Knochensuppe (Band 1) - Youngtak Kim - E-Book

Knochensuppe (Band 1) E-Book

Youngtak Kim

5,0

Beschreibung

Mehrmals wurde die Stadt Busan von Tsunamis verwüstet, viele Bewohner wurden getötet oder verloren ihre Häuser. Im Jahr 2063 wohnen die Reichen in der "Oberstadt"; während sich die Armen in der "Unterstadt" angesiedelt haben. Ihr einziges Ziel ist es, so viel Geld wie möglich zu verdienen, um ihr armseliges Leben hinter sich zu lassen und in die Oberstadt aufzusteigen – dafür würden sie alles tun: Extremes, Illegales und nicht zuletzt Tätigkeiten, bei denen man sein Leben riskieren muss. Als eine äußerst gefährliche Form des Zeitreisens möglich wird, werden die Bewohner der Unterstadt von den Bürgern der Oberstadt angeheuert, um nostalgische Gegenstände aus der Vergangenheit zu holen. So auch Lee Uhwan, der den ganzen Tag in der engen, schwülheißen, stinkenden Küche einer Gaststätte als Küchenhilfe arbeitet und von seinem Chef beauftragt wird, eine Zeitreise in das Jahr 2019 zu unternehmen, um ihm ein verloren gegangenes Rezept für eine Knochensuppe zu besorgen. Uhwan, der sich weder an seine Kindheit noch an seine Familie erinnern kann und ein zutiefst einsamer Mensch ist, schafft es tatsächlich, unbeschadet in die Vergangenheit zu kommen. Er nimmt einen Job in einem Knochensuppen-Restaurant an, wo er schließlich per Zufall erfährt wer seine leiblichen Eltern sein könnten. Uhwan, der seine mutmaßliche Familie nicht wieder verlieren will, beschließt, in der Vergangenheit zu bleiben – doch damit setzt er eine Kette an Ereignissen in Gang, die alle in größte Gefahr bringt ...

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YOUNGTAK KIM

KNOCHENSUPPE

1

DER MÖRDER AUSDER ZUKUNFT

Aus dem Koreanischen vonHyuk-sook Kim und Manfred Selzer

Originalausgabe

Gomtang (Beef Bone Soup) by Youngtak Kim

© 2018 Youngtak Kim

All rights reserved.

Original Korean edition is serialized by Kakao Page Corp. and published by Arte (Book 21 Publishing Group)This German edition is published by arrangement with by Kakao Page Corp. through KL Management, Seoul, Korea

2. eBook-Ausgabe 2023

Copyright der deutschen Ausgabe

© 2023 Golkonda in der Europa Verlage GmbH, München

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Übersetzung: Hyuk-Sook Kim und Manfred Selzer

Redaktion: Franz Leipold

Layout & Satz: Margarita Maiseyeva

Konvertierung: Bookwire

ePub-ISBN: 978-3-96509-042-2

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

Alle Rechte vorbehalten.

www.golkonda-verlag.com

In naher Zukunft werden Zeitreisen möglich sein.

Sie sind allerdings so gefährlich, dass man dabei sein Leben riskiert.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Das Meer war weiter von der Küste enfernt, als es die Bewohner von Busan in Erinnerung hatten. Wellen, so hoch wie Berge, zogen sich bis hinter den Horizont zurück, nachdem die Stadt von ihnen verschluckt worden war. Niemand wusste, wohin die gigantische Menge Wasser verschwunden war, die nun den Meeresboden preisgab. Dieser Grund gehörte niemandem.

Die Reichen errichteten ihre Häuser noch weiter im Norden auf dem Festland. Die Armen bauten ihre Hütten auf dem Boden, den das Meer freigegeben hatte. Damit verstießen sie zwar gegen das Gesetz, aber sie hatten weder das Geld noch die Möglichkeit, sich an einem anderen Ort niederzulassen. Innerhalb weniger Jahre entstand ein kleines, schäbiges Viertel, das man aus Bequemlichkeit das »Untere Viertel« nannte. Das Viertel, in dem die Reichen wohnten, wurde folglich als »Oberes Viertel« bezeichnet. Die Stadt selbst bekam keinen neuen Namen, sondern hieß einfach weiterhin Busan. Zehn Jahre später suchte noch einmal ein Tsunami die Stadt heim und verschluckte das Untere Viertel. Viele Menschen starben, und diejenigen, die den Tsunami überlebten, hatten alles verloren. Die Überlebenden kehrten trotz allem wieder zurück. Ein paar Jahre vergingen, und das Untere Viertel entstand neu. Keiner konnte sagen, ob das Meer diese Menschen nicht in einigen Jahrzehnten wieder verschlucken würde.

Die Bewohner des Unteren Viertels mussten irgendwie Geld verdienen. Denn nur so bestand die Chance, es in das Obere Viertel zu schaffen und den nächsten Tsunami zu überleben. Geldverdienen war für diese Menschen also eine Frage von Leben und Tod. Unter den Beschäftigungen, denen sie für Geld nachgingen, gab es auch solche, die dem Vergnügen der Menschen im Oberen Viertel dienten. Dazu gehörten Extremes, Illegales und nicht zuletzt Tätigkeiten, bei denen man sein Leben riskieren musste.

Wenn man am Unteren Viertel vorbei weiter nach Süden ging, von wo sich das Meer zurückgezogen hatte, fand man einen neu entstandenen Strand vor. Unweit dieses Strandes klaffte eine immense blaue Öffnung im Meer, die möglicherweise das verschwundene Meereswasser geschluckt hatte; zumindest wurde das von manchen Leuten behauptet. Diese blaue Öffnung lag unterhalb der Wasseroberfläche, reichte endlos in die Tiefe, und darin herrschte pechschwarze Dunkelheit.

Seitdem der Tsunami die Stadt heimgesucht hatte, war ständig die Vogelgrippe ausgebrochen. Danach folgte die Maul- und Klauenseuche. Um selbst überleben zu können, töteten die Menschen ihre Nutztiere, bis diese schließlich ausgestorben waren, die Seuchen aber ließen sich nicht ausrotten. Danach erschufen sie ein neues Tier, das als Nahrungsmittel dienen sollte. Es sah merkwürdig aus, aber man konnte damit den Magen füllen und war zufrieden.

Das neue Tier sah einer Ratte ähnlich, war aber etwas größer. Es wuchs nach der Geburt innerhalb von ein paar Tagen zu seiner vollen Größe heran. Dem Erbgut dieses Tieres, das aus der DNA eines Rinds, damit es nach Rindfleisch schmeckte, eines Schweins und allerlei weiterer Tiere kombiniert worden war, hatte man fraglos auch die DNA einer Ratte beigemischt. Vermutlich, weil man deren außerordentliche Fortpflanzungsfähigkeit benötigt hatte. Das Gesicht einer Ratte und die Haut eines Schweins; was an diesem Tier einem Rind ähnelte, war einzig und allein sein widerwärtiger Gestank. Das Tier hatte auch keinen Namen. Man sprach schlicht von »dem Ding« beziehungsweise von »diesen Dingern«.

Lee Uhwan hatte keinerlei Erinnerung an seine Kindheit. Er konnte nicht sagen, ob er seine Kindheitserinnerungen verloren hatte, weil er sich nicht an sie erinnern wollte; er ging schlichtweg davon aus, dass er von Anfang an unumstößlich ein wertloser Erwachsener gewesen war. Er hatte nichts, woran er sich erinnern und dabei zufrieden lächeln konnte, wenn er sich mal an einem Sommernachmittag eine kurze Pause im Schatten gönnte.

Uhwan arbeitete in der Küche einer Gaststätte. Nicht als Koch, sondern als Küchenhilfe. Er verbrachte den ganzen Tag in einer engen, schwülheißen, stinkenden Küche und schlief in einem engen, schwülheißen, stinkenden Zimmer, das sich neben der Vorratskammer der Gaststätte befand. Jeden Tag stand er in der Morgendämmerung auf. Noch Schlaf in den Augen, nahm er schon das Messer in die Hand. Als Erstes mussten die Dinger geschlachtet werden. Es wäre besser gewesen, wenn sie bereits tot geliefert worden wären, aber die Schlachtung kostete Geld, das der Gaststättenbesitzer nicht ausgeben wollte. Deswegen kamen sie immer lebend an. Und sie machten einen höllischen Lärm, solange sie am Leben waren. Ein Geräusch, das weder von einer Ratte noch von einem Schwein und genauso wenig von einem Rind stammen konnte. Uhwan schlachtete die Dinger, indem er ihnen nacheinander in die Kehle stach. Anschließend zog er die Haut vom Hinterteil aus bis zum Hals ab. Die Schlachtung und das Hautabziehen dauerten etwa drei Stunden. Danach zerstückelte er sie. Meistens in drei Stücke, oder auch mal in vier, wenn es große Exemplare waren. Die Innereien wurden nicht aussortiert. Es hieß, dass der Geschmack der Suppe aus den Innereien gewonnen werde. Uhwan legte die Dinger in einen großen, hohen Topf und gab Wasser dazu. Sie wurden sehr lange gekocht, bis sie sich fast vollständig aufgelöst hatten. Je länger sie gekocht wurden, desto stärker wurde der ekelhafte Gestank, den man für den Geruch von Fleischsuppe hielt.

Lee Uhwan selbst aß die Suppe nicht, die in den Gaststätten angeboten wurde. Ein einziges Mal hatte er sie vor Jahren probiert, aber es war ein Geschmack gewesen, den er weder als gut noch als schlecht in Erinnerung hatte. Als der Koch ihm angeboten hatte, ihm beizubringen, wie man die Fleischsuppe kocht, hatte er es abgelehnt. Er war Mitte 40. Auch im nächsten Jahr, im Jahr 2064, würde er noch Mitte 40 und als Küchenhilfe tätig sein.

In der Gaststätte arbeitete neben dem Inhaber, dem Koch und Uhwan noch eine Küchenhilfe. Der Inhaber war ein alter Mann Ende 80. Für sein Alter war er jedoch durchaus fit und sah gesund aus, obwohl ihm der rechte Arm fehlte. Wie er seinen Arm verloren und was er früher gemacht hatte, bevor er die Gaststätte eröffnet hatte, wusste keiner. Für einen alten Mann Ende 80 interessierte sich schließlich niemand.

Die Lieblingsbeschäftigung des alten Mannes war es, jemanden zu sich zu zitieren und ihm eine Geschichte zu erzählen. Derjenige, der vor ihm Platz nehmen und ihm zuhören musste, war meistens der Koch. Immer wenn er ein bisschen Zeit hatte, erzählte der Gaststättenbesitzer von der Fleischsuppe, die er früher einmal gegessen hatte. Auch heute war er gerade dabei, dem Koch von dieser Suppe zu erzählen.

Für diese Suppe wurde ein bestimmter Teil eines Rindes sehr lange in Wasser gekocht, und vor dem Servieren gab man klein geschnittene Frühlingszwiebeln hinzu. Mal nannte der alte Mann diese Suppe »Knochenbrühe« und mal »Knochensuppe«. Uhwan bekam ebenfalls Lust auf jene Suppe, sobald er das verträumte Gesicht seines Chefs sah, der sich an den Geschmack erinnerte und dabei erklärte, wie schmackhaft die Brühe und das Fleisch darin gewesen seien. Im Vergleich zu Uhwan wirkte der Koch jedes Mal hilflos, wenn sein Chef von der Knochensuppe erzählte, denn er hatte tatsächlich schon einmal die Knochensuppe gegessen. Allerdings in seiner Kindheit, weswegen er sich an ihren Geschmack nicht mehr erinnern konnte. Außerdem kochte er die Suppe, die im Lokal angeboten wurde, genau nach jenem Rezept der Rindfleischsuppe, das er von seinem Chef erhalten hatte. Mehr Möglichkeiten standen ihm nicht zur Verfügung. Er wusste nicht, wie er sich dem Geschmack, von dem der Gaststättenbesitzer schwärmte, hätte annähern können. Doch der alte Mann gab nicht auf. Uhwan dachte, dass ein Geschmack wohl wie eine schöne Erinnerung sein musste. Ein unvergesslicher Geschmack war wie eine unvergessliche Erinnerung. Sonst gab es keine Erklärung dafür, wie man jeden Tag von ein und demselben Geschmack reden konnte, und das auch noch mit so viel Passion und Elan.

Uhwan war im Begriff, die Gaststätte zu schließen und in sein kleines Zimmer zu gehen, um sich schlafen zu legen, aber der Koch wollte noch mal mit ihm reden. Er sah genauso hilflos aus, wie wenn er dem alten Mann zuhören musste.

»Äh … Kennst du … vielleicht … eine Beinscheibe?«

»Wie bitte? Was für eine Beinscheibe? Meinst du die Kniescheibe? Ist jemandem die Kniescheibe zertrümmert worden?«

Uhwan war zumindest bekannt, was eine Kniescheibe war. Aber die Frage des Kochs rief in ihm ein ungutes Gefühl hervor. Eine Beinscheibe? Er fühlte sich unbehaglich. Intuitiv spürte er, dass es um etwas Ernstes ging, aber worum genau, konnte er nicht einmal erahnen. Er hatte nur so ein Gefühl, dass etwas Entsetzliches geschehen war.

Der Koch sagte noch zögerlicher: »Machst du … vielleicht … verreist du vielleicht gerne?«

Uhwan sagte nichts.

Nun verstand er den Koch. Etwas Entsetzliches war geschehen, und dies könnte auch Auswirkungen auf ihn haben, weshalb er von hier abhauen sollte. Was war überhaupt passiert? Uhwan war dem Koch plötzlich dankbar dafür, dass er sich um ihn kümmerte. Als er jedoch so darüber nachdachte, kam ihm in den Sinn, dass der Koch kein Mensch war, der einfach so nett zu jemandem ist. Er würde sich nicht um andere kümmern, nur weil jemandem eine Kniescheibe zertrümmert worden war. Die Worte des Kochs konnten auch durchaus bedeuten, dass Uhwan gefeuert war. Er hatte länger in dieser Gaststätte gearbeitet als der Koch selbst, aber er war letzten Endes nichts weiter als eine Küchenhilfe. Es gab auch noch Bongsu, der ebenfalls als Küchenhilfe arbeitete, aber dieser war verheiratet. Wenn er das Ganze so betrachtete, musste er sich eingestehen, dass es nur fair war, wenn ihm und nicht Bongsu gekündigt wurde. Trotz allem war auch das eine nicht ganz überzeugende Erklärung für das Verhalten des Kochs …

Bongsu war sofort auf hundertachtzig.

»Und? Weißt du etwas darüber? Ich meine, ob du weißt, wie eine Beinscheibe aussieht?«

»Äh … so wie das hier. Er hat mehrere Bilder gezeichnet und mir gegeben«, sagte Uhwan und zeigte Bongsu eines davon.

Bongsu schaute sich das Bild äußerst konzentriert an, weil auch er die Beinscheibe nicht kannte. Was er zu sehen bekam, war ein Kreis, der aber nicht symmetrisch, sondern seitlich etwas eingedrückt war. Als hätte jemand einen Kreis gezeichnet, während jemand anderes permanent an seiner Hand gezogen hatte, sodass nur unter großer Anstrengung so etwas wie ein Kreis zustande gekommen war. Etwas, unter dem sich auch Bongsu absolut nichts vorstellen konnte.

»Was für ein Scheiß! Wie soll man mit so einer Zeichnung diese Beinscheibe finden?«

Uhwan schwieg.

»Verdammter Mist! Für eine lächerliche Suppe sollst du dich in Lebensgefahr begeben?«

Uhwan schwieg weiter.

»Hör mir zu. Von dieser sogenannten Zeitreise ist noch kein Schwein jemals zurückgekehrt. Alle beißen ins Gras. Denk mal nach. Warum sollen nur arme Schlucker wie wir diese Reise antreten, wenn sie wirklich so fantastisch sein sollte? Warum nur diejenigen, die Geld brauchen? Weil es gefährlich ist. Weil es verdammt gefährlich ist! Deswegen! Was hast du davon, wenn der Chef dir eine eigene Gaststätte gibt? Hast du nicht gesagt, dass du kein Interesse hast, Koch zu werden? Nehmen wir einfach mal an, auch wenn es denkbar unrealistisch ist, also nehmen wir einfach mal an, dass du richtig gelernt hast, wie man diese verdammte Knochensuppe oder was auch immer kocht, und dass du auch jede Menge von diesen Beinscheiben eingekauft hast. Was bringt dir das denn, wenn du nicht zurückkehren kannst, sondern dabei draufgehst? Wenn man tot ist, ist alles gelaufen. Alles gelaufen, hörst du?«

Uhwan erwiderte nichts.

Für ihn ging es jedoch nicht nur ums Geld. Er hatte sich vorgenommen, die Hälfte des Geldes vor der Reise und die andere Hälfte nach der Reise zu bekommen. Aber für die meisten Zeitreisenden spielte weder die eine noch die andere Hälfte eine wichtige Rolle. Die erste Hälfte, die sie vor dem Antritt ihrer Reise bekommen würden, konnten sie ausschließlich in ihrer eigenen Zeit ausgeben. Und es gab sehr selten jemanden, der auch die andere Hälfte kassierte. Wie beim Geld hing die Entscheidung Uhwans auch weniger mit der vom Chef versprochenen eigenen Gaststätte zusammen. Es war schlichtweg so, dass er keine nennenswerte Angst vor dem Tod hatte. Oder besser gesagt, er hatte keinen sonderlichen Spaß am Leben.

Er war von Anfang an ein Erwachsener gewesen. Er war von Anfang an unweigerlich ein wertloser Erwachsener gewesen. Das war das Einzige, was er fühlte. Es war ihm völlig egal, ob und wann er sterben würde.

»Na ja, ob ich weiter so lebe oder auf diese Weise sterbe …«

Uhwan war zum ersten Mal im Leben in einem Reisebüro. Dort gab es zahlreiche großartige Werbeslogans. Nirgendwo war vom Tod die Rede. Aber die Menschen, die dort versammelt waren, führten genauso wie Uhwan ein wertloses Leben, sodass es ihnen völlig gleichgültig war, ob und wann sie sterben würden. Es waren insgesamt 13 Personen. Es hieß, dass 13 die maximale Anzahl an Passagieren für das »Zeitreiseboot« sei. Einige kamen noch zusätzlich und bettelten, dass sie unbedingt mitfahren müssten, aber der Angestellte des Reisebüros schickte alle wieder weg mit der Begründung, dass er die maximale Passagierzahl nicht überschreiten dürfe. Uhwan ließ seinen Blick noch mal über die Leute schweifen und zählte nach. Es stimmte: Es waren mit ihm insgesamt genau 13 Personen, die hier nebeneinanderstanden.

Der Angestellte des Reisebüros überreichte jedem der 13 eine Armbanduhr und sagte, dass man diese Uhr nicht beliebig einschalten dürfe. Erst wenn die vom Klienten in Auftrag gegebene Mission abgeschlossen sei, dürfe und müsse man die Uhr einschalten. Sobald sie aktiviert sei, werde die Uhrzeit der Bootsabfahrt angezeigt, die eine Rückreise ermögliche. Dann müsse man sich rechtzeitig an den Ort begeben, an dem man zuvor mit dem Boot angekommen ist. Wenn man das erste Boot für die Rückfahrt verpasst habe, könne man zwar das nächste nehmen, wann dieses aber komme, wisse keiner …

Es gab noch weitere Dinge, die man beachten musste. Zunächst musste man um jeden Preis geheim halten, dass man ein Zeitreisender war. Es erübrigte sich, zu erwähnen, dass diese Geheimhaltung vor allem der dortigen Polizei gegenüber galt. Daher empfahl es sich dringend, möglichst schnell zurückzukehren. Und man musste zurückkommen. Es wäre einerseits ohnehin nicht möglich, sich lange an einem Ort aufzuhalten, an dem man so gut wie keine Identität besaß, andererseits bekäme das Reisebüro von den Klienten nicht den Restbetrag, wenn seine Reisenden nicht zurückkehren würden. Das Beste wäre also, lebend zurückzukommen. In diesem Fall würde auch das Reisebüro von den Klienten einen Bonus bekommen.

Uhwan war noch nie in einem Reisebüro gewesen und auch noch nie verreist, trotzdem hatte er nicht mit dieser Atmosphäre gerechnet. Keine Spur von Vorfreude, die man sonst bei Reisenden beobachten konnte. Es wurde nicht verraten, warum man sterben könnte. Es gab lediglich eine kurze Erläuterung, dass es eine Öffnung gebe, die Blue Hole heiße und diese Seite mit jener verbinde, aber wie Zeitreisen möglich waren, wurde nicht erklärt. Der Angestellte des Reisebüros machte auf Uhwan den Eindruck, als ob er am liebsten möglichst wenig preisgeben wollte. Er konnte nicht sagen, ob dieser Angestellte von Natur aus wortkarg war oder ob er eher bewusst darauf verzichtete, mehr Zeit als nötig mit den Todgeweihten zu verbringen.

Uhwan war das alles gleichgültig. Wenn es etwas gab, dem er seine Aufmerksamkeit schenken könnte, waren das die zwölf Personen, mit denen er ins Boot steigen würde. Er hatte Lust, jeden Einzelnen zu fragen, warum er diese Reise antreten wollte und welche Lebensgeschichte er mit sich trug. Aber alles an diesem Ort sprach gegen eine solche Unterhaltung. Unter den zwölf Personen gab es auch einen jungen Mann. Wahrscheinlich nicht älter als 20.

Alle stiegen in den Minibus ein, den das Reisebüro bereitgestellt hatte. Er fuhr durch das Untere Viertel weiter in Richtung des Ortes, von dem sich das Meer zurückgezogen hatte. Irgendwann verschwand das Untere Viertel vollständig aus Uhwans Sichtweite. Auch danach fuhr der Wagen noch lange weiter über den wasserlosen Meeresboden. Es war mittlerweile Nacht.

Plötzlich hielt der Minibus an. Als das Brummen des Motors verstummte, wurde ein anderes Geräusch hörbar: das Geräusch von Wasser, das gegen Land brandete. Der Angestellte des Reisebüros schaltete eine Taschenlampe ein. In ihrem Schein sahen sie das Meer. Es war pechschwarz. Und da war ein Boot. Die Leute stiegen schließlich langsam in das Boot. Dann fuhr es hinaus aufs Meer. Kurz danach erreichten sie eine Stelle im Wasser, die besonders schwarz wirkte. Der Angestellte des Reisebüros erklärte, dass diese Stelle das besagte Blue Hole sei. Das Boot fuhr noch ein Stück über das dunkle Meer und hielt mitten in diesem noch dunkleren Kreis an. Dort wartete ein weiteres Boot. Es war rechteckig und hatte zwei äußerst lang gezogene Seiten. Die Kanten waren abgerundet, als ob sie durch Abnutzung abgeschliffen worden wären. Das Boot schaukelte auf dem Wasser. Es war weiß, an manchen Stellen aber auch durchsichtig.

Jede der 13 Personen bekam eine Pille, bevor sie in das andere Boot stieg. Eine blaue Pille. Eine Art Schlaftablette, so erklärte der Angestellte des Reisebüros. Man werde auf natürliche Weise wieder aufwachen. Den Sicherheitsgurt könne man selbst anlegen, und sobald die Luke automatisch verriegelt werde, würde sich auch dieser schließen. Die Luke sei nur im Notfall per Hand zu öffnen, aber sie öffne sich ebenfalls automatisch, sobald das Boot an seinem Zielort angekommen sei. Da die Reisenden sie nicht selbst zu öffnen hätten, gebe es nur eines, wofür sie selbst zuständig seien, nämlich bei der Ankunft wieder die Augen zu öffnen, scherzte der Angestellte. Aber keiner lachte. Für sie bedeutete es, noch am Leben zu sein, wenn sie ihre Augen öffnen konnten, und wirklich am Ziel angekommen zu sein, sobald sie über ihren Köpfen den Nachthimmel sehen konnten.

»Sie alle können sicher gut schwimmen?«, fragte der Angestellte. Seine erste und zugleich letzte Frage.

Alle 13 Reisenden nahmen Platz, woraufhin sich die Luke, die gen Himmel offen gestanden hatte, senkte und schloss. Anschließend wurden die Sicherheitsgurte verriegelt. Das Boot begann, in die Tiefe abzutauchen. Genau genommen, fühlte es sich für Uhwan so an, als würde das Boot hinuntergesogen. Es sank ganz langsam tiefer, als ob es jemand von unten ziehen würde. Die Passagiere schluckten hastig ihre Pillen. Uhwan aber wollte noch ein bisschen mehr mitbekommen, wie es im Inneren des Blue Hole war, wie sie es passierten und was darüber hinaus geschah. Zum ersten Mal in seinem Leben empfand er ein Gefühl der Neugier. Das Boot sank immer schneller und tiefer auf den Meeresboden hinab. Bald begannen die Kopfschmerzen. Uhwan hatte das Gefühl, als würde alles um ihn herum gegen seinen Kopf drücken. Als könnte sein Kopf jeden Augenblick platzen. Alle anderen waren bereits eingeschlafen. Auch Uhwan schluckte nun seine Pille.

Es waren die Kopfschmerzen, die Uhwan weckten. Er machte die Augen auf, sah über sich den Nachthimmel.

Sein Kopf arbeitete.

Der Sicherheitsgurt war offen und die Luke ebenso. Uhwan erhob sich. Das Boot schaukelte im Wasser. Er schaffte es gerade so, sein Gleichgewicht zu halten, und ließ seinen Blick über die unmittelbare Umgebung wandern. Die Leute, mit denen er sich im Boot befand, hatten noch ihre Augen geschlossen. Uhwan war der Einzige, der sie geöffnet hatte. Alle anderen hatten statt ihrer Augen den Mund geöffnet. Aus ihren Mundwinkeln war blaue Flüssigkeit geflossen. Und in ihrem Mundraum war das gleiche Blau zu sehen. Uhwan nahm an, dass diese Farbe auf die blaue Pille zurückzuführen war, die sie vor der Abreise geschluckt hatten. Er realisierte, dass er das Blue Hole passiert hatte. Für eine Weile starrte er seine Mitreisenden an. Immer wieder fiel er zu Boden. Ob es an dem Schock lag oder weil das Boot schaukelte, konnte er nicht mit Sicherheit sagen, aber er vermochte sich nicht auf den Beinen zu halten. Die Mitgereisten waren tot. 13 hatten zusammen die Reise angetreten. Schon bevor sie überhaupt ihren Bestimmungsort erreicht hatten, waren 12 von ihnen ums Leben gekommen. Auch solche Reisen gab es. Uhwan ging davon aus, dass diese Reise für alle die erste in ihrem Leben gewesen war.

Er bereute, dass er sie nicht gefragt hatte, warum sie die Reise unternahmen und wofür sie das Geld benötigten. Er hätte mit ihnen wenigstens kurz ein paar Worte wechseln sollen. In diesem Moment hätte er sie gerne gefragt, ob sie diese Reise auch unternommen hätten, wenn sie gewusst hätten, dass sie so leicht aus dem Leben scheiden würden. Uhwan war übel. Er erbrach sich ins Meer. Überall um ihn herum herrschte Dunkelheit, so wie es auch bei der Abfahrt gewesen war. Er konnte nicht ausmachen, wo er sich gerade befand. Er wusste nicht, ob er am richtigen Ort angekommen war. Seine Unruhe und seine Verwirrung sorgten dafür, dass er noch mehr schwankte. Mit zitterndem Blick schaute er sich um, erst in der Nähe, dann in der Ferne. Dort entdeckte er Lichter. In weiter Ferne gab es Lichter. Sie wirkten irgendwie lebhaft. An ihnen erkannte Uhwan, dass er tatsächlich an einen »anderen Ort« gekommen war. Wäre er noch im Unteren Viertel, dann müssten die Lichter viel weiter entfernt sein. Sie würden wesentlich ärmlicher aussehen.

Uhwan wartete. Er wartete auf das Boot, das ihn abholen sollte. Es kam jedoch nicht. Jetzt verstand er, warum der Angestellte des Reisebüros wissen wollte, ob alle Passagiere gut schwimmen konnten. Die Wellen schoben das Boot unablässig vor sich her, jedoch hatte Uhwan nicht das Gefühl, dass er den Lichtern näher kam. Er kontrollierte die Armbanduhr und stellte auch sicher, dass er die Wegbeschreibung, die der Koch gezeichnet hatte, noch besaß. Er hatte sich nur ein paarmal übergeben, dennoch fühlte er sich völlig entkräftet. Er war alles andere als zuversichtlich, dass er bis zu den Lichtern schwimmen konnte. Auch ich werde also letzten Endes hier sterben, dachte er für sich. Trotzdem zog er seine Schuhe aus und band sie an seiner Taille fest. Nun brauchte er nur noch ins Meer zu springen. Doch in diesem Augenblick hörte er ein Geräusch. Er schaute zurück. Nichts hatte sich verändert. Alle lagen unverändert da, tot. Als er den Kopf wieder wegdrehen wollte, sah er es: Einer zuckte.

Er ging auf diesen Mann zu und schüttelte ihn. Doch der machte die Augen nicht auf. Uhwan versetzte ihm eine Ohrfeige. Mehrmals. Erst da öffnete der Mann seine Augen. Anschließend erbrach er sich. Er mochte vielleicht 20 Jahre alt sein. Um seinen Mund herum war noch blaue Flüssigkeit, und seine Augen waren eingefallen, dennoch wirkten sie klar. Dieser klare Blick traf den Uhwans. Er betrachtete den einzigen weiteren Überlebenden. Der einzige Mensch, der wusste, von wo sie beide gekommen waren. Der einzige Mensch außer ihm, dem bekannt war, dass ihre Gegenwart nicht die hiesige war. Diesem einzigen Menschen, der sich bemühte aufzustehen, es aber nicht vermochte, streckte Uhwan die Hand entgegen. Der Junge zögerte. Damit er mit der ausgestreckten Hand nicht so hilflos aussah, gab Uhwan dem Jungen durch einen Blick zu verstehen: Du und ich, wir sind die einzigen Überlebenden. Vor uns liegt noch ein Meer, das wir zu durchqueren haben. Und das sollten wir zusammen tun. Ob der Junge Uhwans Blick verstanden hatte? Auf jeden Fall ergriff er seine Hand. In diesem Augenblick glaubte er die Gefühle des Jungen, seine Dankbarkeit, zu spüren. Er legte noch mehr Kraft in seine Hand, um dem Jungen aufzuhelfen.

Wie jemand, der schon vor einer ganzen Weile hier angekommen war, sagte Uhwan dem Jungen, dass er seine Schuhe ausziehen und sie an seiner Taille festbinden solle. Dann sprangen die beiden ins Meer. Das Wasser war kalt. Darauf hoffend, dass sie nicht untergingen, bewegten sie sich mit aller Kraft auf die Lichter zu.

Ob einer den anderen mitgezogen hatte oder die Wellen die beiden getragen hatten – Uhwan wusste es nicht. Jedenfalls waren der junge Mann und er schon ganz in der Nähe der Lichter, als sie wieder bei vollem Bewusstsein waren. Eine Stadt bei Nacht, eine Stadt der Lichter. Vor Faszination verschlug es ihm die Sprache. Es war bereits spät in der Nacht, am Strand waren nur wenige Menschen. Sie hatten die beiden zweifellos gesehen, aber sie schenkten ihnen keine Beachtung. Sie waren zwar aus weiter Ferne gekommen und hatten dabei ihr Leben riskiert, aber die Leute interessierten sich kein bisschen für sie. Dieses Desinteresse beruhigte Uhwan. Er schaute sich die Lichter an, während der Junge, der mit ihm soeben das Meer überwunden hatte, einen Fuß vor den anderen setzte. Uhwan hielt ihn an und fragte, wie er heiße.

»Mein Name ist Kim Hwayeong.«

Dann fragte Uhwan ihn, warum er hierhergekommen sei, und begann, von seinem eigenen Grund zu erzählen, da Hwayeong nicht gleich antwortete. Als er zu erklären versuchte, weshalb er sich auf diese Reise begeben hatte und dafür sein Leben aufs Spiel setzte, geriet er immer mehr in Erklärungsnot, weil er selbst dachte, dass seine Gründe nicht wirklich nachvollziehbar und erwähnenswert seien. Uhwan war von Natur aus eigentlich niemand, der stotterte.

»Weißt du … die Beinscheibe … also eine Scheibe, nein … keine Scheibe, die Beinscheibe ist eigentlich … also die Suppe … ich bin gekommen, um zu lernen, wie man Suppe kocht … und hier, irgendwo in der Nähe, gibt es eine Gaststätte, in der man sehr gute Fleischsuppe bekommt. Sie heißt Knochensuppe. Ich soll mich in dieser Gaststätte um eine Stelle bewerben, als Mitarbeiter getarnt lernen, wie man diese Knochensuppe kocht, und es wäre gut, wenn ich auch diese Beinscheiben kaufen und mitnehmen könnte, wenn ich wieder zurückgehe, weißt du? Äh … aber wahrscheinlich darf ich nicht sehr viel mitnehmen. Ach ja, und … ich glaube, dass ich gute Chancen habe, die Beinscheibe zu finden, weil der Koch sie mir sehr genau gezeichnet hat. Aber die Menge, die ich auf das Boot mitnehmen kann, ist schon etwas … das ist … verstehst du …?«

»Ich bin gekommen, um jemanden zu töten.«

»Wa… was?«

»Ich habe gesagt, dass ich gekommen bin, um jemanden zu töten«, sagte der Junge mit dem Namen Kim Hwayeong klar und deutlich. Menschen, die im Unteren Viertel wohnten, waren zu allem fähig. Das war auch Uhwan durchaus bewusst. Er war ja auch nicht anders. Aber die Antwort des Jungen, dass er gekommen sei, um jemanden zu töten, brachte ihn trotzdem aus der Fassung. Seine Fassungslosigkeit ließ ihn eine weitere unnötige Frage stellen: »We… wen?«

»Das weiß ich noch nicht.«

Hwayeong verschwand in die Stadt. Wohin er wohl gehen würde, fragte sich Uhwan besorgt, denn die Straßen waren inzwischen stockdunkel. Er wartete, bis die Nacht vorüber war. Er blickte auf das Meer, und wenn ihm das langweilig wurde, konzentrierte er sich auf die Wellen. Er konnte nicht sagen, wie lange er so dasaß. Irgendwann ging die rote Sonne über dem Meer auf. Uhwan löste seine Schuhe von der Taille und zog sie an. Danach lief er in Richtung Stadt. Er zog seinen Mantel aus.

Die Hälfte des Monats Mai war bereits vergangen. Auf dem Meer schwamm einsam nur das Boot, das Kim Hwayeong und Uhwan dort zurückgelassen hatten. Das Boot war weiß, aber auch irgendwie durchsichtig. Sichtbar und doch wieder unsichtbar, so schaukelte es im Meer hin und her. Auch die Menschen, die sich auf dem Boot befanden, waren sichtbar und dann wieder unsichtbar.

Lee Sunhees linker Arm war länger als sein rechter. Wie bei einem Käfigkampf zwischen Hunden attackierte er wahllos seinen Gegner, aber wenn er sah, dass dessen Gesicht oder Bauchbereich ungeschützt war, schlug er mit der linken Faust zu, die er die ganze Zeit bereitgehalten hatte. Dies war für ihn mittlerweile zu einem Reflex geworden. Selbst wenn er von mehreren Personen gleichzeitig angegriffen wurde, fiel ihm unübersehbar die Lücke in der Deckung seines Gegners auf, als hätte er eine Lupe darauf gerichtet.

Ausgerechnet eine Lupe! Sunhee hasste es, dass sein Vater, der nicht einmal 50 Jahre alt war, eine Brille mit lupenartigen Gläsern trug, wenn er etwas las. Anders als bei anderen schien die Lebenszeit seines Vaters nicht nur aus einer, sondern aus gleich mehreren Schichten zu bestehen, Schichten des puren Unglücks. Wieso fällt mir in diesem actiongeladenen Moment diese Lesebrille ein?, fragte sich Sunhee. Er war wütend auf sich selbst, weil er sein angeborenes Talent mit einer Lupe zu erklären versuchte. Weil er wütend war, schlug er noch fester zu. Wie dieser Kampf überhaupt angefangen hatte, hatte er längst vergessen. Er dachte kurz nach, ob er das Klassenzimmer verlassen oder sich hier sinnlos weiterprügeln sollte. Bald wäre er fertig mit der kaufmännisch-technischen Oberschule, warum mussten diese Idioten also extra an seine Schule kommen und ihn unbedingt zu einer Schlägerei zwingen? Außerdem war es heiß. In dem Moment zog jemand an seiner Schuluniform. Einige Knöpfe seines Hemds rissen ab, und eine kühle Brise streifte seine Brust. Er bekam denjenigen, der an seiner Uniform gezogen hatte, zu fassen und schlug auf ihn ein. Das gesamte Klassenzimmer war ein Schlachtfeld. Ein Schlachtfeld, das ein paar aus Sunhees Clique und mehrere Schüler aus einer anderen Schule besetzt hatten. Die meisten Schüler standen allerdings nur herum und schauten zu. Sie halfen ihren Mitschülern, Sunhee und weiteren aus seiner Clique, in keinster Weise. Sie waren bloß Zuschauer. Umgeben von untätigen Schülern in weißer Schuluniform kämpften die weißen Uniformen gegen die blauen.

Plötzlich schrie jemand auf. Sunhee vermutete, dass er wohl jemandem ein blutiges Gesicht verpasst hatte. Doch dafür war der Schrei zu laut gewesen. Der Schrei wurde wie beim Staffellauf immer weitergegeben und jagte allen Schülern im Klassenraum Angst ein, aber auf Sunhee wirkte er ein bisschen anders. Die aufeinanderfolgenden Schreie riefen bei ihm stattdessen die Kinder aus seiner Grundschulzeit beim Staffellauf ins Gedächtnis. Unter diesen rennenden Kindern lief ein Junge alleine ganz vorne. Das war Sunhee. Es war bei einem Herbstsportfest gewesen. Zumindest damals war seine Stärke nicht der Ringkampf, sondern das Laufen gewesen. Er hätte es locker alleine mit einer fünfköpfigen Laufstaffel aufnehmen können, zehn Runden, weit in Führung, wenn seine Mutter zugesehen hätte. Sie war aber schon damals nicht mehr am Leben. Nichts war so brutal sicher wie der Tod. Der Gedanke an seine Mutter machte ihn erneut wütend. Er ballte seine Fäuste noch fester.

Als er wieder bei klarem Verstand war, war Sunhee der Einzige, der noch kämpfte. Die anderen lagen entweder auf dem Boden oder waren vor Schock zur Salzsäule erstarrt. Er wischte mit seiner Faust, an der Blut klebte, über sein Gesicht und hinterließ dort einen blutigen Streifen. Die Schreie waren verstummt. Das war alleine meine Bühne, dachte er zufrieden, schaute sich um und stolperte dabei über etwas, sodass er zu Boden fiel. Dieses Etwas war eine Person. Sie lag bäuchlings da.

Sunhee wusste nicht, seit wann dieser Typ hier lag. Niemand wusste es. Er trug keine Schuluniform. Sunhee war sich sicher, dass er ihm während der Schlägerei kein einziges Mal gegenübergestanden hatte. Ein Erwachsener. Ein Mann. Kein Lehrer. Auch kein Hausmeister. Nichts dergleichen. Ein unbekannter Erwachsener. Einige Schülerinnen fielen in Ohnmacht. Auch Sunhee bekam es mit der Angst zu tun. Er lag unverändert auf dem Boden und rutschte hastig ein bisschen zurück. Es gab nur noch ihn und den Mann, die auf dem Boden lagen. Das Blut des Mannes durchtränkte Sunhees Hose. Je mehr er strampelte, um sich von dem Mann zu entfernen, desto hartnäckiger verfolgte ihn das Blut.

Der Anblick des Mannes erinnerte Sunhee an einen berühmten Film mit einem Hai. Es sah aus, als ob dem Mann die Seite herausgebissen worden war. Mit einem riesigen Maul. Dinge, die im Bauch des Mannes hätten sein sollen, hatten sich über den Boden des Klassenzimmers verteilt. Eine weitere Schülerin fiel in Ohnmacht. Das Beeindruckendste dabei war eigentlich, dass der herausgebissene Bereich viel zu präzise herausgetrennt schien, in sauberer Kreisform. Als hätte jemand einen präzisen Kreis über den Körper des Mannes gezeichnet und diesen Teil mit einem äußerst scharfen Messer der Linie entlang herausgeschnitten. Doch die anderen Schüler waren nicht imstande, dieses Detail wahrzunehmen. Niemand sonst im Klassenzimmer erkannte das. Es hatte auch niemand gesehen, wie der Mann ins Klassenzimmer gekommen war. Ebenso hatte keiner mitbekommen, wie dieser Mann gestorben war.

»Sie mögen das Meer wohl sehr gerne?«, fragte der Junge den Ermittler Yang Changgeun. Der Junge hatte die zweite Klasse der Oberschule besucht, als er Changgeun zum ersten Mal über den Weg gelaufen war. Es war Changgeuns erster Tag nach seiner Versetzung in ein anderes Polizeirevier gewesen. Der Junge hatte sich nicht auf der Straße wie andere Jugendliche herumgetrieben, sondern auf dem Dach eines fremden Hauses und dabei ein paar Blumentöpfe zerbrochen. Der Hausbesitzer, der ihn erwischt hatte, brachte ihn zur Polizei, um ihm einen Denkzettel zu verpassen. Dieser Fall, den keiner haben wollte, wurde Changgeun übergeben, dem Neuen aus einer anderen Stadt. Das hatte zur Folge, dass er über mehrere Jahre hinweg schließlich einen Serienmord löste, der bereits vor Jahrzehnten seinen Anfang genommen hatte. Als Changgeun diese Stadt wieder verließ, war der Junge 30 Jahre alt, also genauso alt wie der Ermittler, als sie sich zum ersten Mal getroffen hatten. Als er dem Jungen gesagt hatte, dass er von Incheon nach Busan versetzt worden sei, hatte der Junge ihm zuletzt diese Frage gestellt: ob er das Meer sehr gerne möge.

Das war ihm noch nie in den Sinn gekommen. Ihm war selbstverständlich klar, dass das Meer die Gemeinsamkeit zwischen Incheon und Busan darstellte, aber er hatte nie darüber nachgedacht, ob er das Meer mochte. Er dachte lediglich, dass es in beiden Städten gute Plätze am Strand entlang gebe, an denen man in Ruhe eine rauchen konnte. Es hätte ihm auch nichts ausgemacht, wenn diese Plätze nicht am Wasser gelegen wären.

In Busan angekommen, sah Changgeun nun seit einer guten Weile das Meer. Er hielt den Wagen an und stieg aus. Dann zündete er sich eine Zigarette an und schaute aufs Meer. Das Meer von Busan.

Er hatte eigentlich vorgehabt, weiter in Incheon zu leben. Doch jener seltsame Fall quälte ihn. Selbst nachdem der Täter geschnappt und der Fall gelöst worden war. Seine Erinnerungen an jenen Fall blieben weiter glasklar, als ob sie schon immer da gewesen wären. Sie schlugen Wurzeln und nahmen einen festen Platz in ihm ein. Sie begannen sogar, den Platz anderer Erinnerungen einzunehmen. Genauso wie stets den guten Menschen im Leben ihr rechtmäßiger Anteil gestohlen wurde, waren es die guten Erinnerungen, die als Erste vertrieben wurden. In Changgeun gab es keinen Platz mehr, den er noch hätte freimachen können. Er lebte letzten Endes einzig und allein mit der Erinnerung an jenen Serienmord. Er hatte weitere zehn Jahre so gelebt, bis er endlich seine Versetzung beantragte. Er hatte gesagt, dass er nach Busan wolle. Dafür hatte er keinen nennenswerten Grund gehabt. Jetzt beim Rauchen fiel ihm ein, dass er auf die Frage seines Teamleiters, warum er nach Busan wolle, tatsächlich geantwortet hatte: »Ich möchte sehen, worin sich das Meer dort von dem hier unterscheidet.«

Yang Changgeun fühlte sich wie im falschen Film. Abgesehen davon, dass die Polizeistation sehr klein war, gab es auf dem Revier zu viele Schüler in Schuluniform. Ihm wurde erzählt, dass man diese Schüler aufs Revier mitgenommen habe, weil sie in ihrem Klassenzimmer eine Schlägerei veranstaltet hätten. Es war laut. Man sagt, dass sich der Busan-Dialekt so anhöre, als ob man miteinander streiten würde, auch wenn man ein ganz normales Gespräch führte. Und hier stritten wirklich alle miteinander. Die momentane Stimmung auf dem Revier erschien Changgeun nicht angemessen, um sich seinen neuen Kollegen vorzustellen und sie zu begrüßen, daher setzte er sich kurzerhand an einen Schreibtisch, der gerade unbesetzt war, und schaute dem Treiben zu. Es waren auch einige Schülerinnen darunter, aber sie schwiegen, während die meisten Schüler laut waren und versuchten, sich irgendwie herauszureden. Die Mädchen sagten nichts, weil sie immer noch unter Schock zu stehen schienen. Mein Gott, muss man wirklich Schüler auf ein Polizeirevier schleppen, nur weil es im Klassenzimmer eine kleine Rauferei zwischen zwei Cliquen gegeben hat?, dachte sich Changgeun. Das fand er lächerlich. Aber zugleich fragte er sich: Muss man als Mädchen dermaßen schockiert sein, nur weil man eine Schlägerei gesehen hat? Das fand er seltsam. Er schaute sich etwas genauer um und stellte fest, dass er eine merkwürdige Szenerie vor sich hatte, eine Mischung aus Chaos und Angst. Auch die Ermittler wirkten auf ihn irgendwie angespannt. Einer von ihnen hatte einen der Jungen richtig in der Mangel. Er stellte Frage auf Frage, aber der Schüler antwortete nicht.

»Hey, machst du dir etwa Gedanken, wie du nach der Schule an Geld kommen kannst?«

Schweigen.

Der Ermittler trat ein paarmal gegen die Schuhe des Schülers. Große, hohe weiße Sneaker.

»Das ist eine teure Marke. Mit welchem Geld hast du die gekauft? Antworte!«

Schweigen.

»Na was? Haben sie dir gesagt, dass sie dich in ihre Gang aufnehmen, wenn du vor dem Schulabschluss einen abstichst? Haben sie dir gesagt, dass du bis an dein Lebensende ausgesorgt hast, wenn du jemanden abstichst?«

Schweigen.

»›Er ist einfach aus dem Nichts aufgetaucht, während ich gegen die anderen gekämpft habe. Wir haben wirklich nur unter uns gekämpft, ich schwöre.‹ Haben sie dir gesagt, dass du das sagen sollst und dann heil aus der Sache rauskommst?«

Schweigen.

»Hey, Lee Sunhee, hör mir mal zu, deine Noten sind ziemlich miserabel, und bald bist du fertig mit der Schule. Also hast du gedacht, dass du unbedingt irgendwie auf dich aufmerksam machen musst, egal wie. Nicht wahr?«

Schweigen.

»Womit hast du ihn erstochen?«

Schweigen.

»Ich habe dich gefragt, womit du ihn erstochen hast!«

Schweigen.

»Denkst du, dass dein Vater dich da rausboxen wird? Nur weil er verdammt viel Geld hat, glaubst du, dass er dich auch diesmal problemlos aus diesem Schlamassel ziehen kann?«

»… Ich bin das nicht gewesen.«

»Was ist dann das da für Blut?«

»… Das ist nicht mein Blut.«

»Eben! Warum klebt so viel fremdes Blut an dir?«

Gerade war Changgeun auch auf dieses Blut aufmerksam geworden. Nur dieser Junge war komplett blutverschmiert. Er hätte nicht dort sitzen können, wäre das Blut von ihm selbst gewesen. Obwohl es unsäglich laut war und die Mädchen unter entsetzlichem Schock zu stehen schienen, fiel Changgeun einzig dieser Junge auf, der vollständig von Rot bedeckt war. Das musste Lee Sunhee sein. Changgeun rief sich den Schüler, den er vor 13 Jahren kennengelernt hatte, ins Gedächtnis. Der war ein ruhiger Junge gewesen. Lee Sunhee nicht. Jener Junge war zwar auf Dächern herumgesprungen, hatte aber schwächlich ausgesehen. Lee Sunhee nicht. Die weiße Schuluniform jenes Jungen war so rein gewesen, dass kein einziges Staubkorn darauf zu sehen gewesen war. Die von Lee Sunhee nicht. Dennoch, als er ihn so betrachtete, erinnerte Sunhee ihn an jenen Jungen.

Zwei Klassen zusammenzulegen war eine Seltenheit. Dazu handelte es sich noch um zwei Abschlussklassen. Zwei Klassen in einem Klassenzimmer, da war es abzusehen, dass der Unterricht nicht gut vonstattengehen konnte. Einige Jungs machten Quatsch und wollten sich auf den Schoß der Mädchen setzen mit der Begründung, dass es keinen freien Stuhl mehr gebe und sie daher dazu gezwungen seien. Die meisten Mädchen waren genervt, aber es gab auch welche, die die Jungs zu sich holten und sie auf ihrem Schoß sitzen ließen. Ganz unabhängig davon, dass vor Kurzem jemand gestorben war und Unsicherheit darüber herrschte, wie es um die Zukunft der Schule bestellt war, war es auf jeden Fall ein besonderer Tag für die Schüler. Sie alle befanden sich in heller Aufregung und redeten über das hübsche Mädchen oder den süßen Jungen aus der Parallelklasse. Niemals zuvor waren in dieser kaufmännisch-technischen Oberschule, die nie im Zentrum des Interesses der Bürger gestanden hatte, so viele Menschen gewesen! Ein Junge machte einen geschmacklosen Witz, ob die Mädchen alle gleichzeitig ihre Tage bekommen hätten. Der Blutgeruch aus der Nachbarklasse hatte sich in der ganzen Schule ausgebreitet.

Das gelbe Band der Polizeiabsperrung verhinderte den Zugang zum Flur des Klassenzimmers, in dem ein Mann gestorben war. Die Schüler konnten den Ausgang nicht mehr benutzen, der sich am Ende jenes Flurs befand, mussten deshalb über einen Umweg zu den Toiletten und kamen auch nicht mehr auf dem kürzesten Weg zum Schulkiosk. Ein Junge, der Radau machte, weil er unbedingt über den Flur zum Kiosk wollte, wurde von einem Ermittler geohrfeigt. Es war Ermittler Kang Doyeong, der in Busan geboren war, auf den Straßen Busans Unfug getrieben hatte und letztlich in Busan Ermittler geworden war. Der Schüler drehte sich murrend um, Doyeong packte ihn aber am Kragen, zog ihn hinter die Polizeiabsperrung und noch weiter. Eine neue Entwicklung, die die Aufmerksamkeit der anderen Schüler auf sich zog. Die anderen Polizisten versuchten, Doyeong aufzuhalten. Er brachte jedoch den Schüler bis ins Klassenzimmer, in dem sich der Vorfall ereignet hatte. In dem Zimmer hielten sich nun keine Schüler in Schuluniform auf, sondern Polizisten, Ermittler und ein Untersuchungsteam der Forensik in Polizei- und Beamtenuniform. Die Forensiker hatten sich um eine bestimmte Stelle versammelt. Sie knieten dort und schauten sich etwas genauer an. Doyeong drückte den Kopf des Jungen zwischen diesen Leuten hindurch. Unmittelbar vor den Augen des Jungen befanden sich die Augen des Toten. Der Schüler hatte das entsetzliche Gefühl, dass ihn jene Augen direkt anschauten. Aber die Augen der Leiche sahen nirgendwohin. Sie blieben lediglich fest auf den Punkt gerichtet, auf den der Blick des Toten bis kurz vor seinem Ableben gerichtet gewesen war. Der Schüler erblickte flüchtig das Blut und die Eingeweide, die aus dem Bauch des Toten herausgequollen waren. Um nichts mehr davon zu sehen, starrte er lediglich die Augen der Leiche an.

Schließlich rannte er aus dem Klassenzimmer hinaus und übergab sich. Der Kriminalkommissar, Leiter des Ermittlerteams 1, betrat das Klassenzimmer und machte seiner Unzufriedenheit und seinem Ärger Luft: »Verdammte Scheiße, Kang, dieser blöde Hund!«

Yang Changgeun blickte in das blasse Gesicht des Schülers, der gerade aus dem Klassenzimmer herausstürzte, und folgte dem Kriminalkommissar ins Klassenzimmer. Um den Toten herum, der auf dem Boden lag, war eine große Menge Blut zu sehen. Das Blut war einzig um ihn herum. Changgeun dachte nach. Er hatte den Wagen auf dem Schulhof geparkt, war durch den Eingang am linken Ende des Flurs ins Gebäude gelangt und über den Flur gegangen. Und bis in dieses Klassenzimmer. Auf dem Weg bis hierher hatte er keinen einzigen Tropfen Blut gesehen.

In Gedanken lief er diesen Weg mehrmals ab, aber er konnte sich nicht erinnern, dass er irgendwo Blut gesehen hätte. Alles Blut, das der Mann besaß, war ausschließlich hier, in diesem Klassenzimmer vergossen worden. Und zusammen mit dem Blut auch seine Eingeweide. Die meisten von ihnen konnte man in einen separaten Behälter einpacken, aber es gab auch Teile, die noch am Körper des Mannes hingen. Um die Leiche auf die Bahre zu legen und darauf zu achten, dass jene Teile nicht herausquollen, war die Anstrengung mehrerer Personen erforderlich. Die Eingeweide ergossen sich wieder aus dem Körper, als dieser angehoben wurde. Am liebsten hätte man sie selbstverständlich einfach in den Bauch hineingeschoben, aber um sie dort zu halten, dafür fehlte es an Fleisch und Gewebe. Man wollte eilig den Flur hinter sich lassen, damit die Schüler möglichst wenig davon mitbekamen; allerdings führte das dazu, dass die Eingeweide noch einmal herausfielen und sich auf dem Boden verteilten. Die Forensiker sammelten die Eingeweide wieder auf, und die Ermittler nahmen alle Videos von den Überwachungskameras der Schule mit aufs Revier.

»Ich hatte wirklich nicht vor, auch das noch zu erzählen. Aber ich habe einen Sohn. Das ist sicher nichts, womit man prahlen müsste … Äh, der Kleine, er ist nicht einmal mit der Schule fertig, aber er fährt niemandem an den Karren, lässt den Karren auch nie im Dreck stehen und will mir, egal, was ist, immer unbedingt helfen. Er kommt schwuppdiwupp hierher, sobald er mit dem Unterricht fertig ist, jeden Tag, und wischt und schneidet und auch die Suppe … ja, er kann schon jetzt super mit der Herdflamme umgehen. Hier oben, im Kopf, ist er nämlich so was von schlau …«

Wie lange muss ich mir das noch anhören?, fragte sich Uhwan. Er hatte noch nie jemanden kennengelernt, der solchen Spaß daran hatte, mit dem Finger gegen den eigenen Kopf zu tippen. Uhwan hatte mithilfe der Zeichnung des Kochs problemlos den Weg hierher gefunden. Die Gaststätte war alt, aber sauber. Auch ihr Schild sah gepflegt aus: »Busaner Knochensuppe«. Der Name war schlicht, daher konnte man ihn sich gut merken, und diese Schlichtheit des Namens strahlte die Selbstsicherheit des Lokals aus. Die Mittagszeit war schon vorüber, dementsprechend gab es keine Kunden. Die Gaststätte war zu groß, um sie alleine zu betreiben. Aber auch wenn sie winzig klein gewesen wäre, musste Uhwan hier einfach eine Arbeit finden. Er hatte dem Gaststättenbesitzer Honig um den Bart geschmiert. Er sei zu allem bereit, und man brauche ihm auch keinen Lohn zu zahlen, er benötige nur einen Platz zum Schlafen. Doch der Gaststättenbesitzer, der vor ihm saß, redete nur um den heißen Brei herum, ohne ein definitives Ja oder Nein zu geben. Überdies hatte Uhwan keinen Schimmer, wovon der Mann redete. Dass er einen Sohn hatte, das hatte er verstanden. Aber nicht, warum dieser Sohn, der noch die Oberschule besuchte, einen Karren hatte, und ob die Leute hier wirklich noch einen Karren schoben. Wie soll das aussehen, wenn man »schwuppdiwupp« hierherkommt? Was wird gewischt und geschnitten? Was erwartet er von mir? Warum erzählt er mir das alles? Wieso benimmt er sich mir gegenüber so eigenartig? Uhwan war ratlos und frustriert. Am liebsten hätte er geschrien, dass er aus der Zukunft gekommen sei und dafür sein Leben aufs Spiel gesetzt habe, nur um zu lernen, wie man die Knochensuppe dieser Gaststätte kocht, und weil er die verdammte Beinscheibe brauche. Aber das durfte er nicht. Er spielte mit dem Gedanken, einfach nur die Knochensuppe zu probieren. Er könnte den Lokalbesitzer fragen, wo man diese Beinscheibe herbekomme, und dann wieder zurückkehren. Er meinte, dass es ihm doch gelingen müsste, den Geschmack der Brühe einigermaßen nachzuahmen, wenn er sie probiert hätte.

»Okay, alles klar. Dann möchte ich jetzt eine Knochensuppe bestellen.«

Ihm wurde eine Schüssel Knochensuppe serviert, dazu eine Schüssel Reis und eine Portion Rettich-Kimchi, in Würfel geschnitten. Mehr gab es nicht. Dennoch sah das Menü vollständig aus. Uhwan nahm den Löffel in die Hand. In wie viele Münder war dieser Löffel bereits gewandert! Denn der vordere Teil des runden Metalllöffels war dünner als der hintere. Es war definitiv ein Lokal, das bei vielen Menschen seit langer Zeit sehr beliebt war. Uhwan nahm einen Löffel von der Suppe.

Ihm fielen sofort die Worte ein, die sein Chef in jeder freien Minute dem Koch, den er dafür extra hatte kommen lassen, ununterbrochen zu erzählen pflegte. Die Suppe schmeckte Uhwan. Sie war nicht würzig, hatte aber einen Geschmack, der sich im gesamten Mund ausbreitete. Sie wies keine unterschiedlichen Aromen auf, war jedoch vollmundig. Ein einziger Geschmack mit Tiefe. Das Fleisch in der Suppe schmeckte unglaublich nussig. Diese Suppe wurde zweifelsohne mit der Beinscheibe zubereitet. Sie war die pure Freude für Uhwans Gaumen. Er aß einen Löffel und dann noch einen. Er probierte sie einmal und dann noch mal und noch mal. Er gab den Reis in die Suppe und löffelte sie vollständig in sich hinein.

Diese Knochensuppe war nicht nachzuahmen. Nichts, was man einigermaßen ähnlich hervorzaubern konnte. Die Zubereitung dieser Suppe wollte Uhwan tatsächlich gern lernen. Und dann wollte er Koch werden. Er wollte um jeden Preis in der Lage sein, diese Suppe zu kochen, und mit dieser Fähigkeit in seine Zeit zurückkehren. Wenn ihm das gelingen würde, so hatte er das Gefühl, würde ein neues Leben auf ihn warten. Mit Mitte 40 dachte er nun zum ersten Mal in seinem Leben an die Möglichkeit, sein Leben zu ändern. Er ließ die Worte des Gaststättenbesitzers in der Zukunft wieder und wieder Revue passieren. Während sein Kopf fieberhaft arbeitete, aß er das in Würfel geschnittene Rettich-Kimchi. Es schmeckte ihm allein für sich genommen ebenfalls sehr gut. Er merkte nicht einmal, dass das scharfe Rettich-Kimchi auch salzig war, und ließ sich weiterhin Verschiedenes durch den Kopf gehen. Auf jeden Fall musste er, ganz gleich wie, das Herz dieses Mannes, der vor ihm saß und lauter unverständliche Dinge faselte, für sich gewinnen. Er spielte wiederholt dessen Worte, die er nicht verstanden hatte, in Gedanken ab. Was waren die Gegenstände, die gewischt und geschnitten werden mussten? Er hatte gesagt, dass sein Sohn zuerst diese beiden Sachen in Angriff nehme, wenn er schwuppdiwupp oder so hierherkomme. Uhwan sah die Möglichkeit, hier zu arbeiten, wenn er diese beiden Sachen meistern würde. Wischen und schneiden. Aber was genau damit gemeint sein könnte, wusste er leider nicht.

In diesem Augenblick nahm er wieder die Stimme des Gaststättenbesitzers wahr.

»Einige schneiden das Rettiki nicht sauber und gleichmäßig in acht Ecken, sondern lässig in drei, und andere machen das völlig planlos in egal wie viele Ecken, einfach so, nach Bauchgefühl …«