Knochensuppe (Band 2) - Youngtak Kim - E-Book

Knochensuppe (Band 2) E-Book

Youngtak Kim

5,0

Beschreibung

Lee Uhwan hat seinen Auftrag erfüllt und das Rezept für die berühmte Knochensuppe gefunden. Höchste Zeit, ins Jahr 2063 zurückzukehren. Doch es lässt ihm keine Ruhe, dass er immer noch nicht genau weiß, wer seine Eltern sind. Während er weiter im Restaurant Busan Knochensuppe aushilft und bedient, begegnet er anderen Zeitreisenden aus der Zukunft, darunter Park Jongdae, der im Hier und Jetzt eine neue Welt nach seinen Vorstellungen gestalten möchte und dafür buchstäblich über Leichen geht, und Kim Hwayeong, einem »Treiber«, der den Auftrag hat, ihn zu töten. Im letzten Moment erhält Lee Uhwan unerwartete Hilfe … Doch wird es ihm gelingen, dem Killer auf Dauer zu entkommen? Kim Young-tak vermischt verschiedene Genres wie Science-Fiction, Krimi und Thriller zu einer spannenden Zeitreisegeschichte und einem gelungenen Pageturner..

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 441

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
5,0 (1 Bewertung)
1
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



YOUNGTAK KIM

KNOCHENSUPPE 2

DIE NACHT, IN DER ZWÖLF MENSCHEN VERSCHWANDEN

Aus dem Koreanischen von Hyuk-Sook Kim und Manfred Selzer

This book is published with the support of Publication Industry Promotion Agency of Korea (KPIPA).

Originalausgabe

Gomtang II (Beef Bone Soup) by Youngtak Kim

© 2018 Youngtak Kim

All rights reserved.

Original Korean edition is serialized by Kakao Page Corp. and published by Arte (Book 21 Publishing Group)

This German edition is published by arrangement with by Kakao Page Corp. through KL Management, Seoul, Korea

1. eBook-Ausgabe 2023

Copyright der deutschen Ausgabe

© 2023 Golkonda in der Europa Verlage GmbH, München

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Übersetzung: Hyuk-Sook Kim und Manfred Selzer

Redaktion: Franz Leipold

Layout & Satz: Margarita Maiseyeva

Konvertierung: Bookwire

ePub-ISBN: 978-3-96509-056-9

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

Alle Rechte vorbehalten.

www.golkonda-verlag.com

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

1

»Die Haare, wem gehören sie? Die drei scheinen eine Familie zu sein.«

Die Worte, die nach diesen folgten, erreichten Uhwans Ohren schon nicht mehr. Er hörte nur diesen einen Satz, nachdem Park Jongdae ihn vor seinem Büro stehen gelassen hatte und gegangen war. Und er schwirrte ihm auch noch im Kopf herum, während er mit dem Fahrrad den langen Weg von Yeongdo bis zur Gaststätte »Busaner Knochensuppe« zurücklegte.

Er fuhr an der Hochstraße vorbei, die eingestürzt und deswegen menschenleer war, hielt als Einziger vor einer Ampel an, die Grün zeigte, trat mit etwas weniger Kraft in die Pedale, weil die aufsteigende Straße in eine abschüssige überging, und dann erneut kräftiger, als sich diese Straße wieder an einen aufsteigenden Weg anschloss. Auf der gesamten Strecke dachte er ausschließlich an diesen einen Satz: »Die drei scheinen eine Familie zu sein.«

Als Uhwan die »Busaner Knochensuppe« betrat, schaute Jongin fern. Auf dem Bildschirm waren zahlreiche Tote an einem Strand zu sehen. Erst jetzt hörte Uhwan jenen Satz nicht mehr.

Er starrte auf die Körper, die von den Wellen an den Strand getrieben worden waren und jetzt einsam dalagen.

Die Menschen, die er getötet hatte. Es waren zwölf.

Er hatte versäumt, auch an diese Menschen zu denken, als er aus dem Boot gestiegen war. Seine Gedanken waren einzig darauf fokussiert gewesen, dass er aus dem Boot musste. Er musste die Luke öffnen, egal wie, und es hinaus schaffen. In dem Augenblick, als die Luke aufging, begann das Boot allerdings mit Wasser vollzulaufen. Das Boot, das ins Meer hinabgetaucht war, um in eine andere Zeit zu gelangen, hatte für Uhwan den Niedergang seines Lebens verkörpert. Aus diesem Grund hatte er die Luke geöffnet. Um zu leben! Um hier, an diesem Ort, zu leben, hatte er die Luke des Bootes geöffnet. Das war alles, was er hatte tun wollen.

Vielleicht hatte er für einen winzigen Moment die Folgen seines Handelns geahnt. Dennoch hatte er die Luke aufgemacht. Dennoch wollte er unbedingt an diesem Ort leben.

Den Tod der anderen zu ahnen und ihn mit eigenen Augen zu sehen, war nicht dasselbe. Die Menschen, die tot dalagen, hatten es erst jetzt nicht mehr eilig. Es waren Menschen, die einen Ort gehabt hatten, an den sie zurückkehren konnten. Dort hatten sie ihr Leben gehabt. Menschen, die es sich zu ihren Lebzeiten nicht hatten leisten können, sich beliebig von den Wellen treiben zu lassen. Uhwan erkannte zu spät, was er wirklich getan hatte. Er hatte die Menschen an ihrer Rückkehr in ihr altes Leben gehindert und aus denen, die hätten fleißig sein müssen und auch können, für alle Ewigkeit faule Menschen gemacht.

»Gestern ist Sunhee nicht nach Hause gekommen«, sagte Jongin, während er die schockierende Nachricht über die zwölf Leichen sah, die am Strand entdeckt worden waren.

* * *

Ryu Jeonghun gestand zwar nichts, aber er bestand auch nicht mehr auf seiner Freilassung. Changgeun erzählte ihm in aller Freundlichkeit von dem Mann, der in der Klinik »Hoffnung« stationär behandelt wurde. Und auch von der alten Frau: »Vor Kurzem haben Sie eine alte Frau, die dement ist, in diese Klinik einliefern lassen und behauptet, dass sie Ihre Mutter sei, obwohl Sie, ja Sie, gar nicht ihr Sohn sind.« Der Ermittler versäumte nicht, Jeonghun auch zu erzählen, dass diese alte Frau dem Mann, dem die Haut vom Gesicht entfernt worden war und der deshalb einem Monstrum ähnelte, mit beiden Augen direkt ins Gesicht gesehen hatte und nun energisch behauptete, dass er wirklich ihr Sohn sei. Und sie vergoss jeden Tag Tränen wegen ihres Sohnes, im Gegensatz zu allen anderen, die vor ihm unwillkürlich die Augen schlossen und den Blickkontakt mit ihm zu vermeiden suchten. Changgeun teilte dem Verdächtigen auch die Worte der alten Mutter mit, die gesagt hatte, sie wolle den Schuft, der das Gesicht ihres Sohnes dermaßen verunstaltet habe, finden und umbringen.

Kang Doyeong ignorierte den Personalausweis, den Ryu Jeonghun hervorholte, und nahm stattdessen von allen zehn Fingern Abdrücke, um seine Identität zu bestimmen. Jeonghun leistete nicht den geringsten Widerstand. Allerdings machte er auch nicht einfach so eine Aussage. Yang Changgeun erwähnte ihm gegenüber wiederholt Park Jongdae. Denn wie lange er auch nachdenken mochte, er bekam den Gedanken nicht aus dem Kopf, dass auch der Makler in diese Sache verwickelt war, in welcher Form auch immer.

* * *

Die Überprüfung der Fingerabdrücke war abgeschlossen. Doch die Person, deren Fingerabdrücke mit dem des Mannes übereinstimmten, der sich fälschlicherweise als Ryu Jeonghun ausgab, wurde nicht gefunden. Es konnte sein, dass die Registrierung jener Person überhaupt nicht stattgefunden hatte oder versehentlich gelöscht worden war. Oder es konnte sich, wie Kang Doyeong meinte, auch wenn es absurd klang, bei dem Mann um einen Ausländer handeln. Nichts von dem ließ sich mit Fug und Recht von der Hand weisen; trotzdem war es höchst unwahrscheinlich, dass die Einwohnerregistrierung von jemandem, der offensichtlich ein Geschäft führte, gelöscht worden beziehungsweise nie zustande gekommen war. Immerhin stand definitiv fest, dass der Mann, der jetzt im Vernehmungsraum saß, nicht »Ryu Jeonghun« war.

Der Mann, der sich als Jeonghun ausgegeben hatte, verweigerte zwar immer noch jegliche Aussage, aber Changgeun ging davon aus, dass er sich jetzt bestimmt über gewisse Sachen den Kopf zerbrach: Was er getan hatte, welche illegalen Taten ihm von der Polizei nachgewiesen werden könnten; Taten, von denen er behaupten könnte, dass nicht er, sondern andere sie begangen haben, Menschen, denen er dann seine Schuld in die Schuhe schieben könnte. Und unter den Menschen, die er dafür in Erwägung zog, musste sich auf alle Fälle auch Park Jongdae befinden, so vermutete Changgeun.

Changgeun ging aus dem Vernehmungsraum. Er dachte, dass der Mann in der Klinik »Hoffnung« auf seine Mutter reagiert hatte und dementsprechend auch auf das Gesicht des Verdächtigen reagieren würde, der im Vernehmungsraum saß. Der Patient Ryu Jeonghun würde zweifellos in irgendeiner Form reagieren, wenn er sein eigenes Gesicht zu sehen bekommen würde. Das könnte dazu führen, dass er sich wieder an die Ereignisse jenes Tages erinnerte, an dem alles passiert war.

Allerdings wäre es viel besser, wenn der vermeintliche Jeonghun von sich aus Park Jongdae erwähnen würde. Der echte Ryu Jeonghun war in der Psychiatrie. Die Aussage eines psychisch Kranken war vor Gericht gegenstandslos. Die Wahrscheinlichkeit war aber hoch, dass die Aussage von Ryu Jeonghun im Vernehmungsraum als Beweis aufgenommen würde. Bei seiner Narbe handelte es sich zweifelsohne um eine Operationsfolge, und er hatte das Gesicht des Patienten Ryu Jeonghun gestohlen. Daran bestand ebenfalls kein Zweifel.

Shopping und Schönheitsoperation, außer diesen beiden Dingen gab es nichts, was sich mit der Zeit über die Maßen weiterentwickelt hatte. Menschen konnten überall alles konsumieren, und jeder konnte zu demjenigen werden, der er sein wollte, solange er das nötige Kleingeld dafür besaß.

Immer mehr Menschen unterzogen sich einer Schönheitsoperation, um genauso wie ein Star auszusehen. Neulich hatte eine Schauspielerin eine Klage gegen eine Person eingereicht, die ihr Gesicht hatte operieren lassen, damit sie haargenau wie diese Schauspielerin aussah. Auch früher hatte es häufig Fälle gegeben, in denen ein Nicht-Schauspieler, der einem Schauspieler zum Verwechseln ähnlich sah, damit Geld verdiente, den Star zu imitieren. So etwas hatte schon einige Male zu Gerichtsverhandlungen geführt, weil der Star auf einem Anteil der Einnahmen bestand. Doch bei der Klage dieser Schauspielerin lagen die Dinge etwas anders.

In der Regel ließ man sich so operieren, dass man einem Star ähnlich sah, der sich gerade auf dem Höhepunkt seiner Karriere befand. Die besagte Darstellerin hatte jedoch ihren schauspielerischen Zenit längst überschritten und war mittlerweile sehr alt. Eine Normalbürgerin hatte sich nun einer Schönheitsoperation unterzogen, um genau wie die Schauspielerin in ihren jungen Jahren auszusehen. Für eine Frau, die mit ihrer Jugend auch alles damit Zusammenhängende verloren hatte, war es gewiss unvorstellbar schwer, eine Fremde zu sehen, die wie sie in ihrer Blütezeit aussah – eine Zeit, in die sie nie wieder zurückkehren konnte.

Vor Gericht erschienen gleichzeitig zwei Frauen, die ein und dieselbe Person darstellten. Einmal als alte und einmal als junge Version. Diese Szene war äußerst kurios. Die Augen der im Gerichtssaal Anwesenden richteten sich viel mehr auf die junge Frau mit dem Gesicht der Schauspielerin aus der Zeit, als diese den Gipfel ihrer Karriere erklommen hatte, als auf die alte Frau, die um das ihr zustehende Recht, ihre Ehre und für die Moral kämpfte. »Wow, die sieht wirklich genauso aus wie die Schauspielerin damals!« So ließ man der Begeisterung im Gerichtssaal freien Lauf.

Da man in einer Zeit lebte, in der solche chirurgischen Möglichkeiten zur Verfügung standen, stellte es keine große Sache dar, dass ein plastischer Chirurg, der in Busan die Nummer eins sein sollte, das Gesicht von Ryu Jeonghun und Park Jongdae jeweils in ein anderes verwandelt hatte. Natürlich handelte es sich um keine einfache Hauttransplantation, bei der man nur die Gesichtshaut von jemandem abnahm und jemand anderem überzog.

Aber warum musste man jemanden unbedingt häuten und dessen Leben zerstören? Und warum mussten es ausgerechnet die Gesichter von Ryu Jeonghun und Park Jongdae sein? Das waren die Fragen, die Changgeun sich stellte. Die beiden waren doch keine Schauspieler und auch keine anderen Berühmtheiten. Als Changgeun mit seinen Fragen an diesen Punkt gelangt war, sagte Doyeong, der neben ihm saß: »Park Jongdae und Ryu Jeonghun sind nicht einmal Stars! Sie sehen auch nicht großartig aus.«

Changgeun war neuerdings sehr überrascht von seinem Kollegen, da diesem ähnliche Gedanken durch den Kopf gingen wie ihm selbst. Er hatte angenommen, dass Doyeong um diese Zeit in der Regel Hunger bekam und deshalb einzig und allein ans Essen dachte. Offensichtlich hatte er mit seiner Annahme falschgelegen.

Worüber die zwei Ermittler auch nachdenken mochten, sie mussten warten. Es gab nichts, was sie unternehmen konnten, außer zu warten. Und das konnten sie. Bis Ryu Jeonghun von sich aus verlangte, mit Park Jongdae zu sprechen, bis die Identität der zwölf Menschen, die an den Strand gespült worden waren, festgestellt und die Obduktion der zwölf Leichen abgeschlossen war, konnten sie nur warten.

* * *

Hwayeong hatte angenommen, dass es für ihn nie wieder einen Anlass geben würde, einen Fuß in eine Bibliothek zu setzen. In seinem Koffer befanden sich noch die Geschenke für seine Mutter und seine Schwester. Er ging zur Theke für die Internetrecherche. In das Suchfenster gab er »Polizeirevier« ein. Was auch immer im Boot genau geschehen sein mochte, wegen eines einzigen Menschen, der überlebt hatte, anstatt mit den anderen zwölf zu sterben, konnte er nun nicht zurückkehren, und folglich musste er ihn töten. Dafür musste er in Erfahrung bringen, wer von den dreizehn Menschen am Leben geblieben war. Er gab die Begriffe »Raumplan Polizeirevier« ein und begann zu recherchieren.

* * *

Bloß keine Wiederholung, denn er hasste Wiederholungen. Wenn er gefragt würde, wie er bei den vielen Mahlzeiten an den zahlreichen Tagen immer ein anderes Gericht zu sich nehmen könne, damit er nicht ständig das Gleiche aß, dann könnte seine Antwort nur lauten: dank meiner Obsession. Kang Doyeong gehörte zu den Menschen, die obsessiv waren. Er wollte stets wachsam bleiben. Man stelle sich einen Mann in den Vierzigern vor, der bei jeder Mahlzeit immer dasselbe Gericht verzehrte. Das wäre wahrlich kein wachsamer Mensch. Doyeong aß viermal am Tag. Er nahm zumindest einmal am Tag eine Mahlzeit zu sich, die sich von den vorherigen unterschied, zweimal an den guten Tagen oder sogar viermal an den besten Tagen. Ermittler Kang Doyeong führte sein Leben also äußerst bewusst, nur dadurch hatte er zu einem wachsamen Menschen werden können. Er arbeitete seit fast zwanzig Jahren als Ermittler und führte seine Arbeit trotzdem nicht mit seelenloser Routine durch – und das hatte er nur seiner Obsession zu verdanken. Obsession. Seine Obsession für eine Mahlzeit, die sich nicht wiederholte.

»Herr Kang, wollen wir zu Abend noch mal den Stinkeeintopf mit der Bohnenpaste essen, den wir zu Mittag hatten? Der war doch ganz lecker«, fragte Choi Seongwon. Der würde spätestens in fünf Jahren der Routine verfallen.

Man muss wachsam bleiben. Doyeong hatte Seongwon angemault und seinen Vorschlag abgelehnt; nun grübelte er seit zehn Minuten, was er zu Abend essen sollte. Drei Tage hatte er durchhalten können. Seit drei Tagen hatte er kein einziges Mal das gleiche Gericht gegessen. Sollte er das weiter durchziehen oder doch die helle Fleischsuppe wählen, die er vor drei Tagen zu Mittag gehabt hatte? Seine Grübelei war durchaus berechtigt.

Die helle Fleischsuppe schmeckte ihm gut. Als Alternative für ein neues Gericht bot sich für Seongwon ein Sandwich an, jedoch nicht für Doyeong. Ein Sandwich. Auf einem trockenen Brot sollte man rohe Wurst und rohes Gemüse essen. Alles roh, was für eine verrückte Rohheit! Wenn das so weitergehen würde, wäre es nicht auszuschließen, dass es bald Spinner geben würde, die rohen Fisch auf Brot essen wollten. Die Welt ging in ihrer Halbfertigkeit langsam zugrunde. Doyeong machte sich große Sorgen um die Zukunft, und deswegen hörte er auf, über die Wahl seiner Mahlzeit zu grübeln. Seine Obsession weiter beizubehalten war zwar wichtig, aber viel wichtiger als das war für ihn, die Welt vor ihrem Untergang zu bewahren. Schließlich wollte Doyeong in dieser Welt als Ermittler ein langes Leben führen. So war er. Er war ein Mann des Gleichgewichts.

»Wir nehmen helle Fleischsuppe zum Abendessen. Und denken Sie daran, dass ich eine Extraportion Nudeln dazu bekomme«, sagte er zu Seongwon, damit dieser das Essen bestellte.

Die Fleischsuppe war bestellt und geliefert, und Doyeong hatte seine Schüssel bereits etwa zur Hälfte geleert, als sich Dr. Tak Seongjin mit der Nachricht meldete, er sei mit der Obduktion der zwölf Leichen fertig und die Ermittler sollten zu ihm herunterkommen. Doyeong war hin und weg von dieser Suppe, vor allem hatte er noch so viel davon übrig, dass er sie unmöglich stehen lassen konnte. Daher löffelte er in aller Hast sein Essen weiter in sich hinein, weil er ohnehin nicht einmal zwei Minuten brauchen würde, bis er die Fleischsuppe geleert hätte, während Yang Changgeun, der gutem Essen keinen Respekt zu zollen wusste, auf der Stelle den Löffel hinlegte und zum Obduktionssaal eilte.

Möglicherweise wegen der Konzentration auf sein Essen bekam Doyeong den exakten Augenblick nicht mit. Ausgerechnet in dem Moment, in dem er eine besonders große Portion der Fleischsuppe mit dem Löffel in den weit aufgerissenen Mund beförderte, erschien etwas vor ihm. Es geschah innerhalb eines Lidschlags.

Es war ein Mensch. Groß und sehr hübsch sah er aus, wie ein Gigolo. Der Kerl schaute sich mit einem Gesicht um, als habe er selbst keine Ahnung, warum er hier erschienen sei. Selbstverständlich traf sein Blick ganz kurz den von Doyeong, aber der Gigolo löste sich daraufhin sofort wieder in Luft auf.

* * *

Für Dr. Tak hatte es sich um eine langweilige Obduktion gehandelt. Er dachte, dass es für ihn nichts mehr zu tun gebe, sobald die Identität der Toten festgestellt sei. Doch zwölf Leichen vor sich ausgebreitet zu sehen war keine behagliche Angelegenheit. Wohin waren sie überhaupt unterwegs gewesen, auch wenn sie letzten Endes ihr Ziel niemals erreichen durften und tot an den Strand zurückkehren mussten? Dr. Tak fühlte sich unwohl. Zum Glück hatte er hier im Obduktionssaal irgendwo noch eine Flasche Schnaps. Er suchte danach mit der Absicht, sich nur einen kleinen Schluck davon zu gönnen, bevor die Ermittler hereinstürmten.

Möglicherweise deswegen bekam Dr. Tak den exakten Augenblick nicht mit. Ausgerechnet in dem Moment, als er, ein kompetenter Gerichtsmediziner und zugleich hervorragender Obduzent, seine Schnapsflasche fand, die irgendwo im Obduktionssaal herumstand, erschien der Kerl. Innerhalb eines Lidschlags tauchte er auf, und das war der Augenblick, in dem ihn der Gerichtsmediziner sah.

Er stellte die gefundene Schnapsflasche zurück an ihren Platz. Er musste bei klarem Verstand bleiben. Der Kerl hatte die Ruhe weg. Vielleicht wäre »der Junge« die passendere Bezeichnung für ihn gewesen. Der Junge überprüfte also gelassen alle zwölf Leichname, nein, nicht gelassen, sondern vielmehr völlig beherrscht. Er sah sich alle zwölf Gesichter einzeln und aufmerksam der Reihe nach an. Er betrachtete alle Gesichter, und zwar jedes für sich. Währenddessen musterte Dr. Tak den Jungen. Er dachte einzig daran, dass er bei klarem Verstand bleiben müsse. Etwas anderes kam ihm nicht in den Sinn.

Der Junge hatte einen gewissen Reiz an sich, sodass er – angefangen mit seinem Auftritt bis zu seinem Verhalten – die vollständige Aufmerksamkeit von Dr. Tak auf sich zog. Als der Junge das letzte Gesicht betrachtete, öffnete Changgeun die Tür des Obduktionssaals und betrat den Raum. So sah auch er den Jungen.

In diesem Augenblick hatte sich der Junge gerade die letzte Leiche angesehen. Er machte ein beunruhigtes Gesicht. Da trafen sich die Blicke des Jungen und des Ermittlers. Changgeun kam kein Wort über die Lippen, und es ging auch keine erkennbare Bewegung von ihm aus; ebenso wenig konnte man sagen, woran er momentan dachte. Er stand wie angewurzelt da, und der Junge tat es ihm für ein paar Sekunden mit einem beunruhigten Gesicht gleich. Danach löste er sich in Luft auf.

Changgeun rannte los. Aus dem Polizeirevier hinaus. Er dachte einfach, dass er zuerst nach draußen rennen musste. »Vielleicht kann ich ihm wieder begegnen oder ihn sogar schnappen, bevor er sich erneut verflüchtigt. Zumindest könnte ich ihn noch einmal sehen.«

Er stürmte die Treppen hoch und bog in den Flur ein. Dort tauchte der Kerl gerade auf. Er schien immer noch fassungslos zu sein. Changgeun rannte und warf sich dem Kerl entgegen. Er war der Meinung, dass er ihn gefangen hätte. Aber bevor ihm das tatsächlich möglich gewesen wäre, hatte sich sein Zielobjekt wieder in Luft aufgelöst.

* * *

Lee Uhwan war nicht unter ihnen gewesen. Bei den zwölf Leichnamen, die den Obduktionssaal in Beschlag genommen hatten, war er nicht dabei gewesen. Hwayeong kannte die Gesichter der anderen nicht, aber das Uhwans schon. Er hatte gehofft, dass er ihn dort nicht finden würde, allerdings hatte er nun die Gewissheit, dass Uhwan die Person war, die auf Kosten von zwölf anderen Menschen überlebt hatte.

Uhwan hatte ihm gesagt, dass er hierhergekommen sei, um zu lernen, wie man Knochensuppe kocht. Er sah nicht wie jemand aus, der in der Lage wäre, jemanden zu töten.

Warum also hatte er das getan?

Nein, der Grund war für Hwayeong unwichtig. Er musste Uhwan töten.

Er hatte noch nie einen Menschen umgebracht. Er wusste gar nicht, ob er zu einer solchen Tat fähig wäre. Aber jetzt wurde ihm immer deutlicher bewusst, dass er tatsächlich jemanden töten musste.

Als Erstes musste er Lee Uhwan jedoch finden. Es mochte sein, dass es einige Zeit in Anspruch nehmen würde, bis er herausfand, wo er sich aufhielt. Wenigstens besaß Uhwan hier keine Identität. In dieser Zeit konnte er sich nicht völlig frei bewegen. Hwayeong war der Überzeugung, dass er ihn letzten Endes finden würde, wenn er alle Gaststätten in Busan abklappern würde, die Knochensuppe anboten. Er bemühte sich, sich an alles zu erinnern, was er über Uhwan wusste.

* * *

Ermittler Yang hatte nicht mit einem Jungen gerechnet. Nein, mit einem dermaßen jungen Mann hatte er wirklich nicht gerechnet. Selbstverständlich hatte dieser Junge auf dem Polizeirevier kein Loch in den Körper eines anderen geschossen. Trotzdem dachte Changgeun, dass der Junge, den er gerade beinahe schon umklammert hatte, der potenzielle Mörder des Mannes war, der in einer Oberschule erschienen war und mit seinem Blut die Kleidung eines Schülers durchtränkt hatte. Changgeun war nicht alleine mit diesem Gedanken. Alle, die den Jungen im Polizeirevier gesehen hatten, dachten das.

Aber Changgeun war klar, dass er nicht einfach so annehmen durfte, dass der Junge diesen Mann umgebracht hatte. Möglicherweise stand er mit jenem Fall nicht mal in einem Zusammenhang. Dennoch konnte Changgeun nicht umhin, weiter eine Verbindung mit dem Tod des Mannes im Klassenzimmer zu sehen, denn nicht jeder konnte auf diese Weise wie der Junge erscheinen und wieder verschwinden.

Es gab aber auch noch Kang Doyeong, der, obwohl er den Jungen direkt vor der Nase gehabt hatte, von einer optischen Täuschung redete und behauptete, dass der Junge schlichtweg jemand sei, der sich wahnwitzig schnell bewegen könne. Dann stellte er eine ebenso wahnwitzige Frage: »Wer hat den Jungen gesehen, wie er die Treppe runtergehuscht ist?«

Was gerade geschehen war, war schwer zu glauben. Changgeun fühlte sich überfordert. Wie einst in Incheon fühlte er sich einfach überfordert. Der Fall schien die Grenze des Fassbaren zu überschreiten. Heute musste er sich mit den zwölf Toten auseinandersetzen, die an den Strand gespült worden waren und deren Identität er immer noch nicht hatte herausfinden können, dazu mit einem Mann, der das Gesicht eines anderen gestohlen hatte und sich weiter in Schweigen hüllte, und mit einem Tatverdächtigen, der ein Loch in den Körper eines Menschen geschossen haben könnte. Zu allem Überfluss war der Tatverdächtige noch ein Junge. Er war in aller Ruhe aufs Polizeirevier gekommen, bis zum Obduktionssaal vorgedrungen, indem er wiederholt aus dem Nichts erschienen und verschwunden war, und hatte sich jedes einzelne Gesicht der Toten angesehen.

Changgeun hatte nicht den geringsten Schimmer, warum der Junge, der eventuell vor mehr als einem Monat mit einer unbekannten Waffe einen Mann getötet hatte, sich heute unbedingt die Gesichter der Leichen ansehen musste, die vom Meer angeschwemmt worden waren. Ebenso wenig wusste er, warum ein Mann, dessen Identität nicht über seine Fingerabdrücke herauszufinden war und dessen früheres Aussehen niemand kannte, ausgerechnet wie Ryu Jeonghun, der kein Star war, aussehen wollte. Und warum er dafür auch noch das Gesicht von Jeonghun vollständig hatte enthäuten müssen. Was überhaupt in letzter Zeit geschah und worauf all diese Ereignisse hinausliefen, davon hatte Changgeun keinen blassen Schimmer. Wenn es irgendwie möglich gewesen wäre, hätte er liebend gerne alles Geschehene und die damit verbundenen Emotionen wenigstens für ein paar Tage von sich geschoben.

Aber ihm fiel da wieder der Junge ein. Wieso hatte er sich die Gesichter der Toten angesehen? War er etwa auf der Suche nach einer bestimmten Person gewesen? Dr. Tak zufolge war der Junge zunehmend nervöser geworden, während er eine Leiche nach der anderen betrachtet hatte. Warum war er mit einem beunruhigten Gesicht aus dem Obduktionssaal gegangen?

Changgeun beantwortete sich seine Frage selbst: Die Person, nach der der Junge gesucht hatte, war nicht dabei gewesen. Das war die einzige Erklärung, warum er auch noch fassungslos ausgesehen hatte, als er auf dem Flur erneut erschienen war.

Weil die Person, nach der er suchte, nicht dort gewesen war. Er hatte gehofft, unter den Toten jemanden zu finden.

Changgeun dachte lange an das Gesicht des Jungen.

Dann fragte er sich an der Stelle des Jungen: »Warum ist er noch am Leben, während die anderen alle gestorben sind?«

* * *

Letzten Endes wurde keine einzige der zwölf Leichen identifiziert.

* * *

Es war spät in der Nacht. Seine innere Unruhe hatte sich ein wenig gelegt. Sein Wunsch stand fest. Der Tod der zwölf Menschen durfte nicht umsonst gewesen sein. 17 Jahre hatte er im Waisenhaus und 26 Jahre neben der Vorratskammer gelebt. Während alle danach eiferten, glücklich zu werden, hatte Uhwan kein einziges Mal einen solchen Wunsch gehegt.

Alle Menschen streben nach ihrem eigenen Glück. Alle. Es gibt Menschen, die das Glück der anderen begehren, um selbst glücklich werden zu können. Unterschiedlich ist bloß das Ausmaß des Begehrens und Strebens. Alle waren so. Er musste unbedingt glücklich werden. Uhwan musste glücklich werden, auch für diejenigen, die ihm zum Opfer gefallen waren.

Sunhee war immer noch nicht zurück.

Uhwan wartete auf seinen Vater.

2

Ryu Jeonghun saß immer noch im Vernehmungsraum. Er empfing den Morgen, ohne eine Sekunde geschlafen zu haben. Man hatte ihm einen besseren Schlafplatz zur Verfügung stellen wollen, aber er fühlte sich in diesem Raum wohl genug. In den letzten paar Jahren hatte er zwar ein anderes, komfortableres Leben geführt, doch die dreißig Jahre davor konnte er nicht gänzlich vergessen. Daher war der Vernehmungsraum durchaus ein behaglicher Ort für ihn.

Die zehn Jahre nach seinem 20. Geburtstag stellten die schlimmste Zeit seines Lebens dar. Es war die Zeit, nachdem er bei einem Tsunami alles verloren hatte, was jedoch nicht hieß, dass er vorher sonderlich viel besessen hätte. Sein älterer Bruder und er waren noch jung, und ihre jungen Körper stellten mehr als die Hälfte ihres Besitztums dar. Die andere Hälfte ihres Vermögens bestand aus der Erde, die das Meer nach dem Tsunami freigegeben hatte. Mit der Zeit verwandelte sich diese Erde nämlich in etwas Weißes. Die Leute sammelten dieses weiße Etwas und verkauften es. Es war Salz, das auf dem Boden, aus dem das Meerwasser verschwunden war, natürlicherweise zum Vorschein gekommen war. Für einige Jahre lebten sie gut von dem Geld, das sie mit dem Salzhandel verdienten. Aber danach wurde der Boden wieder dunkel.

Auf diesem dunklen Boden bauten die Leute Häuser. Auch der vermeintliche Ryu Jeonghun baute zusammen mit seinem Bruder ein Haus in einer Gegend, die einigermaßen weit vom Meer entfernt war. Sichtlich erfreut erzählte ihm sein Bruder, er habe einen guten Ort für ihr Haus entdeckt, und machte Witze, sie seien jung, deswegen bräuchten sie nur schnell in Richtung Festland zu rennen, wenn eine Welle in der Ferne sichtbar werde. Auch das würden sie also überleben können, und es gebe jetzt keine Probleme mehr in ihrem Leben.

Der erste Tsunami hatte den Menschen bereits vieles geraubt. Sehr viele Menschen hatten alles verloren. Die Stadt Busan bestand förmlich nur noch aus Tsunamiopfern. Doch die staatliche Unterstützung hatte ihre Grenzen, und die Regierung warnte die Bürger mehrmals, dass man jederzeit mit einer neuen Katastrophe rechnen müsse, weil die Erdkruste dort, wo die ozeanischen Platten aufeinandertrafen, nach wie vor sehr instabil sei.

Sieben Jahre nachdem die zwei Brüder ein Haus gebaut hatten, in dem sie seither lebten, suchte ein neuer Tsunami die Stadt Busan heim. Es war gerade die Zeit, in der die Einwohner so oft über den matschigen Boden gelaufen waren, dass nun endlich so etwas wie ein fester Untergrund daraus geworden war. Und es war die Zeit, in der der jüngere seinen älteren Bruder verlor. Er wurde Zeuge, wie alles, was seinem Bruder und ihm gehörte, vom Meer verschluckt wurde. Sein Bruder rannte über den Boden davon, den er selbst kultiviert hatte, und wurde ebenfalls von den Wellen verschluckt.

Nach dem zweiten Tsunami hieß es, dass sich die Erdkruste etwas stabilisiert habe, aber nicht viele interessierten sich für diese Worte. Man baute auf dem freigegebenen Boden, als dieser nicht mehr mit Salz bedeckt und wieder dunkel geworden war, einfach erneut Häuser.

Der jüngere Bruder stieg ins Boot mit dem Auftrag eines Geschäftsmannes. Dieser wünschte sich Instantnudeln im Becher, die er in seinen jungen, harten Lebensjahren gegessen hatte und die heute nicht mehr hergestellt wurden. Ein Auftrag, der viel zu lächerlich war, um dafür jemanden sein Leben riskieren zu lassen. Dieser Auftrag wäre eigentlich innerhalb von ein paar Stunden zu erledigen gewesen. Aber seitdem waren vier Jahre vergangen.

Zumindest damals, als der jüngere Bruder von jenem Ort abgereist war, hatte er gedacht, dass er einfach das mitbringen musste, was der Auftraggeber haben wollte, und dass er dafür Geld bekommen würde. Ob es sich um Instantnudeln im Becher handelte oder etwas anderes, das war ihm völlig egal. Aber als er hier ankam, waren sechs Menschen ums Leben gekommen. Die Hälfte der Mitgereisten.

Er füllte seine Tasche bis obenhin mit Instantnudeln im Becher, aber sie wog kaum etwas. Dieses geringe Gewicht beschäftigte ihn permanent. Deshalb stopfte er noch mehr Nudeln in die Tasche. Dennoch blieb die Tasche leicht. Er trug diese leichte Tasche über der Schulter und wartete auf das Boot am nächtlichen Strand, das ihn in die Zukunft zurückbringen sollte. Das geringe Gewicht bereitete ihm weiter Kopfzerbrechen. Er fühlte sich miserabel, weil er für dieses geringe Gewicht sein Leben auf der Rückfahrt noch einmal aufs Spiel setzen musste. Während der Rückreise würde wieder die Hälfte der Mitreisenden im Boot den Tod finden. Es gab keine Garantie, dass er nicht auch zu dieser Hälfte gehören würde. Was hätte er außerdem davon, wenn er lebendig zurückkehren würde? Wen hatte er dort? Er wandte sich um. Er kehrte dem Meer den Rücken.

Danach arbeitete er auf einer Baustelle, da er ohne Identität keinen anderen Job finden konnte. Etwa zwei Monate verbrachte er dort, bis Park Jongdae ihn eines Tages aufsuchte. Und ihm alles ermöglichte, was er heute hatte.

Allerdings hatte er nicht vorgehabt, so weit zu gehen. Weder sein verstorbener Bruder noch er, der den Tsunami überlebt hatte, waren von Natur aus gierige Menschen.

Park Jongdae hatte ihn zu dem gemacht, der er heute war. Für ihn war es Zeit, Jongdae zur Rechenschaft zu ziehen.

* * *

Schon am frühen Morgen hatte sich das gesamte Ermittlerteam Eins im Besprechungszimmer versammelt. Der Teamleiter stellte seine Männer zur Rede und fragte, wie ein Kerl, der noch grün hinter den Ohren war und jemanden ermordet hatte, indem er ihm ein Loch in die Seite verpasst hatte, bis in die Büroräume des Polizeireviers vordringen könne. »Wie konnte er dort auf Sie, Herr Kang Doyeong, treffen und dann noch bis zum Obduktionssaal gelangen und das Gesicht von nicht einer, sondern sage und schreibe zwölf Leichen einzeln unter die Lupe nehmen und auf dem Flur auch noch Ihnen, Herr Yang Changgeun, begegnen und dann trotzdem entkommen?« Seine Fragen stellte er allen Anwesenden, sie galten aber insbesondere Doyeong und Changgeun. Was er wirklich sagen wollte, war im Grunde genommen: »Was haben Sie beide eigentlich bisher geschafft? Nichts!«

Der Teamleiter hatte auch die Szene, in der der Eindringling aus heiterem Himmel erschienen und verschwunden war, anhand der Aufnahmen der Überwachungskameras gesehen. Aber er schien nicht zu glauben, was er sah. Die Szene, in der Changeun auf den Verdächtigen zusprang und auf dem Flurboden ins Leere fiel, fand er besonders erbärmlich.

Die Obduktion brachte keine neuen Erkenntnisse. Alle Opfer waren definitiv ertrunken. Sie waren bereits im Meer tot gewesen. Keiner wies äußere Verletzungen auf. Sehr wahrscheinlich waren sie bei einem Schiffbruch ums Leben gekommen. Beim Abgleich mit dem Ort, an dem sie zur Todeszeit vermutlich ertrunken waren, ließ sich kein Schiff ermitteln. Was ein noch größeres Problem darstellte, war, dass keiner von den zwölf Toten zu identifizieren war.

Mit bloßem Auge betrachtet, sahen alle zwölf zumindest volljährig aus. Das bedeutete, sie mussten beim Einwohnermeldeamt registriert sein, und auch ihre Fingerabdrücke sollten zu finden sein. Aber nirgendwo gab es einen Menschen, dessen Fingerabdrücke mit einem der zwölf übereinstimmten. Das Ganze war äußerst rätselhaft.

Natürlich war es nicht völlig ausgeschlossen, dass eine Person, aus welchem Grund auch immer, nicht registriert war. Aber alle zwölf? Das erschien schon sehr merkwürdig. Überdies war auch die Person, deren Fingerabdrücke mit denen von Ryu Jeonghun aus dem Vernehmungsraum übereinstimmten, im Computer einfach nicht zu finden. Yang Changgeun hatte bereits die Klinik »Hoffnung« um Hilfe beim Abnehmen der Fingerabdrücke des Mannes ohne Gesicht gebeten und diese dann überprüfen lassen; daraus hatte sich ergeben, dass der Mann ohne Gesicht zweifelsohne Ryu Jeonghun war. All das erzählte Changgeun dem selbst ernannten Ryu Jeonghun im Vernehmungsraum. Dennoch kam von diesem keine Reaktion. Er schien auch weiterhin nicht vorzuhaben, eine Aussage zu machen.

Der Teamleiter war am Ende seiner Nerven. Er wies seine Mitarbeiter an, unter den Vermisstenfällen weiterzuschauen, ob einer der zwölf infrage käme, und ansonsten abzuwarten. Sie sollten erst einmal abwarten. Auch die zwölf hätten Familie, und wenn ein Familienmitglied mehrere Tage nicht nach Hause komme, könnte sich der eine oder andere vielleicht bei der Polizei melden. Was den Eindringling betraf, so entschied man sich für eine öffentliche Fahndung. Er war auf mehreren Videos der Überwachungskameras im Polizeirevier zu sehen; darunter gab es auch einige, auf denen man sein Gesicht gut erkennen konnte. Man wollte auf eine Meldung der Bürger warten und gleichzeitig hoffte man, dass die Überwachungskameras der Stadt, die über eine Gesichtserkennungssoftware verfügten, den Jungen erkennen würden.

Die Anweisungen des Teamleiters waren für Changgeun nicht zufriedenstellend. Alle anwesenden Ermittler waren derselben Meinung. Wahrscheinlich empfand es der Teamleiter selbst, obwohl er die Anweisungen erteilt hatte, nicht wesentlich anders. Trotzdem war das mehr oder weniger alles, was die Ermittler momentan unternehmen konnten.

Im nächsten Augenblick ging die Tür des Besprechungszimmers sehr zaghaft auf. Es war Choi Seongwon. Er hatte jenseits des Einwegspiegels im Vernehmungsraum ein Nickerchen gemacht, weil Ryu Jeonghun ebenfalls geschlafen hatte.

»Herr Yang, Herr Kang, Ryu Jeonghun möchte Ihnen etwas sagen.«

* * *

Gestern war Park Jongdae vollkommen ins Leere gelaufen. Er konnte Zeitverschwendung nicht leiden. Kim Juhan war bei seiner Partei ein hochgeschätzter Kandidat gewesen, hatte die Wahl aber nicht gewonnen. Nun war er lediglich einfaches Parteimitglied, und dann sollte er vor lauter Arbeit keine Zeit für Park Jongdae haben? Jongdae hatte den gestrigen Nachmittag ausschließlich damit verbracht, auf Juhan zu warten. Er glaubte nicht an die Tugend des Wartens. Für ihn stellte das Warten die schlimmste Form von Zeitvergeudung dar. Wenn man dazu noch die Person, auf die man gewartet hatte, nicht traf, war das für ihn einfach unerträglich.

Zurück im Büro, las Jongdae den Artikel über die Leichen, die an den Strand getrieben worden waren. Insgesamt zwölf Tote. Ihm war sofort klar, dass das bestimmt diejenigen sein mussten, die auf dem Boot gewesen waren. Das Boot war jedoch für dreizehn Personen konzipiert. Das bedeutete, dass es einen einzigen Überlebenden gab, und er hatte eine Vermutung, wer dieser Jemand war. Aber warum waren die Menschen ums Leben gekommen? Es hieß, dass sie ertrunken seien. Hätten sie aber nicht im Meer auf der anderen Seite sterben müssen? Hätten die Leichen nicht an den jenseitigen statt an den diesseitigen Strand getrieben werden müssen? Wieso also? Jongdae ahnte etwas.

Er ahnte, dass Lee Uhwan seine Meinung zu spät geändert hatte. Er hatte den Schalter für den Notausstieg gedrückt, und zwar erst, nachdem sich das Boot bereits tief im Meer befunden hatte. So hatte er zwölf Menschen ermordet.

Jongdae hatte sich stets um die Toten im Boot »gekümmert«. Er hatte immer die »Verwaltung« jener Leichen übernommen. Seitdem er hier war – er war der erste Reisende aus der Zukunft –, hatte es keinen einzigen Vorfall gegeben, bei dem ein Leichnam an den hiesigen Strand getrieben worden war.

Leichen ohne Identität stiften Unruhe. Unruhe ruft Anspannung bei den Bürgern hervor, und wegen einer solchen Anspannung arbeiten Ermittler dann noch fleißiger als sonst. Das war nichts, was auf Park Jongdaes Wunschliste stand. Aus diesem Grund war er immer äußerst sorgfältig gewesen. Er kümmerte sich gewissenhaft und pedantisch um die Toten, obwohl das nicht seine Aufgabe war. Jetzt waren sage und schreibe zwölf Leichname an den Strand getrieben. Das konnte durchaus zu einem Problem werden. Nein, das war bereits zu einem Problem geworden.

Jongdae dachte kurz nach. Man würde bei keiner der zwölf Leichen klären können, um wen es sich handelte. Sie würden schließlich in Vergessenheit geraten. Sie waren bereits tot. Im Gegensatz zu ihnen hatte Uhwan überlebt und war zu ihm gekommen.

Jongdae musste um jeden Preis Uhwan für sich gewinnen.

Bis tief in die Nacht machte er sich Gedanken darüber, welche Rolle er Uhwan zuweisen sollte. Jeder hatte eine Rolle, die ihm während des Lebens in der Welt gegeben wurde. In der Welt, die Jongdae erschaffen wollte, war die Rolle jedes Einzelnen noch bedeutsamer.

Heute verließ er schon am frühen Morgen das Immobilienbüro. Er dachte kurz darüber nach, ob er Lee Uhwan aufsuchen solle, aber er ließ diesen Gedanken wieder fallen, weil er meinte, dass der Mann, der mit solch einer Handlung im Endeffekt zwölf Menschen umgebracht hatte, nicht innerhalb einiger Tage seine Meinung ändern und doch zurückgehen würde.

Die euphorische Sicherheit der Menschen, die zu ihm kamen und erzählten, sie hätten ihre Meinung geändert und wollten hierbleiben, fand Jongdae immer lächerlich. Ihn nervten die naiven Gesichter, in denen der Glaube geschrieben stand, dass sie das Leben hier quasi umsonst, ja praktisch geschenkt bekommen würden.

»Ich muss um jeden Preis Uhwan für mich gewinnen. Dann wird die Sache ihren geordneten Gang gehen«, dachte Jongdae noch einmal bei sich, so wie schon in der Nacht. Da er nun seine Gedanken geordnet hatte, machte er sich wie gestern auf den Weg zu Kim Juhan in der Hoffnung, dass das Treffen heute zustande kommen würde.

Das Parteibüro war noch geschlossen. Jongdae wartete daher in der Lobby auf den Politiker. Dieser erschien sogar etwas früher als erwartet. Er betrat die Lobby und hielt dabei sein Handy ans Ohr. Von dem Telefonat bekam Jongdae ein bisschen mit, beispielsweise dass Juhan den Abgeordneten Jeon Gwangyong treffen wollte, aber dieser nicht auf seinen Wunsch einging. Das war verständlich, weil Gwangyong jetzt die Zügel in der Hand hielt. Juhan telefonierte anscheinend nicht einmal mit dem Abgeordneten selbst, sondern mit seinem Sekretär. Er bettelte den Sekretär beinah sklavisch um ein Treffen mit dem Abgeordneten an. Wahrscheinlich lag es paradoxerweise auch an diesem kriecherischen Charakterzug Juhans, dass Jongdae die Position des Stärkeren in Zukunft lange würde beibehalten können.

»Abgeordneter Jeon wird in wenigen Jahren sein Amt abgeben wegen eines Skandals«, sagte Jongdae, während er sich Juhan näherte, der gerade genervt das Telefongespräch beendete.

»Und Sie sind?«

Park Jongdae bemühte sich sehr, seriös zu erscheinen und nicht wie jemand, der sinnlos schwadronierte. Er erzählte Juhan von den tiefgreifenden Änderungen des politischen Schauplatzes in den kommenden Jahren. Er erwähnte aber nicht, dass in zehn Jahren Kim Juhan Präsident Koreas sein würde und Jongdae ihn aktiv ausnutzen wollte. Er redete zunächst möglichst nur von seinen jetzigen Unternehmungen, die im Rahmen des Legalen lagen. Dabei versäumte er nicht, anzudeuten, dass er zu allem bereit und fähig war. Wie erwartet, lachte Kim Juhan auf.

Je detaillierter Jongdae sein Vorhaben ausführte, desto weniger vertraute Juhan ihm.

»Werde ich bei der nächsten Wahl dann Bezirksabgeordneter? Muss ich mich jetzt freuen?«, fragte Juhan ihn, nachdem er auf die Worte Jongdaes hin einige Male gelacht hatte, als ob er mit einer Witzfigur sprechen würde. Es dauerte weniger als dreißig Minuten, bis die beiden die Lokalität gewechselt hatten, von der Lobby in ein Café. Jongdae empfand die Haltung dieses Politikers als äußerst beleidigend, aber er ertrug es. Danach sagte er, dass Juhan nicht nur Bezirksabgeordneter, sondern in zehn Jahren sogar Präsident werde. Bis dahin werde er ihm sehr nützlich sein und für ihn unersetzbar werden.

Kim Juhan lachte Jongdae nach Strich und Faden aus. Allerdings änderte sich sein Blick. Zum ersten Mal seit dem Beginn des Wortwechsels schaute er sein Gegenüber ernsthaft an. Er werde Präsident. Obwohl diese Worte das Absurdeste von dem sein mussten, was der Mann, den er kaum kannte, in der letzten halben Stunde gesagt hatte, waren es genau diese Worte, die ihn seine Haltung ändern ließen.

»Warum sollte ich so etwas glauben?«, fragte er.

»Das Unglück der Hochstraße. Sie können doch die Liste der Verunglückten in die Hand bekommen. Das dürfte für Sie kein Problem darstellen, obwohl Sie die Wahl verloren haben. Nicht wahr? Auf dieser Liste steht Seo Seyeong«, sagte Jongdae und erzählte von diesem Mann, der der junge und stärkste Gegner Kim Juhans bei seiner Kandidatur zum Präsidenten gewesen wäre. Seyeong hätte die politische Karriere von Juhan bei jener Wahl beinahe endgültig beendet. Auch nach seiner Niederlage wäre er Juhan bis ans Ende seiner Tätigkeit als Politiker stets ein Dorn im Auge gewesen. Jongdae teilte seinem Gegenüber mit, dass er diesen Dorn bereits eliminiert habe. Seo Seyeong sollte eigentlich bei diesem Unglück nicht ums Leben kommen, sondern mehrere Menschen retten und dadurch zum Lokalhelden werden. Das sei ursprünglich vorgesehen gewesen, doch Jongdae selbst habe diesen Helden aus dem Leben ausradiert, und zwar für Kim Juhan. Das sei nur ein Beispiel dafür, dass Juhan viele Vorteile dadurch haben würde, mit ihm zusammenzuarbeiten. Der Politiker hörte konzentriert zu. Trotzdem konnte er dem, was ihm erzählt wurde, nicht richtig folgen.

»Seo Seyeong? Von so jemandem habe ich noch nie gehört.«

Was genau, welche Fakten musste Jongdae noch darlegen, damit er den Menschen, der vor ihm saß, überzeugen konnte? Waren die Biografien der zahlreichen Machthaber, die er in der Bibliothek in der Zukunft auswendig gelernt hatte, solch unnütze Information? Jongdae wurde ein wenig nervös.

In diesem Augenblick klingelte sein Handy. Eine ihm unbekannte Nummer. Eigentlich wollte er den Anruf nicht annehmen, jedoch wäre ein kurzes Telefongespräch eine gute Ablenkung, um seine Nervosität etwas unter Kontrolle zu bringen. Er bat Juhan um Verständnis und erhob sich.

Der Anrufer stellte sich als Ermittler Yang Changgeun vor. Jongdae erinnerte sich an ihn. Sofort fiel ihm Ryu Jeonghun ein, mit dem er gestern telefoniert hatte. Dieser hatte ihm gesagt, er werde in ein paar Stunden freigelassen. Von vornherein war es ausgeschlossen gewesen, dass ein Haftbefehl ausgestellt würde. Denn es gab nichts, was die Ermittler in Erfahrung bringen konnten; ebenso wenig konnte sich inzwischen an der Situation etwas geändert haben. Gleichwohl war der Anrufer ein Ermittler. Und dieser meldete sich auch noch direkt auf seinem Handy.

»Ich rufe Sie an, weil Sie nicht in Ihrem Büro sind. Ich dachte, dass wir vielleicht zusammen zu Mittag essen könnten.«

Jongdae war klar, dass Changgeun schon wieder sein wahres Anliegen verheimlichte und ihm lediglich eine Ausrede auftischte. So etwas hatte er noch nie leiden können. Der würde ihn doch nicht anrufen, nur weil er mit ihm essen wollte. Der hatte etwas in der Hand. Hatte man den Zyklopen wieder festgenommen? Nein, nicht deswegen. Das Problem war viel schwerwiegender als die Festnahme des Zyklopen: Ryu Jeonghun steckte immer noch im Vernehmungsraum fest. Und er hatte über ihn geredet. Mit dieser Vermutung lag er richtig. Changgeun teilte ihm nämlich mit, dass Ryu Jeonghun wörtlich gesagt habe: »Lassen Sie mich bitte mit Park Jongdae sprechen.«

Unweigerlich fragte sich Jongdae: »Welche Fakten kann Jeonghun ausgepackt haben? Wie gefährlich ist die Lage jetzt für mich? Wie ist es dazu gekommen? Womit steht das alles in Zusammenhang?«

»Soll ich zu Ihnen kommen und Sie abholen? Oder finden Sie alleine den Weg zu uns?«

Der Ermittler genoss diesen Moment offenbar. Das bedeutete, dass er definitiv etwas in der Hand hatte. Nur deswegen konnte er so locker daherreden.

»Ich finde den Weg zu Ihnen allein.«

Jongdae ging zu Kim Juhan zurück. Der zeigte offen, dass er gelangweilt war, da er kurz auf ihn hatte warten müssen. Allerdings war Jongdae mittlerweile noch nervöser als vor dem Anruf. Er musste Juhan etwas anbieten, damit dieser ihm bedingungslos vertrauen konnte.

Doch von den geschichtlichen Ereignissen, die für ein Individuum besonders erinnerungswürdig waren, gab es nicht sehr viele. Außerdem musste es sich um eines handeln, das exklusiv in Busan stattfand, und zwar in den nächsten Tagen. Jongdae durchforstete seinen Kopf. Er musste unbedingt etwas finden. Er musste sich ein einprägsames Ereignis, das bald stattfinden und an das sich jeder erinnern würde, ins Gedächtnis rufen. Er musste Juhan ein Stück der nicht allzu weit entfernten Zukunft offenbaren und dadurch sein Vertrauen gewinnen. Das musste ihm gelingen, bevor er aufs Polizeirevier ging. Die Rolle von Kim Juhan war für ihn wichtig – und sie war nach dem Anruf noch wichtiger geworden.

Doch Jongdae fand nichts. In den nächsten Jahren geschah kein Unglück in Busan, an das sich jeder erinnern würde. Er war verzweifelt. Jetzt erhob sich Kim Juhan auch noch.

Also sagte Park Jongdae: »In zehn Tagen.« Er sah auf seine Uhr, dann: »Um 10.48 Uhr.« Er schaute sich um und fuhr fort: »Das GSH-Building wird einstürzen. Teilen Sie mir Ihre Entscheidung innerhalb von zwei Tagen mit. Ob Sie an einer Zusammenarbeit interessiert sind. Sie können nachprüfen, ob Seo Seyeong auf der Liste der Toten steht und wer er war. Wenn Sie allerdings zehn Tage warten und sich erst bei mir melden, nachdem Sie den Einsturz des GSH-Buildings gesehen haben, dann bin ich bereits bei jemand anderem. Ein Präsident wird ja schließlich geformt, nicht wahr? Suchen Sie mich auf, wenn Sie Ihre Entscheidung getroffen haben.«

Kim Juhan hörte ihm wortlos zu. Der Immobilienmakler spürte, dass er Juhan überzeugt hatte. Bis zu einem gewissen Grad zumindest.

Jongdae ging aus dem Café und hielt auf einmal in seinen Schritten inne. Er hatte nicht vorgehabt, das GSH-Building zum Einsturz zu bringen. Für ihn war eigentlich nur das Polizeipräsidium der Stadt Busan von Bedeutung gewesen. Das GSH-Gebäude war das höchste unter denen, die sich in der Nähe des Polizeipräsidiums befanden. Außerdem sah es gar nicht so übel aus. Wenn das GSH-Gebäude einstürzen sollte, würde sich das sicher in die Erinnerungen der Menschen einprägen.

Nun brauchte Jongdae nur noch für den Einsturz zu sorgen. In seiner Nervosität hatte er ohne Zögern eine Entscheidung getroffen. Er war mit sich selbst zufrieden.

* * *

Nach dem Telefongespräch mit Jongdae stellte Changgeun sich vor das Immobilienbüro und blickte auf den Yeongjin Apartmentkomplex.

Ihm kam kurz in den Sinn, dass er sich nach wie vor mit einem Fall auseinandersetzen musste, dessen wahres Wesen weiter völlig im Dunkeln lag, aber vielleicht war er der Sache inzwischen schon etwas näher, als er vermutete. Bei der nicht zufriedenstellenden Teambesprechung am Vormittag hatte er sich zermürbt gefühlt, am Nachmittag aber ging es ihm schon viel besser. Er wollte schnell dafür sorgen, dass sich Park Jongdae und Ryu Jeonghun gegenübersaßen.

Daraufhin dachte er darüber nach, neben wem er Platz nehmen sollte. Er mochte es nicht, in der Mitte zu sitzen. In seinen Augen war es dumm, wenn man bei einem Kreuzverhör in der Mitte Platz nahm und zwei Gesichter abwechselnd anschaute. Die meisten Ermittler bevorzugten diesen Platz, aber nicht Yang Changgeun. Er setzte sich stets neben einen der beiden. Dann beobachtete er aus der Perspektive seines Nachbarn konzentriert dessen Gesprächspartner. So gelangte er an die Informationen, die er benötigte. Wenn er das Gesicht der Person betrachtete, die ihm gegenübersaß, konnte er nicht nur die innerlichen Regungen des Zuhörers, sondern auch die Lügen des Sprechers ausmachen. Im Gesicht eines Menschen offenbart sich vieles, jedoch nur in winzigen Nuancen. Dies ist nicht mit Augen zu erkennen, die hin und her schauen. Man darf nur einen Punkt fixieren. Konzentriert auf eine Stelle schauen. Nur so kann man das sehen, was einen interessiert. Changgeun gefielen diese Momente. Ihm gefielen die Minuten, in denen er sich überlegte, neben wem er Platz nehmen wollte. Bis morgen hatte er dafür Zeit. Ihm blieb genug Zeit zum Genießen.

* * *

Hwayeong gelangte auf eine Straße des Marktplatzes, die in Busan ziemlich berühmt sein sollte. Er bildete sich ein, dass er heute noch Uhwan finden könne, wenn er mehrere Passanten nach einer Gaststätte fragen würde, die Knochensuppe anbot. Bei den Lokalen, die Knochensuppe auf der Karte hatten, konnte man auch Eintopf mit Schweinefleisch bekommen. Die Möglichkeit, dass eine Gaststätte für Eintopf mit Schweinefleisch auch Knochensuppe anbot, war nicht komplett auszuschließen; deshalb betrug die Anzahl der Lokale, bei denen Hwayeong einen Stopp einzulegen hatte, schließlich über einhundert. Mehr als die Hälfte dieser Lokale behaupteten auch noch, das »Original« zu sein.

Allerdings war Hwayeong zur Teleportation fähig. Die Gaststätten waren auf der Stadtkarte sehr gut gekennzeichnet. Er würde etwa zehn Lokale pro Tag besuchen können, wenn er sich die Karte im Internet einprägen und sich dann dorthin teleportieren würde, selbst wenn die Möglichkeit bestand, dass er nicht genau in der Nähe des Lokals auftauchte. Also würde er innerhalb von etwa zehn Tagen Uhwan über den Weg laufen. Er begann mit den Lokalen, die sich in der Nähe seiner Wohnung befanden. Er stand vor einer Gaststätte, von der es hieß, ihre Knochensuppe sei sehr berühmt. Er drückte die Tür der Gaststätte auf.

* * *

Die Tür ging auf. Jongin schaute den Kunden an, der hereinkam. Ein junger Mann. Jongin dachte zuerst, dass er alleine sei, aber direkt hinter ihm folgte eine Frau. Ein Paar. Jongin empfing seine Gäste: »Guten Tag!«

Bei diesen Worten beugte er zwar nicht den Kopf vor und neigte auch nicht den Hals, aber er machte doch irgendwie den Eindruck, als ob er sich sehr höflich verbeugen oder vertraut den Hals neigen würde. Mit so einer Begrüßung empfing er seine Gäste immer. Die Original-Jongin-Begrüßung, die in ihm seit langer Zeit festsaß.

Uhwan war in der Küche. Er machte seit einer halben Ewigkeit einen langen Hals und schaute in den Gästebereich. Als in dem Moment die Tür aufging und Kunden eintraten, schaute er nicht zu ihnen hin. Während Jongin sie grüßte, warf Uhwan keinen Blick auf die Kunden. Er beobachtete den Chef. Er hatte durchgehend nur ihn im Blick.

Die Gäste bestellten zweimal Knochensuppe, Jongin saß wieder an der Kasse und begann, eine Zeitung zu lesen. Mit den Ohren nahm Uhwan die Bestellung auf und folgte mit den Augen weiter Jongin. Uhwan holte zwei Suppenschüsseln, schnitt das Fleisch klein und gab es in die Schüsseln. Bevor er aber mit einer Kelle die Brühe schöpfte, murmelte er etwas. Er machte dazu auch eine eigenartige Bewegung. Hätte jemand ihn dabei gesehen, hätte er wahrscheinlich nicht gewusst, was er davon halten sollte.

Uhwan stellte sich jetzt aufrecht hin und machte wieder eine Bewegung. Eine eigenartige Bewegung, bei der er weder richtig den Kopf vorbeugte noch den Hals neigte. Gleichzeitig murmelte er, diesmal etwas lauter: »Guten Tag!«

3

Die Sonne stand hoch am Himmel, als Kanghee aus dem Haus in den Hof trat, sodass keinerlei Schatten zu sehen war. Ein bisschen Regen genügte, den Boden des kleinen Hofs schnell in eine sumpfartige Landschaft zu verwandeln, doch ebenso schnell wurde er wieder trocken und fest, sobald die Sonne darauf schien. Kanghee schritt über den Hof. Da stieß ihr Fuß gegen etwas, das in der getrockneten Erde stecken geblieben war. Durch Zufall hatte Kanghee es im Vorbeigehen frei getreten. Ein Schlüssel. Sie ging näher heran und schaute ihn sich genauer an. Ein Motorradschlüssel. Sie wurde misstrauisch. Dieser Schlüssel war in den Hof gefallen, über dem der Fluch ihrer Großmutter hing, und diese Tatsache beunruhigte sie. Hastig hob sie den Schlüssel auf, bevor jemand ihn zu sehen bekam, und steckte ihn in ihre Tasche.

Sie versuchte, sich einzureden, dass jemand ihre Hausmauer für keine richtige Hausmauer gehalten habe, weil sie so niedrig und heruntergekommen war, und den Schlüssel wie Abfall einfach über die Mauer und somit in ihren Hof geworfen habe. Dennoch führten ihre Schritte sie, getrieben von innerer Unruhe, immer schneller in eine Gasse, die für Sunhee und sie eine besondere Bedeutung hatte. Die Gasse befand sich in der Nähe ihres Hauses, und dort war sie mit Sunhee stets noch einmal stehen geblieben, bevor sie ins Haus gegangen war, weil sie das immer Überwindung gekostet hatte.

In dieser Gasse stand das Motorrad. Das Flitzbike von Sunhee. Das Kostbarste für ihn auf der Welt. Kanghee betrachtete das, was ihr Freund für sie dagelassen hatte. Ohne zu zögern, fuhr sie mit dem Flitzbike zu Park Jeonggyu, Sunhees engstem Freund. Von ihm hörte sie aber nur, dass er keine Ahnung habe, wo Sunhee stecke. Es war genauso, wie sie vermutet hatte.

Sunhee war nicht auffindbar. Er war spurlos verschwunden.

Kanghee überlegte sich, ob sie sich auf den Weg zur »Busaner Knochensuppe« machen sollte. Bisher war sie mehrmals bis in die Nähe der Gaststätte gefahren, hatte dann aber immer wieder kehrtgemacht. Auf einmal fragte sie sich, ob Onkel Uhwan vielleicht Bescheid wisse, was mit Sunhee los war, aber das erschien ihr sehr unwahrscheinlich. Ob er ihrem Freund von ihrer Schwangerschaft erzählt und ihn unangemessenerweise getadelt hatte, er solle vernünftig werden, da seine Freundin sein Kind im Bauch trage? Nein, auch das hielt sie für realitätsfern.

Sie kannte Sunhee ein wenig. Sie wusste, dass er seit dem Tod seiner Mutter stets eine gewisse Nervosität in sich trug. Wenn er morgens aufstand, fragte er sich, wieso er immer noch nicht erwachsen war und was er tun sollte, wenn er auch am nächsten Morgen nicht erwachsen geworden wäre. Diese Nervosität plagte ihn unentwegt. Kanghee kam in den Sinn, dass er vielleicht gerade jetzt etwas unternahm, um ein bisschen schneller erwachsen zu werden. Sie konnte auch die Möglichkeit nicht ausschließen, dass er nie wieder zurückkam.

»Ein Baby und ein Motorrad habe ich also von ihm bekommen …«, dachte sie. Sie erhöhte die Geschwindigkeit des Flitzbikes ein wenig. »Auch ich war eines der Dinge, die kostbar für ihn waren«, dachte sie noch.