Vor aller Augen - Martina Clavadetscher - E-Book

Vor aller Augen E-Book

Martina Clavadetscher

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Beschreibung

Das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge, die Dame mit dem Hermelin, Frauen auf weltberühmten Gemälden von Leonardo da Vinci, Vermeer, Rembrandt, Courbet, Schiele, Munch. Wir sehen ihre Körper, ihre Blicke, ihre Kleidung, gebannt oder verbannt in einen ewigen Augenblick. Doch wer waren sie außerhalb dieses Moments? Martina Clavadetscher ist den Hinweisen ihrer Leben nachgegangen, lässt die Frauen erzählen und gibt ihnen so eine Stimme zurück. »Ohne diese Frauen, gäbe es kein Staunen, kein Schauen – mehr noch, ohne diese Frauen wäre die Kunstgeschichte, so wie wir sie heute kennen, undenkbar. Diese Frauen waren immer auch Mitarbeiterinnen, Künstlerinnen, Unterstützerinnen, Auslöser, ein Spiegel der Zeit, Ikonen, Inspiration, Partnerinnen, Retterinnen.« Martina Clavadetscher

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Seitenzahl: 210

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Über dieses Buch

Das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge, die Dame mit dem Hermelin, Frauen auf weltberühmten Gemälden von Leonardo da Vinci, Rembrandt, Schiele, Munch. Wir sehen ihre Körper, verbannt in einen ewigen Augenblick. Doch wer waren sie außerhalb dieses Moments? Martina Clavadetscher lässt die Frauen erzählen und gibt ihnen so eine Stimme zurück.

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Martina Clavadetscher (*1979), Autorin und Dramatikerin, studierte Deutsche Literatur, Linguistik und Philosophie. Für ihre Prosa erhielt sie den Preis der Marianne-und-Curt-Dienemann-Stiftung, 2021 wurde sie für ihren Roman Die Erfindung des Ungehorsams mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet.

Zur Webseite von Martina Clavadetscher.

Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Hardcover, Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Martina Clavadetscher

Vor aller Augen

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Die Publikation dieses Werks wurde von der Kulturförderung Kanton Schwyz unterstützt.

© by Martina Clavadetscher 2022

© by Unionsverlag, Zürich 2024

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Eugène Delacroix, Jeune orpheline au cimetière (wikimedia commons)

Umschlaggestaltung: Sven Schrape

ISBN 978-3-293-31143-5

Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte

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Version vom 08.01.2024, 08:38h

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses Buch

Titelseite

Impressum

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Inhaltsverzeichnis

VOR ALLER AUGEN

Cecilia Gallerani — Ein, zwei GeschenkeMargherita Luti — Heimliche Liebe ist heiligHendrickje Stoffels — GewitterwolkenMaria Vermeer — Ich bin es nichtAngelika Kauffmann — Ich!Madeleine — Ich bin die RevolutionMélie — Nicht der TodVictorine-Louise Meurent und Laure — WeitersuchenJoanna Hiffernan — Schamlos in WeißConstance Quéniaux und Joanna Hiffernan — Ewig wirConstance Quéniaux — QuelleAugustine Roulin — Das Feuer suchenTevahine — Aita! / Nein!Lina Franziska Fehrmann — Wie die TiereDagny Juel — DüsternisWalburga Neuzil — Auf dem RückenJeanne Hébuterne — Was ich willValentine Godé-Darel — Halt meine HandAlice Childress — Nicht meine RolleNachwort — Die wunderbare Anmaßung der FiktionDankNachweiseAbbildungenZitate

Abbildungsverzeichnis

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Über Martina Clavadetscher

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Bücher von Martina Clavadetscher

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There is fiction in this space betweenYou and everybody.

Telling Stories – Tracy Chapman

Cecilia Gallerani

Ein, zwei Geschenke

Leonardo da Vinci, Dame mit Hermelin, 1489/90

Basta! Es wurde genug geschaut!

Manchmal möchte ich es am liebsten in den gedimmten Saal, über das Parkett und direkt in ihre jungen Gesichter schreien:

Es ist sowieso zu spät, um mich lebendig zu sehen!

Auch wenn sie sich bei ihren Empfängen und Führungen gerne recht geben, wie wahr es doch sei, ja, wirklich:

Diese Frau reicht tatsächlich aus, um zu verstehen,

was Natur ist, was Kunst ist.

Ein schöner Satz.

Leider nicht von mir. Ein anderer Poet, ein Mann, sagte ihn, unser Hofdichter Bernardo Bellincioni, der damals in Mailand gerne mit seinen überzuckerten Versen um sich warf. Aber Bernardo hatte gut reden. Er musste ja nicht ewig zuhören, so wie ich mir hier bis heute das ganze Geflüster antun muss,

er wurde gehört, er wird sogar noch gelesen.

Doch bei mir steht nur noch das Äußere zur Debatte.

Ich muss meine Poesie über mein Aussehen in die Welt schmuggeln.

Meine geschriebenen Worte hat niemand aufbewahrt.

Die vielen Werke, alle meine schönen Gedanken.

Die Verse verbrannten wohl irgendwo

in einem Feuer am Flussufer in Cremona,

verpufften in den Wolken über der Lombardei

und regneten vor Genua ins Mittelmeer.

Was für eine Verschwendung!

Cecilia Galleranis Worte wurden hinter diesen Farben zum Schweigen gebracht.

Und selbst dieses stille Äußere will nicht richtig halten.

Ich habe an Kolorit verloren.

Meine Umgebung wurde retuschiert,

übermalt mit Schwarz,

als hätte die Finsternis der vergangenen Zeiten auf mein Umfeld abgefärbt.

Es hieß, ich wurde nachgebessert.

Als hätte ich Nachbesserung nötig,

als hätte ich überhaupt eine Verbesserung nötig,

aber die Besserwisser in Polen verdunkelten meine Korallenkette mit winzigen Schatten, schwächten die feinen Verzierungen des Kleides mit plumpen Strichen.

Die Wangen wurden rosa gepudert,

das weiche Sfumato weggepinselt,

Nase, Augenbrauen, Haare nachgezogen –

und als Höhepunkt haben sie mich sogar falsch benannt:

La Belle Ferronière, eine Frechheit!

Ich wünschte, ich könnte sie alle taub schreien in diesem hoch bewachten Raum:

Das ist die falsche Geliebte eines ganz anderen Liebhabers!

Aber wie ein bedrohliches Schwert schwebt dieser fremde Name nun über meinem Hinterkopf, ein Hohn kreist über Galleranis Haupt – es ist zum Wegrennen!

Doch selbst den blaugrünen Schlupfwinkel in meinem Rücken haben sie mir vor vierhundert Jahren genommen.

Die Pfuscher haben jeden Fluchtweg

mit einer dicken Wand aus Schwarz versperrt.

Aus dem Rahmen zu fallen, bleibt sowieso ein Traum.

Also sitze ich hier, verharre in der Geschichte

zwischen Schichten aus Öl und Tempera,

erdenke mir stattdessen Gedankengänge,

lege mir Gedichte und Sätze zurecht,

wie ich sie mir auch zu Lebzeiten,

als angesehene Poetin in Mailand,

zurechtgelegt habe.

Wort um Wort spaziere ich

durch philosophische Leitsätze,

Thesen, Theorien, Zeilen,

die zum Teilen mit den Gelehrten

auf meiner Zunge bereitliegen,

jahrhundertelang schon warten,

doch unausgesprochen vertrocknen.

Das kluge Raunen und Rauschen am Mailänder Hof ist längst verstummt.

Seither muss ich stillhalten.

Als wären die Sitzungen bei Leonardo nicht bereits der Inbegriff der Langeweile gewesen.

Ein stundenlanges Verharren war es,

das Ludovic da in Auftrag gegeben hatte.

Aber Il moro wusste eben, wie er seine Auserwählten haben wollte:

Die Geliebte sollte warten und schweigen.

Also wartete ich und schwieg. Und wurde dafür belohnt.

Dieser bärtige Maler war ein durchaus gescheiter Kopf, obwohl er in seinem Notizbuch nur Kriegsmaschinen zeichnete und ansonsten vor allem die riesige bronzene Reiterstatue von Francesco Sforza im Sinn hatte, die er dann doch nie umsetzte, und zwischen diesen großen Männerträumen sollte er klein und fein noch mich erfassen. Und ich sollte den Blick wie befohlen abwenden.

Cecilia, Teuerste, schauen Sie zum Unsichtbaren, zum Dritten, zum Geheimnis,

nuschelte Leonardo mir entgegen und ergänzte, jeder und jede sehe doch sowieso, dass ich weitaus mehr wisse, von Anfang an mehr wusste, als die meisten da draußen wussten.

Es stimmte.

Ich weiß auch jetzt noch wesentlich mehr, als die Besserwisser heute herleiten und analysieren,

was sie in ihren Seminaren und Tagungen verhandeln.

Ich weiß haargenau, wie es dazu kam, dass ich hier posierend sitze.

Ich weiß, wie es dazu kam, dass zu jenem Zeitpunkt

in meinem Bauch bereits die Mutterbänder zogen,

weiß, dass sie eine innere Ahnung zur Gewissheit dehnten.

Das erste Geschenk des Fürsten Ludovico Sforza wuchs im Verborgenen.

Mein Kleid über dem Fleisch

verbarg das Keimende doppelt,

und der Arm schirmte dieses Doppelte

nochmals schirmend ab,

während das weiße Tier uns mehrfach schützte,

als lebendiges Kissen und als Schutzpatron zugleich,

mich und mein inneres Glück,

genannt Frucht, genannt Kind, genannt Cesare,

dieser verletzliche Wurm, Il moros Kind, ein Junge,

der wie das Hermelin plötzlich

auf der Bildfläche,

unter der Bildfläche

erschien

und einem Wachstumsprozess folgte.

Wie fremdbestimmte Schöpfungen

entstanden Bild und Leben gleichermaßen,

alles war ungeboren zuerst, unfertig,

mit leeren Armen saß ich da,

bis das Leben erschien, eingehaucht,

dem Hermelin, Cesare, mir,

im Sommerfell zuerst, danach im Winterpelz,

dicker, weißer, alles wurde sichtbarer,

und so wuchs das Bild wie das Leben in mir.

Doch das Gemälde lebte sich aus meiner Zeit heraus.

Obwohl es in seiner obersten Schicht

verharrte und verhärtete,

diese letzte Farbschicht,

die seither kunstvoll verdeckt,

was darunterliegt.

Vorbei und vergessen,

würde man denken oder hoffen,

aber in letzter Zeit blicken die Schauenden

immer öfters unter die Farbdecke.

Gieren gnadenlos nach meinem viel jüngeren Ich,

glotzen unter die sichtbaren Schichten,

verlangen eine Entblößung sondergleichen.

Aber diese Schicht der Geschichte gehört mir allein!

Die Zeit hat sie mir geschenkt.

Genau wie das Gemälde mir gehört.

Der Fürst, mein Ludovico, hat es mir überlassen,

das zweite Geschenk des Fürsten,

das zweitwichtigste, das ich mit mir nahm,

als die Berater mich bestimmt vom Hof wegbaten,

eine Bitte, die natürlich ein Befehl war,

als sie mich in den Palazzo Carmagnola verfrachteten,

als sie mich schließlich sogar aus Mailand wegforderten.

Eine Forderung, die natürlich von Beatrice kam,

der neuen Frau des Fürsten, die offizielle, versteht sich,

die nach der Hochzeit das Sagen haben wollte,

und deswegen hartnäckig und deutlich sagte,

ich solle mich gefälligst noch weiter entfernen.

Also packte ich meine Sachen,

nahm Ludovics erstes Geschenk,

nahm sein zweites Geschenk,

nahm mein Baby und nahm mein Bild,

nahm Cesare, nahm das Hermelin,

nahm mich selbst, Cecilia Gallerani,

die Poetin und Philosophin,

und all meine Schätze mit nach Cremona,

wo ich alle überlebte, bis ich starb.

Doch keine Reise ist je ganz zu Ende.

Nicht solange die Nachkommenden deinem Weg nachgehen wollen.

Ganze Generationen von Neugierigen wollten uns nicht in Ruhe lassen.

Sie folgten und fanden und hielten uns wie die Tiere.

Die Ortschaften sind eine Liste der Erschöpfung.

Wir flohen vor der Novemberrevolution

in einer Kiste von Puławy nach Paris ins Hôtel Lambert,

wurden von dort nach Krakau expediert,

später nach Berlin verschleppt,

dann zurück nach Krakau,

und nach einem kurzen Aufenthalt in Bayern

landeten wir schließlich wieder in Krakau,

und als wäre das nicht genug,

reisten wir einmal sogar nach Übersee.

Sie stellten uns in Paläste,

hängten uns in Höfe, Keller und Villen,

wir wohnten in Landhäusern, in Museen und Kabinen

und überstanden selbst die größte Finsternis in Europa.

Und schließlich kamen die Experten,

denen es nicht reichte, einzusehen, was wir gerade sind,

sondern immer auch sehen wollten, was wir einst waren.

Das Oberflächliche genügte ihnen nie:

Die Frau, das Hermelin, das Ungeborene,

alles durchbohrten sie mit ihren Blicken,

ungefragt, gnadenlos legten sie

unseren Kern mit ihren Augen offen.

Seither durchschauen sie meine beiden Geschenke

mit ihren Lichtern, Wellen, Kameras,

machen Bilder und nehmen Proben,

blenden mit Strahlen und blicken hinein

in jede Faser meines Selbst.

Basta! Es wurde genug geschaut!,

würde ich mich gerne wehren und laut protestieren,

wenn sie mit ihren Laborgeräten und Stoffhandschuhen

meine Würde zersetzen,

wenn sie mein gesetztes Dasein

aufs Neue aufreißen.

Basta!,

möchte ich den Suchenden entgegenrufen.

Ich bin Cecilia Gallerani, die Poetin, die Denkerin!

Keine Fundgrube und keine Grabungsstätte!

Ja, die Dichterin in mir schreit auf.

Verzweifelt über jene Gier,

mich neu erfinden zu wollen,

ist ohnmächtig über den Wahn,

ihn ständig beziffern zu wollen,

den steigenden Wert meines Geheimnisses,

das den Wert des Werks aus-

und mich zur Ware macht.

Aber jede Geschichte lebt nur in der Gegenwart.

Alles, was wirklich war, bleibt unser Geheimnis,

bleibt geschützt durch Pfote und Hand,

bleibt außerhalb des Sichtfeldes,

lebt und lauert in einer Andeutung nur,

in der sanften Blickrichtung unserer Gesichter.

Sucht, solange und so tief ihr wollt,

nur die zwei Tierchen und ich wissen,

was wir damals hatten –

am Leben und an der kurzen Vereinbarung mit Ludovico.

Wir wissen, wie schwer das Geschenk wiegt,

geboren zu sein,

und wie viel schwerer das Geschenk lastet,

verewigt zu sein.

Festgehalten in einem kurzen Moment,

der ins Lange wuchs.

Unvergleichbarkeit vergoldet jede Zeit.

Sie veredelt alles.

Seine zwei Geschenke blieben mir:

Das Lebendige weniger lang –

wie alles Menschliche,

das oft weniger lang sein kann, als es in Wahrheit sein möchte.

Das auf Holz Gemalte dafür umso länger –

wie alle Meisterwerke;

wenn sie das Glück haben, von einem Mann geschaffen

und von anderen Männern über die Zeit gerettet worden zu sein.

Auch wenn es zu spät ist, um mich lebendig zu sehen und meine Worte zu lesen.

Das hier muss ausreichen, um zu verstehen,

was Natur ist, was Kunst ist.

Ein Geschenk eben.

Margherita Luti

Heimliche Liebe ist heilig

Raffael, La Fornarina (Porträt einer jungen Frau), 1518/1519

Lügen sind wie der norditalienische Nebel im November.

Er verschleiert unsere Aussicht für eine gewisse Zeit, aber irgendwann löst er sich auf, und die Wahrheit dringt ans Tageslicht.

Das kann dauern, je nachdem, wie dick die verbergende Schicht ist. Doch die Zeit ist eine zuverlässige Entdeckerin, und so enthüllte sie auch unsere heilige Wahrheit – die Zeit, und, in meinem Fall, ein geschickter Pinsel, der bei einer Bildreinigung Erstaunliches entdeckte. Er ließ meine geliebten Quitten und die Myrte wieder aufblühen, ein kleines, aber ehrliches Werkzeug, das alle Täuschungen endlich wegputzte – und sogar meinen glänzenden Ehering wieder zum Vorschein brachte.

Oft ist es allein eine Frage der Färbung. Wie gut etwas erfunden ist.

Se non è vero, è molto ben trovato.

Alle logen damals. Auch Raffaello und ich logen uns die Welt zurecht. Wir logen wortlos. Ich schwieg, und er malte, während die offizielle Geschichte, die sich alle erzählten, so ging: Er verlor mit acht Jahren seine Mutter und mit elf den Vater, während ich immerhin bei meinem Vater aufwuchs. Raffaello, dessen Talent angeblich ein Geschenk der Götter war und so groß, dass er als Waise weiterzog und in Perugia bereits mit siebzehn Jahren als Meister bezeichnet wurde, während ich einfach früh in der Bäckerei mit anpacken musste. Raffaello, der Mann aus dem ländlichen Urbino, und ich, eine dieser rabiaten Römerinnen. Raffaello, der schöne Junge mit dem dunklen Haar und den sanften Augen, kam auf Empfehlung des Baumeisters Bramante nach Rom, ins Zentrum unserer Zeit, erzählten sie, in dieses Drecksloch, sage ich. Raffaello, der strahlendste Stern am Kunsthimmel, ich, die verschwitzte Bäckerstochter. Raffaello war in Rom sofort beliebt, der Vatikan verehrte ihn, der Papst förderte ihn, die Kardinäle überhäuften ihn mit kleinen Geschenken und großen Aufträgen – während hinter seinem Rücken die Frauen kicherten und bewusst versuchten, in seiner Blickweite zu bleiben.

Und der wichtigste Teil der offiziellen Geschichte: Bald ließ er sich glücklich verloben mit der zauberhaften Maria da Bibbiena.

Aber wenn ich diesen Namen nur schon höre!

Maria da Bibbiena, die Nichte des Kardinals, Maria da Bibbiena mit der Hakennase des Kardinals, mit dem gleichen fetten Kinn, den gleichen kalten Glupschaugen. Das konnte doch niemand ernsthaft glauben, das war eine rein strategische Verbindung, ein hässlicher Nebelstreif, und dahinter die noch hässlichere Fratze von Maria da Bibbiena. Wie verlogen.

Dagegen stand unsere Wahrheit – und die begann mit meinen müden Füßen im Tiber.

Es war ein höllisch heißer Tag im August, die Sonne drückte schon den ganzen Tag auf Trastevere, und von den Hügeln her roch es nach Gewitter.

Nachdem ich mehrere Auslieferungen für meinen Vater erledigt hatte, kam ich an der Villa Farnesina des Bankiers Agostino Chigi vorbei. Dort herrschte ein Gewimmel und Gewusel von Handwerkern, Malern und anderen Gesellen, einige schauten mir nach, machten kecke Geräusche, doch ich hatte keine Lust, die jungen Männer zu grüßen, und legte schließlich in unserem Garten eine Pause ein. Ich wollte nicht gleich zurück in die stickige Bäckerstube, sondern setzte mich am Flussufer ins Gras, zog die Strümpfe aus und badete meine Füße im kühlenden Tiber.

In diesem Moment entdeckte er mich. Oder wir entdeckten uns gegenseitig. Neugierig hatte er sich an der Mauer hochgezogen, stützte sich mit den Oberarmen ab und schaute, solange es die Kraft seiner Arme zuließ.

Zuerst versuchte ich, ihn zu ignorieren, dann rief ich ihm schmutzige Schimpfwörter zu, die er genussvoll mit eigenen, ellenlangen Flüchen erwiderte. Sein Kopf verschwand regelmäßig hinter der Mauer, um dann unter großer Anstrengung wieder aufzutauchen. Er gab nicht auf. Und nachdem uns die Beleidigungen ausgegangen waren, winkte er mir umständlich zu, winkte mich zum Eisentor hinüber, wo wir uns schließlich gegenüberstanden und freundlicher wurden.

Dein Geist ist so schön wie dein Körper,

sagte er nach einer Weile, worauf ich ihn fragte, ob er denn zu meiner Seele keine Meinung habe. Und ab da war es um ihn geschehen.

Er war gut mit Worten, doch die meisten hörten seine Schwärmereien über mich höchst ungern. Die Öffentlichkeit wollte lieber an die blödsinnige Verlobung mit Maria da Bibbiena glauben, voller Ungeduld warteten sie auf diese prächtige Hochzeit.

Dass ich nicht lache! Eine Feier, die mein süßer Raffaello immer wieder geschickt aufschob.

Keine Zeit, ich habe zu arbeiten,

sagte er etwa entschuldigend.

Ich muss zuerst die Aufträge in den Palazzi und Villen fertig machen,

meinte er mal laut und mal zornig.

Das versteht ihr doch! Ihr habt mich schließlich dafür angestellt,

wich er weiter aus und ergänzte:

Nur noch dieses Gemälde, dann können wir über eine Hochzeit reden.

Aber kaum war er mit einem Werk fertig, malte er auch schon das nächste – oder er malte die Nächste. Er malte viele Frauen, weil er sie verstand, weil Raffaello uns genau so sah, wie wir sind – einfach und doch tausendfach: die Venus, die Hexe, die Madonna, die jungfräuliche Braut, das Kind, die Eulen-Göttin, Santa Cecilia, Galatea – und die Bäckerstochter aus der Via di Santa Dorotea.

Es stimmte, was sie über ihn sagten: Er war zärtlich und den Frauen zugetan, er war stets bereit, uns zu dienen, uns mit seinen Farben zu erleuchten. Das zumindest verbreitete der Alleswisser Giorgio Vasari, und in diesem Punkt will ich ihm keineswegs widersprechen – möchte aber ergänzen: Keine Erscheinung hat er so geliebt wie mich. Und keine hat er so gemalt wie mich. Meine Porzellanhaut, den weißen Marmor meines Gesichts.

Du hast mich erleuchtet,

flüsterte er mir nach unseren Sitzungen gern ins Ohr, während alle anderen behaupteten, ich hätte ihn geblendet.

Ja, so schnell wird die Geliebte zu einer unliebsamen Wahrheit. Von der Hilfe zum Hindernis. Dabei störten doch nur die Hürden, die unsere Liebe zu überwinden hatte. Es war seine Liebe, die in ihm tobte und an ihm riss, seine Liebe, die ununterbrochen einen Weg zu mir suchte. Seine unterdrückte Sehnsucht nach mir lenkte ihn von der Arbeit ab.

Genau so war es, als er bei Agostino Chigi das erste Geschoss des Palastes malen sollte. Morgens kam er auf der Baustelle an, tigerte durch die Räume, besah sich die Skizzen zu Amor und Psyche, wies seine Lehrlinge launisch an, blieb vielleicht zwei Stunden, bis sich seine Konzentration auflöste und es ihn wieder in meine Richtung drängte.

Zwanzig oder dreißig Tage ging das so: Raffaello stieg morgens aus meinem Bett und verschwand, aber noch vor Mittag tauchte er wieder vor der Backstube auf, wollte mich scherzen oder fluchen hören und ließ mir nicht mal Zeit, die mehligen Finger an der Schürze abzuwischen – bis Agostino genug hatte von diesem Schauspiel.

Großer Gott, Raffaello, es reicht!,

tobte er eines Morgens im Palazzo vor dem unveränderten Wandgemälde, während Raffaelos Blick trotz des Geschreis verträumt auf den Tiber hinausging.

Dann lenkte Agostino ein.

Meinetwegen, holt mir sofort diese Luti her!

Wenn Margarita Luti nicht bis Mittag in meiner Villa steht, könnt ihr was erleben – so werden meine Fresken nie fertig!

Seine Wut hallte durch die Villa und bis ans Flussufer. Umgehend ließ er einen Diener nach mir schicken, und sein Plan funktionierte: Jeden Tag ging ich mit Raffaello in die Villa Farnesina, blieb bei ihm im Zimmer, saß da, schaute ihm zu – während er malte.

Alle waren zufrieden. Na ja, fast alle.

In Wahrheit war ich dem Papst und Agostino Chigi ein Dorn im Auge. Die Herren schmiedeten sogar hinterhältige Pläne, damit Raffaello mich vergaß, damit er endlich wieder ganz ihnen gehörte.

Eines Abends auf dem Heimweg zur Via Santa Dorotea hörte ich ab der Porta Septimiana Schritte hinter mir, ein schleichender Schatten, der mich kurz vor unserem Gartentor einholte. Unter der Kapuze erkannte ich das Gesicht von Chigis Handlanger, der grimmige Kerl griff in seinen Umhang und zog einen Brief hervor.

Du brauchst nur zu verschwinden, Luti,

zischte mein Verfolger und bot mir sehr viel Geld an, für den Fall, dass ich Rom innerhalb von zwei Tagen für immer verlassen würde. Um Raffaello sollte ich mir dabei keinerlei Gedanken machen, ein gefälschter Abschiedsbrief würde ihn endgültig von mir lösen, ich müsste einfach hier unterschreiben und ich wäre eine reiche Frau.

Manche Männer sind lächerlich.

Die Liebe und die Götter lassen sich nicht täuschen. Die gegenseitige Liebe ist heilig. Auch wenn sie verheimlicht werden muss. Und das war alles andere als einfach, die langweilige Maria da Bibbiena und ihr herrschsüchtiger Onkel, der Kardinal, ließen uns keine ruhige Minute. Sie spürten den Gerüchten nach, schickten Diener zu meinem Haus oder störten uns im Arbeitszimmer, wenn ich für ihn Modell saß. Natürlich war unsere Beziehung riskant. Raffaellos Schule malte gerade im Vatikan die Sala di Constantino, und wenn unsere Geschichte dem Kardinal zu Ohren gekommen wäre – Himmel, der Auftrag, das ganze Geld! Nein, die Förderer und auch die angestellten Schüler sahen mich nicht gerne in Raffaellos Nähe – doch Raffaello wollte es so, und das allein zählte.

Und er fand seine eigenen Wege, um mich vor aller Augen zu ehren und zu lieben: auf Zeichnungen und Gemälden, auf Wänden in Palästen und Villen, in Öl auf Holz – und auf diesem letzten Bild von mir.

Darauf ist die ganze Wahrheit zu erkennen.

Was die anderen damals sahen, war höchstens die Hälfte:

Eine Frau mit blau-gelbem Turban, ihr Blick geht nach vorne, geht am Beobachter vorbei, ein leichtes Lächeln liegt auf meinen Lippen, eine Hand im Schoß über dem dicken, roten Tuch, das meine Beine und alles dazwischen bedeckt. Die andere Hand hält einen Schleier; und meine Brüste sind entblößt.

Oh, diese freien Brüste, ja, die sahen die Herren Händler und Experten sofort, als sich die aufklappbaren Holzflügel vor dem Bild öffneten.

Und was ich in ihren Augen alles mit diesen Brüsten tue:

Ich verhülle die Brüste halbherzig, nein, ich zeige die linke Brust, nein, ich biete die Brust an, halte die Brust, umfasse die Brust, nein, drücke die Brust, will einen Säugling stillen mit der Brust, ich gleiche der heiligen Madonna mit der Brust, trage die Milch der Musen in meiner Brust, nein, ich verweise auf eine Krankheit in meiner Brust, zeige auf eine Verfärbung, eine Wucherung und Deformierung in meiner Brust, ich symbolisiere dieses und jenes mit meiner Brust – ich sei ein Zeichen der Lust und Liebe und Schönheit und Fruchtbarkeit, ich sei die irdische Venus, ich sei die Venus Pudica, und alles nur wegen meiner nackten Brüste.

Lachhaft, jeder glaubt sowieso nur das, was er glauben will. Aber ich verrate gerne, was damals niemand sehen wollte:

Die Perle am Turban war mein Liebesschmuck, der Armreif an meinem Oberarm trug seinen Namen – Raphael Vrbinas. Mein Raffaello. Ich war sein!

Nur mich hat er auf diese Weise signiert, von allen Frauen und allen Bildern, die er je geliebt und geschaffen hat. Nur mir hat er seinen unvergesslichen Namen geschenkt und den Ring des ewigen Bundes.

Setze mich wie ein Siegel auf dein Herz und wie ein Siegel auf deinen Arm,

heißt es im Hohelied Kapitel acht, Vers sechs – und genau so hat er unsere Liebe verewigt. Aber Rom wollte sie nicht wahrhaben. Lieber drängte es nach der vorgetäuschten Verlobung mit Maria da Bibbiena, alle wollten die beiden vor dem Altar und Gott vereinigt sehen.

Aber dazu kam es nicht mehr.

Es war ein regnerischer Karfreitag, als Raffaello entkräftet nach meiner Hand suchte.

Margherita, meine Liebe,

sagte er,

nach so vielen Lügen sollst du endlich wahrhaftig und frei sein können. Bitte lebe ein ehrliches Leben.

Ein heftiges Fieber hatte ihn zwei Tage zuvor ergriffen, ich hatte den Doktor gerufen, doch der Aderlass brachte nicht die erhoffte Besserung – im Gegenteil.

Raffaello starb am traurigsten Karfreitag, an seinem Geburtstag und viel zu früh. Immerhin war ich bei ihm und hielt seine Hand, diese schwache Hand, die ein so starkes Werk geschaffen hatte.