Die Erfindung des Ungehorsams - Martina Clavadetscher - E-Book

Die Erfindung des Ungehorsams E-Book

Martina Clavadetscher

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Beschreibung

Hitze, Regen, beißender Gestank. Iris tigert in Manhattan durch ihr Penthouse und wartet voller Ungeduld auf die nächste Dinnerparty, die ihr wieder ein wenig Leben einhaucht. Ling, angestellt in einer Sexpuppenfabrik im Südosten Chinas, kontrolliert künstliche Frauenkörper auf Herstellungsfehler, bevor sie sich abends bei Filmklassikern in ihre Einsamkeit zurückzieht. Und im alten, düsteren Europa folgt Ada ihren mathematischen Obsessionen, träumt von Berechnungen und neuartigen Maschinen, das Ungeheuerliche stets im Kopf. Drei Frauen in drei Welten: Sie alle sind auf der Suche nach einer Antwort – nach dem Kern der Dinge. Und sie alle sind, ohne es zu ahnen, miteinander verbunden.

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Seitenzahl: 245

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Über dieses Buch

Iris tigert durch ihr Penthouse in Erwartung der nächsten Dinnerparty. Ling, angestellt in einer Sexpuppenfabrik, kontrolliert künstliche Frauenkörper auf Herstellungsfehler. Und Ada folgt ihren mathematischen Obsessionen, träumt von Berechnungen und neuartigen Maschinen. Alle drei sind auf der Suche nach einer Antwort – nach dem Kern der Dinge.

Zur Webseite mit allen Informationen zu diesem Buch.

Martina Clavadetscher (*1979), Autorin und Dramatikerin, studierte Deutsche Literatur, Linguistik und Philosophie. Für ihre Prosa erhielt sie den Preis der Marianne-und-Curt-Dienemann-Stiftung, 2021 wurde sie für ihren Roman Die Erfindung des Ungehorsams mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet.

Zur Webseite von Martina Clavadetscher.

Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Martina Clavadetscher

Die Erfindung des Ungehorsams

Roman

E-Book-Ausgabe

Mit einem Bonus-Dokument im Anhang

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 1 Dokument

Die Autorin dankt dem Literarischen Colloquium Berlin und Pro Helvetia für die Unterstützung. Die Publikation dieses Werks wurde von der Kulturförderung Kanton Schwyz unterstützt.

Lektorat: Susanne Gretter

© by Martina Clavadetscher 2021

© by Unionsverlag, Zürich 2023

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Galvanis Untersuchungen zu tierischer Elektrizität (1780); historische Zeichnung (agefotostock/Alamy Stock Photo)

Umschlaggestaltung: Sven Schrape

ISBN 978-3-293-31095-7

Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte

Produziert mit der Software transpect (le-tex, Leipzig)

Version vom 05.01.2023, 10:27h

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses Buch

Titelseite

Impressum

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Inhaltsverzeichnis

DIE ERFINDUNG DES UNGEHORSAMS

/ I./ L.Die FabrikDie vierte FrauEine andere AufgabeIm Raum mit den KöpfenEin FrühsymptomEtwas EigenwilleEin NachtstückDie mutigste BlumeJon B.s NachforschungenDer Kopf macht SchmerzenErholungÜberholspurEtwas fehltDie Suche nach dem Kopf/ A. A. L. /L. /Lebt!Die kleinste WeltIn Kisten verschwindenIm Verborgenen der GeschichteUmbruchAufstandIm Feuer verschwindenWas nachkommtDie ÜberraschungVersprich es mirI. /

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Martina Clavadetscher: »Das Erfinden ist unser schönstes Können«

Über Martina Clavadetscher

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Für C. und J.

This is not really, this, a-this

This is not really happening

You bet your life it is

You bet your life it is

Honey, you bet your life.

– Tori Amos, Cornflake Girl –

I have found it!

What terrified me will terrify others.

– Mary Shelley, 1831 –

/ I.

Alles andere wird zur Nebensache.

Iris flüstert in die Stille.

Nur der Klang der Eiswürfel begleitet ihre Erzählung.

Daran erkennt man den Kern einer Sache,

fährt Iris fort.

Und ich bin mir sicher, auch für Ada rückte damals alles sofort in den Hintergrund: Babbages Soiree, die Herren der Royal Society, das Raunen im geschmückten Saal, die Hitze der Hauptstadt, sogar die Karusselle oder die emsigen Schausteller, die sie an jenem Nachmittag unten an der Themse gesehen hatte;

all die Marktfahrer, die in Stoffzelten oder auf kleinen Podesten schauerhafte Experimente und exotische Entdeckungen präsentierten, nein, Ada wusste sofort, das hier war tausendmal besser, tausendmal interessanter als der bleiche Kraken im Salzwassertank, die Krokodile mit den zusammengebundenen Mäulern, Giftschlangen in Bastkörben, Kartenspieler, Feuerspucker, die unförmigen, kahlen Köpfe von Gewichthebern, bärtige Weiber oder dieser bucklige Junge, der Hand in Hand mit einem Totenkopfäffchen durchs Publikum streifte, um Münzen einzusammeln.

Irisʼ Blick gleitet langsam über die Tafel vor ihr.

Wie eine gedeckte Welt liegt sie da – das gebleichte Tischtuch, die Vase mit den Pfingstrosen, die leeren Schüsseln, vier Teller, zwei Kerzen – eine schattige Welt; wenigstens das Licht der Flammen züngelt auf den Gesichtern der Zuhörer. Wollstone und Godwin warten, wie es weitergeht. Ihre Wangen glühen, ihre Lippen lauern auf eine Zwischenfrage.

Allein Eric sitzt mit verschränkten Armen da.

Iris holt Luft. Ihre Aufregung ist hörbar. Sie ist ganz in ihrem Element.

Als Ada sah, wie die kleinen Zahnräder der Differenzmaschine ineinandergriffen, wie es klickte, sich drehte und wie alles plötzlich einen glasklaren Sinn ergab, da wusste sie es, in diesem Moment, mitten im Saal, mitten in der Hauptstadt und mitten im Viktorianischen Zeitalter: Das war ein Juwel, das war der Kern.

Und in diesem Moment entschied sich die Mathematikerin Ada Augusta Lovelace für den Irrsinn ihrer Vision.

Hier endet Iris, und eine Stille beginnt.

Godwin und Wollstone tauschen Blicke aus, auf die Iris sofort reagiert.

Gut, ich behaupte, das war der Kern, weil ich es weiß,

ergänzt Iris mit einem Lächeln und knüpft umgehend einen neuen Gedanken daran.

Das oder der Webstuhl, Jacquards Webstuhl mit den Lochkarten, um genauer zu sein.

Doch Eric interveniert.

Ich denke das reicht jetzt, Iris, es ist schon spät geworden.

Godwin und Wollstone reagieren enttäuscht.

Der Zauber des Abends verfliegt,

die Welt fällt abrupt zurück ins Jetzt,

draußen heult der Alarm eines Autos.

Ja, meine Damen,

sagt Eric mit einem Lächeln,

die Show ist leider vorbei, für heute zumindest.

Godwin und Wollstone kommen erst um halb sieben,

weiß Iris. Sie kommen immer um halb sieben. Auch heute. Doch die Ungeduld dehnt den neuen Tag,

denn Iris ahnt:

Ich war beim letzten Mal so nah dran, aber heute Abend, heute werde ich es schaffen, heute werde ich bis zum Kern erzählen.

Sie sitzt auf dem Sofa; seit Stunden oder erst seit Kurzem, sie kann nicht sagen, wie lange sie hier schon wartet.

Ich könnte vor Langeweile gestorben sein,

fantasiert Iris und schließt die Augen.

Die Dunkelheit hinter ihren Lidern imitiert den Sternenhimmel, das Schwarz wirkt still, während die Stadtwohnung ihre gewohnten Geräusche erzeugt: Der Kompressor des Kühlschranks, die integrierte Eismaschine, die Lüftung in den Badezimmern, das Klicken der Stehlampe, das Säuseln des Luftbefeuchters und von draußen das Surren der elektrischen Gartenschere, mit der sie an den Hauseingängen allerlei Gewächse wie Bärenklau, Bitteresche, tropischer Flieder, überhaupt jedes Wuchern von Neophyten zurückschneiden. Und sind es nicht die Hausmeister, die mit ihrem Getue jede Stille füllen, ist es das ferne Rauschen der Fünften Straße, wo Taxis unentwegt Menschen von Ort zu Ort fahren, wo Lieferdienste Kisten und Pakete aus aller Welt holen und bringen und wo sich alles und jeder darum bemüht, dass diese Stadt nie zur Ruhe kommt.

Ein Streif Sonnenlicht schlüpft schief durchs Fenster.

Der Frühling taucht dieses Jahr tatsächlich früh auf,

denkt Iris und mag diesen Gedanken, mag es überhaupt, wenn die Begriffe eine Silbe Realität in sich tragen.

Es war damals ein ungewöhnlich

heißer Frühling,

als du zu uns in die Welt gebracht wurdest,

und wir nannten dich Iris, wie die Blume.

Das hatten ihre Schwestern jedes Jahr im April wiederholt, wobei sie

Wie die Blume!

gemeinsam ergänzten, als sei ihre Bemerkung ein eingespielter Akt.

Iris lächelt.

Die Erinnerungen verursachen gute Gefühle,

Dieses Jahr werde ich ihnen über einen Lieferdienst Blumen schicken lassen,

entscheidet sie und denkt dabei an den Blumenhändler an der Ecke, denkt an die leuchtenden Blütenköpfe in seinem Schaufenster, an die Scheiben, die an den Rändern manchmal beschlagen und kleine Rinnsale bilden.

Der Tagesplan drängt, er meldet sich wie ein Alarm. Iris muss aufstehen, doch diesmal ist ihr Wille stärker, sie zögert, ein, zwei Sekunden, sie zögert weiter, drei, vier Sekunden, doch da ist dieser Geruch, der aus der Küche kommt. Sie steht auf.

Der Geruch hat ein Geräusch.

Der Klang der Verwesung ist wie das Summen von Fliegen.

Iris sieht die Marille auf den ersten Blick, sie muss aus der Keramikschale und hinter die Ablage gerollt sein, wo sie seither liegt und verendet.

Etwas Braunes, fast Schwarzes überzieht die Frucht, Insekten krabbeln über die eingefallene Haut, kriechen in Löcher, beißen am Gewebe.

Ein Flaum umgibt die tote Kugel, ein weißer Schein aus Schimmel.

Wie Wolkenhaar, luftiger Pelz,

denkt Iris und pustet dem Fundstück entgegen.

Die Härchen zucken.

Eine zarte Aura ziert das Verdorbene.

Iris lässt die Schönheit liegen.

Stattdessen betrachtet sie ihre Hände.

Haben sie sich verändert? Die Farbe?

Sind da Flecken auf der Felderhaut?

Sie lässt Wasser über die Handrücken laufen, sucht gezielt nach Veränderungen, nach Rissen, Dellen, Narben, findet keine, sucht weiter, reibt, dreht, drückt, findet keine, wünscht sich welche, sucht weiter.

Bis das Türschloss klickt.

Iris?

Die Frage trifft sie. Iris reagiert.

In der Küche!

ruft sie mit verstellter Stimme, ihr Ton steigt an, das passiert jedes Mal, wenn er nach Hause kommt, überhaupt jedes Mal, wenn sie ihm antwortet.

Der Schlüsselbund klackt auf der Holzablage.

Godwin und Wollstone kommen um halb sieben,

sagt Eric, streift den Mundschutz ab und stellt die Papiertüte auf den Marmor in der Küche. Lauchblätter ragen heraus, zwei Hälse von Weinflaschen, darunter Konservendosen, Kokosmilch, ein Glas mit eingelegten Oliven.

Ich weiß,

sagt Iris und:

Danke, das ist lieb von dir.

Sie staunt über ihre Freundlichkeit, die wie ein Kontrollverlust geschieht.

Die Hitze ist furchtbar heute,

sagt Eric.

Über vierzig Grad Celsius. Sei froh, dass du nicht nach draußen musst.

Alles in Ordnung?

Er studiert ihr Gesicht. Sie nickt.

Alles wie immer,

lügt Iris und denkt sofort an den bevorstehenden Abend, der diesmal anders werden soll, denkt nochmals an Ada, an die royalen Wandermenagerien und Tierbuden an der Themse, denkt an die zylinderförmige Rechenmaschine, die exakt tut, was sie tun soll, und sie denkt plötzlich auch an die Sache mit East Farmingdale, an den Freizeitpark dort und an Erics Versprechen, denkt an ihre Schwestern, an all die Frauen da draußen, die wie tickende Zeitbomben irgendwo ihr Leben leben, denkt dann an Godwin und Wollstone, die um halb sieben kommen, um Geschichten zu erzählen, aber vor allem um Geschichten zu hören, und denkt deshalb bereits an ihre nächste Geschichte, die beste, die einzig richtige, denkt dann an ihre Garderobe, überlegt, welches Kleid sie heute tragen soll, an diesem wohl einzigartigen Abend, denkt dann an die Sache mit dem Schrank, dieser elende Schrank, kommt mit dem Denken nicht weiter und versucht gleichzeitig, auch noch an alles andere zu denken, das sie ständig wieder zu vergessen scheint.

Eric tritt näher und fährt ihr über die Schulter, streicht ihr über den Hinterkopf. Wärme entsteht. Er nennt es Trost. Und die Sache wird tatsächlich einfacher, das Denken wird unkomplizierter.

Was soll ich kochen?

fragt Iris mit einem Flüstern.

Godwin mag kein Fleisch, oder?

Eric steht jetzt neben ihr und nickt.

Iris blickt auf die Küchenablage, vergleicht ihre Hände mit seinen Händen, wie sie da liegen auf dem milchweißen Marmor, Hand an Hand an Hand an Hand, zwanzig Finger, Endglieder, Mittelglieder, Grundglieder, Mittelhandknochen, Dreiecksbein, Hakenbein, kleines und großes Vieleckbein, Mondbein – sie könnte endlos so weitermachen,

doch Eric sieht ihr Schauen, spürt ihren Strom aus Wissen und zieht seine Hände weg.

Dein Verhalten ist seltsam,

sagt Iris und fixiert das Grün, das seine Pupillen umzingelt.

Ich muss nochmals kurz weg,

sagt Eric.

Erhol dich, und sei bitte vorbereitet.

Bestimmt wollen sie wieder was von dir hören.

Iris zieht die Vorhänge auf.

Die Helligkeit stört von allen Seiten, das Tageslicht zerspiegelt den Bildschirm zu Fetzen.

Sie drückt die Auswahltaste.

Der Filmdienst hat neue Angebote aufgeschaltet, Klassiker des Hong Kong Cinema: »Women in Boxes«,»The Big Lie«, »The Cursed Tree«,

»Paradise Express« und »The Poison«.

Iris wählt aus und im Kasten beginnen die Geschehnisse zu leben.

Eine Mango-Plantage erscheint. Ihr Grün reicht bis zum Horizont. Zwischen den Gewächsen bücken sich Schattengestalten, die für fremde Herren und wenig Geld ihre Arbeit verrichten.

Das ist Tony, er ist in deinem Alter,

wird einem Mädchen auf dem Feld gesagt, und sie lächelt, als ahnte sie das Geschehen voraus. Und später flüstert das Mädchen dem Jungen ihre Geheimnisse zu, erzählt ihm von einer Reise über den Ozean, von einer Achterbahn und Dämonen in Menschengestalt.

Das kann nicht alles gewesen sein,

sagt das Kind im Film, und:

Das kann nicht alles gewesen sein,

ärgert sich Iris.

Sie kippt den Kopf nach unten, betrachtet ihren Körper und eilt ins Schlafzimmer. Sie dreht am Knauf, sie zieht am Knauf, der Schrank ist abgeschlossen.

Ich könnte nach dem Schlüssel suchen,

weiß Iris.

Ich suche einfach überall dort, wo ein Schrankschlüssel versteckt sein könnte, in Schubladen, in Taschen, in und unter Töpfen,

hinter Büchern, hinter aufgestellten Postkarten von Freunden, im Badezimmerschrank.

Stattdessen fährt Iris mit den Fingern über das Türblatt, die Fugen, dann über das Schloss.

Der Rahmen ist dünn. Der Riegel ist schwach.

Er lässt sich leicht mit einem Schraubenzieher aufhebeln,

weiß Iris. Es wäre nicht das erste Mal.

Kurz darauf knackt das Holz.

Der Riegel springt aus der Zarge.

Die Tür geht auf.

Ach,

erkennt Iris mit einer Enttäuschung.

Ein leerer Kasten, oder ein Kasten im Kasten im Kasten,

und ihr Denken windet sich wieder im Kreis, alles schwindelt, alles zirkuliert um einen blinden Mittelpunkt, will fliehen und dieser unerträglichen Wiederholung entkommen.

Iris?

Die Frage trifft sie wie immer. Iris reagiert.

Im Schlafzimmer!

ruft sie und versucht diesmal, ihre Stimme nicht zu verstellen.

Eric steht in der Tür, in der Hand ein Strauß Pfingstrosen.

Als Tischschmuck,

erklärt er und hält die Blumen leicht in die Höhe.

Eric erkennt die Situation sofort, aber er behält seine Bewegungen unter Kontrolle. Mit Ruhe schließt er den Schrank, fährt dabei mit den Fingerkuppen über die Kratzspuren auf dem Schließblech.

Es werden immer mehr.

So kann das nicht weitergehen,

die Worte entgleiten Iris, widerstandslos, wie ihr die Worte oft entgleiten oder davonrollen, wie lose Murmeln auf einem schiefen Tisch. Iris schlüpft in ihr Kleid. Eric schließt es ihr am Rücken.

Wir fahren nächstes Wochenende nach East Farmingdale, versprochen, ist ja nur ein Katzensprung, das wird schön,

sagt er und Iris ergänzt aus dem Nichts:

Ich möchte meine Schwestern sehen.

Eric stutzt.

Klar, wieso nicht?

Iris studiert seine Körpersignale, sie kann ihn längst lesen, seine Schultern, die Stimme,

die ausweichenden Augen.

Er lügt,

weiß Iris, und doch bleibt da dieser Impuls, dieser fremde Antrieb, ihn zu fragen, ob sie noch genug Zeit hätten, bevor die Gäste kämen, denn etwas in ihr möchte ihn küssen, will ihn an sich heranziehen, ihn ausziehen, Geräusche mit dem Mund machen, laut und leise, Klänge, von denen sie nicht weiß, woher sie kommen, aus welcher Tiefe ihres Körpers, sie möchte sich aufs breite Bett legen, neben ihn, auf ihn, unter ihn, weil er gut aussieht, weil er immer gut aussah für sie, denn dieser Gedanke lässt sich gar nicht anders denken, selbst wenn er diese Sachen mit ihr tat, ohne dass sie ihn darum gebeten hätte, sogar wenn er sein Wollen mit voller Härte in sie hineinlegte, ohne Rücksicht und wie ein Kunde, der für sein Geld alles haben konnte und alles tun durfte, sogar dann möchte sie ihn noch auffordern, dass er sie doch bitte küssen, dass er sie immer weiter ficken oder bestrafen solle, all diese Dinge möchte sie ihm aus irgendeinem verborgenen Grund sagen, doch diesmal weigert sie sich, verschließt ihre Stimmlippen wie einen Sargdeckel, presst Ober- auf Unterlippe, versiegelt alles mit ihrem Schweigen, um das Ungesagte endgültig im kalten Grund zu beerdigen.

Und sie legt sich stattdessen ganz andere Worte zurecht.

Es wird ein schöner Abend werden,

sagt sie etwas holprig, doch Eric greift nach ihrem Arm.

Er drückt zu, er lässt nicht los. Iris wartet. Noch fühlt es sich nicht wie eine Bestrafung an.

Aber bald ist es halb sieben.

Godwin und Wollstone sind schön,

findet Iris.

Sie stammen aus einer anderen Generation, ohne Zweifel. Ihre Gesichtszüge sind schmal, ihr Haar tragen sie hochgesteckt. Die Augen funkeln.

Vor Intelligenz,

vermutet Iris und mag diese Begründung, weil sie dabei an Sterne denkt.

Es ist schön, wie sie altern.

Der Prozess verwandelt das Vorhandene – ohne es zu verraten.

Was sie an den beiden Frauen nicht mag, ist ihr verstecktes Lob.

Diese Wie-Sätze hinter ihrem Rücken:

Wie schön sie ist.

Wie zauberhaft sie kocht.

Wie gut sie erzählt.

Früher konnte sie ihr Staunen bis in die Küche hören. Heute hält sich ihr Getuschel in Grenzen.

Sie haben sich an mich gewöhnt,

vermutet sie.

Aber sie unterschätzen mich immer noch.

Die Dämmerung schleicht ins Esszimmer.

Der Kamin ist seit Jahren unbenutzt. Es braucht ihn nicht mehr, seit die Sonne vor Übereifer strotzt. Bis spät kriecht die Hitze des Tages in die Backsteinhäuser von Manhattan und lähmt seine Bewohner.

Lichtstrahlen stechen in die Getränke und streuen glasige Linien auf den Tisch. Jemand schließt das Fenster. Eiswürfel klimpern.

Wollstone lässt ihren Wodka kreisen, lehnt zurück und spitzt ihre Lippen:

Als Kind hab ich mir drüben in Jersey mal fast die Zunge an einem Erdbeereis abgefroren,

erzählt sie.

Iris wird wach. Endlich, es beginnt.

Es war ein ehrgeiziges Spiel,

fährt Wollstone fort.

Ich blieb mit der Zungenspitze so lange daran kleben, bis sie ganz taub war. Ich befürchtete, sie sei abgestorben, traute mich aber nicht, es meinen Eltern zu sagen, also habe ich gewartet. Es dauerte fast zwei Tage, bis ich meine Zunge wieder spüren konnte, glaube ich zumindest.

Kann das sein, Eric? Zwei Tage?

Eric zuckt mit den Schultern, während Godwin die Augen verdreht.

Meine Zunge ist eben kein Frosch,

sagt Wollstone jetzt und grinst ihr elegantes Grinsen.

Ihr wisst schon, dieser Waldfrosch oder Eisfrosch, Rana sylvatica.

Das erstaunliche Tierchen lebt im Norden, irgendwo in Alaska,

wo es wirklich noch kalt sein kann,und ich sage euch,

dieser Frosch verhält sich weit geschickter als meine Zunge.

Sie zwinkert in die Runde und holt neuen Atem:

Dieser Waldfrosch lässt sich über den Winter einfrieren.

Und zwar komplett. Mehrere Monate lang.

Stellt euch das vor, meine Lieben, er gefriert, um zu überwintern.

Seine Körpertemperatur sinkt bis auf minus achtzehn Grad Celsius.

Über sechzig Prozent seiner Zellen sind komplett gefroren.

Die Organe setzen aus, das Blut erstarrt,das Herz schlägt nicht mehr,

keine Atmung, nichts – alles aus.

Fast wie tot.

Aber nur fast.

Sie macht eine Pause, wieder klimpert es in den Gläsern.

Irisʼ Sinne sind geschärft. Nichts entgeht ihr.

Und dann?

fragt sie, die gefalteten Hände auf den Oberschenkeln,

wie eine Schülerin, die sich im Stillsitzen übt.

Wollstones Zufriedenheit wächst.

Das Interessante ist, der Frosch nimmt dabei keinen Schaden.

Er ist gefroren, doch das macht ihm rein gar nichts aus, und weshalb? Weil er seine Zellen mit Glukose vollpumpt, Zucker, ein natürliches Frostschutzmittel. Nur wenige Zellen bleiben aktiv, und so bewahrt er sich einen letzten Lebensfunken im süßen, im sehr süßen, kleinen Froschkörper. Und wenn es Frühling wird, taut er wieder auf.

So einfach ist das: vom Scheintod zum Leben.

Immer wieder. Hin und her, jeden Winter, jeden Frühling, bis er eines Tages tatsächlich stirbt.

Was für eine brillante Strategie, findet ihr nicht auch?

Sie hält das Wodkaglas vor ihr Gesicht:

Ein Hoch auf das Eis!

Iris lächelt, obwohl sie an der Schilderung etwas vermisst. Angestrengt denkt sie nach.

Etwas stört, weil etwas fehlt.

Ist das ein Test?

Wollen sie mich prüfen?

denkt Iris und sucht, bis sie die Lücke findet:

Und wie aktiviert der Frosch sein Herz im Frühling wieder?

fragt sie in die Runde und löst damit ein Erstaunen aus, das die Anwesenden nicht verbergen können.

Liebe Iris,

entgegnet Wollstone mit geweiteten Augen.

Da hast du den wesentlichen Punkt gefunden.

Die Wissenschaft weiß es selbst nicht genau. Vermutlich durch einen elektrischen Impuls, erzeugt durch Reibung, vielleicht durch die Ausdehnung der Zellen während des Schmelzprozesses.

Iris nickt.

Eine gute Geschichte,

sagt sie und:

Eine gute Geschichte,

sagt auch Eric und ergänzt:

Die Natur ist eine eindrucksvolle Erzählerin.

Er will schon aufstehen, doch ein Einwand von Godwin hält ihn zurück.

Eher die ewige Faszination am Toten,

sagt diese mit rauer Stimme und eine unangenehme Leere entsteht.

Bitte nicht,

zischt Wollstone, doch Godwin scheint nun am Reden doch noch Gefallen gefunden zu haben.

Wieso nicht? Ich habe auch eine Geschichte, wenn wir schon dabei sind. Ihr wisst ja, dass wir in der Klinik an diversen medizinischen Simulatoren üben, Trainingsarme für intravenöse Injektionen, Herzmodelle, Fußrepliken, Babypuppen, Pflegepuppen, Röntgenphantom-Hände, dann natürlich die vielen Hautnaht-Trainer, sogar Vulva-Abdrücke mit vergleichender Anatomie, Gesichtsmasken und so weiter, es gibt wirklich alles, das heißt alle möglichen menschlichen Teile, an denen sich angehende Ärzte ausprobieren können.

Wollstone wird unruhig.

Wir haben es verstanden.Worauf willst du hinaus?

Godwin kippt ihren Kopf zur Seite und demonstriert ihr Missfallen über diese Unterbrechung.

Es ist bloß eine Geschichte, Wolly, trink deinen Wodka, und lass mich erzählen.

Iris beobachtet den Stimmungswechsel. Eric verzieht das Gesicht, als befürchte er eine Eskalation.

Und weiter?

fragt Iris sofort.

Seht ihr, Iris will es wissen, Iris will alles wissen,

falls sie nicht schon alles weiß,

sagt Godwin und rückt wie eine Komplizin näher an Iris heran.

Also, eines Tages verschwand eine der Puppen, aber das passiert ab und zu, ihr könnt euch ja in etwa vorstellen, was mit denen passiert, wie auch immer. Vor ein paar Wochen erzählte mir eine Freundin von einem Arzt, der spätnachts nach seiner Schicht aus der Tiefgarage fuhr, und als er die dunkle Ausfahrt hochrollte, stellte er plötzlich fest, dass da eine Person auf dem Asphalt lag.

Er bremste, vielleicht ein verwirrter Patient, dachte er, es kam schließlich öfters vor, dass Patienten das Gebäude verließen oder sich etwas antaten, also stieg er aus, rannte hin und wollte helfen. Er war vielleicht zwei Schritte von der Person entfernt, als er realisierte, dass da ein Simulator am Boden lag, eine Übungspuppe, völlig angekleidet, mit Schuhen, Jeans und T-Shirt, sogar eine Perücke hatte man ihr aufgesetzt. Ein böser Trick also. Und natürlich bekam er es mit der Angst zu tun, er eilte zurück zum Auto, schlug die Tür zu und fuhr schnell davon. Als er zu Hause in seiner Garage ankam, war er immer noch ziemlich verstört, obwohl er sicher war, dass alles bloß ein blöder Streich gewesen war. Aber beim Aussteigen hörte er ein kleines, dumpfes Geräusch, etwas war aus der Fahrertür und auf den Boden gefallen. Und als er sich bückte, sah er, dass es zwei Finger waren, zwei abgetrennte menschliche Finger, die in der Autotür geklemmt hatten.

Hier endet Godwin.

Iris schweigt und Wollstone schüttelt den Kopf:

Du hast zu viel verraten.Der Kippmoment ist völlig verpufft,

weil du am Anfang die Simulatoren erwähnt hast.

Außerdem gibt es hunderte dieser kindischen Stadtlegenden.

Godwin zuckt mit den Schultern:

Na und? Aber das Ende mit den Fingerkuppen ist doch überraschend.

Iris bleibt äußerlich ruhig, doch in ihrem Kopf verknüpfen sich die Verbindungen, Vergessenes erscheint und formt ein fabelhaftes Muster, ein neues Netz, eine verwobene Geschichte, die es nur noch zu lesen gilt.

Wollstone reagiert aufgebracht.

Schau, was du angerichtet hast. Sie ist ganz starr.

Es beunruhigt sie. Das ist keine Geschichte für …,

also für jemanden wie sie.

Die Angesprochene dreht ruckartig den Kopf.

Ihre Augen zwinkern.

Für jemanden wie mich?

fragt Iris, und ihre Stimme wirkt dabei langsamer, kontrollierter, sie klingt tiefer als sonst. Alle drei horchen auf. Dieser Tonfall ist neu.

In gespielter Verlegenheit rückt Iris die Gläser zurecht.

Nein. Das macht mir nichts aus.

Es beunruhigt mich keineswegs,

sagt sie weiter.

Wieso sollte es? Im Gegenteil.

Ich bin jetzt bereit für meine Geschichte,

aber diesmal, diesmal ist es keine –

beginnt sie und unterbricht ihren eigenen Anfang.

Keine was? Ist alles in Ordnung?

fragt Eric und will ihr zum Trost über den Hinterkopf streichen.

Doch Iris weicht der Hand aus und schließt zur Konzentration die Augen.

Möchtest du uns jetzt von Jacquards Webstuhl erzählen?

Iris schüttelt den Kopf. Es ist so weit.

Sie kombiniert, die Eingebung wächst und alles andere wird zur Nebensache.

Kennt ihr meine Halbschwester Ling?

fragt sie schließlich. Die Runde schweigt.

Ling?

fragt Eric unsicher.

Ja, Ling, ohne sie wäre ich nicht hier,

sagt Iris.

Meine Schwestern und ich haben ihr viel zu verdanken.

Niemand reagiert.

Sogar ein Nicken scheint den Anwesenden ein Wagnis, also warten sie, weil sie nicht wissen können, was sie erwartet.

/ L.

Bei Ling gab es noch Regen.

Tony!

schreit da eine Stimme, doch ihr Klang reicht nicht weit.

Es ist die Wohnung, sie bremst den Schrei mit ihren Winkeln und Wänden.

Auch hier ist es Abend, doch der Abend findet in einer anderen, weit entfernten Stadt und in einer anderen, kaum vergangenen Zeit statt.

Tony, du Halunke,

du solltest mir doch nicht zum Hafen folgen!

flüstert Halbschwester Ling

und imitiert dabei gerne die Stimme aus dem Gerät.

Ihre Augen sind auf die Szene im kleineren Kasten fixiert, und nur zwei Sekunden später gehorcht ihr die Schauspielerin aufs Wort:

Tony, du Halunke,

du solltest mir doch nicht zum Hafen folgen!

jammert sie Tony auf dem Bildschirm entgegen.

Im Hintergrund steht der Schatten eines Krans,daneben Lagerhallen und weiter weg ein wartendes Schiff.

Musik erklingt. Es ist das Weinen eines Theremins.

Die Melodie bejammert den Abschied, die beiden Schauspieler stürzen einander entgegen, dabei wirkt ihre Umarmung wie ein Ausbruch oder vielmehr ein Raufen und endet in der Nahaufnahme ihrer geschminkten Gesichter.

Ling runzelt die Stirn.

Mit dem dünnen Zeigfinger drückt sie die Pausentaste

und das Paar erstarrt zum digitalen Gemälde.

Sofort verstummt auch die Wohnung.

Der Couchtisch, das Bettsofa mit den drei Kissen,

der Tisch, die Kochnische, die zwei Einbauschränke – alles schweigt.

Die Stille dehnt sich aus, drückt gegen die Innenwände,

sie presst sich ans einzige Fenster, das wie ein hermetisches Glasauge seinen Blick hinaus wirft auf das Stadtpanorama aus Kobalt und Stahl.

Ich lebe in einem verpackten Raum,

denkt Halbschwester Ling,

schaut zur Schranktür gegenüber,

doch ihre Augen fliehen aus Verlegenheit schnell zur Deckenlampe.

Auch kleinste Wohnungen können mit Kameras ausgestattet sein,

dabei tut sie nichts Unrechtmäßiges, nichts, womit sie Punkte oder Ansehen verlieren könnte. Selbst wenn sie den Schrank öffnen würde,

es ist schließlich ihr Schrankund im Schrank sind ihre Sachen.

Doch Ling zögert.

Heute noch nicht,

entscheidet sie und prüft stattdessen die Welt durchs Fenster.

Der Regen hat ein wenig nachgelassen,

bisher gab es noch keine Erdrutsche,

keine Schlammlawinen drüben in Jiuwei,

bloß ein paar überschwemmte Straßen und Plätze,

verstopfte Abflüsse, noch nichts Verheerendes.

Schlimm ist nur der üble Geruch – und die Verspätung der Busse.

An der Fensterscheibe klebt Kondenswasser.

Der Himmel über Guangdong ist schmierig,er schimmert rötlich,

fast bräunlich hinter den Hochhäusern hervor.

Die neun Muttergöttinnen besuchen die drei südlichen Himmel.

Gemeinsam beschmieren sie die Luft mit ihrem Lebensblut, damit wir alle nicht vergessen, woher wir stammen,

hatte ihr Großmutter Zea erst vorgestern zugeflüstert

und dabei zuerst ihren alten

und dann Lings jungen Unterleib getätschelt.

Aber Großmutter Zea flüsterte oft

unverständliches Zeug,

und Ling weiß nur zu genau:

Nachts färbt sich die Luft immer orange,

die Stadtlichter bleiben im Dunst hängen,

darunter kriecht das Flimmern des Abendverkehrs,

ein untertäniges Nebeneinander in Rot und Weiß,

das sich über den Guangshen Highway schiebt.

Vor dem Perlfluss ist das grelle Leuchten vom Flughafen zu erkennen,

es tüncht den Himmel ins Weißliche

und landeinwärts sind es Scheinwerfer,

die ihre hellen Flecken

vor die Fabrikbaracken schleudern,

vor diese eckigen Bäuche der Geburtsmaschinerien,

in deren Innerem ununterbrochen

Gegenstände geschaffen und herausgepresst werden:

Elektronikgeräte, Kabel, Kunststoffprodukte, Spielwaren, Schuhe, Kosmetik,

pharmazeutische Produkte, Haushaltsgeräte, Plastikblumen, Handys, Lampen,

Und und und,

denkt Ling noch und bleibt mit ihren Gedanken an ihrer Arbeit hängen.

Die Fingerkuppen gleiten über ihren Hals,

erreichen dann den Haaransatz im Nacken,

wo ihre Nägel die Haarfollikel und Haarwurzeln betasten und an einer Unebenheit hängen bleiben.

Etwas Kruste, Talg, vielleicht getrocknetes Blut,

beruhigt sich Ling

und kratzt am gefundenen Makel,

bis er ihr unter dem Fingernagel klebt.

Na also, Hautkruste,

du schimmelndes Ei!

schimpft sie, wie sie immer schimpft,

und studiert den organischen Fetzen,

dieses winzige Stück Haut, in dem sich zweifelsohne ihr Erbmaterial befindet,

als tarnte sich die große Wahrheit hinter einem unscheinbaren Rosa.

Sie schnippt das Entdeckte von sich.

Unvollkommen,