Kojengrab: Frau Scholles Gespür für Mord - Sophie Tammen - E-Book

Kojengrab: Frau Scholles Gespür für Mord E-Book

Sophie Tammen

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine Leiche auf Amrum – und viele Inselgeheimnisse. Polizeisekretärin Frau Scholle, Kapitän Behrendsen und  Hündin Dolores ermitteln. Unterhaltsame Inselspannung von einer Bestsellerautorin, die mit ihren Wohlfühlromanen das zauberhafte Insel- und Küstenflair einfängt. Polizeisekretärin Gabriele Scholle und ihre Hündin Dolores machen Sommerurlaub auf Amrum. Um mehr über die Geschichte der Insel zu erfahren, besucht Gaby das Museum Öömrang Hüs in Nebel. Dass eine sehr lebensecht aussehende Frauenpuppe in einem viel zu kurzen Alkovenbett sitzt, kommt ihr merkwürdig vor. Sie schaut genauer hin – und stellt fest: Es ist eine Tote! Sie trägt die traditionelle Festtagstracht der Friesen und hält einen Blumenstrauß in den Händen. Scholle verständigt Kapitän Frerk Behrendsen, der die Insel und ihre Geheimnisse wie kein anderer kennt. Warum ist die tote Journalistin Greta Jansen in Sylter und nicht Amrumer Tracht gekleidet? Hat es etwas damit zu tun, dass sie über die traditionellen Fehden zwischen den friesischen Inseln recherchiert hat? Ist sie dabei auf etwas gestoßen, das unbedingt im Verborgenen bleiben sollte? Gaby Scholle und Käpt'n Behrendsen ermitteln.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 349

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Sophie Tammen

Kojengrab: Frau Scholles Gespür für Mord

Ein Amrum-Krimi

 

 

 

Über dieses Buch

Eine Leiche, viele Inselgeheimnisse – und eine Polizeisekretärin mit dem besonderen Gespür für Mord

 

Polizeisekretärin Gabriele Scholle macht mit ihrer Hündin Dolores Urlaub auf Amrum. Als sie das Museum Öömrang Hüs in Nebel besucht, läuft Dolores auf direktem Weg zu einer Frauenpuppe, die in einem traditionellen Kojenbett sitzt. Gabriele schaut genauer hin und stellt fest: Es ist eine Tote! Sie trägt eine blau-rote Friesentracht und hält einen Blumenstrauß und einen Zettel in den Händen. Gabriele Scholle kann nicht ruhen, bis sie weiß, was geschehen ist, genauso wenig wie Kapitän Behrendsen, der die Insel und ihre Menschen wie kein anderer kennt. Die Ermordete ist die Journalistin Greta Jansen. Musste sie sterben, weil sie in ihrer Recherche über Amrum und Sylt etwas herausgefunden hat, das jemand unbedingt geheim halten will?

 

Frau Scholle, Hündin Dolores und Kapitän Behrendsen ermitteln auf Amrum.

 

Pressestimmen zu «Harpunentod»:

«Gute Unterhaltung, die Lust auf einen Amrum-Urlaub macht.» Westfälische Nachrichten

«So gibt es beim Lesen des Wohlfühlkrimis neben Spannung noch jede Menge Nordsee-Feeling dazu.» Land & Forst

«Ein Insel-Krimi, leicht und doch spannend: Die Polizeisekretärin Frau Scholle und ihr Hund ermitteln in ihrer Auszeit auf Amrum.» Laura

Vita

Sophie Tammen ist das Pseudonym der Bestsellerautorin Anne Barns, deren Erfolgsromane (u.a. «Apfelkuchen am Meer») oft an der deutschen Küste spielen. Auch in ihren Wohlfühlkrimis mit Frau Scholle spürt man die frische Meeresbrise und den Sand unter den Füßen. Wann immer die Autorin eine Auszeit braucht, reist sie nach Amrum. Dort hat sie längere Zeit gewohnt. Dabei hat sie Insel und Menschen ins Herz geschlossen.

Nach «Harpunentod» ist «Kojengrab» der zweite Inselkrimi mit der Polizeisekretärin Gabriele Scholle, Hündin Dolores und Kapitän Behrendsen.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Mai 2025

Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Covergestaltung bürosüd, München

Coverabbildung Getty Images

ISBN 978-3-644-01762-7

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

Die Nutzung unserer Werke für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG behalten wir uns explizit vor.

Hinweise des Verlags

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

 

Im Text enthaltene externe Links begründen keine inhaltliche Verantwortung des Verlages, sondern sind allein von dem jeweiligen Dienstanbieter zu verantworten. Der Verlag hat die verlinkten externen Seiten zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung sorgfältig überprüft, mögliche Rechtsverstöße waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Auf spätere Veränderungen besteht keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

 

 

www.rowohlt.de

Karte von Amrum aus dem Notizbuch von Gaby Scholle

Kapitel 1

Der Sommer machte auch vor Amrum nicht halt. Es war Mitte August, und die Sonne knallte vom wolkenlosen Himmel. Das Thermometer zeigte an die dreißig Grad. Die Luft stand still, die Hitze schien in den alten Backsteinmauern gefangen zu sein. Der Schatten, den das Haus und die Bäume davor spendeten, brachte nur wenig Linderung.

Ich holte die Flasche aus dem Rucksack, goss etwas Wasser in den mitgebrachten Napf und gab meiner Labradoodle-Hündin Dolores zu trinken. Sie schlabberte so gierig, als wären wir tagelang durch die Wüste gezogen. Ihr lockiges Fell klebte an ihrem Rücken, und ich konnte sehen, wie erleichtert sie war, endlich etwas Erfrischung zu bekommen.

Vielleicht war es doch keine so gute Idee, ausgerechnet heute ins Museum zu gehen. Aber Frerk, der pensionierte Käpt’n, der mir während meines letzten Aufenthalts auf der Insel ein guter Freund geworden war, hatte mir dringend dazu geraten. Die ehrenamtliche Führung durch das Öömrang Hüs würde Greta Jansen übernehmen. Er schätzte die Hamburger Journalistin sehr für ihre Kenntnisse der friesischen Kultur, insbesondere der nordfriesischen Inseln.

So standen wir also in dem kleinen Ort Nebel vor dem Museum und warteten – Dolores, ich und fünf weitere Teilnehmer.

Ich vermute, dass unsere Gruppe wegen des heißen Wetters so klein war. Die meisten Urlauber waren wohl lieber am Strand.

Das hatte auch ich vor. Nach dem Museumsbesuch wollte ich einen Spaziergang durch den kühlen Wald und dann am Spülsaum entlang unternehmen. Dolores liebte das Wasser, deshalb hatte ich sie mitgenommen. Aber nun zweifelte ich: Sollte ich auf die Führung verzichten und jetzt schon gehen, um ihr etwas Erfrischung zu verschaffen?

Ein Mann aus der Gruppe tigerte mit verschränkten Armen auf und ab. «Wie lange wollen die uns hier noch schmoren lassen?», fragte er. Keuchend ging er von der Tür mit der Aufschrift Anno 1683 zu einem der mit Gardinen verhangenen Fenster und versuchte hineinzusehen. Er klopfte so heftig gegen die Scheibe, dass ich befürchtete, sie würde jeden Moment herausfallen.

«Dieter, wir haben gerade mal fünf nach», sagte eine Frau, vermutlich seine, und zog ihn an der Schulter zurück. «Außerdem sind wir im Urlaub. Wir haben alle Zeit der Welt.»

Recht hatte sie. Auf Amrum gingen die Uhren anders. Ein paar Minuten Verspätung waren hier nichts Besonderes. Die Menschen auf der Insel hatten es nicht eilig. Alles ging gemächlicher, langsamer. Das war auch einer der Gründe, warum man hier Urlaub machte – um dem Stress und der Hektik des Alltags zu entfliehen. Es lag ein Zauber über der Insel, dem auch ich sofort erlegen war, als ich im April zum ersten Mal hier Urlaub machte. Und jetzt, keine vier Monate später, ging es mir wieder so. Kaum war ich von der Fähre gestiegen, hatte ich das Gefühl, alles hinter mir zu lassen – die drängenden Termine, die ständige Erreichbarkeit, den Rhythmus der Stadt, der einen nie wirklich zur Ruhe kommen lässt. Auf Amrum schienen die Tage zu fließen und ihrem eigenen, sanften Takt zu folgen, wie die Wellen, ein stetiges Hin und Her, ohne Eile.

«Frau Jansen kommt sicher gleich», sagte ich.

Dieter ging nicht darauf ein. Stattdessen deutete er auf Dolores und sah mich vorwurfsvoll an. «Der Hund darf bestimmt nicht mit rein. Und hier draußen ist es heute viel zu heiß für den armen Kerl.»

Hunde waren nicht verboten, das wusste ich vom Käpt’n, aber ich hatte keine Lust auf eine Diskussion, und außerdem hielt ich es ohnehin für vernünftiger, Dolores nicht mit ins Museum zu nehmen. Wegen des Wetters hatte er allerdings recht.

«Es ist eine Sie», erwiderte ich. «Und sie bleibt draußen.» Dolores würde unter dem Birnbaum neben den Bänken, wo sie nun schon lag, im Schatten bleiben. Wir hatten das Warten geübt, und es funktionierte wunderbar. Gab ich das entsprechende Kommando, rührte Dolores sich nicht von der Stelle und freute sich, wenn ich zurückkam. Und das nicht nur wegen der kleinen Leckerei, mit der ich sie dann für ihren Gehorsam belohnte. Wir waren zusammengewachsen, Dolores und ich, seit mein Sohn sie vor einem halben Jahr in meine Obhut gegeben hatte. Nun wollte ich sie nicht mehr missen. Sie war mir eine treue Begleiterin geworden.

Ich sah mir Dieter etwas genauer an. Mit seinem schütteren, hellbraunen Haar, das von grauen Strähnen durchzogen war, schätzte ich ihn auf Mitte fünfzig. Seine untersetzte Gestalt steckte in einem zu engen blauen Polohemd, zu dem er beigefarbene, dreiviertellange Cargohosen und Sandalen trug. Alles an ihm schrie förmlich nach «Lehrer». Die Art, wie er mich zurechtgewiesen hatte, wie er nun aufgeregt vor der Tür auf und ab ging und der ungeduldige Blick hinter seiner Brille erinnerten mich an die Sorte Pauker aus meiner Schulzeit, die geradezu zwanghaft den Überblick und vor allem die Oberhand behalten mussten. Ich tippte auf die Unterrichtsfächer Mathematik und Physik, vielleicht auch Latein. Als ich genauer darüber nachdachte, passte meine Annahme seines Berufs auch zeitlich. In ungefähr der Hälfte der Bundesländer waren noch Sommerferien und somit Reisezeit für Lehrkräfte.

Ich hätte meinen Urlaub gerne etwas später genommen, wenn der ganze Touristenrummel vorbei war, aber ab September sollte ich eine junge Verwaltungsfachangestellte, die unser Team unterstützen würde, einarbeiten. Also musste ich meinen zweiwöchigen Urlaub im August nehmen.

Die Insel war zwar gut besucht, aber frühmorgens und spätabends war der ausgedehnte Strand meist wie ausgestorben, sodass ich mit meiner Dolores in Ruhe eine große Runde drehen konnte. Die Zeit dazwischen verbrachten wir träge im Garten, wo Frerk für die Hündin einen aufblasbaren Pool aufgestellt hatte, den er mehrmals am Tag mit frischem kaltem Wasser auffüllte. Und das, obwohl er seine Ferienwohnung eigentlich nicht an Urlauber mit Vierbeinern vermietete. Er mochte keine Hunde, aber Dolores war eine Ausnahme, er hatte sie bei unserem letzten Aufenthalt ins Herz geschlossen. Und mich wohl auch, denn ich bekam einen Liegestuhl, einen kleinen Tisch und einen dunkelblauen Sonnenschirm bereitgestellt. Seitdem wir vor drei Tagen angekommen waren, tat ich das, wofür ich in den letzten Wochen neben der Arbeit keine Zeit gehabt hatte: Ich las und ließ die Seele baumeln.

«Gleich zehn nach», sagte Dieter und schaute auf seine Armbanduhr. «Die akademische Viertelstunde gebe ich ihr, dann verschwinden wir, Christine.»

So wie ich das sah, musste sie ein paar Jahre jünger sein, oder sie wirkte zumindest so. Vermutlich Ende vierzig, Anfang fünfzig. Ihr dunkelblondes Haar war glatt und schulterlang. Statt grauer Strähnen schimmerten honigblonde darin, da half sie wohl mit etwas Farbe nach. Ihre Gesichtszüge waren weich, die Stirn entspannt, ohne Spuren von Sorgenfalten, und ihre grünen Augen hatten einen warmen, ausgeglichenen Ausdruck. Ich konnte mir gut vorstellen, dass sie einen Beruf hatte, der viel Geduld und Menschenkenntnis erforderte. Vielleicht war sie Psychologin oder Sozialarbeiterin, irgendetwas, wo man die Nerven behalten und andere beruhigen musste, so wie sie es gerade mit Dieter tat.

«Ach, Schatz», sagte sie, «die Hitze macht uns allen zu schaffen.» Ihre Stimme hatte diese professionelle Gelassenheit, die ich nur von Menschen kannte, die sich durch nichts so leicht aus der Fassung bringen ließen.

Er hingegen seufzte gequält, und ich konnte nicht anders, als ihn zu fragen.

«Sind Sie Lehrer?»

Sie lachte, während Dieter nun das Gesicht verzog.

«Mein Mann nicht, aber ich», sagte sie und streichelte ihm über den Arm. «Eine in der Familie reicht.»

Die beiden waren also verheiratet, und sie war die ausgleichende Kraft zwischen ihnen, das war nicht zu übersehen. Bestimmt war sie eine gute Lehrerin. Was er wohl beruflich machte? Ich zügelte meine Neugier, und da Dieter nichts von sich aus verriet, fragte ich nicht weiter. Meine zweite Wahl fiel auf Finanzbeamter.

Als Polizeisekretärin hatte ich es immer wieder damit zu tun, wie Menschen in Erscheinung treten, zu welchen Taten sie fähig sind und dass das nicht immer deckungsgleich ist. Auch privat hatte ich Spaß daran, Menschen zu analysieren, aus kleinen Hinweisen auf ihren Beruf zu schließen und mir ihr Aussehen einzuprägen. Ich bildete mir ein, deshalb auch eine gute Zeugin zu sein, wenn es einmal so weit käme. Seit ich im April meinen ersten Kriminalfall hier auf Amrum gelöst hatte, hatte sich dieser Spleen, wie ich ihn manchmal auch bezeichnete, sogar noch verstärkt. Jede Geste, jedes Detail – die Art, wie jemand stand oder sprach, die Hände hielt oder auf Fragen reagierte, waren für mich kleine Puzzleteile zur Lösung eines Rätsels oder einfach nur zur Vervollständigung eines Bildes.

Ich blickte in die Runde und war mir sicher, dass statistisch gesehen mindestens eine Person hier schon einmal eine Straftat begangen hatte. Schließlich steckte in jedem von uns etwas Böses, mal mehr, mal weniger ausgeprägt. Mich selbst nahm ich da natürlich aus. Zwar wünschte ich ab und zu gewissen Leuten eine lange Reise zum Mond ohne Wiederkehr, aber das nur in Gedanken.

«Lehrer?» Dieter schnaubte und schüttelte den Kopf. «Ich hätte nicht die geringste Geduld für diesen Job. Außerdem bin ich doch nicht wahnsinnig.»

Seine Frau zog die Augenbrauen nach oben und sah ihn streng an. Ein Blick, den sie sicher perfektioniert hatte, um ihre Schüler zur Ruhe zu bringen. Ihr Dieter schien sich davon jedoch nicht beeindrucken zu lassen. Er zuckte nur leicht mit den Schultern.

Ein interessantes Paar. Die beiden so gegensätzlichen Eheleute würde ich so schnell nicht vergessen.

«Das Haus gefällt mir», sagte die Lehrerin und blickte nach oben. «Es hat etwas Romantisches.»

Ich trat einen Schritt zurück und folgte ihrem Blick. Sie hatte recht. Das Öömrang Hüs war eine echte Schönheit, ein typisch friesisches Kapitänshaus mit viel historischem Charme. Dafür sorgten der imposante Giebel, das gepflegte Reetdach und die Backsteinfassade, an der rote Rosen rankten. Dazu die Fenster mit den weiß-grünen Holzläden. Das denkmalgeschützte Haus hatte etwas Märchenhaftes.

Plötzlich kam Dolores zu mir rüber. Sie knurrte, bellte kurz und starrte zur Tür.

«Hey, was ist los?», fragte ich und streichelte ihren lockigen Kopf.

Hatte meine Labradoodle-Hündin etwas gewittert? Unwillkürlich musste ich an meinen letzten Urlaub auf Amrum denken, als wir abends am Strand spazieren gegangen waren. Dolores war zwar einige Monate zuvor mit Pauken und Trompeten durch die Trüffelhundeprüfung gerasselt, war aber zielsicher der Fährte eines Mannes gefolgt, den wir dann mit Harpune im Brustkorb in einem Ruderboot sitzend vorgefunden hatten.

Sie spitzte die Ohren und trat einen Schritt vor, die Nase leicht zuckend, als würde sie eine Spur aufnehmen. Das tat sie zwar öfter, aber nur selten so konzentriert. Ganz starr stand sie da.

Mit einem Mal machte sich in mir das Gefühl breit, dass hier etwas nicht in Ordnung war.

«Was ist los, Dolores?», fragte ich, stand auf, ging auf die Tür zu, gefolgt von Dolores, und drückte, einer Ahnung folgend, die Klinke nach unten.

Die Tür zum Museum war nicht abgeschlossen. Ich wusste es! Mit einem Quietschen öffnete ich sie.

Die Lehrerin stieß Dieter an. «Es ist offen, wir hätten einfach reingehen können.»

«Moin», rief ich laut. «Frau Jansen?»

Sekunden verstrichen, aber niemand reagierte. Auch weitere Rufe blieben unbeantwortet. Die anderen in der Gruppe sahen sich fragend an. Die Journalistin sollte uns um drei Uhr nachmittags vor dem Haus treffen. Aber es war zehn nach. Wo war sie? Und wieso war die Tür offen?

«Du wartest hier», sagte ich streng zu Dolores. Aber sie riss sich los und stürmte ins Haus. «Dolly!»

Ich folgte ihr in den Flur. Ein unbekannter Geruch stieg mir in die Nase, eine Mischung aus altem Mauerwerk und einem Hauch eines süßen und zugleich würzigen Duftes, irgendwie vertraut. Aber ich kam nicht auf die genaue Note.

Genauso hatte auch der letzte Fall des True-Crime-Podcasts angefangen, den ich so gern hörte. «Das Haus an der Küste» hieß die Folge. Eine junge Frau hatte an einem stürmischen Herbstabend das Reetdachhaus ihrer Großmutter betreten, wo ihr eine muffige Luft entgegenschlug – vermischt mit dem Aftershave des Mörders.

Nur am Rande nahm ich das Zimmer zu meiner Rechten wahr, dessen Tür offen stand. Im Vorübergehen warf ich einen Blick auf ein beigefarbenes Bett und einen Waschtisch mit Schüssel und Krug. Aber Dolores war geradewegs zum Ende des Korridors gelaufen: in die Küche, wie mir der mächtige große Steinofen und die vielen Kochutensilien verrieten.

«Dolores?»

Sie verschwand in den angrenzenden Raum. Dort stand sie nun knurrend und mit gesträubtem Fell vor einer lebensgroßen Frauenpuppe in schwarzer Tracht, die auf einem Stuhl neben einer Spindel saß. In einer Vitrine hinter Glas befand sich eine weitere Puppe. Ihre Tracht war ebenfalls schwarz, allerdings festlicher, mit hübscher weißer Schürze. Dazu trug sie wunderschönen Silberschmuck, der sehr filigran gearbeitet war, wie mir bei einem schnellen Blick auffiel.

Dolores knurrte wieder, ich beugte mich hinunter und legte meine Hand auf ihren Rücken. «Schau, sie ist nicht echt, Dummerchen.»

Als hätte sie mich verstanden, wurde Dolores still, wandte sich plötzlich ab und lief durch die Tür in den nächsten Raum, mit der Nase auf dem Boden schnüffelnd.

«Dolly!», schimpfte ich. «Komm zurück.»

«Die hört ja gut», meldete sich der Lehrer, der keiner war, hinter mir zu Wort.

Nicht nur er, die ganze Gruppe war uns gefolgt.

Wuff, machte Dolores im Nebenraum und gleich danach noch mal. Wuff, wuff, nicht sehr laut und kurz nacheinander – eine Aufforderung an mich. Sie hatte etwas gefunden, was sie mir zeigen wollte.

«Gibt es da ein Würstchen?», fragte Dieter in ironischem Tonfall.

Lachen konnte ich darüber nicht. Etwas war hier nicht in Ordnung. So ähnlich hatte Dolores sich auch am Strand verhalten, als sie zum Ruderboot mit dem Toten gerannt war.

Nervös ging ich ihr nach, und die anderen folgten mir in den Raum, der sich als Schlafzimmer herausstellte. Dort wartete Dolores vor einem von zwei kurzen Betten, die nebeneinander in die Wand eingelassen waren. Irgendwo hatte ich mal gehört, dass man früher halb im Sitzen schlief. So wie die Puppe darin, die an zwei Kissen gelehnt saß.

«Ganz ruhig, Schatz», sagte ich zu Dolores und streichelte sie. «Die ist auch nicht echt.»

Dann sah ich genauer hin, und mir wurde klar, dass das keine Puppe war. Dafür waren ihre Gesichtszüge zu menschlich. Es war eine echte Frau. Und sie lebte nicht mehr. Das zeigten ihre weit aufgerissenen Augen, die ins Leere starrten. Sie fielen mir zuerst auf. Dann die unnatürliche Blässe in ihrem Gesicht. Ihr Körper war völlig regungslos, die Haut wächsern. Der Tod hatte vermutlich schon vor einiger Zeit seinen unbarmherzigen Griff um sie gelegt. Ihr Mund war leicht geöffnet, als hatte in ihren letzten Momenten noch etwas sagen wollen.

Ich musste schlucken und mich zwingen, nicht wegzuschauen. Sie trug kein Nachthemd, wie ich es im Bett erwartet hätte, sondern ebenfalls eine Tracht, allerdings eine blau-rote. Ihr blondes Haar war geflochten und mit einem kleinen hellblauen Häubchen geschmückt. In der einen Hand hielt sie ein kleines Sträußchen mit weißen Rosen, die andere lag mit den Handflächen nach oben im Schoß und schien einen Zettel zu umschließen, denn zwischen ihren Fingern lugte die Ecke eines Papierschnipsels hervor.

Die nette Lehrerin neben mir räusperte sich, bevor sie fragte: «Ist das etwa Frau Jansen?»

Kapitel 2

«Das ist sie, meine Frau hat recht», krächzte Dieter. Er war bleich, sein Blick fest auf die Tote gerichtet. «Wir waren gestern schon mal hier, aber da war eine größere Besuchergruppe mit Tagesausflüglern da, und wir sind wieder gegangen, weil es uns zu voll war. Und jetzt …» Er schluckte und zuckte hilflos mit den Schultern.

War sie tot. Mein Magen zog sich zusammen, und ein Schauer lief mir über den Rücken. Einen Moment lang konnte ich mich kaum rühren, starrte nur in die leblosen Augen der Frau. Es war nach dem Fund am Strand die zweite Leiche, die ich in kürzester Zeit sah. Normalerweise begegneten mir Tote nur in den Akten, die ich als Polizeisekretärin für meine ermittelnden Kollegen vom K11 bearbeitete. Ein Fall auf Papier mit Fotos und Berichten war das eine, aber jetzt war es etwas ganz anderes. Ich spürte das bedrückende Gewicht des Todes auf eine Weise, wie ich es zuvor nie erlebt hatte. Der Anblick des Toten im Ruderboot hatte mich nicht so erschüttert wie dieser hier. Ihn hatte ich in der Dunkelheit des Abends und aufgrund der Entfernung nicht so genau gesehen. Hier war ich nur wenige Schritte von der toten Frau entfernt, in einem kleinen Raum voller beunruhigender Details: die aufgerissenen Augen, der Blumenstrauß in der Hand, die unnatürliche Stille, die sich über uns alle legte. Im Halbdunkel des Zimmers wirkte Greta Jansen wie ein stummer Vorwurf. Ich schätzte sie auf Ende dreißig, sie hatte doch noch so viel Leben vor sich.

«Ob sie im Bett eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht ist?», fragte nun eine junge Frau, die etwas abseits stand und einen lindgrünen Strohhut trug.

«Schwer zu sagen», flunkerte ich, um sie nicht zu beunruhigen. Aber mein Gefühl sagte mir, dass die Journalistin nicht einfach selbst ins Bett gestiegen und nicht mehr rausgekommen war. Greta Jansen war keines natürlichen Todes gestorben, da war ich mir sicher. Mir fielen auf die Schnelle zwar keine konkreten Mordhinweise auf, wie Schuss- oder Schnittwunden, große Mengen Blut oder gar jahrhundertealte Jagdwaffen in der Brust, wie beim letzten Fall die Harpune. Aber ich erkannte einen Tatort, wenn ich ihn sah, dafür hatten genügend Fotos auf meinem Schreibtisch gelegen. Außerdem verließ ich mich auf mein Gespür. Da hatte jemand nachgeholfen. Mein Gefühl täuschte mich selten. Meine Gedanken begannen zu rasen. Es konnte kein Zufall sein, dass Greta Jansen in ihrer Tracht, mit einem Blumenstrauß und diesem mysteriösen Zettel in den Händen hier saß. Es wirkte wie eine Szene, die jemand inszeniert hatte. Doch wofür? Um eine Botschaft zu senden? Und wenn ja, an wen?

Die Fragen ploppten wie von selbst in meinen Gedanken auf. Wer konnte es auf die junge Journalistin abgesehen haben? War es eine Beziehungstat, wie in den meisten Mordfällen? Oder steckte etwas anderes dahinter? Ich schüttelte unwillkürlich den Kopf. War es zu fassen? Kaum war ich zurück auf der Insel, kreuzte wieder eine Tote meinen Weg!

Das Stück Papier, das sie in der Hand hielt, könnte ein Hinweis sein. Ich trat näher heran, um einen Blick darauf zu werfen.

«Was machen Sie denn da?», fragte Dieter. Seine Stimme klang hohl, als ob er nicht ganz fassen konnte, was gerade geschah.

«Ich arbeite bei der Mordkommission in Wiesbaden», sagte ich mit fester Stimme und legte fachmännisch drei Finger an den Hals der Toten, um vorsichtshalber doch erst mal zu prüfen, ob sie noch einen Puls hatte. Wieso war ich nicht vorher darauf gekommen? Das ist doch das Erste, was man in einer solchen Auffindesituation machen musste, schalt ich mich insgeheim. Aber das musste ich Dieter nicht auf die Nase binden. Auch dass ich als Sekretärin nur Schreibtischtäterin war, behielt ich für mich.

Wieder stieg mir der süßlich-würzige Duft in die Nase. Es musste das Parfüm der Journalistin sein, ein ziemlich schweres, denn ich nahm es immer noch wahr, und es mussten schon einige Stunden vergangen sein, seit Greta Jansen es aufgetragen hatte. «Kein Puls», stellte ich fest und besann mich auf das, was nun wichtig war. «Könnte bitte jemand die Polizei verständigen?», fragte ich.

«Ich mache das», antwortete Dieters Frau erstaunlich ruhig. Nur ein leichtes Zittern in ihrer Stimme verriet, dass auch sie innerlich aufgewühlt war. Sie zog ihr Handy aus der Tasche, während der Rest der Gruppe wie erstarrt dastand, und hielt es an ihr Ohr.

Die Nummer der Amrumer Wache hatte ich noch im Kopf. Ich gab sie ihr durch. «Wenn niemand rangeht, wählen Sie die 110.»

Sie nickte, während sie das Handy an ihr Ohr hielt.

Das kleine Stück Papier in der Hand der Toten fiel mir wieder auf. Die Neugierde ging mit mir durch. Ich konnte nicht anders, ich musste mich hinunterbeugen und inspizierte es.

«Werden», las ich. So lautete das letzte und einzige Wort, das ich sehen konnte. Dahinter befand sich ein Punkt, es handelte sich also um das Ende eines Satzes.

Zu gerne hätte ich gewusst, was noch auf dem Zettel stand, doch ich unterdrückte den Impuls, ihn herauszuziehen. Jemand hatte der Toten eine Nachricht in die Hand gedrückt. Vielleicht hatte sie sie aber auch selbst genommen. Schade, dass ich nicht noch mehr sehen konnte, aber ich durfte die Spurensicherung nicht behindern. Da mussten Profis ran. Ich sah zu der Lehrerin.

«Es geht niemand ran. Ich wähle die 110», sagte sie.

Ich nickte. «Teilen Sie dann gleich am Anfang mit, dass wir auf Amrum sind, denn mit der 110 landet man auf dem Festland.»

Wer wusste, wo die Amrumer Polizisten Hark Jensen und Finn Petersen sich herumtrieben. Es war Nachmittag, vielleicht waren sie irgendwo auf ein Glas Tee und ein Stück Friesentorte eingekehrt. Dass sie noch auf der Wache arbeiteten, hatte ich von Frerk gehört, den ich gestern nach den beiden gefragt hatte. Die Aufklärung des Mordes im April hatte die Beamten und mich zusammengeschweißt. Ich war immer noch ein bisschen stolz, dass wir den Täter gefasst hatten. Besonders Finn Petersen hatte ich dabei wegen seiner aufrichtigen Art ins Herz geschlossen und hoffte, ihn bald wiederzusehen. Allerdings hatte ich eine harmlose Gelegenheit erwartet – vielleicht ein Plausch über die neuesten Inselgeschichten oder eine humorvolle Anekdote aus seinem Polizeialltag. Stattdessen stand ich hier am Tatort eines möglichen Verbrechens, das einer Frau das Leben gekostet hatte. Ein eisiger Schauer lief mir über den Rücken, als ich mir Greta Jansens letzte Momente ausmalte. Hatte sie gewusst, was ihr bevorstand? Hatte sie versucht, sich zu wehren? Wie war sie gestorben? Und warum?

«Guten Tag, ich heiße Christine Möllner», sagte Dieters Frau da. «Ich bin mit einer Besuchergruppe im Öömrang Hüs auf Amrum. Wir haben in einer der Schlafkojen eine Tote gefunden. Es handelt sich um eine gewisse Greta Jansen, die eigentlich die Gruppe führen sollte.» Sie schwieg einen Moment und hörte zu. «Nein, ganz sicher, sie ist tot. Wir haben zufällig eine Kommissarin hier in der Gruppe, die das überprüft hat.» Wieder lauschte sie. «Ja, einen Moment, bitte.»

Sie reichte mir das Telefon. «Er möchte Sie sprechen.»

«Gabriele Scholle hier», sagte ich. Dass ich keine Kommissarin war, tat gerade nichts zur Sache, jetzt musste gehandelt werden. «Wie Frau Möllner Ihnen eben schon mitgeteilt hat, haben wir es mit einer toten Frau im Öömrang Hüs zu tun. Die Begebenheiten deuten auf ein Verbrechen hin, Petersen und Jensen von der örtlichen Polizeiwache hier auf Amrum sollten sich beeilen. Und vielleicht geben Sie auch schon den Kollegen vom Festland Bescheid, es wäre wichtig, dass die Spurensicherung schnell eintrifft.» Ich merkte, dass meine Stimme ruhiger klang, als ich mich innerlich fühlte. Aber ich wusste, dass ich jetzt einen kühlen Kopf bewahren musste. Als Polizeisekretärin war ich es gewohnt, in Krisenmomenten ruhig zu bleiben. Wenn meine Kollegen um mich herum in Aufruhr waren, blieb ich gefasst. Außerdem war ich es nicht zuletzt als Mutter und Großmutter gewohnt, selbst in den hektischsten Momenten den Überblick zu behalten. Ein Teil von mir schaltete dann auf den vertrauten «Organisationsmodus» um, der mir schon in so mancher Krisensituation geholfen hatte.

«In Ordnung», sagte der Beamte.

Ich gab der Lehrerin das Handy zurück und wandte mich mit fester Stimme an die Gruppe: «Die Polizei wird jeden Moment eintreffen.»

«Das ist gut, aber ich glaub, mir wird schlecht», sagte eine Frau mit kurzem grauen Haarschopf. «Dürfen wir rausgehen?»

Sie hatte mich um Erlaubnis gefragt. Vielleicht hätte ich doch Kriminalkommissarin werden sollen, das Zeug dazu hätte ich auf jeden Fall gehabt. Allerdings hätte ich dann wohl schon eher dafür gesorgt, dass alle schnellstmöglich den Raum verlassen, schon allein, um mögliche Spuren des Täters – oder der Täterin – nicht zu verwischen.

«Ja», antwortete ich, «bitte gehen Sie alle raus, passen Sie dabei auf, dass Sie nichts berühren, und bleiben Sie in der Nähe. Wir müssen gleich unsere Aussagen machen.»

Die Gruppe machte sich sofort auf den Weg. Ich blieb noch einen Moment stehen und sah mich um. Erst jetzt bemerkte ich, dass der Raum nicht nur ein Schlafzimmer war, sondern wohl auch ein Wohn- oder Esszimmer. Unter dem Fenster stand eine schlichte Holzbank, davor ein Tisch. Darum herum platziert waren ein paar Stühle. Auf dem Tisch lagen eine alte Bibel, ein Psalmenbuch und eine Brille, ein Teller mit einer Brezel und eine seltsam aussehende Tasse mit einem waagerechten Steg in der Öffnung, der mich an die Silhouette einer Fledermaus erinnerte. Ich blickte noch einmal zu Greta Jansen, die sich, würde sie am Tisch sitzen, optisch gut in das Bild einfügen würde, und fragte mich, ob sie die Tracht als Arbeitskleidung für die Führungen durch das Öömrang Hüs trug oder ob es einen anderen Grund dafür gab.

Da bellte Dolores, die sich die ganze Zeit erstaunlich ruhig verhalten hatte, und rannte aus dem Zimmer.

«Dolly!», rief ich und fast im gleichen Moment wurde mir klar, dass ich etwas Wichtiges außer Acht gelassen hatte. Was, wenn die für den Mord verantwortliche Person noch im Öömrang Hüs war? Dass ich nicht früher daran gedacht hatte! Mit einem mulmigen Gefühl sah ich mich um. Natürlich war niemand zu sehen. Aber es konnte sein, dass er oder sie noch hier war. Ich machte also, dass ich Land gewann.

Vor der Tür, wo die anderen auf mich warteten, atmete ich erleichtert auf, ließ mir aber nicht anmerken, dass mir der Schreck noch in den Gliedern steckte. Ich wollte niemanden verängstigen. Dafür gab es auch keinen Grund, wie ich feststellte, denn unter dem Birnbaum zu unserer Linken saß der Auslöser für Dolores’ plötzliche Flucht aus dem Öömrang Hüs. Es war ein farbenprächtiger Fasan. Gö-gock, gö-gock, machte er. Dolores stand etwa zwei Meter von ihm entfernt, regungslos, die Ohren angelegt, das rechte Vorderbein um neunzig Grad angewinkelt, und starrte den Vogel an. Aber der ließ sich von ihr nicht beirren. Gö-gock, tönte er wieder und stolzierte in aller Seelenruhe davon.

«Dolly», befahl ich, bevor sie auf dumme Gedanken kam. «Sitz!»

Sie brummte unwillig, gehorchte aber.

«Braves Mädchen», sagte ich. Und wusste nicht, was wir nun tun sollten, bis die Polizei eintraf. Den anderen schien es ähnlich zu gehen. Unschlüssig standen wir vor dem Haus.

«Was ist das für eine Rasse?», fragte Dieter schließlich und deutete auf Dolores, die den Fasan immer noch im Blick hielt, als ob sie ihn mit bloßem Anstarren festhalten könnte.

«Eine Labradoodle-Dame», erklärte ich. «Labrador mit Pudel.»

«Eine Gute bist du», sagte Dieter nun mit weicher Stimme zu Dolores und sah zu mir. «Und sehr hübsch. Sie sieht so plüschig aus.»

Meine Hündin war eine Herzensbrecherin, sie knackte auch die schwierigsten Fälle. «Sie ist ein Schatz.» Ich schaute wieder zum Öömrang Hüs und wurde ruhiger, denn Dolores hätte es sicherlich bemerkt, wenn der Täter oder die Täterin noch da gewesen wäre.

Wir setzten uns alle auf die beiden Bänke am Zaun und warteten. Dolores legte sich in den Schatten unter dem Birnbaum, wohl in der Hoffnung, der Fasan könne zurückkommen. Frerk kam mir in den Sinn und dass er nichts gegen Hunde, sondern gegen ihre Besitzer hatte, die ihre Vierbeiner unangeleint durch die unter Naturschutz stehenden Dünen strolchen ließen. Er setzte sich ein für seine Insel, die Natur, die Kultur und Traditionen Amrums. Und das war gut so. Ich bewunderte ihn für seinen Einsatz und war aufgrund seiner Empfehlung hier. Er hatte gewollt, dass ich etwas über seine geliebte Insel erfahre. Was würde er wohl sagen, wenn er erfuhr, dass Greta Jansen nicht mehr dazu gekommen war, ihr Wissen an uns weiterzugeben? Mir fiel auf, dass auch der Harpunen-Mord auf der Insel im Zusammenhang mit einer Führung gestanden hatte, aber das konnte nur ein Zufall sein.

«Ich heiße übrigens Gaby», sagte ich zur Gruppe und schaute alle reihum an. Auf Amrum duzte man sich, zudem fand ich es auch den Umständen entsprechend angemessen. «Und um Missverständnisse vorzubeugen: Ich bin keine Kommissarin, sondern Polizeisekretärin, und zwar beim K11 in Wiesbaden.» Beim letzten Fall hier auf Amrum hatte ich versäumt, das gleich zu Beginn klarzustellen. Das sollte mir nicht noch mal passieren. Als junge Frau hatte ich vorgehabt, Kommissarin zu werden, war dann aber im Büro gelandet. Mit zweiundsechzig Lebens- und fast vierzig Dienstjahren konnte ich jedoch guten Gewissens behaupten, dass ich über allerhand Ermittlungserfahrung verfügte, wenn auch nur passiv. Immerhin hatte ich im Laufe der Jahre einige Fälle begleitet und so manches Detail am Rande mitbekommen, das sich als nützlich erwies. Auch wenn mein Platz am Schreibtisch war, so kannte ich doch die Abläufe und Funktionen einer Ermittlung. Und dann war da ja auch noch der Fall, den ich gemeinsam mit dem Käpt’n aufgeklärt hatte.

«Ach was, aus Wiesbaden!» Die Strohhutfrau lächelte, und nun sah ich die Ähnlichkeit mit der grauhaarigen Frau. Sie hatten die gleiche Mundpartie mit einer deutlich fülligeren Unterlippe im Vergleich zur Oberlippe. Sie waren wohl Mutter und Tochter. Es wunderte mich, dass sie nicht auf meine Erläuterung einging, für sie schien es keine Rolle zu spielen, dass ich keine echte Ermittlerin war. «Da kommen wir auch her, aus Biebrich. Ein weiter Weg, aber was tut man nicht alles für ein paar Tage Nordsee?»

«Ja, die Welt ist klein. Dann sind wir sozusagen fast Nachbarn, ich wohne in Stadtmitte», erklärte ich. Etwa sechs Minuten mit dem Rad zum BKA entfernt, wenn ich flott in die Pedale trat.

«Wir sind aus Merzig», sagte Christine, und Dieter fügte «Das liegt im Saarland» hinzu.

Wir sahen zu dem großen Grauhaarigen.

«Ich komme aus Hamburg», sagte er.

Bisher hatte er kein Wort von sich gegeben. Nun blickte ich ihn überrascht an. Seine Stimme klang warm und dunkel. Sie erinnerte mich an die eines Schauspielers, aber mir fiel spontan nicht ein, an welchen.

«Sind Sie Synchronsprecher?», fragte die Frau mit Strohhut.

Auch ihr war das schöne Timbre also aufgefallen.

Der Hamburger schüttelte den Kopf, und ich betrachtete ihn etwas genauer. Er hatte volles graues Haar und erstaunlich blaue Augen, wie ich nun feststellte. Seine Kleidung wirkte auf den ersten Moment schlicht. Aber sein helles Leinenhemd war fein gewebt. Die Nähte an den Ärmeln und am Kragen zeigten, dass es sich um ein handgefertigtes Stück handeln musste. Die beige Hose saß perfekt und war so geschnitten, dass sie seine schlanke Gestalt betonte. Die Kleidung war nicht nur gut, sondern auch diskret gewählt – eher die eines Mannes, der Luxus gewohnt, aber nicht darauf bedacht war, diesen zur Schau zu stellen. So auch die Schuhe aus dunkelbraunem Leder, die sorgfältig gepflegt waren. In Gedanken schrieb ich meine Beobachtungen bereits in das Fallheft, das ich dafür anlegen würde, eine kleine Marotte von mir. Ich beobachtete nicht nur gern, ich hielt, was ich sah, auch schriftlich fest. Es machte mir einfach Spaß, potenzielle Täterprofile anzulegen, auch wenn es sich, wie hier, erst einmal nicht um einen Verdächtigen handelte. Aber man wusste ja nie!

«Sie klingen wie die deutsche Synchronstimme von Jason Momoa», erklärte die Strohhutfrau.

Der Grauhaarige verzog die Lippen zu einem kleinen belustigten Lächeln. «Noch nie gehört.»

«Er spielt den Aquaman», sagte sie.

Den kannte ich, den Film hatte ich mit meiner Enkelin angeschaut. Ein großer muskelbepackter Kerl mit dunklem Haar und einem goldenen Dreizack.

Ich fragte mich, wie wir in dieser Situation zu einem solch oberflächlichen Gespräch in der Lage waren. Im Öömrang Hüs saß die tote Greta Jansen, während wir uns über Filme unterhielten. Aber vielleicht war genau das der Grund. Wir alle brauchten etwas Leichtigkeit nach dem grausigen Fund im Kojenbett.

Der grauhaarigen Mutter, die nun zum Haus blickte, schien wohl ein ähnlicher Gedanke durch den Kopf zu gehen. «Den Anblick der armen Frau werde ich wohl so schnell nicht vergessen.» Ihre Augen verharrten kurz auf der Tür zum Öömrang Hüs, als würde sie die Szene noch einmal durchleben. Dann schüttelte sie leicht den Kopf und wandte sich wieder der kleinen Gruppe zu. «Und übrigens heiße ich Jana, und der Name meiner Tochter ist Charlotte.»

Auch die anderen stellten sich nun namentlich noch einmal vor. Wir erfuhren, dass der Hamburger Henry hieß, und ich fand, dass das zu ihm passte, als ich in der Ferne das Martinshorn hörte. So gut wir die Zeit auch überbrückt hatten, war ich erleichtert: Hark Jensen und Finn Petersen waren im Anmarsch.

Kapitel 3

Der Dienstwagen kam keine zwei Minuten später die kleine Seitenstraße entlanggebraust und hielt vor dem Eingangstor. Ich erkannte die beiden Polizisten durch die Scheibe.

Jensen machte den Anfang und schälte sich auf der Beifahrerseite aus dem Wagen. Er zupfte seine Uniform zurecht, die ihm für mein Empfinden noch eine Spur enger als gewöhnlich saß. Hatte wohl etwas zugenommen, der Gute. Kurz darauf verließ auch Finn Petersen den Wagen, wie immer mit einem Lächeln auf den Lippen. Trotz des traurigen Anlasses freute ich mich darüber, die beiden wiederzusehen. Petersen war durch und durch aufrichtig, er hatte etwas erfrischend Unverbrauchtes und die Portion Elan, die seinem Kollegen Jensen beizeiten fehlte, den ich jedoch auch mochte. Jensens Erfahrung und seine Ruhe waren wichtig, und die beiden waren in ihrer Unterschiedlichkeit ein gutes Team, wie ich fand.

Jensen trat strammen Schrittes durch das Tor, beschirmte mit der Hand seine Augen und wandte sich der Gruppe zu. «Moin, wer von Ihnen hat uns angerufen?»

«Das war ich», sagte Christine.

Da lief Dolores schwanzwedelnd auf Petersen zu, der nun auch zu uns kam, und sie begrüßte ihn mit einem freudigen Ganzkörperwackeln.

«Dolly, na so was», sagte Petersen überrascht.

Ich stand auf, und da fiel Jensens Blick auf mich. Er blinzelte im Stakkato, während seine Kinnlade herunterklappte.

Petersen hingegen lächelte mich an. «Sieh an, wen haben wir denn da: Unsere beiden», er malte Gänsefüßchen in die Luft, «Kolleginnen aus dem fernen Wiesbaden, Gabriele Scholle samt Spürnase. Na, das ist ja ein Ding!»

«Moin, ihr zwei», erwiderte ich. «Die Zentrale hat euch also nicht gesagt, dass ich mit angerufen habe.»

«Unter normalen Umständen würde ich mich ja freuen, euch wiederzusehen», sagte Petersen und sah von mir zum Öömrang Hüs. «Du hast tatsächlich eine Tote gefunden, Gaby?» Das «schon wieder» stand ihm ins Gesicht geschrieben, und automatisch meldete sich mein schlechtes Gewissen, obwohl ich rein gar nichts mit der Sache zu tun hatte.

Ich zeigte auf Dolly. «Nicht ich, sie.»

Mit einem Mal kehrte das Leben in Jensen zurück. «Gehen wir rein und schauen uns das mal an, Finn.»

Das hätte ich nun auch vorgeschlagen. «Sie sitzt in einem der beiden Betten.»

«In der Dörnsk also», sagte Jensen.

Petersen erklärte: «Die gute Stube des Hauses.» Mit Blick auf die Gruppe fügte er hinzu: «So wird sie auf Öömrang genannt, dem Amrumer Friesisch, das man hier noch spricht.»

«Ich zeig sie euch», schlug ich vor.

Doch Jensen schüttelte den Kopf. «Du bleibst lieber hier.» Er sah nun auch zu den anderen, die noch immer auf den Bänken saßen, drückte die Schultern durch und sagte streng: «Und Sie alle bitte auch, keiner verlässt den Tatort. Komm, Finn.»

Jensen ging erhobenen Hauptes auf das Öömrang Hüs zu, gefolgt von Finn Petersen. Ich sah ihm verwundert hinterher. War das derselbe etwas zögerliche Jensen, den ich während meines letzten Aufenthalts kennengelernt hatte? Irgendetwas schien ihn verändert zu haben, denn als durchsetzungsstark hatte ich ihn nicht abgespeichert. Äußerlich war er derselbe korpulente Mann geblieben, und zu den drei Polizeihauptkommissar-Sternen auf seinen Schulterklappen waren auch keine weiteren hinzugekommen. Was war geschehen?

 

Nur ein paar Minuten später, in denen ich nervös auf und ab gegangen war, kamen die beiden wieder nach draußen. Sie machten betroffene Gesichter.

«Dolores hat die Tote gefunden, sagtest du?», fragte Petersen mich.

«Ja», antwortete ich. «Frau Jansen sollte uns um drei Uhr vor dem Öömrang Hüs zur Führung abholen. Irgendwann hat Dolores plötzlich geknurrt …»

Jensen und Petersen hörten aufmerksam zu, während ich die Ereignisse schilderte. Dolores, die inzwischen auf Abstand saß, wedelte gelegentlich, als wäre sie stolz auf ihre Entdeckung. Als ich die Geschichte beendete, nickte Petersen nachdenklich und sah zu Jensen, der sich mit ernstem Gesichtsausdruck ans Kinn fasste.

«Gesehen habt ihr nicht zufällig irgendjemanden, außer der Toten natürlich?», fragte Jensen.

Wir dachten alle nach und schüttelten einträchtig die Köpfe. «Meine Frau und ich sind um Viertel vor drei gekommen, da war niemand außer uns da», antwortete Dieter. «Die anderen aus der Gruppe sind dann nach und nach dazugekommen.»

«Im Haus war auch keiner, zumindest nicht in den Zimmern, durch die wir gegangen sind. Und ich denke auch, dass Dolores es gewittert hätte, wenn da noch jemand außer uns gewesen wäre», erklärte ich.

Jensen malte in der Luft einen Kreis um das Grundstück. «Wir müssen alles absperren», sagte er. «Spuren sichern. Krüger und Thomsen sollten herkommen und den Fall übernehmen.»

Kommissarin und Kommissar vom Festland, die Ermittelnden der Flensburger Mordkommission. Dass ich die beiden noch mal treffen würde, hatte ich nicht erwartet, als ich mich auf den Weg nach Amrum gemacht hatte. Diesmal hatte ich ausschließlich entspannen und den Zauber der Insel genießen wollen. Aber das war wohl nun erst mal vorbei.

«Und den Doc sollten wir ebenfalls verständigen. Der soll sich Greta Jansen angucken, deren Identität wir noch zweifelsfrei feststellen müssen. Übernimm du das bitte, Finn», sagte Jensen. «Ich rufe in Flensburg an.»

Die beiden traten ein paar Schritte zur Seite, um zu telefonieren.

«Wofür einen Doktor?», fragte Tochter Charlotte. «Falls sie doch noch lebt?»

Greta Jansen sollte noch leben? Ich schrieb die Bemerkung dem Umstand zu, dass alle in der Gruppe etwas unter Schock standen, und erklärte: «Nein, nein, der Doktor kommt, um den Tod offiziell festzustellen und später eine erste Einschätzung zu geben, woran sie gestorben ist. Nur ein Arzt kann das rechtlich absichern, auch wenn uns allen bereits klar ist, dass Frau Jansen tot ist. Es kann auch sein, dass die Todesursache erst mal ungeklärt bleibt», fügte ich hinzu und spürte die besorgten Blicke der Gruppe. «In so einem Fall prüft der Arzt nur die Anzeichen – etwa die Körpertemperatur und andere erste Hinweise – und klärt, ob eine natürliche Todesursache überhaupt infrage kommt. Wenn nicht, wird der Fall automatisch als ‹ungeklärter Tod› behandelt, und dann übernimmt die Mordkommission die Ermittlungen.»

Charlotte runzelte die Stirn. «Und was passiert, wenn wirklich jemand … nachgeholfen hat?»

Ich nickte bedächtig. «Falls der Arzt Anzeichen für Fremdeinwirkung entdeckt, kommen Spezialisten, die alle Spuren sichern, Beweise sammeln und eine Obduktion veranlassen. Bei einem ungeklärten Tod lässt sich nie sofort sicher sagen, was passiert ist. Die beiden Polizisten hier scheinen allerdings davon auszugehen, sonst würden sie nicht schon vor Eintreffen des Arztes die Mordkommission verständigen.»

Petersen, der zurückkam und unsere Unterhaltung mitbekommen hatte, erklärte weiter: «Deshalb sperren wir jetzt das Haus und das Gelände ab, bis die Ermittler aus Flensburg eintreffen. Jeder Fußabdruck, jeder winzige Faden könnte wichtig sein.»

Charlotte nickte langsam, immer noch bleich im Gesicht, und murmelte: «Ich verstehe. So richtig begreifen kann ich das allerdings noch nicht.» Sie rieb sich über die Arme. «Das ist die erste Tote, die ich in meinem Leben gesehen habe. Und dann gleich so was. Das wird mich noch lange verfolgen.»

«Gibt es auf der Insel eine Notfallseelsorgerin, Finn?», fragte ich.

«Nein, das gibt es nicht. Es sei denn, hier macht gerade zufällig jemand Urlaub.» Sein Gesicht leuchtete auf. «Oder wir fragen mal in der Klinik für Mutter-Vater-Kind-Kuren, ob da jemand verfügbar ist, eine Psychotherapeutin vielleicht.»

Charlotte winkte ab. «Nicht nötig.» Sie sah zu ihrer Mutter. «Meine Mutter ist Psychologin.»