viel zu früh hatte entwickeln müssen. Vielleicht würde er auch jetzt dafür sorgen, dass ich nicht unterging.
Ich nickte. »Der Typ aus der Bank, der Sissy an Grant verraten hat – Carpenter –, hat mir den Namen einer Firma genannt, die in die Geldwäsche verstrickt war: Franklin Constructions. Das war mein Ansatzpunkt, um Grant diese ganze Scheiße nachzuweisen, aber er war schneller als ich.«
»Was bedeutet das? Dass sie mit drinhängt?« Auf Jess’ Gesicht zeichnete sich Zorn ab. Sein Verhältnis zu unserer Mutter war nie einfach gewesen, auch nie nah oder liebevoll. Man konnte das vergessen, weil sie mittlerweile zivilisiert miteinander umgingen – bis zu Momenten wie diesen.
»Nein, natürlich nicht.« Ich schüttelte den Kopf. »Er hat es so gedreht, dass nicht er derjenige ist, auf den am Ende alles hindeutet, sondern Mom. Ich habe die Dokumente gesehen, es ist alles erstklassig gefälscht. Ihre Verbindung zu Franklin Constructions ist belegt, die Geldwäsche führt zu Konten auf den Caymans, die mit ihrem Namen verknüpft sind. Er muss unzählige Menschen bestochen und erpresst haben, um das hinzukriegen. Das bedeutet, wenn ich Sissy Goldsteens Mord aufdecke, geht nicht Grant ins Gefängnis. Mom ist es, die dann dran ist.« Die nächste Wahrheit kam mir nicht leichtfertig über die Lippen, aber es musste sein. »Und er hat zusätzlich dafür gesorgt, dass die Geschäfte mit CW Buildings verknüpft werden.«
»Fuck.« Jess stieß hörbar die Luft aus, während Felicity vor allem verwirrt aussah. Ich hatte sie kaum angeschaut, seit sie mich gefunden hatte. Ich konnte nicht auch noch damit umgehen, was das alles für uns bedeutete.
»Was heißt das?«, fragte sie jetzt. Natürlich verstand sie es nicht, sie hatte keine eigene Firma oder war Teil einer solchen. Jess schon.
»Es bedeutet, dass Trish nicht nur persönlich dran ist«, erklärte er. »Sondern auch die Firma.«
Grant hatte mir klargemacht, dass er jedes Schlupfloch gestopft hatte. Das bedeutete, ich konnte machen, was ich wollte, am Ende würde meine Mutter statt Grant ins Gefängnis gehen. Wir hatten gute Anwälte, doch da konnten sie sie nicht rausboxen. Und die Öffentlichkeit würde Trish Coldwell solche Machenschaften ohne Weiteres zutrauen. Was das betraf, war ihr Ruf wirklich keine Hilfe.
Felicity wirkte schockiert. »Aber das kann doch nicht sein. Es darf nicht sein, dass er damit einfach so durchkommt.«
»Das wird er.« Ich senkte den Blick. »Weil er offensichtlich schlauer ist als ich, oder zumindest skrupelloser.«
»Und warum macht er das erst jetzt? Wieso hat er nicht viel eher darauf gesetzt, dich auf diese Art in Schach zu halten?« Ich sah ihr an, wie sehr sie daran glauben wollte, dass ihr Vater nur bluffte. Dass es seine neueste Strategie war, mir vorzumachen, ich würde meine eigene Mutter ins Gefängnis bringen, wenn ich weiter ermittelte. Das Dumme war nur, dass ich die Dokumente gesehen hatte, die Kontoauszüge, die Unterschriften. Die Sache war wasserdicht.
»Weil er vermutlich geglaubt hat, ich würde mich von der Androhung roher Gewalt eher einschüchtern lassen. Das hat damals schließlich auch funktioniert.« Ich hob die Schultern. »Nur, dass ich darauf nicht so reagiert habe, wie von ihm geplant. Also hat er jetzt einen Weg gefunden, der mich dazu zwingt, die Sache endgültig ruhen zu lassen.«
»Du kannst ihn aber doch nicht mit dem davonkommen lassen, was er getan hat!«, rief Felicity und stand auf. Wir waren so unterschiedlich, fiel mir wieder mal auf. Während mich Grants Informationen in eine Starre getrieben hatten, passierte bei ihr das Gegenteil und sie geriet in Bewegung. Trotzdem nahm ich es nur am Rande wahr, als wäre sie nicht die Frau, in die ich mich verliebt hatte. Es war, als könnte ich gar nichts mehr empfinden. Nicht einmal für sie.
»Es geht nicht anders«, antwortete ich leise. Felicity hatte keine Ahnung, was für eine Katastrophe das für mich war. Zu wissen, dass Grant niemals bestraft werden würde. Und das nur, weil ich im Gegensatz zu ihm viel zu fair gespielt hatte. Ich hätte ebenfalls Beweise fälschen sollen, lügen und betrügen müssen, um gleichzuziehen und ihn dranzukriegen. Aber ich hatte darauf vertraut, dass die Gerechtigkeit siegen würde. Was für ein dummer Irrtum.
»Dann müssen wir eben ein anderes Verbrechen finden«, sagte Felicity heftig. »Er wird doch nicht nur diese beiden Male getötet haben, oder er hat jemanden bedroht, bestochen, was weiß ich. Das darf hier nicht enden, nur weil er deine Mutter in der Hand hat.«
Genau darüber hatte ich auch schon nachgedacht, aber dann war mir der Brand in den Sinn gekommen, die Vergiftung von Buddy – und mir war bewusst geworden, dass der Preis für meinen Seelenfrieden einfach zu hoch war. Immer wieder hatte ich in den vergangenen Wochen geschwankt, hatte abgewogen, ob ich eher diejenigen schützen wollte, die mir wichtig waren, oder die potenziellen Opfer von Grant. Bisher war diese Entscheidung immer zugunsten der Zukunft ausgefallen. Ab heute ging das nicht mehr.
»Es geht nicht nur um meine Mom. Es geht um alle, die er bedroht. Das ist es nicht wert.« Der Punkt hinter diesem Satz hallte durch die anschließende Stille wie ein Schuss.
Felicity schnappte nach Luft. »Du kannst das nicht ernst meinen. Nicht nach allem, was er dir angetan hat. Nicht nachdem wir bei den Goldsteens waren und gesehen haben, wie sie um ihre Tochter trauern!«
»Ja, und ich kann Sissy nicht mehr lebend zurückbringen, aber ich kann verhindern, dass noch jemandem etwas geschieht! Jemandem, der mir wichtig ist!« Es war das Gedankenkarussell, in dem ich schon bei meinem letzten Sonntagsessen im Adam & eVe ein paar Runden gedreht hatte. »Ich habe mir eingeredet, dass es mir besser gehen würde, wenn er seine Strafe bekommt. Dass ich frei sein würde, wenn ich das schaffe. Aber wie frei werde ich wohl sein, wenn auf dem Weg dorthin jemand ins Gefängnis muss oder draufgeht? Er ist mir immer zwei Schritte voraus, verflucht!«
Die Konfrontation mit Grant hatte mir mehr als deutlich gemacht, dass dieser Mann alles tun würde, um sich selbst vor einer Bestrafung zu beschützen. Ich hatte die ganze Zeit gedacht, ich wäre ihm gewachsen, aber als er da vor mir in seinem Arbeitszimmer gesessen und keinen Funken von Unsicherheit gezeigt hatte, während mein Puls auf 200 gewesen war und ich nur einen halben Meter von einer Panikattacke entfernt – da war mir klar geworden, dass ein Teil von mir immer noch der neunjährige Junge war, der damals keine Chance gehabt hatte. Und dass er auch jetzt keine hatte.
»Das bedeutet, du willst nichts tun? Du willst einfach mit deinem Leben weitermachen, während du genau weißt, dass er es war, der es dir versaut hat?« Felicity fand klare Worte und jedes einzelne davon tat weh.
»Ich wusste nicht, dass du so über mein Leben denkst«, antwortete ich, obwohl ich es wohl besser gelassen hätte. Sie schnaubte, mehr hilflos als wütend. Ich konnte es nachfühlen.
»Du weißt genau, was ich meine.«
Natürlich wusste ich das, nur änderte es nichts an den Tatsachen, dass ich gar keine andere Option hatte. Wahrscheinlich war es armselig, dass Grants eigene Tochter dessen Verurteilung mehr wollte als ich. Aber sie hatte schließlich auch nichts zu verlieren.
»Ich kann nicht weitermachen, Felicity. Ganz egal, was er mir angetan hat.«
»Und was wird dann aus uns?«, fragte sie, nun fast schon zaghaft.
Okay, vielleicht hatte sie doch etwas zu verlieren.
Mein Bruder erhob sich so schnell, als hätte er nur auf den passenden Zeitpunkt gewartet. »Ich habe was im Auto vergessen«, murmelte er und war schon aus der Tür. Offenbar wollte er bei diesem Teil des Gesprächs nicht dabei sein und ich konnte es ihm nicht verübeln.
Felicity schaute mich abwartend an.
»Er hat sich nicht zu uns geäußert«, gab ich ihr endlich eine Antwort. Grant hatte kein Wort über seine Tochter oder ihre Beziehung zu mir verloren, also wusste er offenbar nichts darüber, wie wir zueinander standen. Aber es brauchte nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, was er tun würde, sobald er davon erfuhr. Auch wenn ich ihn von jetzt an in Ruhe ließ, würde er kaum akzeptieren, dass ich mit ihr zusammen war.
»Das war nicht meine Frage.« Felicity hatte das Kinn gehoben, die Unsicherheit in ihren Augen strafte ihre selbstbewusste Haltung jedoch Lügen.
»Ich bleibe bei dem, was ich letzte Nacht zu dir gesagt habe.« Auch wenn es sich anfühlte, als wären wir nicht die beiden Menschen, die vor gerade einmal sechs Stunden eng umschlungen auf dem Teppich der Bibliothek gelegen hatten. Sie kam mir vor wie eine Fremde – wahrscheinlich deshalb, weil ich mich selbst vollkommen fremd fühlte.
»Mit dem Unterschied, dass wir uns für immer und ewig heimlich treffen müssten, richtig?« Sie schaute mich an.
Ich konnte das nicht verneinen, weil sie recht hatte. Wenn Grant nicht ins Gefängnis ging, hatte unser Plan, vorerst im Verborgenen zu bleiben, kein Ablaufdatum mehr. Ich atmete aus und rieb mir über das Gesicht. Es schien so, als wären alle meine Chancen auf eine glückliche Zukunft in dem Moment verpufft, in dem ich Grants Arbeitszimmer betreten hatte. Und in diesem Augenblick sah ich keine Möglichkeit, wie sich daran etwas ändern sollte.
»Ich verstehe, dass das für dich keine Option ist«, sagte ich leise.
»Ist es etwa eine für dich?«, gab sie kaum lauter zurück. Wir waren nur zwei Meter voneinander entfernt, aber sie hätte auch auf dem Mond sein können. Wie ironisch, dass ihr Vater mir nicht verboten hatte, sie zu treffen – und es trotzdem unmöglich erschien, mit ihr zusammen zu sein.
Ich antwortete nicht, obwohl mir das Es ist besser als nichts auf der Zunge lag. Denn es stimmte nicht, es war schlimmer als nichts. Ein solcher Versuch würde vor allem Felicity nur Frust und Schmerz bescheren. Letzteren spürte ich jetzt bereits. Wer wollte schon eine Beziehung führen, bei der man immer Angst haben musste, dass jemand davon Wind bekam? Ich hätte es versucht, aber ich würde es ihr nicht antun. Sie hatte was Besseres verdient. Also schwieg ich.
»Okay, verstehe.« Sie ging zur Couch und nahm die Jacke mit Valet-Aufdruck, die sie auch getragen hatte, als wir hier angekommen waren. Ich erhob mich.
»Felicity, bitte warte.«
»Worauf denn, Elijah? Dass du deine Meinung änderst? Ich verstehe, dass du in diesem Moment keine andere Chance siehst, als Grant laufen zu lassen, aber versteh du auch, dass ich gerade nicht damit klarkomme.« Sie atmete aus. »Ich habe keine Ahnung, was ich denken, was ich fühlen soll. Ich muss das erst einmal verarbeiten und das kann ich nicht, wenn wir streiten.«
Sie warf mir einen Blick zu, der mich innerlich verbrannte, dann lief sie zur Tür und rannte dort Jess in die Arme, der sie gerade von der anderen Seite öffnete. Sie fragte ihn, ob sie die Jacke noch länger behalten könnte, er bejahte und hakte nach, ob alles okay wäre. Felicity gab ihm nur ein knappes »Ich brauche frische Luft« zur Antwort, dann lief sie an ihm vorbei und schloss die Tür hinter sich. Es hatte etwas schmerzhaft Endgültiges. Denn auch wenn wir es hier und heute nicht beendet hatten, wusste ich trotzdem nicht, wie es weitergehen sollte.
»Sie kommt bestimmt wieder«, sagte mein Bruder nach einer kurzen Pause.
»Nein, das glaube ich nicht.« Ich setzte mich erneut, lehnte mich vor und stützte mein Gesicht für einige Augenblicke in die Hände. »Ich verstehe sie ja und mir fällt das alles auch nicht leicht. Aber was soll ich tun?«
»Vielleicht erst einmal in Ruhe darüber nachdenken, welche Möglichkeiten es gibt. Und zwar nicht allein, sondern mit uns zusammen. Vor allem mit Trish.«
Ich schüttelte den Kopf. »Vergiss es, ich werde ihr nichts sagen.«
»Ach so, dann möchtest du, dass sie keine Ahnung hat, wie nah sie daran ist, ins Gefängnis zu gehen?«
»Natürlich nicht, aber …« Ich brach ab.
»Ich verstehe, dass du Entscheidungen treffen willst, Eli.« Jess schaute mich ernst an. »Nur ist dafür gerade vielleicht nicht die richtige Zeit.«
Ich erwiderte seinen Blick ungerührt. »Grant weiß, dass ich ihm auf den Fersen bin, Jess. Und er hat bereits bewiesen, dass er nicht nur an Buddy herankommt, sondern auch an Helena oder dich. Deswegen wollte ich ja nach dem Brand zu ihm, deswegen wollte ich es beenden, bevor er noch jemandem etwas antut. Aber er hat das alles geplant und ich bin direkt in seine Falle gelaufen. Jetzt habe ich gar nichts mehr, keinen Vorteil, keinen Trumpf. Welche Wahl bleibt mir noch?«
Mein Bruder presste die Lippen aufeinander. »Zumindest die, alle Möglichkeiten durchzugehen. Du bist der Rationale von uns beiden, deswegen weiß ich, dass du mir genau dasselbe sagen würdest.«
Ich schaute zur Tür, hinter der Felicity verschwunden war, und es fühlte sich an, als wäre unsere Verbindung mit ihrem Abgang gekappt worden. Ich wusste, dass sie recht hatte und es keine Chance auf eine richtige Beziehung gab, solange Grant auf freiem Fuß blieb – es war zu gefährlich, erwischt zu werden, und würde auf Dauer nur zu Frustration und Vorwürfen führen. Es fühlte sich furchtbar an, sie so zu enttäuschen. Vor allem, weil es nicht das erste Mal war, dass es passierte. Ich hätte sie nie ansprechen sollen, im Lestrange. Dann wäre zwar der Abend für sie mies gewesen, aber wenigstens wären ihr die Gefühle für mich erspart geblieben.
»Ich sehe keine Möglichkeit«, sagte ich leise.
»Noch nicht. Du befindest dich im Schock, nachdem du auf Grant getroffen bist. Vielleicht betrachtest du das alles anders, wenn etwas Zeit vergangen ist.«
Schweigen hielt Einzug zwischen uns, das ich schließlich durchbrach.
»Was ist mit der Farm?«, fragte ich, weil ich mich auf keine Zusagen einlassen wollte, meine Entscheidung zu überdenken. »Ist dort so weit alles okay?« Jess hatte meinetwegen Helena allein gelassen und Buddy war auch noch bei ihr.
Mein Bruder nickte. »Der Stall war nicht zu retten, aber den Tieren geht es gut und Helena sagt, es besteht keine Gefahr mehr. Farragano wurde von der örtlichen Polizei verhaftet und hat wohl keinen Anwalt oder einen Anruf verlangt. Vermutlich weiß er, dass Grant ihn eher verschwinden lassen würde, als ihm zu helfen. Malia ist an der Sache dran, sie redet mit der Staatsanwaltschaft wegen eines Deals. Sofern Grant keinen Weg findet, ihn vor der Verhandlung zu erwischen.«
Dann hätten wir immerhin einen weiteren Mord, den man ihm vielleicht nachweisen könnte. Sobald der Gedanke in meinen Kopf kam, schämte ich mich bereits dafür. Wenn ich anfing, so zu denken, war ich nicht besser als Grant.
Jess lief in die offene Küche des Lofts. »Ich mache uns mal Frühstück. Das war eine lange Nacht.«
»Du fährst nicht zurück nach Swan Lake?« Ich hatte erwartet, dass er so schnell wie möglich zu Helena wollte – und sich den Schaden ansehen, den das Feuer verursacht hatte.
»Nein, meine Verwalterin kümmert sich um die Abwicklung mit der Versicherung. Helena wollte sich noch mal hinlegen und kommt dann mit Buddy her. Wir haben beide in den nächsten Tagen wichtige Termine und können erst kommendes Wochenende wieder hinfahren.«
Schuldgefühle sammelten sich wie Säure in meinem Magen, als ich daran dachte, dass die beiden nur meinetwegen jetzt solche Umstände hatten. Wäre ich gestern nicht zur Farm gefahren, hätte Farragano den Stall nicht in Brand gesteckt.
»Hör auf damit«, sprach mich mein Bruder an und sein Tonfall war so sanft wie damals, als ich noch ein Teenager gewesen war. »Es ist nicht deine Schuld, sondern die von Grant. Dass du zu uns gekommen bist und uns davon erzählt hast, war überfällig.«
Ja, vielleicht, aber es machte nichts besser. Oder einfacher. Felicity war enttäuscht von mir, weil ich nicht weiter gegen ihren Vater vorgehen wollte, mein Bruder war ebenfalls dagegen, die Ermittlungen aufzugeben – und ich konnte nur die schrecklichen Folgen sehen, die eintreten würden, wenn ich dranblieb.
»Warum ist Felicity denn eigentlich gegangen?«, fragte mein Bruder, während er Eier aus dem Kühlschrank nahm und sie in einer Schüssel aufschlug.
»Weil sie es nicht mehr ertragen hat, in meiner Nähe zu sein.« Ich stand auf und strich mir die Haare zurück, die mittlerweile beinahe trocken waren. »Letzte Nacht haben wir …«
»Die Bibliothek verwüstet, ich weiß.« Jess grinste und ich wusste, er wollte mich aufmuntern. »Ich hätte dir nie zeigen sollen, wo diese Kondombox steht.«
»Und dabei warst du so stolz darauf«, gab ich mit einem halben Lächeln zurück. »Aber offenbar hast du mich angelogen, was den angeblichen Schallschutz der Bücher angeht, wenn du etwas davon mitbekommen hast.«
»Sagen wir so, es war nur eine Vermutung, dass man draußen nichts hört. Ich war schließlich noch nie außerhalb des Raumes, wenn ich es getestet habe.« Er nahm eine Pfanne, um die verrührten Eier hineinzugießen. »Aber ich habe dich unterbrochen, entschuldige. Was wolltest du sagen?«
Ich nahm den Faden wieder auf. »Felicity und ich haben beschlossen, dass wir uns nicht voneinander fernhalten wollen, solange ich gegen Grant vorgehe. Dass wir uns heimlich treffen können, bis er hinter Gittern ist.« Ich erklärte nichts weiter, weil ich wusste, dass Jess es auch so verstand.
Er enttäuschte mich nicht. »Und nun müsstet ihr euch für immer heimlich treffen, ohne Hoffnung auf eine Verbesserung.«