Don’t LOVE me - Lena Kiefer - E-Book
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Don’t LOVE me E-Book

Lena Kiefer

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Beschreibung

ER hat ein dunkles Geheimnis.
SIE ist tabu für ihn.
Haben sie eine Zukunft?


KENZIE ist nicht gerade begeistert davon, in den schottischen Highlands ihr Design-Praktikum zu absolvieren. Doch als sie bei ihrem ersten Auftrag dem jungen Erben der Luxushotelkette begegnet, ändert sich alles. Der attraktive Lyall fasziniert sie von der ersten Minute an. Doch welches Geheimnis verbirgt er hinter seinem abweisenden Verhalten?

LYALL bleibt ein Sommer, um sich am Stammsitz seiner altehrwürdigen Familie zu bewähren. Gelingt ihm das nicht, ist seine Zukunft in Gefahr. Als er der Designstudentin Kenzie begegnet, gerät sein Plan ins Wanken. Denn ihrer Anziehungskraft kann er einfach nicht widerstehen. Doch keiner weiß besser als er, wie verhängnisvoll eine Beziehung zu ihm für sie enden könnte.

Alle Bände der Don't-Trilogie:
Band 1 – Don't Love Me
Band 2 – Don't Hate Me
Band 3 – Don't Leave Me
Shortstory – Don't Kiss Me (Nur als E-Book verfügbar)

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Seitenzahl: 550

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Autorin

Lena Kiefer wurde 1984 geboren und war schon als Kind eine begeisterte Leserin und Geschichtenerfinderin. Einen Beruf daraus zu machen, kam ihr jedoch nicht in den Sinn. Nach der Schule verirrte sie sich in die Welt der Paragraphen, fand dann aber gerade noch rechtzeitig den Weg zurück zur Literatur und studierte Germanistik. Bald darauf reichte es ihr nicht mehr, die Geschichten anderer zu lesen – da wurde ihr klar, dass sie Autorin werden will. Heute lebt Lena Kiefer mit ihrem Mann in der Nähe von Bremen und schreibt in jeder freien und nicht freien Minute. Mit »Don’t Love Me« startet sie nach dem Erfolg ihrer »Ophelia Scale«-Trilogie nun ihre erste New-Adult-Reihe.

Von Lena Kiefer sind bei cbj erschienen:

Ophelia Scale – Die Welt wird brennen (Band 1)

Ophelia Scale – Der Himmel wird beben (Band 2)

Ophelia Scale – Die Sterne werden fallen (Band 3)

Ophelia Scale – Wie alles begann (E-Short)

Mehr über cbj auf Instagram unter @hey_reader

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© 2020 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Alle Rechte vorbehalten Covergestaltung: Graßhoff unter Verwendung eines Fotos von © Gettyimages (oxygen; Moment)MP · Herstellung: AJ Satz und E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-641-26272-3V004

Für Kira,

weil ... ach, das wird zu lang, ich

schicke dir eine Sprachnachricht.

»In vain have I struggled. It will not do.

My feelings will not be repressed.

You must allow me to tell you how ardently

I admire and love you.«

Mister DarcyStolz und Vorurteil (Jane Austen)

Prolog

Du hast keine Ahnung, wer er ist. Wozu er fähig ist.

Diese beiden Sätze drehten Runde um Runde in meinem Kopf, aber ich bewegte mich keinen Zentimeter. Ich war erstarrt. Nicht wie erstarrt, nein. Ich war tatsächlich erstarrt. Vollkommen reglos vor Schock und Schmerz. Mein Körper fühlte sich taub an. Mein Telefon rutschte mir fast aus der Hand, so sehr zitterten meine Finger. Ich musste mich zwingen, zu atmen, und hatte trotzdem das Gefühl, zu ersticken. Das konnte nicht wahr sein. Das konnte alles nicht wahr sein. Ich hatte ein Gespür für Menschen, für ihre Stärken genauso wie für ihre Abgründe. Ich war gut in so etwas, verdammt noch mal. Wieso hatte ich diesmal versagt?

Ich starrte ins Leere, sah aber nur die Mauer aus Lügen und Halbwahrheiten, die man vor mir errichtet hatte. Die er vor mir errichtet hatte, damit ich nicht sehen konnte, was dahinter lauerte: Wie dunkel, wie düster das war, was er mit sich herumtrug.

Du musst hier weg. Das war der Gedanke, der plötzlich meinen Kopf beherrschte. Weg. Sofort.

Endlich, als hätte mein Körper verstanden, was mein Hirn wollte, riss er sich aus der Schockstarre und setzte sich in Bewegung, erst langsam, dann schneller. Meine Sachen waren überall im Van verteilt – Klamotten, Kochutensilien, Schuhe. Hastig stopfte ich einiges davon in irgendwelche Klappen und Schubladen, aber es dauerte zu lange, also ließ ich alles andere liegen. Dann öffnete ich die Schiebetür und sprang hinaus, bevor ich sie wieder zuschob. Es knallte laut, als sie mit zu viel Wucht einrastete.

Ich riss das Stromkabel heraus, warf es zu Boden, griff nach dem Sichtschutz und zerrte ihn von der Windschutzscheibe. Beides landete im Fußraum neben dem Beifahrersitz. Ich wollte mir keine Zeit nehmen, das alles zu verstauen. Ich wollte nur aus dieser Stadt raus. Am liebsten hätte ich meinen Van stehen lassen, denn alles, wirklich alles darin erinnerte mich an ihn. Aber anders kam ich hier nicht weg. Und das hatte oberste Priorität.

Ich zog die Tür auf, sprang auf den Fahrersitz, rammte den Schlüssel ins Zündschloss und drehte ihn. Mit lautem Röhren sprang der Van an und ich trat aufs Gas. Viel zu schnell fuhr ich über die geschotterten Wege des Campingplatzes, der Vollbart von Parzelle 14 musste aus dem Weg springen, es tat mir nicht leid. Kurz sah ich das Gesicht von Drew, der aus der Rezeption schaute, aber ich rauschte einfach an ihm vorbei zur Ausfahrt. Die Schranke ging gerade noch rechtzeitig hoch, sonst wäre ich einfach hindurchgefahren.

Die Straße war leer, es regnete, genau wie bei meiner Ankunft. Ich beschleunigte, warf mein Handy auf das Armaturenbrett. Wie schnell konnte ich zu Hause sein? Sieben Stunden? Acht? Es waren 500 Meilen, wir hatten Samstag, wahrscheinlich war viel los. Egal. Je weiter ich Kilmore hinter mir ließ, desto weniger würde es wehtun. Bestimmt. Ganz sicher.

Hinter mir tauchte ein anderes Auto auf. Mein Magen krampfte sich zusammen, als ich sah, welcher Wagen es war: ein Aston Martin, schwarz. Ich wusste, wem er gehörte, aber garantiert saß jemand anders darin. Er war mir nachgekommen. Was bedeutete das? Er konnte doch gar nicht wissen, dass ich es wusste. Warum also kam er mir nach?

Ich fuhr rechts ran, ohne eine Ahnung, warum ich das tat. Vielleicht, weil ich Gewissheit wollte, obwohl es keinen Zweifel geben konnte. Aber mein verdammtes Herz interessierte das nicht. Es drängte mich dazu, aus dem Auto zu steigen und ihn zur Rede zu stellen. Und genau das tat ich: Ich packte mein Telefon und stieg aus, ging hinaus in den Regen.

Er hielt hinter mir am Straßenrand und verließ den Aston, kam auf mich zu, sah mich an, mit diesen verflucht dunklen Augen. Sie hatten mich von der ersten Sekunde an in ihren Bann gezogen, aber jetzt erinnerten sie mich nur daran, was man mir vor Wochen gesagt hatte: Er ist der Teufel. Nimm dich vor ihm in Acht.

Hätte ich doch nur darauf gehört.

Zwei Monate zuvor

1

Kenzie

»Wie wäre es denn hiermit?« Ich zog einen hübschen türkisblauen Stoff aus dem Regal und legte ihn vor mir auf den Tisch. »Die Farbe würde perfekt zu den Schrankfronten in Ihrem Wohnmobil passen. Wenn wir dann noch mit den hellen Kissen einige Akzente setzen, wirkt das Ganze absolut harmonisch.«

Mister und Mrs Colby musterten den Ballen, als wäre er ein Wesen von einem fremden Planeten. Ich ahnte nichts Gutes.

»Ja … also …« Mister Colby rieb sich seine Glatze. »Ich glaube, das ist nicht ganz das Richtige für uns.«

Seine Frau befühlte den beigefarbenen Stoff, der direkt neben meiner Empfehlung lag. »Der hier gefällt mir sehr gut. Den sollten wir nehmen.«

Ich konnte gerade noch verhindern, das Gesicht zu verziehen. »Für die Sitzgruppe oder auch für die seitliche Bank?«

»Für alles. Auch die Kissen.« Mrs Colby strahlte. »Dann ist es einheitlich.«

»Ja, einheitlich todlangweilig«, murmelte ich.

»Was haben Sie gesagt?«, fragte Mister Colby nach.

Jetzt war die Frage – sollte ich den Mund halten oder nicht? Was soll’s. »Ich habe nur überlegt, ob Sie tatsächlich ein so einheitliches Design möchten«, sagte ich ehrlich. »Beige, das ist nun wirklich nicht gerade originell.«

Die beiden wechselten einen irritierten Blick. »Wir wussten nicht, dass ein Wohnmobil originell sein sollte«, antwortete Mrs Colby etwas spitz.

Himmel, wieso hatte ich diese Diskussion überhaupt angefangen? Warum hatte ich nicht gelächelt, genickt und die Bestellnummer des beigefarbenen Stoffs in das Formular eingetragen, so wie jeder Mitarbeiter meines Vaters es getan hätte? Ach ja, richtig. Weil ich seine Tochter war. Und er auch versucht hätte, diese eigentlich sehr netten Leute von dem Look Fahrendes Seniorenheim abzubringen.

»Wissen Sie«, startete ich mein Plädoyer für kräftige Farben, »ein Wohnmobil ist ja mehr als nur ein rollendes Haus. Es ist ein Lebensgefühl. Und –«

»Kenzie?« David, einer von Dads Leuten, streckte den Kopf in unseren Showroom. »Telefon für dich.«

»Kannst du die Nummer aufschreiben und ich rufe zurück?« Unauffällig deutete ich auf die Colbys. Wenn ich jetzt ging, hatten die Gebrüder Langweilig & Beige gewonnen, das stand fest.

»Es scheint dringend zu sein«, meinte David. »Ich kann hier für dich übernehmen.«

Sofort schnellte mein Puls in die Höhe, ohne dass ich ihn mit Vernunft daran hindern konnte. Kalter Schweiß kroch mir in den Nacken, meine Hände verkrampften sich. So war es immer: Wenn jemand davon sprach, dass ein Anruf dringend war, machte mein Körper eine grauenhafte Zeitreise – zu dem Tag, als ein solcher Anruf unserer Familie einen schweren Schlag versetzt hatte. Einen Schlag, von dem wir uns niemals erholen würden.

David schien mir anzusehen, woran ich dachte. »Oh Gott, nein«, sagte er schnell und berührte mich an der Schulter. »Es ist nur jemand von dieser Agentur … Olsen oder so. Nichts Schlimmes.«

Die Erleichterung schwemmte meine Panik weg, aber ihr Echo blieb. Tief atmete ich ein und nickte tapfer, brachte sogar ein Lächeln zustande. »Danke«, murmelte ich, dann entschuldigte ich mich bei den Colbys und verließ den Raum.

Quer durch die Halle waren es nur dreißig Meter bis zum Büro, sie reichten jedoch aus, um mich zu beruhigen. Olsen, das war die Londoner Agentur, in der ich den Sommer über arbeiten würde – eine wichtige Referenz, wenn ich nächstes Jahr die Chance haben wollte, einen Platz für Interior Design an der University of the Arts in London zu bekommen. Wahrscheinlich gab es noch irgendwelche Details zu klären.

In der Halle war es laut, aber die Mischung aus Radiomusik, dem Klang eines Trennschleifers und dem Kreischen der Tischkreissäge war für mich wie das Zusammenspiel eines Orchesters, dessen Schönheit nur wenige zu schätzen wussten – so wie ich. Das lag vermutlich daran, dass ich hier quasi aufgewachsen war.

Links von mir wurde gerade ein Van von Ford ausgebaut, rechts stand ein Pick-up und daneben ein US-amerikanischer Schulbus – das aktuelle Premiumprojekt meines Vaters. Ich lächelte, als ich sah, wie Dad mit seinem ältesten Mitarbeiter George über den Ausbau sprach und dabei wild gestikulierte. Als er mich entdeckte, verschwanden die Falten auf seiner Stirn und er grinste breit. Dann winkte er mich mit der Hand zu sich, aber ich gab ihm ein Zeichen, dass ein Anruf auf mich wartete, und eilte ins Büro.

Ich nahm den Hörer. »Hallo?«

»Ist dort Kenzie Stayton?«, fragte eine fremde, weibliche Stimme.

»Ja, genau, ich bin dran. Brauchen Sie noch irgendwelche Daten von mir wegen des Jobs?«

Stille am anderen Ende. Uh-oh.

»Nun …«, begann die Frau. »Mein Name ist Kendra Lancaster, ich bin die Assistentin von Mister Harrison, dem Leiter der Abteilung für Innendesign. Und ich muss Ihnen leider sagen, dass ein Fehler passiert ist. Die Stelle wurde zweimal vergeben.«

»Okay«, antwortete ich, obwohl das überhaupt nicht klang, als wäre es okay. »Und was bedeutet das für mich? Wenn jetzt nur ein Teilzeitjob drin ist, macht das nichts.« Schließlich brauchte ich nur ein oder zwei interessante Projekte. So wie dieses alte Schulhaus außerhalb von London, das von Olsen gerade in ein Tagungszentrum umgestaltet wurde. Oder die Kirche draußen in Harlow, aus der sie Wohnungen machen wollten. Ich hatte die aktuellen Aufträge genau studiert.

»Nein, leider ist es kein Teilzeitjob«, sagte da Kendra Lancaster. »Eigentlich ist es gar kein Job. Die andere Bewerberin steht der Familie der Olsens sehr nahe, daher müssen wir Ihnen leider absagen.« Sie räusperte sich. »Wir können Ihnen aber für das nächste Jahr eine Stelle anbieten, wenn Sie möchten.«

»Ist das Ihr verdammter Ernst?«, entfuhr es mir. »Dieser Job ist wichtig für mich!« Und irgendeine reiche Trulla mit Beziehungen hatte ihn mir weggeschnappt. Einen Job, den ich für meine Zukunft dringend brauchte, während dieses andere Mädchen sicher mit einem Fingerschnippen von Papi an jeder Uni unserer Welt angenommen wurde. Gott, wie ich das hasste.

»Es tut mir wirklich leid, Miss Stayton. Ich verstehe, dass Sie verärgert sind.« Miss Lancaster klang unangenehm berührt. Kein Wunder. Sie war vermutlich auch nicht einer dieser privilegierten Menschen, die alles bekamen, was sie sich wünschten.

»Nein, ich … mir tut es leid«, brachte ich heraus. »Sie können ja nichts dafür.« Dann kam mir eine Idee. »Könnte ich nicht einfach unbezahlt für Sie arbeiten? Oder zu ein paar Projekten mitkommen und zuhören? Mister Harrison würde mich gar nicht bemerken.« Du bettelst? Bist du so verzweifelt, Kenzie? Und wie.

»Das geht aus versicherungstechnischen Gründen leider nicht«, antwortete die Assistentin. »Wäre denn nicht nächstes Jahr eine Idee für Sie?«

»Nein, nächstes Jahr ist es leider zu spät für meine Bewerbung. Aber danke für das Angebot.« Ich atmete aus.

»Mister Harrison bedauert außerordentlich, dass es diese Überschneidung gegeben hat.«

Sicher. Ich bedankte mich für das Mitgefühl, von dem ich mir nichts kaufen konnte, murmelte eine Verabschiedung und legte auf. Dann lehnte ich mich im Stuhl zurück und sah an die Decke. Meine Augen begannen zu brennen, als mir klar wurde, dass mein Plan für den Sommer soeben zum Teufel gegangen war. Dieser Job war wie ein Sechser im Lotto gewesen, den ich nur mit sehr viel Glück und Hartnäckigkeit hatte ergattern können. Und es war Anfang Juli. Niemals würde ich innerhalb von zwei Wochen eine andere Stelle oder auch nur ein brauchbares Praktikum bekommen.

»Kenzie, ist alles in Ordnung?« Die Stimme meines Vaters schreckte mich auf.

»Nein, gar nicht.« Ich sah ihn an. »Mein Job für den Sommer ist geplatzt«, sagte ich und biss die Zähne aufeinander. Wut stieg mir in den Kopf. »Die haben jemand anderen vorgezogen. Irgendein reiches Gör, das bessere Beziehungen hat als ich.«

»Oh nein.« Er sah mich bestürzt an. »Das tut mir leid, Schatz. Kann man da wirklich nichts machen? Die hatten dir doch fest zugesagt.«

»Nope.« Ich schüttelte den Kopf. »Keine Chance.«

Mein Vater kam herein und setzte sich auf den Sessel gegenüber. »Es gibt bestimmt eine Lösung dafür«, lächelte er, und sein Blick fiel auf das Foto auf seinem Schreibtisch. Sofort erstarb sein Lächeln. Die Aufnahme war uralt, sicher zehn Jahre, aufgenommen an der Küste von Cornwall in einem unserer Urlaube. Wir waren alle nebeneinander aufgereiht, meine drei jüngeren Schwestern und ich, daneben mein Vater, der meine Mutter im Arm hielt. Ihre Haare, deren rötlich-hellbraunen Farbton ich geerbt hatte, flatterten im Wind und sie lachte aus vollem Hals. »Sie hätte eine Lösung gefunden«, murmelte Dad leise. »Ganz sicher.«

»Ist halb so wild«, sagte ich schnell. Eigentlich hätte ich gerne gejammert, die Ungerechtigkeit der Welt eine Weile verflucht und reiche Menschen und ihre guten Beziehungen noch ein bisschen mehr. Aber wenn mein Vater diesen Ausdruck im Gesicht hatte, dann war nicht der richtige Zeitpunkt dafür. »Zur Not werde ich eben die Colbys doch davon überzeugen, dass ihr Camper mit türkisblauen Sitzen besser aussieht. Dann nehme ich das für mein Portfolio.«

Dad lachte nur halbherzig, trotzdem hoffte ich, dass ich ihn aus seinem Tal herausgeholt hatte. Das war schließlich mein Job, und ich machte ihn schon seit sechs Jahren mehr oder weniger gut. »Vielleicht fällt uns noch etwas ein.«

»Ja, vielleicht«, sagte ich. Aber so richtig daran glauben konnte ich nicht.

Mein Vater stand auf, beugte sich vor und küsste mich auf den Scheitel, dann ging er zur Tür. »Wir überlegen gerade, wie wir die Aufteilung im Schulbus gestalten wollen. Willst du es dir mal anschauen?«

Ich stand auf. »Klar.« Ablenkung war nie verkehrt.

Zusammen mit meinem Vater verließ ich das Büro und steuerte den Bus an, vor dem George mit einigen Plänen stand. An der Wand der Halle hing eine große Uhr mit dem Logo der Firma. Sie zeigte kurz vor vier.

»Oh, Scheiße!«, rief ich. Mein Vater und George sahen mich fragend an.

»Was ist?«

»Ich muss Eleni von ihrer Probe abholen. Es ist Streik und der Bus fährt nicht.«

»Nimm doch den hier«, lachte George und zeigte auf das gelbe Ungetüm, neben dem wir standen. Ich streckte ihm die Zunge heraus und er lachte noch mehr. »Man könnte meinen, du wärst zehn Jahre alt und nicht zwanzig, Kenzie.«

Mein Vater schnaubte belustigt. »Wenn es nach mir ginge, hätte sie ewig zehn bleiben können. Und die anderen drei auch.«

Ich hob eine Augenbraue. Weder bei mir noch bei meinen Schwestern konnte er sich ernsthaft beschweren – wenn wir Mist bauten, dann immerhin so, dass er nichts davon mitbekam. Für Dad waren wir mustergültige Töchter mit ein paar pubertären Wutausbrüchen und dem einen oder anderen Jungen, der vor der Tür stand. Dramen hielt ich von ihm fern, so gut es ging. Das war besser für uns alle.

»Soll ich auf dem Heimweg einkaufen?«, fragte ich, ohne seine Worte zu kommentieren. »Oder machst du das?«

»Ich habe heute noch einen Termin wegen des Unimogs.« Der deutsche Mercedes-Lkw mit Wohnaufbau stand schon seit drei Monaten zum Verkauf, aber auch wenn Dutzende Leute sich meldeten und ihn sich ansahen, hatte bisher keiner zugeschlagen. »Das könnte bis neun gehen.«

Ich nickte. »Okay, dann erledige ich das.« Schnell schnappte ich mir im Showroom meine Tasche, verabschiedete die Colbys, die mit ihrem beigen Langweilerstoff bei David offenbar in guten Händen waren, und lief hinaus zu meinem Wagen. Wobei Wagen eigentlich ein viel zu schnöder Begriff dafür war. Liebe meines Lebens traf es eher. Oder Weihnachts- und Geburtstagsgeschenk der nächsten zehn Jahre. Je nachdem, ob man mich oder Dad fragte.

Die Grundlage für den Campervan mit dem Namen Loki war ein Ford Kastenwagen gewesen, aber ich hatte ihn so verändert, dass viele das kaum noch erkannten. Nicht nur hatte ich ihn auf ein tiefes Mitternachtsblau umlackiert, sondern auch stylishere Scheinwerfer montiert, mit der Hilfe meines Dads Luken im Dach installiert und große Fenster eingebaut, vor allem in der Hecktür. So konnte man vor dem Einschlafen noch den Sternenhimmel bewundern und hatte Rundumsicht, wo immer man war. Auch den Innenausbau hatte ich selbst gemacht: Für die Arbeitsplatte in der Küche und die Akzente mit hauchdünnem Kirschholzfurnier, damit alles nicht zu schwer wurde und dennoch hochwertig aussah. Die Polster waren mit einem blattgrünen Strukturstoff bezogen, was perfekt zum Rest passte. Jedes Mal, wenn ich das Innere des Wagens sah, war ich neu verliebt.

… und vergaß die Zeit. Schnell startete ich den Motor. Die Schule war nur zehn Minuten von der Firma entfernt, aber meine Schwester wartete bereits davor, als ich auf dem Seitenstreifen hielt.

»Hey Leni«, sagte ich, als sie neben mir auf den Sitz sprang und mir zur Begrüßung einen Kuss auf die Wange drückte. »Sorry, dass ich zu spät bin.«

»Macht nichts.« Eleni war gerade dreizehn geworden und damit noch in dem Alter, wo sie mich mochte und nicht für die böse große Schwester hielt, die ihr so spaßige Sachen wie Drogen nehmen oder nachts in versiffte Clubs gehen verbot.

»Wie war deine Probe für das Theaterstück?«

»Gut«, antwortete sie, zog dabei aber die Nase kraus.

»Erzähl, was war los?« Ich blinkte, um mich in den Verkehr einzufädeln.

»Ach«, seufzte sie und drehte sich eine Strähne ihrer blonden Haare um den Finger. »Unser Mister Darcy macht Probleme.«

Ich unterdrückte ein Lachen, weil sie das so ernsthaft sagte, als wäre sie der CEO eines Multimilliarden-Unternehmens und nicht die Jane Bennet in einem Stück der städtischen Jugendtheatergruppe von High Wycombe. »Was für Probleme macht er denn?«

»Er will Millie Monroe nicht küssen. Du weißt schon, das Mädchen, das die Elizabeth spielt. Er sagt, sie riecht nach Salami.«

Nun musste ich endgültig lachen. »Im Ernst? Was hat er gegen Salami?«

»Er ist Veganer«, murrte sie.

»Veganer? Mit 13? Wow.« Manchmal fühlte ich mich wie eine alte Oma, wenn ich mitbekam, was Teenager für Ansichten hatten. Als ich 13 gewesen war, hatte ich mir über viele Dinge Gedanken gemacht, allem voran die Wahl der richtigen Klamotten und ob Foster O’Reilly mich auf meiner Geburtstagsparty endlich küssen würde, aber sicher nicht über moralisch einwandfreie Ernährung.

»Japp«, sagte Eleni. »Und da Millie meint, nur wegen seiner Pflanzenfresserei würde sie bestimmt nicht aufhören, Salami zu essen, überlegen sie nun, ob ich Elizabeth spielen soll. Weil ich Salami ja gar nicht mag.«

Ich hielt an einer roten Ampel und sah sie an. »Aber du willst das nicht?«

»Ich weiß nicht. Jane ist eine gute Rolle. Ich mochte sie bei Stolz und Vorurteil immer am liebsten.« Sie machte ein unglückliches Gesicht und wirkte plötzlich sehr klein auf dem Beifahrersitz. Was eine Leistung war. Eleni und Willa, die zweite in unserer Reihe, waren ziemlich groß und äußerst schmal – während meine dritte Schwester Juliet und ich eher mit einer durchschnittlichen Körperlänge leben mussten, dafür aber immerhin den Ansatz von Hintern und Brüsten hatten. Schlank waren wir jedoch alle. Mussten die Gene sein, denn auf Essen standen wir mehr als die meisten.

»Hm. Ich finde Elizabeth eigentlich cooler.« Ich fuhr wieder an.

»Klar findest du das.« Eleni warf mir einen langen Blick zu. »Lizzy interessiert sich nicht für die Meinung von anderen und sagt immer, was sie denkt. So wie du.«

»Ich bin nicht wie Lizzy Bennet«, widersprach ich. »Denn ich hätte diesen arroganten Idioten Darcy in die Wüste geschickt und ihn ganz sicher nicht geheiratet nach dem ganzen Mist, den er verzapft hat.«

»Wir schreiben das Stück nicht um, egal, wie oft du mir das sagst«, grinste Eleni.

»Schade eigentlich.«

Sie seufzte. »Was denkst du darüber, Kenz? Soll ich Elizabeth spielen?«

»Schwer zu sagen.« Ich lenkte mein Auto auf den Parkplatz des Supermarktes. »Du solltest dir überlegen, ob du gerne eine größere Rolle spielen möchtest. Und ob du Mister Darcy küssen willst, natürlich. Vielleicht riecht er nach Quinoa, ich weiß ja nicht, ob du das magst.« Ich sah grinsend zu ihr rüber und bemerkte die leichte Röte auf ihrem Gesicht. Ah, jetzt kommen wir der Sache näher. »Wer spielt ihn denn?«

Sie druckste herum. »Du wirst das doof finden.«

»Nein, werde ich nicht. Sag schon.«

»Cameron.«

»Cameron Harlow?«

»Ja.«

»Okay.« Ich atmete aus. Cameron war der jüngere Bruder von Miles, meinem Ex-Freund, den ich im letzten Winter abserviert hatte, nachdem er demonstriert hatte, dass man ihm weder trauen noch sich auf ihn verlassen konnte. Seither ignorierte ich ihn, wann immer wir einander in der Stadt begegneten.

»Ich wusste, du findest es doof.« Eleni riss mich aus meinen Gedanken.

»Das stimmt nicht. Cameron ist schließlich nicht sein Bruder. Wenn du ihn magst, ist das völlig in Ordnung für mich.« Ich drehte den Zündschlüssel und der Wagen ging aus. »Allerdings solltest du dir die Gelegenheit dann nicht entgehen lassen und die Elizabeth spielen. Denn es könnte ja sein, dass Cameron Millies Salamigeruch nur deswegen stört, weil er nicht ihr Mister Darcy sein will.«

»Meinst du?« Die Röte wurde noch stärker.

»Ja, meine ich.« Ich lächelte.

»Er sagt, ich rieche nach Sommer«, hauchte Eleni leise.

»Siehst du«, grinste ich, weil das echt kitschig war. »Er ist immerhin charmant. Das war sein Bruder nicht.« Ich packte den Griff der Tür. »Und jetzt auf zum Einkaufen. Was hältst du von Lasagne?«

Eleni sah mich erschrocken an. »Bist du irre? Da ist Knoblauch drin! Ich habe morgen wieder Probe!«

»Na und?«, fragte ich ungerührt und stieg aus. »Damit hat Cameron bestimmt kein Problem. Knoblauch ist schließlich vegan.«

2

Kenzie

Unser Haus bebte unter den Bässen eines Songs, den ich bereits als neuestes Werk von Eminem identifizierte, bevor ich auch nur in die Nähe der Tür gekommen war. Meine Schwester Juliet hatte momentan eine sehr eigenartige Phase, was ihren Musikgeschmack betraf. Aber erst letzte Woche hatte ich noch darüber gelästert, dass sie Justin Bieber hörte. Vielleicht war ich also an dieser Kehrtwende schuld.

»Wir sind zu Hause!«, brüllte ich ins Treppenhaus. Keine Reaktion. »Jules! Mach das leiser!« Wieder nichts. »Kannst du das einräumen?«, fragte ich Eleni, die gehorsam die Tüten in die Küche trug und den Kühlschrank öffnete. Ich schüttelte meine Sneakers von den Füßen und lief nach oben in den ersten Stock. Als ich die Tür aufriss, fiel meine Schwester fast von ihrem Stuhl.

»Kannst du nicht anklopfen?«, maulte sie.

»Als hättest du das gehört«, maulte ich zurück. Juliet war fünfzehn und damit anders als Eleni in dem, was die Leute ein schwieriges Alter nannten. Schon bei Willa hatte ich echte Kunststückchen aufführen müssen, um vor Dad zu verheimlichen, was sie so anstellte, aber Juliet toppte das noch. Erst letzte Woche hatte ich sie von einer Party im miesesten Viertel der Stadt abgeholt, und sie hatte so nach Gras gerochen, dass ich ihre Klamotten in die Mülltonne werfen musste. Sie bestritt zwar eifrig, selbst einen Joint geraucht zu haben, aber allein, dass sie mit Leuten rumhing, die das taten, machte mir Sorgen.

»Was ist denn?«, fragte Juliet mich.

»Du sollst die Musik leiser machen. Die Nachbarn kriegen sonst die Krise.«

»Ist mir egal.«

»Das ist schön, aber mir nicht. Oder Dad. Weil wir so etwas wie Rücksichtnahme kennen, okay? Mach es aus oder ich schmeiße den verdammten Laptop aus dem Fenster. Und ich öffne es vorher nicht.«

Juliet verdrehte die Augen, warf ihr langes dunkles Haar zurück – ihre Protestgeste Nr. 1 – und schaltete die Lautstärke an ihrem Computer leiser.

»Geht doch«, sagte ich. »Und jetzt geh runter, Leni und du seid heute mit dem Kochen dran.«

»Wieso kannst du das nicht machen? Du hast schließlich schon Ferien, während ich Aufgaben für diese dummen Zusatzkurse machen muss, zu denen du mich gezwungen hast.«

Ich funkelte sie an. »Erstens gehst du in diese Kurse, weil du stinkfaul bist und deine Noten in Englisch und Chemie beschissen sind. Und zweitens habe ich keine Ferien, sondern arbeite bei Dad.« Meine Kurse im Kunst- und Designstudium am örtlichen College von Aylesbury waren tatsächlich seit zwei Wochen beendet, aber deswegen hatte ich trotzdem genug zu tun. Ich zeigte zur Treppe. »Du bist dran. Also Abmarsch nach unten. Sofort.«

»Du bist eine blöde Sklaventreiberin!« Juliet schimpfte immer noch, als sie schon längst an mir vorbei war und hinunterstapfte. Ich atmete aus. Eigentlich kamen wir halbwegs miteinander aus, sogar in ihren schlimmen pubertären Phasen. Aber die Absage von Olsen hatte meinen üblichen Geduldsfaden aus Stahlseil zu einem dünnen Seidenfaserchen gemacht, das beim kleinsten Windhauch riss.

Ich ging kurz in mein Zimmer, das ich erst im Frühjahr mit dunkelgrüner Tapete und ein paar neuen goldenen Deko-Accessoires ausgestattet hatte, und schaute aufs Handy, um der winzigen Hoffnung zu folgen, dass Olsen es sich anders überlegt hatte. Aber das Postfach zeigte mir nur zwei Newsletter und mein WhatsApp die Nachricht einer Studienkollegin, die gerade im Auslandssemester in Kapstadt war und Fotos von einer Party in die Gruppe unseres Jahrgangs stellte. Ich seufzte, fast ein bisschen neidisch. So etwas hätte ich nie machen können. Nicht, weil uns das Geld dafür fehlte – Dads Betrieb lief sehr gut. Aber ich konnte ihm meine Schwestern nicht allein überlassen. Willa war zwar gerade achtzehn geworden und damit aus dem Gröbsten raus, Juliet jedoch brauchte jemanden, der ihr Grenzen setzte, und Eleni jemanden, der sie davon abhielt, so zu werden wie Juliet. Da waren längere Abwesenheiten nicht drin.

Ich löschte die Newsletter, dann schob ich das Telefon in meine Tasche und machte mich auf den Weg nach unten.

»Was kann ich helfen?«, fragte ich, als ich an dem großen Küchenblock zum Stehen kam. Juliet bedachte mich mit einem finsteren Blick, aber Eleni zeigte auf den Salatkopf.

»Kannst du den waschen?«

»Die Zwiebeln sind nämlich längst fertig«, sagte Juliet bockig und mit roten Augen. Ich war in der Familie die Einzige, die beim Zwiebeln schneiden nicht heulen musste. Das war irgendein evolutiver Witz, ein Erbe meiner Mutter, das einen guten Partytrick abgab. Und mich grundsätzlich dazu verdammte, in der Küche für die Zwiebeln zuständig zu sein.

Ich seufzte. »Jules, ich hatte einen Scheißtag, okay? Tut mir leid, dass ich dich so angefahren habe.«

»Nein, war meine Schuld. Ich bin genervt von den Kursen, sorry.« Sie hob die Schultern und wir grinsten beide schief, das Zeichen, dass wieder alles in Ordnung war. Dann schnappte ich mir den Salat und kramte die Schleuder aus dem Schrank, bevor ich ihn zerteilte. Eleni schwitzte derweil die Zwiebeln an und Juliet holte die Auflaufform aus dem Vorratsraum.

Wir Mädchen konnten alle kochen, eine Notwendigkeit, wenn der Vater einen Betrieb zu führen hatte und man nicht von Fertiggerichten leben wollte. Außerdem war Mum als Fotojournalistin auch vor ihrem Tod viel unterwegs gewesen und wir hatten uns arrangieren müssen. Mittlerweile war eine von uns vieren an einem festen Wochentag für die Mahlzeiten zuständig und Dad am fünften. Am Wochenende machten wir oft etwas zusammen oder gingen essen. Im Sommer waren wir zudem auch immer wieder campen, meist mit meinem Auto, in dem ich gemeinsam mit Eleni übernachten konnte – und dem großen Mercedes Actros von Dad, der mehrere Betten hatte.

»Wieso hattest du einen Scheißtag?«, fragte Juliet irgendwann und sah mich über den Küchenblock hinweg an.

»Ach, mein Job für den Sommer wurde kurzfristig abgesagt. Und jetzt weiß ich nicht, wie ich an interessante Projekte für meine Bewerbung kommen soll.«

»Die Bewerbung für London?« Eleni drehte sich am Herd zu uns um.

»Ja, genau.«

»Was für ein Mist. Kannst du nicht einfach die Projekte bei Dad nehmen? Campingautos auszustatten ist schließlich auch Innendesign. Und der Schulbus oder dieser Food-Wohntruck letzten Herbst sind doch megacool gewesen.«

Ich hob die Schultern. »Zur Not muss ich das so machen. Aber alle anderen, die zur UAL wollen, haben meist irgendwelche Praktika im Ausland gemacht. Deswegen wäre Olsen die beste Adresse gewesen, um halbwegs gleichzuziehen.«

»Außerdem hätte Kenzie den Sohn vom Olsen klarmachen können«, sagte Juliet. »Der ist nämlich echt heiß.«

Ich sah sie ungläubig an. »Woher weißt du das denn?«

»Das weiß jeder. Der Typ ist der begehrteste Junggeselle unter 25 in ganz London. Und du bist doch echt hübsch, Kenz. Bestimmt gefällst du ihm.«

»Ja, bestimmt«, lachte ich und sah an mir runter. Wie immer trug ich zerschlissene Jeans und dazu eines meiner langgeschnittenen schwarzen Shirts, das durch die vielen Wäschen längst ausgeblichen war und dessen kurze Ärmel genug Platz für mein Tattoo am Unterarm ließen. »Korrigiere mich, aber ich glaube nicht, dass reiche Schnösel auf Mädchen wie mich stehen.« Oder ich auf sie. Jungs in gebügelten Hemden und Lederschuhen waren für mich keine Kerle, sondern Ausstellungsstücke, bei deren Anblick meine Hormone komplett in Schockstarre verfielen. »Nein, danke. Ich verzichte.«

»Ich würde ihn nehmen«, sagte Juliet versonnen. Offenbar hatte sie die Gossip-Websites sehr gründlich nach dem Olsen-Sprössling durchforstet.

»Oh, er dich sicher auch, aber anders, als du denkst«, antwortete da Willa, die gerade zur Tür hereinkam und ihre Tasche abstellte. Sie jobbte, nachdem sie diesen Monat ihren Abschluss gemacht hatte, in einem Café in der Stadt und war oft als Letzte zu Hause – von Dad abgesehen.

»Willy!«, rief Juliet empört. »Sag so was nicht!«

»Wieso nicht, es ist doch wahr.« Willa runzelte die Stirn. Manchmal hätte ich den Leuten, die mich für undiplomatisch hielten, sehr gerne meine Schwester vorgestellt. Ihr fehlte jedes Gespür für vornehme Zurückhaltung. »Reiche Jungs in dem Alter wollen nicht mit dir in den Sonnenuntergang reiten, sondern nur reiten. Ohne Sonnenuntergang. Und ohne Pferd.«

Ich warf einen besorgten Blick zu Eleni, aber die rührte zufrieden die Soße und hörte gar nicht richtig zu.

»Das kannst du überhaupt nicht wissen«, murrte Juliet da.

»Ach Schätzchen«, seufzte Willa und tätschelte ihre Schulter. »Du musst noch viel über Jungs lernen.«

»Aber lass dir bitte Zeit damit«, sagte ich und warf den gewaschenen Salat in die bereitgestellte Schüssel. »Und tu mir einen Gefallen – mach einen Bogen um reiche Jungs. Ihr alle drei.« Auf Leute mit Geld war ich heute wirklich nicht gut zu sprechen. Vor allem, wenn sie Praktikumsplätze vor meiner Nase wegschnappten.

Willa stibitzte sich ein Salatblatt und sah mich an. »Auch um reiche Mädels? Ich bin da noch nicht ganz entschieden.«

»Auch um die. Und jetzt mach dich nützlich und deck den Tisch.« Damit scheuchte ich sie aus der Küche.

Das Essen verlief an diesem Tag ohne größere Dramen. Wir feierten sogar ein bisschen, weil Dad den Unimog tatsächlich endlich verkauft hatte – an einen verrückten Schweizer, der bisher nicht einmal einen Führerschein dafür hatte, aber trotzdem im nächsten Jahr nach Ostasien fahren wollte. Allein an dem erfolgreichen Geschäft lag es jedoch nicht, dass mein Vater die ganze Zeit aussah wie ein kleines Kind, dem man gesagt hatte, Schokolade sei gesund. Als wir fertig waren, schaute er mich fast schon feierlich an.

»Ich habe die Lösung für dein Problem.« Er strahlte stolz, als er sein Besteck zur Seite legte.

»Echt?« Ein wenig skeptisch sah ich ihn an. Meistens waren seine Lösungen, wenn es um uns Töchter ging, eher absurde Ratschläge mit geringen Erfolgsaussichten. In der Firma war er ein Garant für unlösbare Probleme, aber vier Mädchen von dreizehn bis zwanzig waren keine Kunden und auch keine Campingautos.

»Paula McCoy.« Mehr als diesen Namen sagte er nicht.

»Paula McCoy?«, wiederholte ich. »Die Freundin von Mum?« Sie lebte noch in der Heimatstadt meiner Mutter oben in Schottland, mit ihrem Sohn Drew, der etwas älter war als ich. Beide hatten uns öfter besucht, als Mum noch am Leben gewesen war, und Drew und ich folgten einander auf Instagram. Seit der Beerdigung hatte ich jedoch weder ihn noch seine Mutter gesehen.

Mein Vater nickte. »Genau die. Du erinnerst dich vielleicht nicht, aber sie hat eine Agentur für Innendesign in Kilmore. Vielleicht kannst du ihr im Sommer über die Schulter schauen und ein paar interessante Projekte begleiten.«

»Interessante Projekte? In Kilmore?« Ich verzog das Gesicht. Die Heimatstadt meiner Mum war echt idyllisch, sie lag am Rande der Highlands direkt an einem See und hatte exakt den Charme, den man von einer schottischen Kleinstadt erwartete. Aber wenn Paula dort Aufträge hatte, dann nur das Aufhübschen eines Wohnzimmers oder die Ausstattung eines Ferienhauses. Das machte bestimmt Spaß, genau wie der Ausbau von Campern. Nur war es leider überhaupt nicht das, was ich für meine Mappe brauchte.

Dad ließ nicht locker. »Das ist eine tolle Stadt, sehr geschichtsträchtig und es kommen viele Touristen. Du weißt doch, dass Mum und ich uns dort im Supermarkt kennengelernt haben, oder?«

»Ich weiß«, lächelte ich. »Sie hat dich direkt vor den Kühlschränken mit den Getränken angesprochen und gefragt, wie schlecht dein Tag auf einer Skala von Cola bis Whiskey war.« Ich leierte die Worte herunter, weil ich sie schon so oft gehört hatte.

Mein Dad lächelte liebevoll und gleichzeitig traurig. »Und damit hatte sie mich.«

Es wurde kurz still am Tisch, und ich konnte förmlich sehen, wie sich Trauer über uns legte. Juliet schob die Reste ihrer Lasagne auf dem Teller herum, Eleni drehte ihr Wasserglas und Willa aß viel zu hastig die Salatschüssel leer. Weil ich diese stumme Melancholie hasste und sie nie lange aushielt, kam ich auf das ursprüngliche Thema zurück.

»Ich glaube nicht, dass Paula die richtige Idee ist, Dad. Das sind doch eher kleinere Jobs da oben im Norden.« Wahrscheinlich telefonierte ich morgen mal die Agenturen in London ab, vielleicht war irgendwo jemand kurzfristig abgesprungen. Als ob.

Wieder zeigte mein Dad dieses zufriedene Grinsen. »Im Gegenteil. Ich habe vorhin mit ihr gesprochen, und sie hat mir gesagt, dass sie einen großen Auftrag bekommen hat – die Innengestaltung eines Neubaus für das Kilmore Grand, das Hotel der Hendersons. Sie würde sich sehr freuen, wenn du kommst und ihr dabei hilfst.«

»Hendersons?«, fragte Willa kauend. »Das ist doch diese Familie mit den Hotels auf der ganzen Welt, oder? Ist das Grand nicht der Luxus-Schuppen in Kilmore? Dieses edle Gemäuer direkt am Loch?«

»Das Grand ist ein 5-Sterne-Hotel«, korrigierte Eleni. »Und eines der exklusivsten Häuser in ganz Europa. Hab ich mal gelesen, als ich Kilmore gegoogelt habe.« Sie konnte sich nicht an die schottische Stadt erinnern, denn sie war gerade sieben geworden, als Mum gestorben war, und wir waren vor ihrem Tod eine Weile nicht mehr in ihrer Heimat gewesen. »Das ist superschick, Kenz! Du musst da hingehen!«

»Siehst du«, sagte mein Dad zu mir. »Deine Schwester denkt auch, dass es eine gute Idee ist.«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, ich kann nicht über den Sommer weg.« Es klang zwar echt gut, denn auch mir sagte das KilmoreGrand etwas, und die Hotels der Hendersons waren so edel, dass ein solcher Auftrag sicherlich gut genug für eine Bewerbung an der UAL war. Aber Kilmore war knapp 500 Meilen entfernt, also sieben Stunden mit dem Auto. »Es ist zu weit weg.« Das wäre ja das Gute an dem Job bei Olsen gewesen, dass ich von London die halbe Stunde nach Hause hätte pendeln können, um mich weiterhin um alles zu kümmern.

»Quatsch. Wir kommen auch mal zwei Monate ohne dich aus.« Dad zeigte voller Überzeugung auf meine Schwestern.

»Ach ja?«, fragte ich. »Wer fährt Eleni durch die Gegend?«

Mein Vater sah Willa an. »Das kann Willy machen, sie hat doch seit zwei Monaten den Führerschein.«

Ja, und sie fährt wie ein Hamster auf Koks, dachte ich. »Und was ist mit der Essensplanung?«

»Die mache ich«, sagte mein Vater.

»Okay, übernimmst du dann auch das Einkaufen? Die Wäsche? Den Haushalt? Nähst Elenis Kostüm für die Aufführung? Kümmerst dich um den Garten?« Wir teilten uns zwar alles an Arbeit auf, aber wenn ich es nicht organisierte, passierte gar nichts. »Ihr werdet hier im Chaos versumpfen, wenn niemand euch auf Trab hält.«

»Pffft.« Juliet nahm die Nase ein Stück höher. »Du tust so, als kämen wir ohne dich nicht klar.«

Ich nickte. »Ja, weil es die Wahrheit ist.«

»Ist es nicht. Und wir werden es dir beweisen.« Willa straffte die Schultern und meine anderen beiden Schwestern taten es ihr gleich. »Würdest du dieses Praktikum bei Paula machen, wenn es uns nicht gäbe? Sei ehrlich, Kenz.«

Ich dachte an die Bilder vom KilmoreGrand, die ich mal gesehen hatte, als ich neugierig auf ihrer Website nachgeschaut hatte, wie viel eine Übernachtung dort kostete. An die Gemälde, die Stoffe, die Tapeten. Einen Neubau für dieses Hotel auszustatten, war fast noch besser als die Kirche in Harlow.

»Ja«, gab ich Willa eine Antwort auf ihre Frage.

»Und bist du bereit, uns dafür einen Sommer zu verlassen?«

»Nein«, sagte ich genauso ehrlich. Es war ja nicht nur so, dass sie mich brauchten – meine Schwestern waren auch meine Freundinnen, und ich war es nicht gewohnt, von ihnen getrennt und allein zu sein. Drew und Paula hatte ich so lange nicht gesehen, dass sie kaum als Bekannte zählten. Und nur, weil Mum dort aufgewachsen war, bedeutete das nicht, dass Kilmore für mich so etwas wie Heimat war. Ich erinnerte mich kaum an den letzten Besuch dort, weil ich erst vier oder fünf gewesen war.

»Komm schon, Kenzie. Wir kriegen das echt hin.« Juliet sah mich unschuldig an. Ja, sicher, weil du dann machen kannst, was du willst. Kommt gar nicht infrage.

»Hört auf jetzt, die Diskussion ist beendet.« Ich ließ mich auch mit allen Beteuerungen nicht zu einer Zusage hinreißen, und bald darauf wechselten wir das Thema und redeten über Elenis Theaterstück. Erst beim Abwasch kamen wir zu der Kilmore-Frage zurück. Meine Schwestern waren schon im Wohnzimmer vor dem Fernseher, aber mein Vater räumte die Spülmaschine ein und ich trocknete die Pfanne ab, als er sich aufrichtete und mich musterte.

»Ich sehe es dir an«, sagte er lächelnd, »du willst gerne dorthin. Und deswegen wirst du auch fahren.«

»Dad, lass das. Es ist eine total blöde Idee.«

»Warum? Worüber machst du dir Sorgen? Du bist immer noch auf der Insel, du kannst in wenigen Stunden hier sein, wenn es brennt. Und niemand von uns wird verhungern oder verwahrlosen, solange du weg bist.«

Ich hob die Schultern. »Juliet ist zurzeit nicht einfach, und ich habe Sorge, dass sie Mist anstellt. Und Eleni fängt gerade an, sich für Jungs zu interessieren – aber Willy ist da sicher nicht die richtige Ansprechpartnerin. Und nichts gegen dich, Dad, aber du musst viel arbeiten, also kannst du das nicht übernehmen.« Ich stellte die Pfanne weg. »Alles funktioniert gut so, wie es ist. Mir macht es nichts aus, auf dieses Praktikum zu verzichten.«

»Das weiß ich. Aber glaub nicht, dass ich nicht wüsste, was du hier jeden Tag leistest.« Er seufzte. »Du warst erst vierzehn, als deine Mutter gestorben ist, und trotzdem hast du ab diesem furchtbaren Tag mitgeholfen, deine Schwestern großzuziehen. Und du hast dich nie darüber beklagt.«

»Doch, habe ich«, widersprach ich. »Oft sogar.«

Er lächelte wieder. »Nicht oft genug. Ich finde, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, wo du an dich denken darfst. Außerdem hätte es deiner Mum bestimmt gefallen, dass du den Sommer in Kilmore verbringst.« Plötzlich schien er sich an etwas zu erinnern und stand auf. »Warte mal kurz.« Er stieg die Treppe hinauf, ich hörte ihn die Luke zu unserem Dachboden öffnen und die faltbare Leiter herunterklappen. Neugierig ging ich hinterher und spähte durch die Öffnung, dann folgte ich ihm nach oben.

»Was suchst du?«

»Eine Schachtel. Sie war blau …« Er sah sich um und entdeckte in dem Chaos aus ausgemusterten Möbeln, unserem Weihnachtsschmuck und altem Spielzeug schließlich einen braunen Pappkarton. »Ich glaube, da ist sie drin.« Mit einem kräftigen Ziehen beförderte er den Karton aus seiner Ecke und klappte den Deckel auf. Dann hob er eine Holzschatulle heraus, so groß wie eine Schuhschachtel, bemalt mit einem leicht schielenden Monster von Loch Ness. Er stellte sie ab und hockte sich davor.

»Ist die von Mum?«, fragte ich und kniete mich auf den staubigen Boden.

»Das sind ihre Erinnerungen an Kilmore.« Mein Dad schluckte, als er einen Stapel vergilbter Fotos herausnahm und ihn durchsah. »Sie war zwar froh, als sie endlich reisen durfte und Schottland verlassen konnte, aber sie ist immer gerne dorthin zurückgekehrt. Sie hat gesagt, nichts hat sich für sie so sehr nach Heimat angefühlt wie diese Stadt.«

Gemeinsam sahen wir die Bilder an, die noch aus der Teenagerzeit meiner Mutter stammen mussten – auf den meisten war sie mit Paula zu sehen, auf vielen auch mit anderen Freunden. Erinnerten sie sich an sie, so wie wir es taten? Oder hatten sie sie vergessen?

Mir stiegen Tränen in die Augen, als ich ein Foto sah, auf dem meine Mum sich an meinen Vater schmiegte, im Hintergrund die Kühlschränke eines Supermarkts. Man sah, wie glücklich sie in dem Moment gewesen waren. Sie hatten vorgehabt, den Rest ihres Lebens miteinander zu verbringen, bis ins hohe Alter. Niemand hätte damit gerechnet, dass dieser Rest so kurz sein sollte – dass meine Mum mit nur sechsunddreißig Jahren sterben würde. Am wenigsten wohl sie selbst.

Ich hatte am Anfang nach ihrem Tod nicht sehr oft geweint. Ich war dazu übergegangen, die Trauer still zu ertragen, für meinen Dad und meine Schwestern – bis auf eine einzige Situation, von der niemand wusste. Und mittlerweile war es meine Strategie, nicht zu viel darüber nachzudenken, denn oft genug meldete sich dann Wut, weil sie uns verlassen hatte. Und dann schämte ich mich wegen meiner Wut, die ich wegschob, bis ich weder sie noch die Trauer spürte und weitermachen konnte. Aber selten, so wie jetzt, erlaubte ich mir einen Moment, an sie zu denken und sie einfach nur zu vermissen. Weil es mir fehlte, mit ihr zu reden oder von ihr in den Arm genommen zu werden.

Dad nahm mir das Bild aus der Hand. »Wer weiß, vielleicht würdest du sogar unerwartet deine große Liebe finden, wenn du nach Schottland fährst. In einem Supermarkt vor den Getränken.«

»Als würde das zweimal funktionieren«, antwortete ich und wischte mir über die Augen. »Hörst du die Statistik lachen?«

»Na, dann nutze die Zeit eben, um nicht die große Liebe zu finden. Ich schätze, nachdem du die Jungs in den letzten zwei Jahren in Scharen davongejagt hast, wird es Zeit, dass du dir mal selbst einen Korb holst«, sagte mein Vater ungerührt. »Irgendein Schotte eignet sich bestimmt dafür.«

Ich grinste. »Du wünschst dir eine Abfuhr für mich? Was bist du denn für ein Vater?«

»Einer, der glaubt, dass seine Tochter sich manchmal selbst im Weg steht.« Er warf mir einen liebevollen Blick zu. »Versteh mich nicht falsch, Kenzie, ein Teil von mir wünscht sich nur zu sehr, dass du dein Leben lang mein kleines Mädchen bleibst. Aber der andere macht sich Sorgen, dass du zu hart mit dem anderen Geschlecht ins Gericht gehst. Dass du Jungs zu schnell abstempelst.«

»Die meisten von ihnen sind Idioten.« Ich zuckte mit den Schultern und dachte an Miles, den blonden, sehr hübschen Basketballer aus meinem Jahrgang am College. Drei Monate hatte unsere Beziehung gedauert, bis ihm eingefallen war, dass mein Anhang, wie er meine Schwestern charmanterweise nannte, ihm doch ziemlich auf die Nerven ging – und er von mir gefordert hatte, ihn selbst ganz oben auf meine Prioritätenliste zu setzen. Und da war er nicht der Erste gewesen.

Jungs in meinem Alter wollten eine Freundin, die außer ihnen und vielleicht noch dem Studium keine Verpflichtungen hatte. Die jedes Wochenende um die Häuser ziehen konnte und selbstverständlich allzeit verfügbar für Sex war. Nur war mir meine Familie immer wichtiger als irgendein Kerl. Wenn Juliet mit Grippe im Bett lag oder Eleni Hilfe bei Mathe brauchte, ging ich nicht feiern. Und daran würde sich auch nie etwas ändern.

»Ganz sicher sind sie Idioten. Aber das heißt nicht, dass einer von ihnen nicht dein Idiot sein kann.« Mein Vater lächelte. »Ich war einer, und das hat deine Mutter nicht davon abgehalten, sich in mich zu verlieben.« Er legte die Bilder wieder in die Schachtel und schob sie mir zu. »Schätzchen, denkst du nicht, es ist an der Zeit, dass du deine Schwestern und mich mal ein bisschen uns selbst überlässt? Deine Mutter hatte früher eine Menge Spaß in Kilmore, die Leute sind wahnsinnig nett und die Natur ist geradezu gemacht für Campingausflüge.«

»Mit wem soll ich denn dort oben Ausflüge machen? Mit diesem Typen, der im Supermarkt auf mich wartet?« Ich hob eine Augenbraue.

»Mach dich nur darüber lustig. Du wirst schon noch irgendwann feststellen, dass es Gefühle gibt, gegen die nicht einmal du dich wehren kannst.« Mein Dad zeigte auf die Schachtel und sah mich an. »Also, was meinst du, Kenzie? Bist du bereit für ein Abenteuer?«

Eigentlich war ich es nicht, ganz und gar nicht. Aber etwas in mir rief nach dieser Auszeit. Nach zwei Monaten nur für mich. Und möglicherweise hatte Dad recht und meine Schwestern waren mittlerweile selbstständig genug. Vielleicht kamen sie wirklich für diese Zeit ohne mich zurecht. Und falls nicht, war ich schnell wieder da.

»Ja, könnte sein«, sagte ich und betrachtete das Monster auf der Schachtel.

»Siehst du.« Er lächelte mich an. »Am besten rufst du Paula noch heute Abend an. Sie erwartet deinen Rückruf.«

»Okay. Danke, Dad.« Ich umarmte ihn. »Du bist wirklich der Beste.«

»Ich danke dir, mein Schatz«, antwortete er und drückte mich fest.

Ich hätte beleidigt sein müssen, dass meine Familie es so eilig hatte, mich loszuwerden – denn schon eine knappe Woche später war Loki fertig gepackt für die Reise in den Norden. Paula hatte zwar ein Gästezimmer, aber mir war es lieber, ihr nicht zur Last zu fallen. Außerdem war der Camper genauso ein Zuhause für mich wie mein Zimmer in High Wycombe, und ich wusste, wenn ich in Kilmore einen Rückzugsort brauchte, dann stand er bereit. Deswegen war es keine Frage gewesen, dass ich Loki nehme, als mir klargeworden war, dass ich tatsächlich den Sommer in Schottland verbringen würde.

Meine Schwestern standen vor dem Auto, um mich zu verabschieden. Mein Dad hatte das bereits erledigt, als er am Morgen in die Firma gefahren war. »Wenn irgendetwas ist …«, begann ich zum hundertsten Mal in der letzten halben Stunde.

»Dann kriegen wir das hin.« Willa drückte mich noch einmal an sich und schob mich dann resolut in Richtung meines Wagens. »Und jetzt hau schon ab, bevor wir alle noch zu heulen anfangen.«

»Halt!« Eleni zog etwas hinter ihrem Rücken hervor. »Wir haben dir was gebastelt, damit du uns immer dabeihast.« Sie gab mir einen Rahmen mit einem Bild darin. Es war ein Foto von uns fünfen, das wir am letzten Weihnachten aufgenommen hatten. »Es hat hinten einen Magnet, dann kannst du es an die Küchenzeile hängen.«

»Danke, Leni.« Ich umarmte sie fest. »Bitte pass auf die anderen auf, okay?«

»Okay.« Sie sah mich tapfer an, aber ich wusste, es war schwer für sie, dass ich so lange nicht da sein würde. Ich zog sie mit groß, seit sie in die Schule gekommen war, und ich war nie länger als zwei Wochen weg gewesen. »Ich bin so schnell wieder da, dass es dir wie Tage vorkommen wird. Wenn du als Elizabeth Bennet auf der Bühne stehst, sitze ich in der ersten Reihe.«

»Wehe nicht«, sagte sie und drückte mich noch einmal.

»Ich hoffe, du hast eine schöne Zeit da oben.« Juliet konnte besser verbergen, dass ich ihr fehlen würde. Wahrscheinlich war sie tatsächlich froh, dass ich eine Weile nicht jeden ihrer Schritte überwachte.

»Bau keinen Mist«, gab ich ihr daher mit auf den Weg, dann riss ich mich von ihnen los und stieg ins Auto. Die Tränen kamen ungefragt, als ich Loki von seinem angestammten Parkplatz lenkte und den dreien winkte. Und ich heulte auch noch, als ich High Wycombe längst verlassen hatte und auf die M40 einbog, die in den Norden führte. Erst als ich an Birmingham vorbei war, versiegte der Strom langsam.

Je mehr Meilen ich hinter mich brachte, desto aufgeregter wurde ich. Mir war immer noch nicht wohl bei dem Gedanken, meine Schwestern so lange sich selbst zu überlassen, aber ich spürte auch eine kribbelige Aufregung. Für mich, die eigentlich nie irgendwo allein hinging, war das hier ein Abenteuer. Fast fühlte ich mich wie meine Kommilitonen, die für ein Semester ins Ausland gingen, obwohl deren Ziele natürlich sehr viel exotischer waren als die schottischen Highlands.

Ich machte eine ausgedehnte Mittagspause in der Nähe von Kendal und fuhr dann weiter. Am späten Nachmittag passierte ich schließlich die Grenze zwischen England und Schottland – und ab diesem Zeitpunkt regnete es Bindfäden auf meine Frontscheibe. Ich dachte an die ganzen kurzen Sachen, die hinten in den Schränken verstaut waren – die Shirts und Shorts, die leichten Kleider und die Bikinis. Natürlich wusste ich, dass es in Schottland kälter war als bei uns im Süden. Aber ich hatte trotzdem gehofft, dass der Sommer mich willkommen heißen würde. Wenn das jedoch wettertechnisch so weiterging, brauchte ich wohl nur die dicke Fleecejacke, die mein Vater mir mit einem wissenden Blick gestern Abend in die Hand gedrückt hatte.

Genauso plötzlich, wie der Regen begonnen hatte, hörte er auch wieder auf. Das Navi zeigte noch zehn Minuten an, als ich das Schild eines Supermarktes an der Straße sah, kurzerhand den Blinker setzte und abbog. Der Campingplatz von Kilmore warb zwar mit einem kleinen Laden und Brötchenservice, aber es war garantiert günstiger, wenn ich mir vorher ein paar Dinge besorgte. Außerdem war es Carson’s – der Ort, wo sich meine Eltern kennengelernt hatten – und dort gab es sicher eine Süßigkeit, die eigentlich nur nach Zucker schmeckte, für mich allerdings ein Teil der Kindheit mit meiner Mum war. Bestimmt konnte ich mich hier damit eindecken.

Es war recht leer in dem Laden, als ich hereinkam und den Besitzer, einen großen Mann mit schütterem Haar und kariertem Hemd, freundlich grüßte. Er kassierte gerade bei einer älteren Dame, die in Zeitlupe ihre Einkäufe auf das Band legte, und erwiderte meinen Gruß mit einem Lächeln. Schnell schnappte ich mir einen Korb und begann mit dem Streifzug durch die Lebensmittelwelt der Schotten. Ich packte einiges ein – wie Toast und Shortbread, Butter und Milch. Aber auch als ich die Regalreihen mehrfach abgelaufen war, fand ich trotzdem nicht das, weswegen ich hergekommen war.

»Suchst du etwas Bestimmtes?« Der Ladenbesitzer war offenbar mit der Omi fertig und rief mir über die Regale hinweg seine Frage zu.

»Haben Sie hier Edinburgh Rock?«, rief ich zurück.

»Aber sicher.« Er kam hinter der Kasse hervor und ging zu einem Aufsteller an der Seite, der mit der schottischen Flagge bedruckt war. »Hier haben wir alles, was typisch für unser Land ist. Aber Vorsicht, angeblich sind davon schon Zähne ausgefallen.«

»Danke für den Hinweis«, lachte ich und legte dennoch zwei Packungen in meinen Korb.

Er musterte mich aufmerksam. »Du kommst mir irgendwie bekannt vor. Auch wenn ich sicher bin, dass ich dich noch nie gesehen habe. Wie kann das sein?«

»Vielleicht kannten Sie meine Mutter«, sagte ich nach kurzem Zögern. »Kaleigh Dunbar?«

»Großer Gott, natürlich, die kleine Kaleigh!« Er strahlte. »Du siehst aus wie sie damals, nur hatte sie noch viel längere Haare. Was machst du in der Stadt? Ist deine Mutter auch hier?«

Ich atmete ein und schluckte gegen den Kloß in meinem Hals an. »Nein, sie … sie ist gestorben. Schon vor sechs Jahren. Es war ein Unfall.«

»Ach herrje, das tut mir furchtbar leid.« Mit tiefem Bedauern sah er mich an. »Ich habe sie nicht gesehen, seit … sie hier war, in irgendeinem Herbst vor sicher zehn Jahren, mit ihrem Mann. Sie hat gesagt, es wäre eine Tradition, dass sie bei jedem Besuch in Kilmore in meinen Laden kommen, weil sie sich hier kennengelernt haben. Aber sie hatten nicht viel Zeit, weil ihre Kinder im Wagen gewartet haben. Ich habe nur gehört, sie würde im Süden wohnen. Dass sie gestorben ist, wusste ich nicht.«

Ich hob ungelenk die Schultern und nickte nur. Noch nie hatte ich gut damit umgehen können, wie die Leute reagierten, wenn sie von dem Tod meiner Mutter erfuhren. Man gewöhnte sich einfach nicht daran, an die hilflosen Blicke, an das Mitleid – während sie meistens keine Ahnung hatten, wie es sich tatsächlich anfühlte, jemanden so Wichtiges zu verlieren. Aber ich würde vor diesem Fremden nicht zeigen, was ich fühlte. Ich hatte gelernt, das nicht zu tun.

»Ich bin Kenzie«, sagte ich, um den Moment zu überspielen, und streckte die Hand aus. »Die Älteste von uns vieren.«

»Und ich bin Eoghan Carson. Es freut mich sehr, Kenzie.« Er schüttelte meine Hand. »Bleibst du länger oder bist du auf der Durchreise?« Durch das Fenster deutete er auf Loki, der einsam auf dem Parkplatz stand.

»Ich bleibe über den Sommer und mache ein Praktikum bei Paula McCoy.«

»Oh, Paula, natürlich. Sie ist die Beste.« Er nickte mit Nachdruck. »Wenn du in der Zeit hier irgendetwas brauchst, dann melde dich, okay? Meine Frau und ich sind eigentlich immer im Laden.«

»Das ist echt lieb von Ihnen, vielen Dank.« Ich lächelte ihn an. Das war doch kein schlechter Einstieg in dieses Abenteuer. Ich hatte sogar die erste Frage nach meiner Mutter halbwegs unbeschadet überstanden. Und vielleicht erinnerten sich ja gar nicht so viele hier an sie.

Die Tür schwang auf und jemand kam herein, deswegen ließ Mister Carson mich allein und ging nach vorne. Ich atmete tief ein, schob die Trauer beiseite, und machte mich dann daran, die schwierige Entscheidung zwischen Schokocreme und Marmelade zu treffen.

3

Lyall

Der Wagen wurde langsamer. Ich hatte den Fuß zwar nicht bewusst vom Gaspedal genommen, aber etwas in mir schien verhindern zu wollen, dass ich weiterfuhr. Ich hörte darauf, hielt am Rand des Grünstreifens und legte die Arme auf das Lenkrad. Regen prasselte auf das Glas der Windschutzscheibe und verschleierte mir die Sicht auf die Bäume dort draußen. Außer mir war niemand auf der Straße.

Hier war ich also wieder. Die gleiche Stadt, die gleichen Menschen, das gleiche Wetter wie vor drei Jahren. Aber diesmal schrie alles in meinem Kopf mich an, umzudrehen und zurück zum Flughafen zu fahren. Oder zumindest in eine andere Stadt als diese hier. Irgendeine Stadt, in der mich nicht jeder einzelne Bewohner hasste.

Besuchen Sie Kilmore, verhöhnte mich das Schild an der Straße, die letzte Zuflucht vor den Toren der Highlands.

Die letzte Zuflucht? Ich lachte trocken. Für mich war es wohl eher der letzte Kreis der Hölle. Und ich musste hindurch, wenn meine Zukunft nicht ein schwarzes Loch sein sollte.

Ein Klingeln brachte mich dazu, meine Starre aufzugeben. Ich griff nach dem Handy und nahm den Anruf an.

»Lyall?«, ertönte die Stimme meiner Tante Moira. »Bist du schon auf dem Weg hierher?«

»Sozusagen«, antwortete ich vage. Schließlich wusste ich nicht, wie lange ich noch an der Straße stehen und darüber nachdenken wollte, wieder umzudrehen. Was genau genommen der einzige Grund gewesen war, warum ich selbst fahren und mich nicht vom Fahrer des Hotels hatte abholen lassen wollen. Dieser simple, nach Lavendel-Duftbaum riechende Mietwagen mit dem Lenkrad auf der falschen Seite war alles, was mir das Gefühl gab, nicht komplett ausgeliefert zu sein.

»Dann hol doch bitte bei Carson noch unsere Bestellung für morgen ab«, sagte Moira. »Er hat alles vorbereitet und weiß Bescheid.«

»Carson? Ist das dein Ernst?« Schließlich hatte ich darauf gehofft, dem fackeltragenden Mob erst in ein paar Tagen begegnen zu müssen – und mich vorher im Grand zu verkriechen.

»Mein voller Ernst. Je eher die Leute merken, dass du nicht mehr der Gleiche bist wie vor drei Jahren, desto schneller kehrt Normalität ein.«

Beinahe hätte ich gelacht. Normalität. In Kilmore. In Bezug auf mich. Moira musste den Verstand verloren haben.

Trotzdem gab ich klein bei. Schließlich hatte ich keine Wahl. »In Ordnung. Ich fahre dort vorbei.«

»Gut. Er soll dir die Rechnung mitgeben. Oh, und Lyall? Leg diesen Akzent ab, solange du hier bist. Es hilft wohl kaum bei deinem Vorhaben, wenn du klingst wie ein US-Amerikaner.«

Ich biss die Zähne aufeinander. Am liebsten hätte ich ihr gesagt, dass ich nun mal seit drei Jahren in Chicago lebte und sie sich den verdammten schottischen Akzent sonst wo hinschieben konnte, aber ich hielt mich zurück. Das war schließlich meine Aufgabe für die nächsten acht Wochen.

Tief atmete ich ein.

»Ist es besser so?«, fragte ich meine Tante dann in breitestem Schottisch.

»Viel besser.« Moira ließ sich nicht von mir provozieren. »Bis später. Fahr vorsichtig.« Ein melodisches Geräusch sagte mir, dass sie das Gespräch beendet hatte.

Nur eine halbe Minute später fuhr ich auf den Parkplatz von Carson’s Supermarkt. Er lag etwas außerhalb der Innenstadt, war aber der einzige Laden für Lebensmittel in Kilmore. Um diese Zeit allerdings – es war schon nach acht – waren die meisten Leute längst zu Hause.

Gut für mich.

Ich parkte neben dem einzigen anderen Auto – einem dieser Campervans, mit denen jetzt jeder herumfuhr, der jung und hip sein wollte und eine Allergie gegen Komfort hatte. Das nachtblaue Modell wirkte recht neu und modern, mit Blenden aus Chrom und silbernen Felgen. Aber das täuschte nicht darüber hinweg, dass diese Dinger furchtbar eng waren und man die Sitzgruppe am Abend zum Bett umbauen musste. Keine zehn Pferde hätten mich dazu gebracht, in so einem Teil zu übernachten. Da konnte man sich ja gleich auf den Parkplatz legen.

Ich wappnete mich innerlich, dann stieg ich aus und ging zur Tür des Ladens. Dahinter roch es genauso, wie ich es in Erinnerung hatte: nach Obst, der erdigen Note von Kartoffeln und irgendeinem Putzmittel, das Carson nach Ladenschluss wohl eimerweise auf den Fußboden leerte, damit der Geruch um diese Uhrzeit immer noch in der Luft hing.

Als ich an den Tresen trat, der sich neben den Kassen befand, kam Carson höchstpersönlich aus dem Verkaufsraum. Sein Gesichtsausdruck war freundlich, zumindest für drei Sekunden. Dann erkannte er mich. Sofort hoben sich die buschigen Brauen, bevor sie sich zusammenzogen.

»Lyall Henderson«, knurrte er. »Was willst du denn hier?«

»Ich soll die Bestellung für meine Tante Moira abholen«, sagte ich in dem harmlosesten Tonfall, den ich zustande brachte. Es half nichts.

»Nicht, was du in meinem Laden willst. Sondern hier in der Stadt.«

Oh, was hätte ich jetzt ausholen können. Vom Familienrat, der meinetwegen mehrfach getagt hatte. Von den heftigen Diskussionen, die dabei geführt worden waren. Oder von meiner Großmutter, die verlangt hatte, dass ich nach Kilmore kam und meinen Ruf wiederherstellte. Es kann nicht sein, dass der Junge am Stammsitz unserer Familie eine persona non grata ist, hatte sie gewettert. Und da Grandma nicht die Sorte Oma war, die Kekse backte und ihren Enkeln einen Zehner zusteckte – sondern die Sorte, die ein Milliarden-Hotelimperium unter ihrer Fuchtel hatte und unsere Treuhandfonds verwaltete, hatten alle eingewilligt. Sogar ich. Schließlich hatte ich einen Plan, der weit über das hier hinausging. Der, wenn er funktionierte, die Machtverhältnisse in unserer Familie umkehren würde. Seit zwei Jahren arbeitete ich daran. Kilmore würde mich nicht davon abhalten, ihn umzusetzen, und ein unfreundlicher Supermarktbesitzer erst recht nicht.

»Ich bin über den Sommer hier«, zwangsverpflichtet worden, »zu Gast.« Mit etwas Mühe schaffte ich ein Lächeln, das Carson aber nur noch misstrauischer machte.

»Zu Gast?«

»Ja, richtig.«

Carson knurrte wieder. »Ich schwöre dir, wenn du auch nur eine meiner Töchter schief anschaust«, sagte er drohend. »Dann mache ich Gulasch aus dir, ganz egal, wer deine Familie ist. Verstanden?«

Ich sparte mir den Hinweis, dass keine seiner Töchter auch nur ansatzweise mein Interesse erregen konnte – geschweige denn irgendwas anderes – und nickte nur artig. »Natürlich, Sir.« Gar nicht so schlecht. Das jetzt noch ungefähr sechzig weitere Tage, und es ist vorbei.