KNUCKLEDUSTER - Andrew Post - E-Book

KNUCKLEDUSTER E-Book

Andrew Post

0,0

Beschreibung

"Richtig spannende Science-Fiction mit Krimianteilen" [Lesermeinung] "Eine Geschichte, die einen abwechselnd in die Magengrube schlägt, gefangen hält und dann fast ausknockt als es zu einer bestimmten Wendung kommt. Zum großen Finale kommt konnte ich das Buch nicht mehr aus der Hand legen und musste wissen wie es ausgeht. Eine klare Leseempfehlung von mir." [Lesermeinung] Inhalt: Brody ›Knuckleduster‹ Calhoun ist ein Gangster, darauf spezialisiert, gewalttätige Ehemänner aufzuspüren und zusammenzuschlagen. Auf diese Weise verdient er sich das Geld für die teuren Batterien, mit denen seine speziellen Karotin-Linsen angetrieben werden. Denn ohne diese ist er blind, seit er das Augenlicht während seiner Zeit beim Militär verlor. Für Fremde ist er einfach nur ein Junkie mit seltsamen, orangefarbenen Augen. Für die Polizei ist er ein Wiederholungstäter mit einem beachtlichen Vorstrafenregister – über siebzehn Fälle von schwerer Körperverletzung, alle mit einer tödlichen Waffe ausgeführt: seinem Schlagring. Als Brody einer Einladung seines alten Freundes Thorp Ashbury ins ländliche Illinois folgt, ahnt er noch nicht, welche Ereignisse er damit in Gang setzt. Thorps Schwester wird vermisst, und Brody nutzt die Chance, auf diese Weise der Gewalt der Stadt zu entfliehen. Doch seine Suche nach dem vermisstem Mädchen führt ihn auf die Spur einer erschreckenden Verschwörung, die die Grundfesten all dessen erschüttert, woran er bisher geglaubt hat. Eine Verschwörung, die Brody zwingt, sich seiner eigenen Zukunft zu stellen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 527

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



KNUCKLEDUSTER

Andrew Post

»Bleibt bei den Pfeilen, ich wechsle zu den Kugeln!«, rief einer der gepanzerten Männer.

Das war für Brody das Zeichen, sich hinter die Wand der Bürozellen zu ducken. Er hörte das Klappern des Magazins, als die Wache auf scharfe Munition umstellte.

Thorp ignorierte das Gas und richtete sich mit Tränen, die seine Wangen hinunterliefen und vom Kinn tropften, auf, um zu schießen. Mit dem Arm wischte er über die geröteten Augen.

»Die schießen scharf!«, rief Brody Thorp zu. Eine Rauchgranate wirbelte in seine Richtung. Er trat sie weg und hörte sie bedrohlich zischend über den Boden gleiten.

Die gedämpften Gewehrsalven klangen auf einmal anders, dichter, fleischiger. Die Kugeln schlugen mit größerer Wucht in die Wände der Zellen ein. Über ihm war die Luft erfüllt von Sägespänen und Teilen halb verbrannter Wandbekleidung.

Brody blieb in seinem Versteck und fühlte sich nutzlos, während er seine Franklin-Johann in Händen hielt.

Thorp sah, wie er sich die tränenden Augen rieb. »Die werden uns verflucht noch mal töten! Du musst zurückschießen!«

Brody schüttelte den Kopf.

Thorp ging in Deckung und schrie ihn verzweifelt an: »Du nimmst jetzt deine verdammte Seitenwaffe und schießt, Soldat!«

»Ich kann nicht.«

This Translation is published by arrangement with Medallion Press Title: KNUCKLEDUSTER. First Published by Medallion Press, 2013.

All rights reserved. No part of this book may be reproduced or transmitted in any form or by any electronic or mechanical means, including photocopying, recording, or by any information storage and retrieval system, without written permission of the publisher, except where permitted by law.

Impressum

zweite überarbeitete Ausgabe Originaltitel: KNUCKLEDUSTER Copyright Gesamtausgabe © 2020  LUZIFER-Verlag Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael Schubert Übersetzung: Frank Rosenbauer

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2020) lektoriert.

ISBN E-Book: 978-3-95835-149-3

Sie lesen gern spannende Bücher? Dann folgen Sie dem LUZIFER Verlag aufFacebook | Twitter | Pinterest

Sollte es trotz sorgfältiger Erstellung bei diesem E-Book ein technisches Problem auf Ihrem Lesegerät geben, so freuen wir uns, wenn Sie uns dies per Mail an [email protected] melden und das Problem kurz schildern. Wir kümmern uns selbstverständlich umgehend um Ihr Anliegen und senden Ihnen kostenlos einen korrigierten Titel.

Der LUZIFER Verlag verzichtet auf hartes DRM. Wir arbeiten mit einer modernen Wasserzeichen-Markierung in unseren digitalen Produkten, welche Ihnen keine technischen Hürden aufbürdet und ein bestmögliches Leseerlebnis erlaubt. Das illegale Kopieren dieses E-Books ist nicht erlaubt. Zuwiderhandlungen werden mithilfe der digitalen Signatur strafrechtlich verfolgt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhaltsverzeichnis
KNUCKLEDUSTER
Impressum
Danksagungen
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Der Autor

Danksagungen

Lorie Jones, Emily Steele und das ganze Team von Medallion Press. Nie zuvor habe ich so engagierte Menschen getroffen, die solch Begeisterung und Liebe für das zeigen, was sie tun. Und meine Frau, die mich auf jedem Schritt und in jeder Phase begleitet hat.

—A

Kapitel 1

Künstliches Licht fiel durch ein dichtes Gewirr aus Kabeln und Leitungen auf den Mann mit den orange verfärbten Augen. Der Türsteher sah zu, wie er eine Zigarette nach der anderen rauchte, da es sonst nicht viel zu sehen gab. Als er auf die Uhr seines Handys schaute, tat der Türsteher dasselbe.

Um zehn vor elf steckte der Mann das Handy in die Tasche seiner Cabanjacke, trat seine Zigarette mit dem Stiefel aus und marschierte über die zugemüllte Allee. Es gab keine Schlange, darum ging er direkt zum Türsteher und rief über den markerschütternden Bass, der durch die Eingangstüren drang. Es war der Sound des Tages: einsame Cowboy-Countrymusik mit unpassend eingestreutem Schlagzeug. »Wie viel?«

»Zehn«, antwortete der stark tätowierte Türsteher zum hundertsten Mal an diesem Abend. Als der Mann seine ID-Karte hervorholte, musterte er ihn. Hoch aufgeschlossen, gebaut wie ein Basketballspieler. Kurz geschnittenes, schlammbraunes Haar mit einer Welle vorn, gekrümmt durch eine Tolle. Ein langes, schmales Gesicht mit grob gewachsenem Wochenbart. Vertraut.

Es dauerte einen Moment, bis sich der Türsteher an letzten Monat erinnerte. Der Mann war schon mal hier gewesen, hatte Fragen gestellt, einen Kampf begonnen und jemanden halb totgeprügelt. Welche Waffe benutzte er noch mal? Unter diesem Namen war sie allen bekannt. Totschläger? Reifenmontierhebel? Socke voller Münzen? Nein, er benutzte seine Faust, gepanzert mit schwarzem Metall über den Fingern, einen Schlagring. Aber er bildete auch den Mittelteil seines Namens, wie beim Spitznamen eines Schwergewichtskämpfers. Irgendwas ›Knuckleduster‹ irgendwas.

›Irgendwas Knuckleduster irgendwas‹ hielt ihm sichtlich ungeduldig seine ID-Karte hin.

Der Türsteher zog sie mit den tätowierten Händen durch sein Gerät und wartete, bis der Bildschirm etwas anderes, als eine Sanduhr anzeigte. Bevor ein Piepen die Abbuchung des Eintrittsgeldes bestätigte, traf ihn der Stoß einer Erinnerung.

Er sprang vor und versperrte dem Mann mit ausgestreckter Hand den Weg. »Hey, Kumpel, wir wollen heute Abend keinen Ärger. Hier sind eine ganze Reihe Typen, die nur abschalten und nicht gestört werden wollen, okay? Außerdem bist du nur einer und die sind Gott weiß wie viele. Glaubst du wirklich, es wär 'ne gute Idee hier Stress zu machen?«

Der Mann stand nur da. »Was hat Ihnen das Ding gesagt?«, fragte er kurz darauf und nickte in Richtung des Gerätes.

Der Türsteher blickte ihm in die Augen, die er nun aus der Nähe betrachten konnte. Er sah einen dunkelbraunen Farbton und noch etwas, bei dem er sich vorher nicht sicher gewesen war. Das Weiß erschien leicht in der Farbe einer Kürbisschale. Unheimlich.

Der Mann wiederholte seine Frage, was das Gerät ihm gesagt hätte, diesmal langsamer.

»G-Gar nichts«, stotterte er und wich den fixierenden Augen aus. »Der Boss wollte nicht die guten Geräte kaufen. Die hier ziehen nur Zehner ab und überprüfen, ob Sie mindestens einundzwanzig Jahre oder älter sind.« Er schüttelte das Gerät, als könnte er die Technik dadurch verbessern. »Und es sagt mir auch nicht, wer hier reingeht.« Er merkte, dass er zu viel redete und hielt die Klappe.

»Wenn ich wissen wollte, ob ein Freund von mir heute hier ist, könnten Sie es mir nicht sagen?«

»Nein.«

»Und wenn aus irgendeinem Grund heute was passiert …«

»Der Boss sagt, das ist ein Ort, an dem sich die Leute nicht beobachtet fühlen sollen«, antwortete der Türsteher und zitierte dabei den Barbesitzer und seine Vision für diesen speziellen Laden Wort für Wort. Er brauchte eine Sekunde, ehe er begriff, was der Mann mit der Frage angedeutet hatte. Er wollte gerade den Mund öffnen und eine Lüge ausspucken, um seine Spuren zu verwischen, da wurde er auch schon unterbrochen.

»Ich will nur einen Drink«, sagte der Mann mit tiefer, gleichmäßiger Stimme.

»Sie sind nicht hier, um jemanden aufzumischen? Sie haben den Kerl vor einem Monat fast getötet.« Er erinnerte sich an die blutige Szene, wie der Typ auf einer Liege herausgerollt wurde, Arm gebrochen, Kiefer zertrümmert. Hässliche Sache.

Er lächelte, zeigte dabei seine hohen, geraden Zähne und schüttelte den Kopf. »Nur ein kurzer Drink, dann bin ich weg. Pfadfinderehrenwort.«

Natürlich konnte der Türsteher jeden abweisen, den er nicht in der Bar haben wollte. Aber die Zeiten waren hart und sein Boss hatte ihm die Anweisung gegeben jeden reinzulassen, der nicht nackt war oder mit Glasscherben Symbole in den Körper ritzte. Zur Hölle, lasst auch die Bekloppten rein, die bringen Stimmung. Er gab dem Mann seine ID-Karte zurück.

»Na schön«, sagte er und ballte eine Faust mit ausgestrecktem Daumen. Er zeigte über seine Schulter und trat zur Seite. »Gehen Sie weiter. Aber wenn Sie hier irgendeinen Scheiß mit jemandem anfangen, wandern Ihre Schlagringe in meine Tasche.«

»Darauf können Sie einen lassen.« Wie-auch-immer-sein-Name-wargrinste und ging hinein.

Der Laden war voll und der Lärm überwältigend, konnte klaustrophobische Gefühle hervorrufen. Ohne Atempause ging ein Song in den anderen über. Schwere Klubmusik mit obszönen Texten, gefolgt von weiteren Country-Remixes.

Brody studierte die sich stetig verändernde Masse Tänzer unter den Stroboskoplichtern, farbigen Laserschwaden, die über ihre schweißnassen Körper schnitten. Die Lichter und konstanten Bewegungen der fuchtelnden Menge vermittelten den Eindruck eines schwankenden Gebäudes in einer endlosen Spirale der Schwerelosigkeit, in der die Leute nicht tanzten, sondern um Stabilität auf wackligem Untergrund kämpften.

Brody stand an der Rückwand, weitab der Tanzfläche, und sah der Menge fünfzehn ohrenbetäubende Minuten lang zu. Er machte sich mit der Örtlichkeit vertraut, schaute nach den Ausgängen, der Position des Personals. Von jedem Besucher nahm er so viele Details wie möglich auf und glich sie mit dem Wenigen ab, dass er über Jonah Billingsly wusste. Er hatte eine sehr grobe Beschreibung erhalten, irgendwas über ein altes Tattoo, das zu einem chaotischen Fleck verblichen war. Er kannte auch die Taten des Mannes, aber wer sah schon wie ein misshandelnder Freund aus?

Die Bar-KI musste Wind davon bekommen haben, dass sich hier jemand länger als zehn Minuten ohne ein bestelltes Getränk aufhielt. Eine Frau erschien in durchschimmerndem Blau und mit aggressiv entblößten Brüsten. Sie machte ihn an: »Hey, Süßer, wie wär's mit einem Tall Boy? Das wären nur fünfzehn Buckaroos für die nächsten zehn Minuten.«

Brody winkte dem Hologramm ab, woraufhin die Frau einklappte und verschwand, um vor jemand anderem belästigend aufzutauchen, dem sie etwas vorwackeln konnte.

Brodys Blick wanderte von einer Ecke zur anderen, vorbei an den tanzenden Transvestiten in ihren glitzernden Fummeln. Er nahm an, dass ein aggressiver Säufer, der seine Freundin jede Woche bewusstlos prügelte, nicht viel von einem Tänzer aufwies.

Brody beobachtete stattdessen die Gruppe an der Bar: Männer, gekleidet in schmutzige Overalls. Hafenarbeiter womöglich. Sie stießen mit dunklem Bier an und kippten Schnaps weg, der selbst dem stärksten Mann Tränen in die Augen trieb. Brody wusste nicht, welches Leben Jonah führte, denn Marcy hatte ihm nur vage Details gegeben. Aber es bestand eine gute Chance, dass er in dieser Gruppe stand.

Brody wollte sehen, wie viel sie preisgaben, wenn er sich als einsamer Betrunkener ausgab, der bloß ein wenig plaudern wollte. Schwankend ging er auf die verkleidete Gruppe zu. Dabei trat er absichtlich auf einen der Stahlkappenschuhe. Er entschuldigte sich überschwänglich und ließ seine Augen vergeblich nach einem Ziel suchen, um schwer betrunken zu wirken. »Hey, hey, tut mir echt leid«, lallte er.

Der Typ schob seine Strickmütze hoch, damit er den Störenfried besser sah. Als er sich in die Lichtimpulse drehte, erkannte Brody ein hartes Gesicht, aufgedunsen und rötlich, mit dicken Augenbrauen und engen Lippen, die so spröde waren, dass sie verbrannt wirkten. Er schien zu überlegen, ob er wegen des Trittes auf seinen Schuh eine Szene machen sollte, bis ein neues Bier hingestellt wurde und Brody seine ID-Karte auf die Bar klatschte, um dafür zu zahlen.

Der Barkeeper scannte sie mit seinem Handgerät und ging wieder, ohne sie berührt zu haben.

»Noch mal, tut mir leid, Mann. Wirklich.«

»Ist halb so wild. Sind sowieso alte Stiefel.« Der Hafenarbeiter klopfte Brody auf die Schulter, hob das Bier und nahm einen großen Schluck. Er ahnte nicht, dass er eindringlich beäugt wurde.

Marcy, die Frau mit dem zugeschwollenen Auge, die Brody kontaktiert hatte, erwähnte ein Tattoo am Handgelenk ihres Freundes, das einst ihren Namen beschrieben hatte, nun aber eher einem verschwommenen Strichcode gleichkam. Als der Mann erneut den Krug hob, um einen weiteren Schluck zu trinken, sah Brody das Tattoo flüchtig unter der Manschette des Overalls hervorblitzen.

Diesmal war es leicht. Kein Herumfragen, keine falschen Hinweise, kein Bezahlen für Informationen. Der erste Blödmann, den er angesprochen hatte, war der, wegen dem er hergeschickt worden war. Manchmal liefen die Dinge einfach. Es spielte keine Rolle, welches Paar Jonah und Marcy früher gewesen waren, wenn sie denn überhaupt je glücklich miteinander sein konnten. Es zählte einzig, was Jonah nun war: Ein gemeiner Säufer, der Frauen schlug.

Brody betrachtete sich manchmal als die Summe einer Gleichung. Das Plus entsprach ihm, der lebenden Summe schlechter Taten.

Er ließ die Maske des fröhlichen Betrunkenen fallen, richtete sich auf und spürte sein Herz in einem plötzlich wachen, schnellen Rhythmus schlagen.

Der Hafenarbeiter bemerkte, dass Brody immer noch dastand. Auch sein Gemüt wechselte und ging in offenkundige Feindseligkeit über. Er stellte seinen Krug mit den Schaumresten beiseite. »Nicht der richtige Laden, Nancy.«

»Bist du Jonah?«, fragte Brody, den Spott ignorierend.

Der Hafenarbeiter richtete seine Mütze. »Das ist richtig.«

»Geht dir dabei einer ab? Machst du es deswegen?«

»Wie bitte?«, entgegnete der Kerl und zog seine dicke Hand aus der gummierten Tasche des Overalls. Blaue Knöchel, geschwollenes Handgelenk; Indizien dafür, dass er kürzlich gegen etwas Hartes geschlagen hatte – wie einen Frauenschädel.

Es gab eine Boa constrictor, die von Brody lebte. Er trug sie Tag und Nacht. Beim Anblick von Jonahs verletzter Hand zog sie sich zusammen. Sie hing arglos um seine Schultern, wenn er Marcy oder andere Frauen im Gemeindezentrum traf. Wie eine Blumenkette um den Hals, ein Kuss auf der Wange, harmlos. Doch ganz langsam, als die misshandelte Freundin ihm mehr über diesen Mann erzählt hatte, war die kalte Haut der Wut um seinen Hals enger geworden.

Sein Siedepunkt war nun erreicht. Die ganze Woche hatte er von Jonah geträumt, während er geduldig auf Freitag wartete. Er wusste, dass dieser Typ nach der Arbeit mit seinen Jungs saufen ging. Solche Nächte hatten meist mit Faustschlägen in Marcys Gesicht geendet.

Dieses Mal nicht, beschloss Brody.

Er hatte Jonah trinken lassen, bis er locker und sein Blick trüb war. Bevor er seine Rechnung bezahlen und wütend heimgehen konnte, um die Frau, die er angeblich liebte, mit Hieben zu strafen, würde Brody ihn umdrehen, die Sache geraderücken und ihn auf einen neuen Kurs schicken. Statt in seiner beschissenen Wohnung seinen Rausch auszuschlafen, nachdem er seiner sterbenden Freundin ein paar Ohrfeigen verpasste, würde Jonah im Krankenhaus liegen und viel Zeit haben, über die Abwärtsspirale seines Lebens nachzudenken, die ihn dorthin gebracht hatte.

»Sie ist krank«, sagte Brody.

Jonahs Augen verengten sich. »Du kennst meine Freundin?«

»Hast du gemerkt, dass sie drei Tage lang weg war? Sie war im Gemeindezentrum, schlief auf einer Pritsche, aß kalte Suppe. Wir haben uns getroffen und geredet.«

»Bist du 'n Sozialarbeiter? Kommst hierher und willst mir sagen, dass ich zu viel trinke und meine Freundin nicht schlagen soll, obwohl mir die Schlampe mit ihrer gottverdammten Medizin die Haare vom Kopf frisst?«

»Nein. Sie hat mich gebeten, dir das zu geben.« In einer schnellen Bewegung zog Brody seine Faust aus der Manteltasche, die Finger in einem flachen Stück Metall steckend, und donnerte sie in Jonahs Wange.

Dessen Kopf wurde zurückgeworfen und die Mütze fiel herunter. Der Mann war benommen, seine Reflexe vom Alkohol betäubt. Er machte einen Schritt nach vorn und schwang seine Rechte.

Brody duckte sich und griff Jonahs Ellbogen. Er nutzte den Moment, um ihn von seinen Freunden wegzubekommen. Gewiss war ihnen das nicht entgangen, aber keiner eilte zuhilfe. Sie hielten die Griffe ihrer Bierkrüge fest und starrten wortlos vor sich hin. Als die Leute auf der Tanzfläche die Prügelei bemerkten, stellten sie ihre Rotationen ein und traten zur Seite. Manche tanzten in sicherer Entfernung weiter, offenbar zu ergriffen vom Song, um zwei betrunkenen Idioten Aufmerksamkeit zu schenken. Andere gafften ungeniert. Ein paar handelten mit hektischen Handbewegungen Wetten aus. Ein Finger auf Brody, eine offene Hand für Fünfziger.

Brody machte mit seinem Gegner kurzen Prozess und landete mit dem Messingschlagring mühelos einige Treffer. Jonah schwang wild umher. Seine weiten Schläge zogen ihn nach vorn und er stolperte in die Richtung, in der er Brody gerade vermutete. Er fluchte, zischte und sabberte. Wahrscheinlich wusste er, dass er nicht gewinnen konnte. Doch irgendetwas trieb ihn an, vielleicht tiefe Verachtung. Dabei konnte er keinen einzigen Gegenschlag landen.

Brody gab ihm einen rechten Haken, direkt auf den Mund. Der Klang von Metall auf Zähnen musste für seine Freunde deutlich hörbar gewesen sein.

Jonah nahm die Wucht auf wie jeder andere. Schläge gegen die Wange, den Bauch oder die Brust taten definitiv weh, waren aber kein Grund aufzugeben. Doch gegen die Zähne? Das streckte jeden Mann nieder. Er bedeckte seinen stark blutenden Mund und begann zu husten. Der rosa Nebel wurde vom flackernden Stroboskoplicht erleuchtet und sah aus wie die Zeitlupe einer gut platzierten Scharfschützenkugel.

Brody wartete, während Jonah sich krümmte und Zähne auf den Boden spuckte. Die anderen Hafenarbeiter sahen bloß zu, stießen einander mit dem Ellbogen an und blickten missmutig drein. Da war ein Zwiespalt in ihren Augen, als überlegten sie, einzugreifen. Aber keiner entfernte sich von der Bar und den Getränken. Brody konnte an ihren alkoholgeröteten Gesichtern ablesen, dass Jonah ein Arschloch war und diese Abreibung keineswegs überraschend kam.

»Tu das nie wieder«, befahl Brody deutlich. »Okay?«

»Ja, okay, schon gut … nur … schlag mich nicht wieder, okay?«, nuschelte er.

Dieser Schikaneur hatte seine eigene Medizin zu kosten bekommen und wiederholte jetzt die Worte seiner Opfer. Brody hätte am liebsten weitergemacht, bis Jonah bloß ein wimmernder Haufen gebrochener Knochen war, der sich seinen Bauch und das Gesicht mit Händen hielt, die nicht wussten, wohin sie als Nächstes fassen sollten, da alles wehtat.

Doch als Jonah gekrümmt seine Knie umfasste und Blut spuckte, bemerkte Brody den gelösten Würgegriff der Schlange. Ihr Hunger war gestillt. Sie hatte sich langsam entknotet und mit dem letzten Schlag abgelassen. Nun fort, hinterließ sie Leere durch den Drang zu schlagen und zu verletzen. Sie wurde gefüllt von einem Gewissen, das von irgendwo aus der Tiefe rief. Er sollte aufhören, innehalten, nachdenken, widerstehen.

Marcy wollte, dass du Jonah das antust, was er ihr angetan hat, erinnerte es. Nicht, dass du den Hurensohn umbringst.

Brody lockerte seine Faust. »Also, sind wir uns einig?«

»Ja«, würgte Jonah hervor. »Ich werde es nie wieder tun. Fuck, ichschwöre es!«

»Wunderbar.« Brody zog den klebrigen Schlagring von seinen wunden Fingern.

Als er in Richtung Ausgang lief, gingen ihm die Gäste aus dem Weg. Er verließ die Bar und zündete sich eine Zigarette an. 01:59:59 konnte er in kleinen, roten Ziffern im Augenwinkel erkennen, während er auf die Flamme zwischen seinen gewölbten Händen sah. Er musste bald nach Hause.

Brody vernahm den Türsteher, der mit verschränkten Armen und hochgezogener Augenbraue in seinem Stuhl saß. Er griff nach dem Stück Metall in seiner Tasche und bot es dem stämmigen jungen Mann an. Der Schlagring war blutverschmiert. »Schätze, ich schulde Ihnen mein Verdienstabzeichen.«

Der Türsteher starrte auf das Objekt in Brodys Hand, machte aber keine Anstalten es zu nehmen. »Nein, danke«, sagte er und schob sein Handy in die Jackentasche. »Aber ich habe Ihnen eine Mitfahrgelegenheit besorgt.«

In dem Moment vermischte sich der Schein des Barvordachs mit roten und blauen Blinklichtern. Brody blieb mit den Händen in den Taschen stehen und sah den Streifenwagen die heruntergekommene Straße entlangfahren.

Das Polizeiauto parkte. Auf der Beifahrerseite stieg ein Mann aus. Detective Nathan Pierce trug einen Fedora und einen schiefergrauen Nadelstreifenanzug. Er blickte Brody nur kopfschüttelnd an.

»Boss?«, fragte der andere Officer.

»Hol uns ein paar Aussagen.«

Detective Pierce kam lässig angelaufen, während sein Kollege die Bar betrat, und sagte: »Brody Knuckleduster Calhoun.«

Als der Ordnungshüter seinen Namen nannte, schnippte der Türsteher mit den Fingern. »Das war's! Wusst' ich's doch.«

Nathan ignorierte das und nahm die Handschellen vom Gürtel. »Nun?«

Brody seufzte und ließ die Zigarette zwischen den Lippen hängen, als er seine Handgelenke mit den blutigen Handflächen nach vorn hob.

Kapitel 2

Nathan Pierce atmete tief durch, ehe er das Blatt las, das er im dicken Ordner fand. Er blieb stehen, während Brody am Tisch eines kleinen, überhellen Raumes saß.

»Bereit? Okay, hier sind wir also wieder. Broadwell Alexander Calhoun, wohnhaft in Minneapolis, Minnesota. Ihre Strafakte lautet wie folgt: Elf Belästigungsanklagen. Zwei missachtete Unterlassungsurteile. Zehn unabhängige Beschwerden wegen böswilliger Androhungen. Siebzehn Körperverletzungsdelikte, alle begangen mit tödlichen Waffen, diesen gottverdammten Messingschlagringen, die wir jedes Mal bei Ihnen fanden«, sagte er. »Und noch ein paar weitere Vergehen, wie beispielsweise einen Mann in einen Postsammelkasten zu stecken. Ein anderer erzählte, Sie hätten jemanden während seiner Arbeit in Tofu Pagoda in die Brust geschlagen. Gebrochene Nasen, gebrochene Arme. Einmal haben Sie einem Mann beide Hände gebrochen …«, erzählte er immer weiter und weiter.

Brody hörte wortlos zu. Er konnte die Anschuldigungen und früheren Vergehen, für die er verurteilt worden war, ohnehin nicht widerlegen. Jedes Mal, wenn die Polizei zu irgendeinem Treffpunkt fuhr, an dem er diesen Kerlen ihre wohlverdiente Strafe verpasst hatte, ließ er sich widerstandslos verhaften. Er nahm die klassische Pose ein: Still die Handgelenke nach vorn, bereit für die Handschellen.

Jeder Aushilfscop konnte seine ID-Karte scannen und die geordnete Liste seiner Verfehlungen sehen. Aber sein Ruf eilte ihm voraus. Alle wussten, was es bedeutete, wenn Brody KnuckledusterCalhoun kam. Auch wenn sie dadurch selbst Teil des stadtweiten Problems der Teilnahmslosigkeit wurden, so wussten sie, dass sie ihn besser tun ließen, was er tat. Er war ein unerschütterliches Nein in der Norm widerwilliger Zustimmung. Anders als viele in der augenabgewandten Masse, blickte er standhaft in den leeren Abgrund, den sich die Menschheit gegraben hatte. Ihr starrender Wettstreit blieb ein unumstößlicher Patt.

Nathan warf den Ordner auf den Tisch. Der Inhalt rutschte vor Brody heraus – die Akten und alten Polizeifotos, auf denen er noch einen Bart trug. Der eng geschriebene, gebündelte Text, die Berichte, die Aussagen der Officers, die als Erste am Tatort gewesen waren und ihre Beobachtungen der Geschehnisse schilderten. Worte wie gewalttätigund kooperativ tauchten mehrfach auf, obwohl sie nicht zusammenpassten.

Eine der Seiten beinhaltete die vielen Sozialstunden, die er abgeleistet hatte. Brody war sich sicher, dass sie nie Beachtung fanden. Die Vergehen taugten eher zum Hofieren und Angaffen. Cops mochten keine Straftäter, die Wiedergutmachung leisteten, sondern bevorzugten jene, die davonliefen. Sie waren die fieberhaften Bluthunde der Stadt. Ihnen ging es nur um Verfolgungsjagden, auch wenn ihre Beschränkungen sie von mehr als einer höflichen Befragung in einem kleinen, fensterlosen Raum abhielten.

»Also, was halten Sie davon? Ich freue mich, Ihnen mitzuteilen, dass es bald ein paar Gesetzesänderungen gibt. Dann können wir endlich mit diesem verdammten Rumgeeiere aufhören, Sie in eine Box sperren, den Schlüssel wegwerfen und sayonara sagen. Wenn so etwas ab dem ersten Januar noch mal passiert, könnten wir das tun, wenn wir wollten«, sagte er in einem Atemzug, strich über seine grauen Schläfen und brachte sein Haar dabei leicht durcheinander. »Aber bis dahin … wie auch immer. Wir reden über heute Nacht, nicht wahr? Heute. Nummer achtzehn. Achtzehn für Sie in der Kategorie ›Männern-das-Gesicht-brechen‹, da man es nicht mehr Angriff nennen kann. Chiffon wird nicht erfreut sein.«

Brody schwieg, bekannt dafür, kein Wort zu sagen und schließlich seine Strafe zu akzeptieren, was sowieso nicht Sache der Cops war. Die Sozialarbeiter und der Bewährungsausschuss würden ihn am liebsten hinter Gittern behalten. Aber solange die Männer, die er besuchte, noch einen Puls hatten, mussten sie ihn gehen lassen und ihm sogar seine Messingschlagringe aushändigen. Denn persönliches Eigentum durfte nicht beschlagnahmt werden, wenn er die Rechnung aus der Tabakladen-Schlitzer-Faustkampf-Accessoire-Boutique vorweisen konnte. Und das konnte er.

Sowohl Brody als auch der Detective wussten, dass ihn selbst die laschen Richter mochten. Sie sahen in ihm keinen Ordnungshüter, sondern einen menschlichen Coupon. Auf monatlicher Basis tat er, was den Cops verwehrt blieb, bezahlt von der Regierung. So wurde auf Umwegen der Gerechtigkeit genüge getan. Den kleinen Bonus gab's für sie obendrauf. Die Anzahl misshandelter Frauen in der Notaufnahme hatte sich halbiert, seit Brody dieses praktische Schlupfloch entdeckt und im Gemeindezentrum seinen Job als temporärer Arbeitgeber begonnen hatte.

»Ich sag Ihnen mal was. Nicht nur Sie müssen sich ordentlich was anhören, wenn Sie diesen Mist bauen. Ich muss mir das nämlich auchanhören. Und nur, um mir Chiffon vom Arsch zu halten und es aussehen zu lassen, als versuchte ich etwas mit Ihnen, habe ich sie gebeten ihren monatlichen Besuch auf Freitag zu verlegen. Sie wird wissen, was mit Ihnen zu tun ist und wie viele Stunden es noch braucht, bis endlich die Botschaft bei Ihnen ankommt, mit dieser Scheiße aufzuhören.«

Brody dachte an seine Bewährungshelferin. Ihr beengtes kleines Büro, die ständige Gospelmusik. Die antike Süßigkeitenschale in der Ecke des Schreibtischs, die zwar zum Naschen einlud, aber nicht für ihre ›Kunden‹ gedacht war, sondern eher als Symbol der Selbstbeherrschung diente. Was würde sie wohl über Nummer achtzehn sagen? Einige weitere hundert Stunden Böden wischen? Oder schickte sie ihn mit ihrer überstrapazierten Geduld ein paar Monate in die Strafanstalt von Minneapolis, damit er eine neue Perspektive gewann, wie sie es immer androhte?

Im linken Augenwinkel erkannte Brody flüchtig 00:59:59 grellrot aufleuchten. In einer Stunde bräuchten seine Linsen eine neue Ladung. Dies drängte Brody, das Gespräch schnell zu beenden. Er räusperte sich und sprach das erste Mal, seit ihm die Handschellen angelegt worden waren. »Ich habe nichts zu sagen. Sie haben mich. Ich sitze hier freiwillig und mache Ihnen keinen Ärger. Ich habe nur getan, was ich für richtig …«

»Ja, ein edler Ritter sind Sie.« Nathan sammelte die Akte zusammen und klopfte das Ende gegen den Edelstahltisch, um die Seiten zu begradigen. Er nahm die Schlüssel aus seiner Westentasche, signalisierte Brody, die Arme zu heben, schloss die Handschellen auf und klaubte sie mit metallischem Geklapper vom Tisch. »Sie können sich nicht ewig hinter diesem Ehebrecher-Schlupfloch verstecken. Irgendwann werden wir Sie für biologische Beweise scannen müssen, um zu sehen, ob Sie diese Frauen tatsächlich gevögelt haben.«

»Vielleicht im Januar«, murmelte Brody herausfordernd.

Der Detective ignorierte den Kommentar, steckte die Handschellen ein und starrte ihn an. »Schon komisch, wie Sie behaupten, mit all den Frauen eine Beziehung zu führen, aber wenn wir Sie durchs Suchgerät schicken, kommen Sie immer sauber raus. Man sollte meinen, Sie hätten sich längst was eingefangen, seit Sie Ihre Treffen im Gemeindezentrum abhalten, der letzte Ort, an dem ich eine saubere Frau vermuten würde. Und Sie sagen mir immer, Sie hätten absolut keine Ahnung, dass Ihre neuen Freundinnen von ihren Ehemännern und Freunden geschlagen werden.«

Brody zwinkerte. »Es passiert einfach.«

Nathan verkniff sich grummelnd, was er als Nächstes sagen wollte, und beließ es dabei. »Ich weiß, dass Sie schon eine ganze Sammlung davon haben, aber ich gebe Ihnen noch eine, nur zum Spaß.« Er nahm seine Visitenkarte und schnippte sie auf den Tisch. »Wenn Sie das nächste Mal ein armes Mädchen bittet, einzuschreiten, sagen Sie ihr, sie kann mich anrufen. Überlassen Sie das den bezahlten Fachleuten, Prinz Eisenherz. Und jetzt verpissen Sie sich.«

Zurück im Bearbeitungsbereich ging Brody an einer Gruppe Huren und einer Schar lederbekleideter Buckliger vorbei, Schulter an Schulter an die Bank gekettet, sortiert nach ihren vermuteten Geschlechtern. Er ging an den Schalter, um seine Habseligkeiten abzuholen.

Der uniformierte Cop auf der anderen Seite der kugelsicheren Scheibe beendete sein Telefonat, nahm einen Schluck Kaffee und fragte Brody schließlich durch die Sprechanlage nach seinem vollständigen Namen.

Als der Cop die Sachen präsentierte und in die Metallschublade fallen ließ, zählte er auf: »Brieftasche: schwarzes Leder, silberne Kette. Inhalt: Führerschein, abgelaufene Militär-ID, ID-Geld- und Privatkontokarte, Mega-Deluxo-Megasparkarte, ebenfalls abgelaufen. Ein Butan-Feuerzeug. Sieh sich einer diese Antiquität an: ein Mobiltelefon. Eine Schachtel Zigaretten ausländischer Marke. Ein Kontaktlinsenbehälter … was hängt denn da dran?«

»Das Ladegerät«, antwortete Brody ungeduldig. Er wollte nach Hause.

»Warum zur Hölle brauchen Kontaktlinsen ein Ladegerät?«

Brody wackelte mit einem Finger neben seinem rechten Auge. »Carotin-Linsen.«

Ein bisschen schneller, wenn ich bitten darf.

»Alles klar, eine Carobin … Caritin … was auch immer. Ein Kontaktlinsenbehälter. Und ein paar Schlagringe, schwarz.« Der schwerste der Gegenstände fiel mit ungeheurem Lärm in die Schublade.

Einer der Männer hinter Brody, der von Kopf bis Fuß in einem glänzenden Lederoutfit steckte, öffnete den Reißverschluss vor seinem Mund. »Hey, Mann, das ist Bevorzugung. Bekomme ich etwa meine Peitsche wieder? Wohl kaum. Das ist Bullshit. Hören Sie mich? Das istBullshit!«

Der Beamte ignorierte die Proteste des Masochisten und knallte die Schublade unter die Trennwand. »Beschwerden über die Behandlung während Ihres Aufenthalts können Sie über unsere Webseite einreichen. Bitte denken Sie daran, dass eine Freilassung durch das St. Paul Police Department Sie nicht dazu ermutigt, das Gesetz in irgendeiner Weise zu brechen. Ihr spezieller Fall wurde zufriedenstellend geprüft, um Sie in die allgemeine Bevölkerung unter der Bedingung entlassen zu können, dass Sie fortan Ihr Bestmögliches versuchen, im Staate Minnesota keine weiteren Probleme zu verursachen oder Gesetze zu brechen. Durch das Passieren der Vordertüren stimmen Sie diesen Bedingungen zu. Danke und haben Sie noch einen schönen Tag.«

Außerhalb des Geländes, zwischen einer Reihe parkender Streifenwagen und dem Nachtverkehr, entdeckte Brody nahe eines Telefonmastes Marcy, eine Zigarette mit einem Schauder rauchend, der jeden Zentimeter ihrer kleinen, schlanken Gestalt erzitterte.

Sie begegneten sich in der Mitte des Gehwegs. Im schwachen Licht des Eingangsbereiches erschien Marcys Gesicht noch zugerichteter und geschwollener als in seiner Erinnerung. Beim ersten Treffen hatte sie frische Verletzungen getragen, aber nun, nach einer Woche Heilung, sah es irgendwie noch schlimmer aus. Eine tintenfarbene Grube verschluckte ihr gesamtes rechtes Auge, da die Haut ihrer Braue den zutagetretenden, grün-lilafarbenen Knoten nicht halten konnte. Er achtete darauf, dass Marcy seine Blicke darauf nicht bemerkte.

»Hey«, sagte sie leise und strich eine ihrer bunten Dreadlocks hinter das piercingüberladene Ohr. Sie sah ihn entschuldigend an, als sie seine geröteten Knöchel und Handgelenke bemerkte. »Ich hoffe, du bist nicht in zu große Schwierigkeiten geraten.«

»Schon okay.«

Nun folgte dieser schrecklich peinliche Moment. Der Job war getan, alles war erledigt, bis auf das kleine Detail mit der Bezahlung. Kerle für Frauen verprügeln, die er im Gemeindezentrum traf, war eine Sache. Er hatte sie aufgespürt und ihnen mit gewisser Begeisterung gegeben, was sie verdienten. Aber hinterher über Geld zu sprechen, nahm den Wind aus seinen Heldensegeln.

Ein Mann muss essen, erinnerte er sich.

Und die Batterien für die Linsen waren auch nicht gerade billig.

»Also, was haben wir ausgemacht … fünfzig?«, fragte sie, ihren Rechner im Taschenformat herausholend.

Brody nahm seine ID-Karte aus der Brieftasche und spürte, wie sich sein Magen verknotete. Es fühlte sich falsch an, doch gleichzeitig glich die Aussicht auf Geld einem Heroinschuss. Es war jedem stets willkommen, ganz egal, wo es herkam oder was jemand zu empfinden vorgab.

Er sah die Tabellen auf ihrem Touchscreen und beobachtete, wie ihre Finger, behangen mit kitschigem Modeschmuck, auf die Tasten drückten und das Menü rauf- und runterscrollten.

Als sie fertig war, blickte Marcy mit einem breiten, unnatürlich schiefen Lächeln auf, als wollte die traurigere linke Seite die rechte herunterziehen. Es tat ihr sicher weh, hielt sie aber nicht davon ab. »Ich habe dir sechzig gegeben.«

»Das hättest du nicht tun müssen«, meinte er und nahm die Karte sanft von ihrer Hand.

»Nein, ist okay. Ich habe heute meinen Lohn bekommen, und ohne Jonah zu leben, erspart mir einen Großteil der Lebensmittelkosten.« Sie lächelte wieder. »Du verdienst es für das, was du heute Nacht getan hast. Ich meine, Gewalt erzeugt Gegengewalt, richtig? Ich denke, es ist besser so. Mit wem auch immer Jonah das nächste Mal zusammenzieht, er wird es sich bestimmt zweimal überlegen, ob er wieder stockbesoffen und angepisst nach Hause kommt.«

»Wie laufen die Behandlungen?«

»Gut«, sagte sie mit spürbar neuem Auftrieb und steckte den Rechner zurück in ihre Handtasche. »Noch ein paar Sitzungen und ich bin durch. Sie mussten ein großes Stück meiner Bauchspeicheldrüse entfernen, aber ich glaube, sie haben jetzt alles. Also, ja, es läuft gut.« Sie klang dennoch zweifelnd.

Bevor Brody wusste, was geschah, trat Marcy einen Schritt vor und schlang fest ihre Arme um ihn. Sie drückte ihr Gesicht an seine Brust, die rauen Dreadlocks kitzelten sein Kinn. Ihre Wärme, sprichwörtlich und körperlich, überraschte ihn.

»Vielen, vielen Dank«, sagte sie. »Ich weiß, dass es schlecht ist, jemanden verletzen zu wollen, aber ich glaube, er hätte es sonst nie verstanden. Mir geht es besser und schlechter zugleich. Ergibt das einen Sinn?« Sie weinte. Nässe durchdrang sein Hemd und berührte ihn kühl in der Novemberluft.

Marcy löste sich von ihm und wirkte für einen Moment verlegen. Mit dem Handrücken wischte sie vorsichtig über ihr geschwollenes Auge. Sie sah ihn nicht an, stand nur da, scheinbar unsicher, was als Nächstes kam.

Aus Erfahrung ahnte Brody, dass Marcy den Wunsch verspürte, ihre Freundschaft zu vertiefen, ihn um ein gemeinsames Mittagessen zu bitten oder dergleichen. Immerhin hatten sie das Ehebrecher-Schlupfloch genutzt. Warum ihr also nicht den Gefallen tun und es offiziell machen? Doch er wusste, der Blick in ihre Augen würde ihn stets an Jonah erinnern, obwohl sie grundverschiedene Männer waren. Wie ein Lesezeichen markierte es auf ewig das schreckliche Kapitel ihres Lebens. Es könnten gute Zeiten vor ihnen liegen. Großartige sogar. Aber jedes Mal, wenn sie über die Geschichte ihres Kennenlernens gefragt würden oder selbst während ihrer Beziehung darüber reflektierten, bliebe es ein Schandfleck inmitten umgebender Schönheit. Brody entschied stattdessen, die Transaktion mit dem üblichen Satz zu beenden. »Pass auf dich auf.«

»Ja, du auch. Und danke noch mal.«

»Keine Ursache«, sagte er und drehte sich in Richtung der Stadtbahnhaltestelle um.

Als er in der Nähe seiner Wohnung aus der Bahn stieg, bog er um ein paar Ecken und spazierte durch die kalten Straßen von St. Paul. Er überquerte die Brücke nach Minneapolis und betrat die erste noch geöffnete Bodega, die ihm begegnete.

Die roten Ziffern auf seinen Linsen erinnerten ihn daran, dass ihm nur mehr zwanzig Minuten blieben, ehe er hilflos erblindete. Mit fehlender Sicht durch die Stadt zu navigieren, war unmöglich, und ein eingesetztes Sonar ohne ausreichend Schlaf, würde sein ermüdeter Geist mit Migräne bestrafen.

Er fand die richtigen Batterien am hinteren Ende des Ladens zwischen einer bunten Mischung anderer Elektronikartikel. Es waren zwei herkömmliche AA-Batterien, geschützt durch eine lange Sicherheitshalterung, zu breit für die Taschen eines Diebes. Er brachte sie zur Theke, und mit einem schnellen Wisch wurden ihm fünfzig der sechzig Credits wieder abgezogen, die er wenige Minuten zuvor erhalten hatte.

»Gute Nacht noch, oder eher Morgen, nehme ich an«, sagte der Verkäufer, auf die Uhr an der Wand schauend.

Wieder draußen, schaffte er es zur Vordertür seines Wohnblocks, ehe die letzten zehn Minuten seiner Linsen abzulaufen begannen.

Brodys Wohnung gegenüber des Fahrstuhls, die wegen der Betonverkleidung an eine Höhle erinnerte, war ein gänzlich undekorierter Raum. Fenster entlang einer Seite spendeten morgens ausreichend Licht. In einer Ecke standen ein Fernseher, eine schwarze Kunstledercouch und ein Tisch; in der Kochnische daneben Schränke ohne Türen mit einer mageren Sammlung Teller und Gläser in der Auslage, sauber und geordnet. Ein schäbiger Papiervorhang, den er auf einem Flohmarkt gekauft und mit Klebeband an der Decke befestigt hatte, trennte das Schlafzimmer von den übrigen Räumen. Es beinhaltete eine in die Ecke geworfene Matratze und einen als Mülleimer missbrauchten Nachttisch.

Brody hatte keine Lust fernzusehen oder seinen Anrufbeantworter abzuhören. Er wusste ihn ebenso leer wie den Briefkasten unten, denn er bekam nie etwas, bis auf eine monatliche Entschädigungszahlung von der Regierung mit einer netten, unpersönlichen Entschuldigung der Army auf gelbem Papier und einem beigefügten Scheck, den er nur allzu gern einlöste.

Den letzten hatte er allerdings schon ausgegeben und noch zwei Wochen bis zum Nächsten vor sich. Er dachte an die zehn verbliebenen Credits auf seinem Bankkonto. Zehn Credits. Er begann gedanklich Listen von Dingen anzufertigen, die er davon kaufen könnte, ähnlich einer geplanten Ein-Dollar-Menü-Bestellung in einem Schnellimbiss. Klopapier gehörte zur Grundausstattung wie der Softdrink beim Fast Food. Weitere grundlegende Dinge bildeten natürlich Lebensmittel, Zigaretten und Waschseife. Farbe war unwesentlich, fand aber dennoch den Weg auf seine Liste. Ein paar Flaschen Schwarz und Grau wären schön. Momentan mischte er aus den vorhandenen Farben sein eigenes Schwarz, das nach dem Trocknen wie Kobalt aussah. Das erinnerte ihn an ein frisches Gemälde draußen, links des Balkons.

Er ging zu den Fenstern, die vom Boden bis zur Decke reichten, und öffnete sie, um frische Luft hereinzulassen. Die stickige Feuchtigkeit des Trockners, den er während seiner Abwesenheit hatte laufen lassen, beschlug jede Scheibe des Lofts.

Vom Balkon aus blickte er auf die Innenstadt von Minneapolis. Ein paar Monate, nachdem er den Mietvertrag unterschrieben hatte, war die Stadtbahn erweitert worden. Sie verlief nun direkt vor seinem Fenster und verdeckte einen Großteil der Aussicht.

Ein Trio Magnetschwebewaggons glitt lautlos über die erhöhte Fahrbahn. Nur in Kurven und Biegungen kreischte das Metall. Brody schnippte seine Zigarette über das Geländer und sah zu, wie sie langsam herunter auf den Asphalt fiel. Ein Hauch Glut stob empor und wurde von der leichten Brise fortgetragen.

Mit dem noch klebrigen Gemälde in der Hand, ging er wieder rein, bereitete sich eine Tasse grünen Tee und sank neben den offenen Fenstern auf die Couch. Brody verspürte den Wunsch nach einer anderen Sorte Lärm und befahl dem Fernseher, einen klassischen Musiksender zu suchen.

Dann entspannte er ein wenig auf dem angenehm kühlenden Kunstleder. Das Gemälde hereinzuholen und Tee zu machen, war eine automatisierte Routine, die er gedankenlos erledigte. Sein Puls blieb beschleunigt, sein Geist mit den nächtlichen Aktivitäten beschäftigt.

Er beschloss, die letzten Minuten seines Sehvermögens zu nutzen, um die über Jonah Billingsly gesammelten Dokumente auf seinem veralteten Mobiltelefon zu löschen. Das half ihm meist, mit einem verrichteten Job abzuschließen. Brody war kein Polizist, er durfte keine Ermittlungsaufträge auf seinem Handy haben, doch er hatte eigene angefertigt, die fast genauso gut, aber illegal waren. Jonah bekam, was er verdiente, und Brody konnte seine Hausaufgaben zu dem Mann nun im Vertrauen löschen, dass er den Typen nie wieder würde ausfindig machen müssen. Er wusste, seine präzise Art der Gerechtigkeit bedurfte selten einer Wiederholung.

Während der Einführung der Teilnehmer in der Wiederholung der Sendung Prize Mountain, döste Brody allmählich ein. Die blinkende Anzeige in seinem rechten Augenwinkel zeigte 00:00:59 und riss ihn sogleich aus dem eintretenden Schlummer. Die letzte Minute seiner Linsen nutzte er, um den Fernseher auszuschalten, eine Flasche mit Wasser zu füllen und ins Badezimmer zu trotten, dem einzigen Raum mit einer Tür und eigenen Wänden. Er näherte sich dem Spiegel.

00:00:32. Jonah hatte ihn tatsächlich erwischt. An seinem Jochbein waren drei winzige Kratzer, wahrscheinlich von einem Reißverschluss oder einem Ring. Er betupfte sie mit Salbe.

00:00:15. Er beugte sich über das Waschbecken, öffnete die Lider weit mit seinen Fingern und fischte mit der anderen Hand die Membran von der Oberfläche seines Auges. In den verbleibenden Sekunden, bevor das sichtspendende Carotinkonzentrat nachließ und die Welt vor ihm verschwand, starrte er sein Spiegelbild an. Gleich hätte sein Körper die künstlichen Vitamine aus den Linsen abgebaut und sein Augenlicht würde in die Finsternis entgleiten.

Brody sah jemanden, der ihm so vertraut wie fremd erschien. Er sah sein Alter, seine Narben. Mit jedem müden Blinzeln wichen die orangefarbenen Verfärbungen im Weiß seiner Augen blutunterlaufener Abgekämpftheit. Danach verschwanden sie allmählich im Dunkel. Natürlich hatte er seine Blindheit nie gesehen, aber in einer betrunkenen Nacht voll Selbstmitleid ein Foto gemacht, um zu schauen, wie ein blinder Mann aussah und ob er den Blitz erkennen könnte. Am nächsten Morgen hatte er die Linsen wieder eingesetzt und das Bild betrachtet. Es zeigte statt brauner Iriden nur zwei weiße Scheiben, ähnlich der Augen einer unfertigen Puppe.

Das Ladegerät der Linsen klickte unter den neu eingelegten Batterien und bestrahlte sie mit starkem UV-Licht. Es half, sie zu desinfizieren und die mikroskopischen Carotinkraftwerke wiederherzustellen, aus der die Membran bestand.

Mit Schatten begann seine Sehkraft zu schwinden. Er hörte über das Summen der Leuchtstoffröhren hinweg drei lange Töne, die den Beginn des Aufladens signalisierten, und sah auf zwei Schalen hinab, die in Blindenschrift mit L und R gekennzeichnet waren. Die Ladeanzeige blinkte einen Moment, bevor Schwärze den verbliebenen Teil seiner Sicht verschlang, wie bei einer sich schließenden Blende.

Brody tastete nach dem Sonarbehälter, doch er lag nicht an seinem gewohnten Platz. Er überprüfte die Regale des Medizinschranks. Nichts. Brody fluchte und drehte sich um. Nun vollends in Blindheit gehüllt, streckte er seine Hände zur Badezimmerwand aus. Klatschend und greifend führten sie ihn hinaus. Der frankensteinartige Gang musste aussehen wie die grausamen Pantomimen eines Blinden.

Seine Knie stießen an die Matratze. Er ließ sich auf sie fallen und suchte mit den Fingern den kalten Betonboden nach dem Sonar ab. Auch nichts. Er stand wieder auf und ging vorsichtig durch den Raum in den Wohnbereich; dann um die Couch zum Tisch. Wieder nichts.

Brody folgte dem leitenden Summen des Kühlschranks zur Küchentheke. Es ärgerte ihn, das Gerät nicht zurückgelegt oder zur Hand genommen zu haben, bevor er die Linsen auflud.

Nachdem er die ganze Wohnung abgesucht hatte, fand er das Sonar dort, wo er mit seiner Suche hätte beginnen sollen: in seiner Manteltasche. Er öffnete die Hülle mit dem Durchmesser einer Getränkedose, nahm das münzgroße, fast fleischfarbene Gerät heraus und drückte es mit der ewig klebenden Unterseite an die Stirn. Dann schaltete er es an und die Welt kehrte wieder, wenn auch anders.

Das Gerät sendete mit einem Ping Sonarwellen im Ultraschallbereich aus. Sie stimulierten die zerstörten Sehnerven und das Gehirn, das daraus einen geistig erfassbaren Strom verschwommener Umrisse und grober Details formte. Doch Farben, nützlich, um beispielsweise das Herrenklo zu finden, konnte das Echolot nicht illustrieren. Alles war lediglich ein Meer fluktuierender Pixel und Polygone, vereinfacht zu Grundelementen und klobigen Formen, besonders aus der Entfernung. Je näher er einem Objekt kam, desto detaillierter erschien es. Die Kurven einer üppigen Frau wurden zu einer kastenförmigen, schlecht gerenderten und insgesamt langweiligen Darstellung dessen, was er eigentlich vor sich hatte. Zeit zum Fokussieren, ein klarer Verstand, vielleicht etwas Alkohol, und die Details würden schärfer und Gesichter deutlicher aussehen wie … Gesichter.

Brody ging zu den offenen Fenstern und schloss eines nach dem anderen. Das Sonar sendete einen Ping, als das letzte halb zu war. Er konnte die Stadt hinter dem Balkon sehen. Die groben Formen verwandelten die versammelten Fahrzeuge an der Kreuzung in Seifenkistenrennwagen. Gebäude glichen riesigen Würfeln in einem Muster entlang der Straße. Strukturen, wie der brüchige Asphalt oder die stickerbeklebten Telefonmasten, wurden zu einfachsten, dreidimensionalen Formen geebnet. Zettel konnten nicht gelesen werden, es sei denn ihr Aufdruck wäre in Blindenschrift geprägt. Noch kleinere Objekte, wie die Fruchtfliegen, die immer einen Weg in die Wohnung fanden, waren winzige, huschende Bewegungssignaturen, die das Sonar aufnahm und für Brody zu schwebenden Pixeln codierte. Alles war ein einziges, lebensgroßes Netzgitter-Diorama.

Er schaltete das Sonar aus, ehe sein Gehirn vollends ermüdete. Wie ein Kind, das seinen Kaugummi für den nächsten Tag aufsparte, klebte er es an die Wand und legte sich auf die nackte Matratze, um zu schlafen, was ihm kaum gelang.

Brody blinzelte in der Dunkelheit seiner zerstörten Augen und lauschte den Klängen der Stadt durch die geschlossenen Fenster, die sie nie ganz aussperren konnten. Das ständige Rauschen der Autobahn, das Quietschen der Stadtbahn, die Heizkörper der Nachbarwohnungen, das Surren der Luftfiltersysteme an jeder Ecke der Straße. Er horchte nach dem Geräusch, das ihm am nächsten war: Gegen Glas stoßende Exoskelette von Käfern in ihren vergeblichen Versuchen das wärmende Innere der versehentlich angelassenen Lampen zu erreichen. Er würde am nächsten Morgen aufwachen und sehen, dass sie die ganze Nacht gebrannt hatten und den weiteren Stapel Credits auf seiner Stromrechnung verfluchen, die er nicht bezahlen konnte.

Er musste wohl eine weitere Auftraggeberin unter den Frauen im Gemeindezentrum suchen, die nirgends anders hingehen und mit niemandem reden konnte, und die Brodys Namen, Beinamen und das alles kannte. Ein weiterer Faustwurf, ein weiterer Credit-Transfer, ein weiterer Tag im Kalender markiert, an dem er genau das tat, was er nicht tun wollte, zu dem er sich aber gezwungen fühlte.

Kapitel 3

Es war Samstag, der einzige Tag in Brodys ruheloser Woche, der nicht für das Lungern in Bars und Klubs, sondern dem Malen vorbehalten war. Er nahm die Staffelei aus der Ecke und stellte sie vor der Fensterfront auf.

Das Gemälde, an dem er arbeitete, war eine Mischung aus Acryl- und Ölfarben und zeigte eine Momentaufnahme der Stadt hinter seinen Fenstern: wehende, rote Vorhänge im Vordergrund, die Metropole bei Tageslicht im Hintergrund. Ein seltener Anblick für ihn. Sobald es fertig würde, wollte er es in die Wohnung hängen, sein einziges Stück Dekor. Alle seine früheren Malversuche verschwanden unter der neuen Farbschicht. Bei diesem hier hatte er aber ein gutes Gefühl. Dank der aufgeladenen Linsen konnte er wieder sehen. Das Bild erinnerte ihn nicht nur an seine künstlerische Ader, sondern ebenso an die Tatsache, dass die Twin Cities auch am Tage existierten.

In verschlissener Jeans und einem T-Shirt malte er knapp zwei Stunden, bevor der Hunger seine Hände schüttelte. Er machte einen Schritt zurück und betrachtete sein Werk, um es mit der Realität dahinter zu vergleichen. Es sah gut aus. Er bemerkte ein paar rote und schwarze Kleckse auf dem Boden, aber er hatte den Mietvertrag für die kommenden zwei Jahre unterschrieben, also blieb genügend Zeit, sie wegzuschrubben.

Sein Mittagessen bestand aus einem Salat mit thunfischaromatisierten Sojabällchen und hydroponischen Cocktailzwiebeln, der Beweis, dass sich der Inhalt seiner Speisekammer leerte. Während er aß, stand er vor der Leinwand. In wenigen Minuten würden sich die Lichtstimmungen angleichen und dann könnte er es sehen: seine gemalte Ansicht der Stadt bei Tag.

09:59:59 blinkte es in diesem schrecklichen Signalrot auf, das nur eine Maschine produzieren konnte. Mehr gaben die neuen Batterien offenbar nicht her. Er seufzte und ging ins Bad, um die Linsen zu entfernen, da er den letzten Rest Ladung aufsparen wollte. Er schaltete sein Sonar an und drückte es gegen die Stirn.

Beim Verlassen des Badezimmers blickte er auf die Staffelei. Nur ein flaches, farbloses Quadrat. Es hätte auch eine nasse, schwarze Leinwand sein können. Er schaltete das Sonar aus und entschied, in völliger Dunkelheit durch die Wohnung zu navigieren. Er roch Farbe und falschen Thunfisch und hörte sein Handy klingeln. Ein Fall wäre schön, eine Frau, die ihn am anderen Ende anflehte, etwas gegen ihren furchtbaren Ehemann zu tun. Er wünschte niemandem etwas Schlechtes, doch er musste tun, was getan werden musste, wenn sein Gemälde fertig werden sollte.

In der wochenlangen Einsamkeit seiner Wohnung hatte Brody oft über einen ehrlichen Bürojob nachgedacht, damit er sich so viele Batterien leisten konnte, wie er wollte. Doch es ging ihm besser als freiberuflicher Problemlöser. Es erschien ihm passend für einen Kriegsveteranen mit erstaunlich kurzer Sicherung. Aber je länger er in der Stille der Wohnung mit seinen Erinnerungen an die weinenden Frauen aus dem Gemeindezentrum und ihren aufgequollenen Gesichtern war, desto erdrückter fühlte er sich, wie in den Händen eines erbarmungslosen Riesen.

Er konnte zwei Tage in der Isolation verbringen. Nicht mehr. Dann musste er raus, leistete seine Bewährungsstunden im Gemeindezentrum ab und traf dabei wieder eine Frau, die seine Hilfe benötigte. Anschließend war er unterwegs, mit einer anderen Schlange um den Hals, deren Würgegriff sein Leben zu einem Tunnelblick verengte. Dieses Mal ging es schneller. Zwar hatte er sich erst die Nacht zuvor um Jonah gekümmert, aber er spürte bereits diese Ablenkung, diese Enge.

Im Badezimmerschrank unter dem Waschbecken kramte Brody durch einen Schuhkarton mit alten Batterien für das Linsenladegerät. Er schüttelte eine nach der anderen und horchte nach den Säulenzylindern. Schwappten sie in der alkalischen Flüssigkeit, waren sie noch gut. Blieben sie fest, bedeutete das: trocken und verbraucht. Er fand schließlich eine mit halb geronnener Flüssigkeit, setzte sie in die Unterseite des Gehäuses und schaute, ob das Licht aufblinkte. Ach ja, richtig. Blind. Seltsam wie leicht er das vergaß.

Mit dem Sonar auf der Stirn ging er zurück und reinigte die Staffelei. Er stellte das Gemälde in die Ecke neben das Fenster, damit es in der Nachmittagssonne trocknen konnte. Er nahm eine Zigarette und beschloss, die Linsen einzusetzen, ohne zu wissen, ob sie eine ausreichende Ladung abbekommen hatten. Als er den Zeigefinger vom Auge nahm, sprang die Anzeige nach oben. 10:59:59. Elf Stunden. Nicht mal ein halber Tag.

Er seufzte. »Besser als nichts.«

Brody ging durch den Vordereingang des Gemeindezentrums. Es war fast leer. Nur ein einsamer, älterer Herr spielte auf beiden Seiten eines Kickers. Brody näherte sich dem Betonglas und klopfte.

Samantha, die rüstige Angestellte, die ihn immer an den Wochenenden für seine Gemeindearbeit eintrug, sah vom Rechner in ihrer Hand auf. Sie lächelte und schob die Trennwand beiseite. Ein pudriger, saurer Schwall Chanel No. 5 wehte ihm entgegen.

»Guten Morgen, Hübscher. Was verschafft mir das Vergnügen?«

»Dachte, ich schlendere mal vorbei und leiste ein paar Stunden ab.«

»Mal sehen, was ich für Sie habe.« Samantha legte das Gerät mit dem angefangenen Kreuzworträtsel beiseite und griff nach der ausgedruckten Liste mit den Aufgaben.

Brody bemerkte, wie neu und glänzend der Rechner war. Nicht wie sein Handy mit dem gebrochenen Display und den abgeriebenen Tasten. Er musste fragen. »Haben Sie einen neuen Ordi bekommen?«

»Wie bitte?« Samantha schaute mit dolchartigem Blick über ihre dicke Halbbrille. Korrektive Chirurgie wurde immer billiger, aber sie trug nach wie vor eine Lesehilfe.

»Ordi. Ordinateur«, erklärte Brody zu ihrer Verwirrung. »Äh, Minicomputer? Neumodischer Abakus?«

Samantha schaute zum Hand-Rechner auf dem Tresen. »Oh, dieses Ding? Pete hat es mir zum Geburtstag geschenkt.« Sie blätterte zur nächsten Seite im Klemmbrett.

Brody sah, dass die meisten einfachen Arbeiten, wie Staubwischen oder Wetterschutz an die Fenster anbringen, bereits von anderen erledigt worden waren, von denen er aber noch keinen hier je gesehen hatte.

»Alles, was ich mit dem verdammten Ding machen kann, sind Anrufe und Kreuzworträtsel. Aber was braucht man in meinem Alter auch anderes? Wie haben Sie es genannt?«

»Ordinateur. Kann ich mal sehen?«, fragte er auf das Klemmbrett zeigend.

Sie reichte ihm die Liste. »Ist das französisch?«

»Ich glaube schon.«

»Warum benutzen Sie französisch? Ist das jetzt cool oder so was?«

»Nicht, dass ich wüsste. Wer immer das Teil baut, hat entschieden, dass es so heißt.« Er deutete auf eine Zeile. »Was muss auf dem Basketballfeld gemacht werden?«

»Wischen und bohnern.« Sie runzelte die Stirn, in ihren Gedanken offensichtlich noch bei den Ordis. »Die Franzosen machen die Dinger?«

»Eigentlich die Kanadier. Und das Basketballfeld würde ich gern übernehmen.« Brody lächelte und gab ihr die Liste zurück. Er legte Schlüssel, Handy und Brieftasche auf den Tresen. So lauteten die Regeln: Während der Sozialstunden mussten alle persönlichen Gegenstände abgegeben werden. Es war nicht leicht, sich in einer Bar vor den Stunden zu drücken, ohne eine ID-Karte zum Bezahlen.

Sie hob ihren Ordi, trug drei Buchstaben in ein senkrechtes Kreuzworträtselfeld ein und fragte: »Also, das ist das Wort, was man heutzutage für Telefon benutzt?«

»Und alle anderen elektronischen Geräte.«

»Alle anderen? Was ist mit dem anderen Scheiß passiert?«

Brody grinste. »Wie bitte?«

»Sie wissen schon, Laptops, PCs, Tablets, E-Books, Festplatten, USB-Sticks und was nicht alles. Die Sachen, die jeder unbedingt haben musste, weil er sonst mit zwei Dosen an einer Schnur oder mit Rauchsignalen seinen Nachbarn hätte anrufen müssen. Der ganze Scheiß eben.«

»Die sind jetzt alle in einer glücklichen Familie vereint namens Ordinateur.«

»Das ist verwirrend. Ich sag Ihnen, was ich davon halte: gar nichts.«

Brody lachte. »Ich werde es weitergeben, schließlich bin ich für den umgangssprachlichen Ausdruck technologischer Geräte verantwortlich.«

»Und schon wieder reden Sie Unsinn.« Samantha sammelte seine Sachen vom Tresen und legte sie beiseite, bis auf seine ID-Karte. Die steckte sie in den allgegenwärtigen Nautilus-Kartenleser, einer großen, schwarzen Muschel, die im Gemeindezentrum und jeder Einrichtung zu finden war: Regierung, Restaurants und so weiter.

Sie winkte ihn zum Körperscanner rechts des Bürofensters. »Ich weiß, dass Sie nichts haben, aber als ich Sie das letzte Mal einfach habe durchgehen lassen, wurde ich ziemlich ausgeschimpft.«

»Schon in Ordnung.« Brody passierte den Kunststoffdurchgang und löste keinen Alarm aus. Von der anderen Seite ging er noch mal durch. Wieder kein Alarm. Er breitete die Arme aus und sah Samantha an, als wollte er fragen: Gut?

»Okay, gehen Sie durch.«

Als sich Brody dem Aufzug näherte, sprach er über die Schulter: »Sie sollten nicht so hart mit sich sein. Sehen Sie mein Handy? Das ist uralt.«

»Das Telefon, das ich vor diesem Ding hatte, besaß noch eine Drehscheibe, Schätzchen. Versuchen Sie es mal damit, wenn Sie schon alten Trödel vergleichen wollen.«

Er lachte und drückte auf die Ruftaste. »Steht die Bohnermaschine immer noch oben in der Dienstkammer?«

»Wissen Sie doch. Sie wird sein, wo Sie sie gelassen haben. Danke, Süßer. Sie sind der Einzige, der keinen halbherzigen Job macht.«

»Oh, ist mir ein Vergnügen.«

Die Tür glitt zur Seite.

»Und dem Justizsystem auch«, stichelte Samantha kurz, bevor der Aufzug schloss.

Brody war nicht in der Lage einen anständigen Konter zu geben. Er fluchte, aber mit einem Lächeln.

Die Sporthalle war verlassen. Sie erinnerte Brody an die gähnende Leere seiner Wohnung. Auch hier hallte jeder Schritt auf dem knarrenden Holzboden von den Wänden. Die Decke bestand aus getäfelten, getönten Dachfenstern, die den Großteil des Sonnenlichts aussperrten und jeden darunter in kränkliches Gelb tauchten.

Nach einer Stunde hatte er den kompletten Boden gewischt. Er rollte die Bohnermaschine heraus und steuerte sie geduldig in kreisenden Bewegungen durch die Halle.

Das Dröhnen der Maschine und das Zischen des Schrubbers auf der lackierten Holzoberfläche zwangen Brody, an etwas anderes zu denken. Er hielt den Gashebel gedrückt und bewegte das Gerät langsam nach rechts, nach links und dann wieder nach rechts. Die Geräusche bohrten sich in seinen Kopf und erinnerten ihn an einen ähnlichen Klang.

Die Zeit spulte zurück und nahm ihn zehn Jahre in die Vergangenheit mit.

Kapitel 4

Brennendes Fleisch. Zischen und Brutzeln wie Steak auf einer Garplatte. Es hören, es riechen, aber niemals sehen. Um Brody jubelten die Menschen, lachten sogar. Jemand schrie in einer fremden Sprache, überall Siegesfanfaren. Inmitten des Lärms und der Verwirrung lehnte Brody gegen die Wand des Busdepots, die Augen tot in ihren Höhlen. Seine Beine waren schwer verbrannt. Erschüttert von Terror und Schmerz, erblindet und mit einem Pfeifen in den Ohren, aber am Leben.

Stunden zuvor bewegte er sich noch mit seiner Einheit durch einen Busbahnhof in Kairos Innenstadt. Sie hatten einen Anruf von einer anderen Einheit bekommen, dass eine Bombe dort lokalisiert und entschärft werden und sie das Gelände überprüfen sollten, nachdem das gesamte Depot geräumt worden war, bis auf einen kleinen Schlafraum im hinteren Teil. Feldbettreihen, Ventilatoren, Töpfe mit eisgekühltem Wasser und Schöpfkellen. Solche Orte konnten auch Aufständischen gehören, die von einer Geheimbasis zur nächsten zogen.

Brody erinnerte sich, dass der Bereich, den sie erkunden sollten, neben einer Reihe Telefonkabinen um die Ecke einer Bank lag. Die Einheit marschierte schnell und geordnet. Brody blieb immer ganz hinten, darum lief er meist rückwärts. Sie stoppten und gingen neben der Tür in die Hocke. Alle Zivilisten lagen auf dem Boden, duckten sich hinter Schaltern, Topfpflanzen und Fahrplantafeln. Brody klopfte auf die Schulter seines Vordermanns, der den Klaps an den Späher weitergab. Wortlos verschwand dieser um die Ecke.

Als der Mann vor ihm aufstand, tat Brody es auch. Kurz drehte er sich nach vorn, um seine Position zu checken, und erblickte sie: eine in Klebeband eingewickelte Milchkanne zwischen zwei Mülleimern. Ein Stück Angelschnur. Er hatte kaum Zeit, seinen Gedanken zu beenden, geschweige denn etwas zu rufen, bevor das Schienbein des Spähers die Schnur berührte. Das Klicken des gezogenen Stifts hallte.

Die Soldaten verharrten zunächst erschrocken. Dann brach die Formation auf. Die Männer verstreuten sich und einige unzusammenhängende Schreie drangen über ihre Lippen, als der selbst gebastelte Sprengsatz detonierte. Brody rechnete mit einer Schockwelle, umherfliegenden Fragmenten, Schlackeklumpen, Kugellagern, Holzschrauben. Aber nichts dergleichen geschah. Die anfängliche Explosion war nur eine grausame, demütigende Wand entzündeten Phosphors, blendend wie der Blitz eines Zaubertricks. Danach folgte das Herz der Bombe. Er konnte sie nur hören: ein Knall, ein wütendes Zischen. Hitze schlug ihm ins Gesicht. Dann ertönte Geschrei.

Der Corporal erzählte ihm später, dass es das Innere einer Blendgranate mit einem halben Liter Feuerzeugbenzin und Lampenöl gewesen war. Eine Molotow-Stolperfalle. Alle Männer waren bei lebendigem Leibe verbrannt, blind und unfähig wegzulaufen. Als Schlusslicht des Trupps hatte Brody den Korridor noch nicht ganz erreicht und so als Einziger überlebt. Alle anderen waren vor Ort gestorben, die Haut verkohlt, die Hirne in den Schädeln gekocht.

»Sie haben Glück, dass Sie blind geworden sind, mein Sohn«, sagte der Corporal. »Sie hätten die Jungs todsicher nicht sehen wollen, als wir Sie fanden.«

Es machte keinen Unterschied. Zu hören, wie sie brannten, als er eilig die Handschuhe auszog und seine Augen rieb, während sie ihn brauchten, war gleichermaßen grausam. Er hatte nicht mehr tun können, als dasitzen und in ihre Richtung zu starren, ohne etwas in der Schwärze seiner Sicht zu erkennen.

Einer hatte nach seiner Mutter geschrien, ein anderer nach seiner Frau Helen. Ein weiterer rief zu Gott. Trotz seiner Verletzungen dankte Brody dem Schicksal, dass sein bester Freund die Einheit eine Woche zuvor verlassen hatte. Er wäre an der Spitze der Truppe gewesen und ganz sicher gestorben.

Bald darauf wurde es ruhig, doch das Zischen hielt noch lange an.

Die Bohnermaschine stieß gegen die Wand und riss Brody aus seinen Erinnerungen. Er begrub die fürchterlichen Bilder in seinem Kopf und hielt einen Moment inne, bevor er seine Arbeit fortsetzte. Sie kamen alle paar Tage, vor allem, wenn er seine Linsen und das Sonar nicht trug. Wenn es keine visuelle Ablenkung gab, funktionierte seine Vorstellungskraft am besten. Der Filmvorführer seiner Erinnerungen war immer glücklich, wenn er die Rolle mit dem schlechten Zeug für eine Nachmittagsvorstellung fand.

Brody warf einen Blick zurück auf die längst abgeriebene Politur. Er scheuerte bloß die Seele aus dem Klarlack. Er stellte das Gerät ab und sah auf die drei Meter Turnhallenboden, die er ausbessern musste, bevor er gehen konnte.

Nachdem er den Schaden mit einer neuen Lackschicht bedeckt hatte, stellte er das Frisch-gewischt-Schild auf und ging wieder nach unten.

Samantha dankte ihm für seine Arbeit und teilte ihm die Anzahl seiner verbleibenden Stunden mit: 295. »Na bitte, Sie kommen voran«, kommentierte sie und hing das Register wieder an den Nagel. Sie legte seine Sachen auf den Tresen und er steckte sie ein.

»Was ist los?«, fragte er im Wissen, dass sie irgendeine Lebensweisheit äußern würde, egal ob er danach fragte oder nicht.

»Nur Sie«, seufzte Samantha. »Alle paar Tage kommen Sie hierher und arbeiten Ihr Stundenprotokoll ab. Ich frage mich, was Sie täten, wenn Sie nicht laufend Ärger hätten. Ob Sie dann auch noch kommen würden.«

»Ich denke, das würde ich«, sagte Brody. Die Gespräche mit ihr taten gut. Er fühlte eine Verbindung zu der freundlichen alten Dame, die er schwer greifen konnte. War sie wie eine ältere Schwester für ihn? Oder eine weise Großmutterfigur, die Lebenshilfe ausspuckte wie ein Automat, dessen Rat stets zum Empfänger passte, der nie darum bat, ihn aber immer brauchte?

»Ich frage mich, warum Sie immer die Probleme aller lösen wollen und sich nicht um Ihre eigenen Angelegenheiten kümmern. Ich meine, die Dinge, die Sie für die Leute tun, den Ärger, in den Sie sich verstricken … man könnte meinen, Sie seien lebensmüde oder so was.«

Zufrieden, dass seine Sachen in den richtigen Taschen lagen, knöpfte Brody seinen Mantel zu. »Ich bin nicht lebensmüde«, murmelte er.

Sie warf ihm einen Ich-weiß-dass-Sie-mir-Lügengeschichten-erzählen-junger-Mann-Blick zu, den er noch von seiner Großmutter kannte.

»Was? Ehrlich nicht.«

Sie nahm einen tiefen Atemzug und veranschaulichte ihre folgenden Sätze mit großen, überdeutlichen Gesten. »Es ist ein ewiger Kreislauf. Sie geraten in Schwierigkeiten, weil Sie jemanden verprügeln, dann werden Sie hergeschickt, um Ihre Arbeit zu machen, Sie treffen eine traurige Seele, die will, dass Sie ihr helfen, was Sie auch tun, geraten innoch mehr Schwierigkeiten, belügen die Polizei, sagen, dass Sie die Mädchen im romantischen Sinne treffen, obwohl die Wahrheit offensichtlich ist, und so beginnt es wieder von vorn und geht immer weiter und weiter.« Sie kreiste mit einem Finger in der Luft. »Was haben Sie davon?«

»Was haben Sie davon?«, fragte er unbeabsichtigt barsch.

»Ich bleibe auf dieser Seite des Schreibtischs. Sicher, manchmal mache ich jemandem ein Bett oder ich schiebe einem Kind einen Hotdog in die Mikrowelle, wenn seine nichtsnutzigen Eltern es hier absetzen, aber ich laufe nicht herum und suche Ärger. Dieses Geschäft wird Sie umbringen. Sie sollten sich ein nettes Mädchen angeln und mit dem Schwindel aufhören. Sagen Sie mir nur, warum Sie sich so viel Schmerz aussetzen. Sagen Sie mir, was Brody davon hat.«

»Ich weiß es nicht, Samantha«, entgegnete er und benutzte ihren Namen, um seinen Ernst auszudrücken. »Wahrscheinlich habe ich gar nichts davon. Aber das ist okay für mich.«

Der Automat war nun leer und Samantha schüttelte den Kopf. »Denken Sie daran, was ich gesagt habe.«

»Werd ich.«

»Kommen Sie diese Woche noch mal?«, rief sie ihm nach.