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Sie heißen Familie Blau, Weiß, Rot, Grün, sie leben abgeschottet in ihrer Siedlung, sie befolgen die Regeln. Fortpflanzung und Natur stehen weit oben auf der Normenliste. Weil sich bei Regina und Jakob Grün jedoch kein Nachwuchs einstellen will, helfen sie nach, im Geheimen natürlich. Solches Handeln ist verpönt, und Geheimnisse gibt es nicht. Rosa tritt mit einem Fluch belegt ins Leben. Das neugierige Mädchen, das im gewitzten Fredy Blau einen Gefährten findet, wird bald schon von der Strafe eingeholt. Knochenlieder erzählt die Geschichte der Familien Grün und Blau über rund sechs Jahrzehnte, beginnend um 2020. Wenn im ersten Teil das Leben in der Siedlung im Mittelpunkt steht, spielt der Roman im zweiten Teil und gut zwanzig Jahre später in einer überwachten Stadt, die nur noch den Ausnahmezustand kennt. Hier lebt Pippa, zusammen mit einem widerlichen Vater, von dem sie sich dringend befreien will. Ihre Fähigkeiten als Hackerin sollen ihr dabei behilflich sein. Im dritten Teil macht sich Pippa auf die Suche nach ihrer Mutter und findet Rosa, die ihr Geschichten von früher erzählt, auch jene von Fredy, dem einzigen Menschen, den sie wirklich geliebt hat. Martina Clavadetscher legt mit ihrem zweiten Roman eine bitterböse Zukunftsgeschichte vor, in die sie geschickt verschiedene Märchenmotive einflicht. Eine knappe Sprache und schnelle Dialoge prägen den Text. Knochenlieder ist ein harter Roman, unterlegt von tiefer Menschlichkeit.
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Seitenzahl: 158
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MartinaClavadetscher
Roman
© edition bücherlese, Luzern
www.buecherlese.ch
Lektorat : Liliane Studer
Korrektorat : Karin Büchler
Umschlaggestaltung: David Clavadetscher
eISBN 978-3-906907-09-3
2. Auflage 2017
Für F.
Niemals zeigt sich die Natur des Menschen bestialischer,als wenn sie zur Ehre der höchsten Ideen ins Wüten gerät.
Jacob Grimm
And I don’t even care to shake these zipper bluesAnd we don’t knowJust where our bones will restTo dust I guess
Smashing Pumpkins – 1979
I. STACHELKIND
1. ABSTIEG
2. SIEBEN SIND KEINE DREIZEHN
3. KLEINE STEINE AUS DEM LADEN
4. IN DER VORRATSKAMMER
5. ABENDSITZUNG BEI ROT
6. HERBSTZEIT
7. FEIER UND VORAUSSAGE
8. ZEITSPRUNG UND ACHSENBRUCH
9. RÜCKWEG
10. ANGST
11. DAS ABSCHIEDSGESCHENK
12. ERSTER STICH
13. DER TIEFSTE SCHLAF
14. PLÖTZLICHES EREIGNIS
15. DAS SCHÖNSTE
16. ZWEITER STICH
II. UZNAME
1. VATERMENSCH
2. NACHTFLUG
3. @MILLERS
4. E.
5. IN REM
6. ZWEITER NACHTFLUG
7. SCHNURR SCHNURR SCHNURR
8. ANALOG UND MANUELL
9. DER DEAL
10. WIEDER OBEN
11. DER LETZTE TAG
12. WAS NIEMAND WEISS
13. DAS MÖGLICHE KAPITEL
III. KNOCHENLIED
1. FINDEN UND FRAGEN
2. DIE BRÜDER UND DER KRIEG
3. DER WUNSCH NACH EINER WENDE
4. DIE DREI RAUPEN
5. DAS LETZTE LIED
6. DAS GESTÄNDNIS
7. DIE EINSAMSTE STELLE
8. MUSIK
DANK
-Salz,
Kaffee,
Rohzucker,
Vollkornmehl.
Jedes Wort – ein Schritt.
Und die Wortwiederholung wird zum Weg über die Wiese.
Raureif klebt an den Gräsern.
An den Schattenhängen liegt Restschnee,
Flecken wie verschüttete Milch.
Jakob bräuchte die Waren gar nicht aufzuzählen.
Er kann sie längst auswendig.
-Salz, Kaffee, Rohzucker, Vollkornmehl,
dann Reis, die Post, die bestellten Bücher.
Die monatlichen Produkte für die Frauen.
Die kurzen Kinderschritte auf dem Laubboden hinter ihm
werden langsam,
langsamer,
setzen schließlich ganz aus.
-Schon wieder.
Denkt Jakob.
Und bleibt stehen, weil der Kleine steht.
Jakob dreht sich um. In den Händen die Kiste.
Der Bub bestaunt den Wegrand.
Diesmal sind es nicht die frühen Blüten am Brombeerstrauch,
nicht die zuckenden Falter,
diesmal ist es ein liegender Baumstamm.
Vergessen liegt er da,
der Übungsposten einer Laufstrecke ist überwuchert,
das Holz morsch vom Regen.
Mit seinen Fingern grübelt der Bub tiefer hinein,
untersucht die weichen Stellen.
-Ziemlich schlau für seine drei Jahre.
Fällt Jakob auf.
Seit der Bub jede Neuigkeit mit Pausen erwidert.
-Wir haben Zeit.
Jakob schaut nach oben.
Äste ragen wie Geäder in den blassen Himmel.
Die Bäume erwachen aus dem Winterschlaf.
Auf einigen Trieben hängen noch Eiskristalle.
Mücken schwirren im Gegenlicht,
zucken in Orientierungslosigkeit,
wie suchende Kleinsterne.
Die Morgenluft ist Milchglas.
-Kob Grün. Kaputt. Der Baum. Schau.
Das besorgte Kindergesicht sucht nach einer Antwort.
-Das macht nichts, Fredy. Das ist Holz. Das ist übrig geblieben,
aber die Tiere, die Insekten, machen das irgendwann weg.
Der Bub streckt Jakob die Kinderhand entgegen,
sie ist gefüllt mit weichen Holzkrümeln.
-Wie der Bub erst im Laden schauen wird.
Schießt es Jakob durch den Kopf.
Er denkt dabei an:
-All die Sachen und Sächelchen.
Farbig, liebenswürdig, anziehend.
Der Bub wandert jetzt weiter.
Seine kurzen Beine stapfen über Wurzeln,
über Hügel und Steine.
Die Hälfte vom Abstieg liegt hinter ihnen.
-Komm, Fredy. Bald kommt die Weggabelung bei den Buchen.
Da ist der Ziehwagen. Da kannst du mitfahren.
-Mit dem Autoziehwagen!
-Jaja.
Jakob Grün nimmt den Kleinen bei der Hand.
Hinter den drei Buchen steht
wie versprochen
der Wagen.
Ein Fächer aus losen Ästen schützt das Fahrzeug.
Der Bub klettert hastig hinein.
Die Kiste platziert Jakob bei den Kinderfüßen.
Er zieht an der Deichsel.
Die knorrigen Speichen knacken.
Der Zweiachser ächzt.
Die Räder rumpeln.
Der Bub quietscht vor Freude.
Bald wird aus dem Trampelpfad ein Weg,
aus dem Weg wird eine Kiesstraße,
und aus der Kiesstraße harter Asphalt.
Dann ein Schrei.
-Auto! Auto!
Sofort hat der Bub den Kombiwagen in der Kurve entdeckt.
Mit offenem Mund schaut er zu,
wie das Automobil die Bergstraße hochschleicht,
sich nähert,
sich nähert,
sich nähert,
vorbeirollt,
gleichgültig,
sich entfernt,
sich entfernt,
sich entfernt,
ganz weg ist.
Dann sitzt der Bub still im Wägelchen.
Vorne zieht Jakob weiter.
-Die Ausflügler sind merklich weniger geworden.
Denkt Jakob.
Im Wagen hinter ihm bleibt es ruhig.
-Sein Nachdenken liegt mir im Nacken.
Jakob wartet.
Dann:
-Kob Grüüüün?
-Ja?
-Ich will auch ein Auto.
Mit Fenstern und mit Benzin und mit Straßen.
So schnell und dass es tönt. So.
Der Bub imitiert das Gefährt.
Jakob muss lachen über das Mundgeräusch,
muss lachen über das Gedankenbild,
wie der Bub seinem Vater Thomas den Wunsch irgendwann vorträgt.
-Da musst du deinen Vater Blau fragen.
Erklärt Jakob.
Er hat den Bollerwagen gar nicht mehr zu ziehen jetzt,
eher zu bremsen.
Es geht tüchtig abwärts.
Die Neigung drückt ihm die Deichsel gegen den Hintern.
Hinten hockt das nachdenkliche Kind.
Vorne denkt der voranschreitende Jakob.
-Generationen bewirken immer Reaktionen auf Generationen.
Es ist ein heilloses Auf und Ab auf dieser Welt.
Wie der Wellengang auf dem offenen Ozean.
Jakob hält den Bollerwagen fest,
in seinem Griff die Steuerung,
noch ist der Karren leicht.
Die letzten Bäume ziehen vorbei,
geben den Ausblick frei auf das Seitental.
Dort hockt in einer Mulde ihr Ziel: das ockerfarbene Dorf.
Es sieht ganz anders aus
als die Heimat hinter ihnen:
Diese Anhöhe im Seitental
von einem Seitental
auf einer Felsterrasse,
wo früher Reben für den Weinbau reiften.
Das Steinplateau liegt günstig an der Bergflanke,
der Sonne ausgesetzt,
trotzdem gut versteckt und beschützt.
Dorthin sind sie entschieden ausgestiegen, damals,
haben ihre Lebensmitte an den Rand verpflanzt, damals,
sich rückverbunden und ausgeliefert,
der Erde, dem Gestein, dem Wasser und Eis.
Sind der widerspenstigen Natur
auf Augenhöhe begegnet,
sind abgestiegen hinein
und aufgestiegen hinauf
in die Ruhe vor den Unruhen.
In Sicherheit.
Das war damals.
Heute sind die Nebengeräusche der Umwälzungen noch lauter geworden.
Umso mehr wird geflüstert in den Restaurants und Straßenbahnen.
Heimwege geht man über Abkürzungen.
Und Abkürzungen geht man besser zu zweit.
Der ganze Kontinent hat begonnen,
seine Inhalte durchzuschütteln.
Seine Muskeln zu zeigen
in Anspannung und Angst.
Doch all das geschieht ohne sie.
Denn: Sie sind hier,
sie erfahren es Monate später oder gar nicht,
wenn sich das Unerhörte wie ein Knall ausbreitet,
wenn vor Theatern Sprengsätze zerplatzen,
wenn im Parlament Friedenspläne zerbrechen,
wenn am Alpenmassiv Passagierflugzeuge zerschellen.
Wieder und wieder sind sie froh über ihr Unwissen.
-Diese Entscheidung ins Abseits –
unsere Zukunftsmenschlein haben sie mit uns zu tragen.
Denkt Jakob.
Während der Bub in seinem Rücken wie ein Sportwagen brummt.
-Es ist unvermeidbar. Die Kinder werden wieder zurücksteigen,
sich zurückentscheiden.
Bald sind sie unten.
Die Hausdächer stehen jetzt deutlich in der Landschaft.
Das Bergdorf hat einen italienischen Namen
und ist für sie Zugang zur Zivilisation.
Jakob kratzt sich am Bart,
ein Zupfen mit Zeigefinger und Daumen,
ein sinnloses Klauben am Barthaar.
Hinten im Wagen singt der Kleine ein erfundenes Lied.
Fredy ist das erste Kind aus dem Dorf.
Das erste Kind aus Haus Blau.
Das erste Glück von vielen anderen Glücksfällen.
Jakob presst seine Backenzähne aufeinander.
Aus Freude. Und aus Mangel
an einer anderen Freude.
-Die Natur ist nicht jedermanns Sache.
Und umgekehrt.
Denkt Jakob wie zum Trost.
Und ruft nach hinten:
-Rennfahrer! Bald sind wir da.
Die Sonne ist ein blendender Ball.
Noch wärmt sie die Steinmauern nur langsam.
Das Moos auf dem Mörtel trägt Frost.
Die Hühner irren umher,
alles flattert, alles rennt durchs Gehege.
Es gackert und stäubt vom Boden herauf.
Regina beruhigt das Federvieh mit Lob.
-So viele Eier. Ihr guten Vögelchen, ihr. Hopp!
Ihr seid mir ein Hühnervolk. Los. Hopp!
Richtige Eiermaschinchen seid ihr. Hopphopp!
Die Eier legt sie sanft in den Korb,
die weißen, großen Stücke sind noch warm.
Regina fährt mit der Fingerkuppe über die Schale,
über diese Makellosigkeit in Weiß.
Ihre Finger sind trocken,
die Knöchel zeigen blutige Risse.
Die letzten drei Winter haben ihre Spuren hinterlassen.
Vor dem Haus Blau hält die Sonne ein warmes Plätzchen bereit.
Auf der Feuerstelle davor kocht ein Haferbrei.
Es dampft aus dem verrußten Topf.
Die Gemeinschaft sitzt bei der Arbeit.
Zwei Frauen gähnen in den Morgen.
-Regina, wie viele?
Fragt Emma Blau Richtung Hühnergehege.
Ihre Stimme tänzelt zwischen Neugier und Freude.
Sie zupft weiter die jungen Blüten von den Wiesenblumen.
Auf dem Schoß liegt ein Stofftuch als Unterlage.
Neben ihr sitzt Sybille Weiß.
Sie schält Rüben für eine Suppe.
Vor ihr eine Holzschüssel als Sammelbehälter.
-Sieben.
Antwortet Regina den Frauen.
-Aber sieben sind keine dreizehn.
Scherzt die Weiß schlagfertig zurück.
Die Weiß hat breite Schultern,
den Hals mit einem Wollschal umwickelt,
und schmunzelt zufrieden über ihren Einwand.
-Das war nur ein halber Scherz.
Weiß Regina,
verdreht die Augen und
ruft aus dem Hühnerstall zurück:
-Aber sieben sind keine fünf.
Sind auch keine drei.
Schon gar keine zwei.
Jetzt lacht Emma Blau.
Eine grobmaschige Wollmütze verbirgt ihr lockiges Haar.
Trotz der Gifteleien behält sie ihre Gleichgültigkeit.
Vielleicht weil irgendwo
in der Sonne,
in der Wiese,
ganz in der Nähe
die Kinder strampeln und krabbeln.
-Die Natur schenkt uns, was sie uns schenkt.
Beendet die Weiß ihr Spottgeschleuder.
Und wirft zwei Rüben in die Schüssel.
Der Morgen ändert seine Farbe.
Im Hintergrund atmet der Wald,
im Unterholz ist ein Knacken zu hören.
Doch eigentlich ist es ein Hacken und Sägen.
Die Männer arbeiten hinter einer Mauer aus Tannen.
Regina verlässt die Hühner,
stellt sich vor die Frauen hin.
Sie streckt das Gesicht der Sonne entgegen,
wartet, bis sie die Wangen wärmt,
spürt hauptsächlich ihren Unterleib,
wie er krampft, sich löst,
zieht und stößt.
-Wie lange sind sie schon weg?
Fragt Emma Blau geschwind.
Und meint damit ihren Buben Fredy und den Jakob.
-Die kommen schon zurecht.
Sagt Regina.
Die Weiß hustet jetzt in ihren Wollärmel,
übertrieben, als wäre der Husten echt.
-Das ist doch alles zu früh. Aber das wisst ihr ja.
So was fühlt eine Mutter,
es liegt tief im Kern unserer Sache als Frau –
das Sorgen, das Halten.
Alles andere ist unweiblich.
Grün und Blau ärgern sich,
suchen Augenverbindung,
doch ihre Münder schweigen,
wie sie immer schweigen,
wenn es die Weiß mal wieder besser weiß.
-Ich fülle mir einen Tee.
Lenkt Regina ab,
und geht weg.
Den Korb mit Eiern sanft an sich gedrückt,
steuert sie zur Gemeinschaftsküche,
wo dem Schornstein grauer Rauch entsteigt.
-Die hat Schmerzen im Bauch.
Bemerkt die Weiß trocken.
Emma Blau zuckt zusammen
und versucht, genau das zu verbergen,
senkt deswegen die Hände auf das Stofftuch,
bettet ihre Finger auf die Wiesenblüten,
gerade so, als warte sie auf mehr Beweise.
-Das sieht doch jede.
Legt die Weiß nach.
Beinahe hätte es Emma Blau bei einem Seufzen belassen,
doch stattdessen schickt sie ihrem Ausatmen
und dem zarten Dampfwölklein vor ihrem Mund
zwei gereizte Worte hinterher.
-Ja und?!
Der Lack auf dem Verkaufstresen ist zerkratzt.
Und die Durchreiche ist für Jakobs Holzkiste fast zu schmal.
-Heute mit Kräutertee, Holunderblütensirup,
Wollsocken, handgemacht,
zwei Körbe, eine Filztasche und eine Holzschüssel.
Jakob schiebt der Frau die Mitbringsel entgegen.
Die Frau vom Laden freut sich.
-Es läuft ganz gut. Falls jemand kommt.
Das merken wir schon. Es kommen immer weniger.
Aber der Sirup geht jeweils schnell weg.
Jakob nickt.
Die Frau sieht es nicht.
Sie verschwindet schon zwischen bunten Ketten,
schlüpft durch das Fliegengitter ins Hinterzimmer.
Im Geschäft herrschen die üblichen Geräusche.
Die Kühltruhen summen
durch die Regalwände hindurch,
die schmalen Gänge entlang.
Von draußen kommt höchstens ab und zu
das Geräusch eines Automotors herein,
zu den Abfahrtszeiten die Hydraulik der Postautotür –
dazu gelegentliches Geschwätz oder Gelächter von zwei Wanderern.
Doch das Lauteste bleibt das Radiogerät.
-Die Musik fehlt mir am meisten.
Denkt Jakob.
Jedes Mal denkt er das, wenn er im Dorfladen steht
und ihm eine Melodie aus den Lautsprechern entgegentanzt.
Geigenklänge, Gitarrenläufe,
ganz egal, ob der Rhythmus geschickt einsetzt,
ob die Frauenstimme in den Höhen trägt.
-Der Mangel an Musik ist tief ungesund.
Weiß Jakob.
So viele Lieder lägen in seinen Knochen bereit.
Würde man seine Gebeine erst in Schwingung bringen, sie fielen von ihm ab.
Die Summe an Sorgen ergäbe manche Melodie.
-Es wird Zeit, mehr Instrumente zu besorgen.
Gerade für die Kinder.
Denkt Jakob.
Und schaut zum Buben.
Noch ist vom Kleinen nicht viel zu hören,
noch steckt er im Staunen gefangen.
Da steht er vor den aufgereihten Zauberdingen,
vor diesen unerklärlichen Bildern
auf doppelt verpackten Paketen:
Zeichnungen von Füchsen mit Fliegen,
von Sonnen mit Sonnenbrillen,
von Hühnern mit Hüten.
So viel Unbekanntes in unbekannten Farben,
Süßgetränke in Orange
Waschmittel in Türkis.
-Das da. Kob, das da. Schau! Und das da!
Der Bub zeigt auf die grellen Verpackungen,
ist zudem regelmäßig abgelenkt von der Musik,
lauscht den Klängen,
sucht den Urheber und findet ihn nicht,
blickt in die Ecken zu den Lautsprechern,
bis er wieder eine neue Verpackung entdeckt,
nach den grellen Farben greift und
deren Inhalte erschütteln will.
Das Kind sucht Jakobs Gesicht,
im eigenen Gesicht lauter Fragen.
Die Frau vom Laden taucht wieder auf.
Sie schiebt sich durch den Fliegenfänger hervor –
vor der Brust eine andere Kiste.
Der Holzquader ist gefüllt mit den Dingen aus Jakobs Kopf.
Die Frau vom Laden beachtet die Einkäufe nicht,
sie hat nur den Buben im Auge.
-Ist heute nicht viel Post. Aber sonst ist alles da.
Die Frau hat recht.
Neben dem Bündel Briefe
sind das Salz, Rohzucker, Vollkornmehl, Kaffee,
auch Reis, drei Bücher für Haus Rot,
und sogar eines für Haus Weiß.
-Obwohl die sonst nie was bestellt,
überhaupt immer gegen alles ist.
Die Kasse registriert mit einem Piepston die Preise.
Der Bub stolpert herbei,
will sehen, was da passiert und klingt.
Derweil schaut sich Jakob um.
Neben der Registriermaschine hängen die Zeitungen,
auf den Frontseiten prangen die Fotografien.
Da ist es alles beisammen:
Die Verwüstung von großen Gebieten,
von Städten und Wäldern,
Dörfern und Feldern,
davor und dahinter
sieht Jakob
Menschenmassen, marschierend,
versammelt, gleichförmig,
aus den Menschenklumpen ragen Arme,
Hände greifen
nach Bündeln,
nach Beistand,
nach Waffen,
nach Wut,
davor und dahinter
sieht Jakob
Mauern und Männer
in Einheitskleidung,
zur Sicherheit
in Reih und Glied,
vor Kontrollposten,
hinter Papierbergen,
vor Aufgaben,
hinter Apparaten,
darunter und darüber
sieht Jakob
Unter- und Überschriften,
groß und deutlich
leuchtet die Schrift
wie stummer Lärm.
Die Tinte ist gedrucktes Geschrei,
flaches Entsetzen,
schwarz auf weiß,
am nächsten Tag entsorgt,
ersetzt vom neuen Notwendigen,
und doch bleibt alles gleich,
immer papierdünne Informationen,
immer ein Grund zur Ohnmacht.
Es piepst ein paarmal,
die Frau vom Laden tippt.
Dabei spielt ihr Blick mit dem Buben.
Fredy lacht, also lacht auch die Frau.
-Hei! Bei euch oben gedeiht es anscheinend prächtig, das Leben.
Wenigstens irgendwo, sage ich da nur.
Wenigstens bei euch wuchert der Nachwuchs.
Es piepst ein letztes Mal.
Die Frau zieht eine Schublade auf.
Ihr Augenpaar wechselt zu Jakob.
-Ich hab da noch Ihre Bestellung.
Von dem Herrn Doktor Schröter.
Jakob nickt.
Er hätte es nicht vergessen.
Er schaut zum Buben,
der Bub schaut zu ihm.
-Man muss das unterschreiben, hat Herr Schröter gesagt.
Jakob nickt nochmals.
Die Frau reicht ihm ein Kunststoffgefäß,
es rasselt und prasselt darin,
dazu gibt es ein Kartonkästchen.
Jakob unterschreibt einen Wisch.
Schaut dabei nochmals zum Buben.
Wie er dasteht,
ganz gebannt vom Horchen und Staunen,
in seinem Wollpullover,
die Ärmel zu lang,
die Wangen zu rot,
die Haare strubbelig,
die Nase verklebt,
die Augen hellwach.
-Kein Wunder, ist ja wie eine Rassel.
Deutet Jakob die Neugier vom Buben.
Das Kind sucht nach dem Klappern,
nach dem Unsichtbaren im Töpfchen,
registriert alles durchs Ohr im Köpfchen.
-Willst du der Frau sagen, wie du heißt?
So lenkt Jakob den Bubenblick hinter den Tresen.
Dabei öffnet er geschwind den Druckverschluss,
nimmt sein Stofftaschentuch,
kippt das Kunststoffgefäß,
lässt die Kügelchen herauskullern
und hinein ins Taschentuch.
Er greift die Taschentuchecken,
verknotet die Taschentuchecken,
beides tut er mit rasantem Geschick,
bevor er den kugelgefüllten Knoten
und das Kartonkästchen ebenso rasch
im Hosensack verschwinden lässt.
-Fast wie ein Zaubertrick.
Denkt Jakob.
Dem Buben geht das zu schnell.
Also antwortet er wie eine Maschine.
-Fredy Blau. Haus Blau.
Was ist das, Kob? Das da?
Die Frau hinter dem Kassengerät klatscht in die Hände.
Denn der Bub zeigt nicht auf Jakobs Zaubertrick,
sondern deutet auf eine rot-weiße Zuckerstange,
die ihm angeboten wird.
-Lieber nicht. Tut mir leid.
Sagt Jakob.
Die Frau zuckt mit den Schultern.
Eine Vorahnung hat sie Vorbereitungen treffen lassen.
Also fasst sie in ihre Schürze.
-Aber einen Keks vielleicht? Selber gemacht.
-Ja. Keks!
Schreit der Bub.
Und tänzelt und trappelt
mit dem linken Schühchen
auf dem Linoleum herum.
Jakob lacht. Und nickt.
Der Bub greift nach dem Keks.
Jakob greift nach der Kiste.
Die Frau, ergriffen vom glücklichen Gestampfe und Gemampfe,
greift nach der kleinen Patschhand,
die wiederum ihre Hand ergreift,
diese schüttelt als Dank
und zum Abschied
laut nachschickt:
-Tschau Frau!
Danach heißt es Rückweg.
-Wie lange ist bald, Kob?
Sie laufen jetzt langsamer,
weil bergauf.
Der volle Ziehwagen hinter sich.
Der Bub versunken in Gedanken
spaziert daneben.
Die Sonne steht nun höher,
wärmt wärmer,
blendet bloß noch den Scheitel.
Wieder spürt Jakob die Fragen,
wie sie das Kind kitzeln,
wie sie ihm bald entgleiten.
-Kob Grün, du?
-Hm?
-Der Doktor von der Frau, ist der ein Tierfrosch?
-Was? Warum? Du meinst, Herr Schröter?
-Er ist das sicher.
-Nein, nein, der ist kein Tier.
-Doch. Wo du die vielen Steinlein im Taschentuch herhast.
Die Frau hat gesagt Doktor Kröte.
Jakob bleibt nur ein Staunen übrig.
Die kleinen Äuglein sind schneller,
als er dachte, und
das kleine Gehirn denkt schlauer,
als sein großes Gehirn dachte.
-Das hat er vom Vater,
diese Neugier, dieses Beobachten
fließt bei beiden
durch Venen und Arterien.
Schlussfolgert Jakob.
In Gedanken kurz bei seinem Freund Thomas,
jetzt Vater in Haus Blau.
Jakob entscheidet sich gegen eine Lüge.
-Das sind keine Steine, Fredy.
Das ist Medizin, die hilft.
Die isst man wie Bonbons.
Aber das ist unser Geheimnis.
-Wie ein Schatz? Ein Goldschatz unter der Erde!
-Er wird es bald vergessen haben.
Hofft Jakob.
Sie verlassen die Straße,
biegen auf den Kiesweg.
Sie kommen zu den drei Buchen,
verstauen den Ziehwagen hinter den großen Astfächern.
Jakob packt ein paar Sachen von der Kiste in einen Rucksack,
die Mehlsäcke lässt er vorläufig dort.
Die holt er später mit Hilfe.
Die nächsten Kilometer
besteht der Anstieg
aus Tragen und Fragen,
und für Jakob vor allem
aus Fragen Ertragen.
Sie schleppen ihre Lasten
bis zum Fuß der Steinterrasse,
wo hinter dem Bach plötzlich
etwas Fremdes in ihr Gespräch platzt.
-Zwasch-Zwasch-Zwasch!
Schüsse erklingen aus der Ferne.
Das Echo schallt über den Mischwald,
wird leiser und verhallt im Tal.
Der Bub zittert vor Aufregung.
Jakob fährt ihm zum Trost durchs Haar.
-Die üben nur.
Erklärt ihm Jakob das Gehörte.
Erst bei den Steinmauern,
am Eingang zur Siedlung,
vergisst der Bub die harmlosen Schüsse.
Er rennt auf die vier Farbflächen zu,
hüpft zu den Holzschildern hinauf,
um stolz auf seinen Namen zu tippen.
-Da da da, wohne ich.
Das Schild ist blau bepinselt.
Haus Blau, steht da.
Darunter aufgelistet die Bewohner: