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Am frühen Morgen des 11. Mai um 4 Uhr fährt Kommissar Scherff mit zwei seiner italienischen Kollegen zum Flughafen Hahn, um ein verhaftetes Mitglied der ‘Ndrangheta nach Kalabrien zu überführen. Auf der Rückfahrt, kurz bevor er sein Haus erreicht, passiert ein schwerer Unfall, bei dem sein Auto in die darunter liegende Wiese geschleudert wird und auf dem Dach liegen bleibt. Für die Verkehrspolizei wird der Unfall eingestuft wie viele andere. Sogar seine Kolleginnen von der Mordkommission müssen sich damit abfinden. Nur sein italienischer Freund Lombardo ist nicht damit einverstanden, nimmt sofort die Unfallstelle unter die Lupe, findet eine Spur und kann damit die Kolleginnen von Thomas für sich gewinnen, die eine illegale Recherche beginnen. Nach zwei anonymen Briefen, an den zuständigen Staatsanwalt und den Leiter der Mordkommission, und weiteren Ermittlungen stellt sich tatsächlich heraus, dass der Italiener recht hatte und es sich um einen skrupellosen Mord gehandelt hat. Mara Santo und Bettina Krüger werden beauftragt, den Fall zu lösen. Warum musste Thomas Scherff sterben? Hängt sein Tod mit einem seiner früheren Fälle zusammen? Während der laufenden Ermittlungen passieren noch zwei weitere Morde.
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Inhaltsverzeichnis
Dienstag, 11. Juni 2019
Mittwoch, 12. Juni 2019
Donnerstag, 13. Juni 2019
Freitag, 14. Juni 2019
Samstag, 15. Juni 2019
Sonntag 16. Juni 2019
Montag, 17. Juni 2019
Dienstag, der 18. Juni 2019
Mittwoch, 19. Juni 2019
Donnerstag, 20. Juni 2019
Freitag, 21. Juni 2019
Samstag, 22. Juni 2019
Montag, 24. Juni 2019
Francesco Sanzo
Kommissar Scherff - Sein eigener Fall
Letzter Fall
Kriminalroman
Der Autor
Geboren in Kalabrien, folgte ich - im Alter von elf Jahren - meinem Vater 1959 nach Deutschland. Er fand im Saarland eine Arbeit auf dem Bau, konnte dadurch der Not in Süditalien entkommen und die Familie ernähren. Auch ich musste früh mit anpacken und fing als Handlanger an. Jahre später machte ich mich als Bauunternehmer selbstständig. Trotz meiner knappen Freizeit schrieb ich im Jahr 2004 mein erstes Buch.
Inzwischen im Ruhestand, habe ich in einer Alltagssprache sehr unterschiedliche Bücher geschrieben. In meinen Kriminalromanen ist die Besonderheit nicht, dass die Handlung im Saarland und in den angrenzenden Ländern spielt, sondern dass die Protagonisten zum Teil Italiener sind oder italienische Wurzeln haben.
Meine Mentalität und Lebensart habe ich mir stets bewahrt und in meinen Büchern zum Ausdruck gebracht.
Ich bedanke mich bei meiner Frau,
sie gibt mir die Freiheit zu schreiben,
und ich bedanke mich bei allen,
die an diesem Buch mitgearbeitet haben.
Francesco Sanzo
Francesco Sanzo
Kommissar
Scherff -
Sein eigener Fall
Letzter Fall
Kriminalroman
Sanzo-Verlag
Francesco Sanzo
Kommissar Scherff - Sein eigener Fall
Letzter Fall
Kriminalroman
ISBN: 978-3-946560-29-6
Sanzo-Verlag, Danièle Sanzo
Ahornweg 32
66399 Mandelbachtal
Telefon: 06893-6624
Telefax: 06893-802788
E-Mail: [email protected]
Coverfoto: Archiv Sanzo
Manuskript-Bearbeitung: Frank Hartmann
Co-Lektorat: Astrid Pasterkamp
Buchgestaltung: Thomas Bastuck
Copyright: by Sanzo-Verlag, Mandelbachtal
Das Werk, einschließlich seiner Teile,
ist urheberrechtlich geschützt.
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Die Handlung und alle handelnden Personen
sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit
lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.
Das Buch ist auch als E-Book erhältlich.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet
diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
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Druck: Druckerei Wir machen Druck, Backnang
Miriam und ihr Sohn Paul saßen am gedeckten Frühstückstisch und warteten auf Thomas, sie hörten die lauten Geräusche eines Hubschraubers in der Ferne und Miriam dachte, dass irgendwo etwas passiert sein musste. Weil ihr Mann über eine halbe Stunde nach dem letzten Telefonat immer noch nicht zu Hause war, rief sie erneut bei Thomas an, doch er meldete sich nicht …
Miriam und Thomas hatten sich auf ein gemeinsames gemütliches Frühstück mit Sohn Paul gefreut. Der Junge hatte sogar fleißig geholfen, den Tisch zu decken. Natürlich hatte er alles das an seinen Platz gestellt, was ihm am besten schmeckte. Damit sie bis zur letzten Minute zusammensitzen konnten, waren Mutter und Sohn schon fertig angezogen, bevor Miriam ihn später mit dem Auto in den Kindergarten bringen wollte, um vorher etwas mehr Zeit zu haben.
Thomas hatte eigentlich an diesem Tag frei und wollte nach dem Frühstück den verlorenen Schlaf der vergangenen Nacht, beziehungsweise der vergangenen Woche, nachholen. Das Haus würde dann leer sein und niemand ihn in seiner Ruhe stören. Er hatte seine italienischen Kollegen inklusive den verhafteten Giulio Rotta zum Flughafen nach Frankfurt-Hahn gebracht und sogar mit dem Gedanken gespielt, den Rest der Woche nicht arbeiten zu gehen, sondern das Handy einfach auszuschalten, damit es nicht jede Minute klingelte. Denn meist genau dann, wenn er eigentlich keine Zeit für ein Telefonat hatte, kam ein Anruf. Auch wollte er vermeiden, die Stimme von Udo Frenzel, seinem ungeliebten Chef, zu hören.
Während die vor kurzem gekaufte blitzende Edel-Espresso-Maschine brodelte, hörte Miriam in der Ferne ein Martinshorn, machte sich darüber aber keine weiteren Gedanken. Das Geräusch der Kaffeemaschine war dominierend und der intensive Geruch von frisch gebrühtem Kaffee hätte Tote aufwecken können. Auf einmal fragte Paul: „Wie lange braucht denn Papa noch bis nach Hause, die Kaffeemaschine hat schon aufgehört zu brüllen?“ Miriam informierte ihn darüber, dass sein Papa von Bliesransbach aus angerufen hätte und gleich da sein müsste: „Ich denke, er wird in ungefähr einer Minute hier sein.“ Paul kannte schon die Uhr, tippte mit dem Finger auf den Zeiger und stellte fest: „Eine Minute ist nicht lang.“ Dann stand er auf und ging ungeduldig zur Haustür, um seinen Papa als Erster zu begrüßen. Miriam hatte sich mittlerweile Kaffee eingeschenkt, sah dann auch auf die Uhr und ging zu ihrem Sohn vor die Tür. Beide schauten überrascht auf einen leeren Parkplatz. Noch einmal kontrollierte Miriam die Uhrzeit, es war 7.15 Uhr, am Dienstag, dem 11. Juni. Sie sah hoch in den blauen Himmel, nur eine einzige Wolke zog langsam vorbei. Heute wird sicher ein schöner Tag, freute sie sich. Von Thomas gab es jedoch immer noch keine Spur. Einige Leute, die um diese Uhrzeit in ihren Autos nach Saarbrücken auf die Arbeit fuhren, kamen schon wieder zurück. Das war ungewöhnlich, aber Miriam dachte nicht weiter darüber nach, sondern sagte zu Paul: „Ich glaube, ich habe deinen Vater falsch verstanden, er war vielleicht doch noch nicht in Bliesransbach.“
Inzwischen war es Zeit, Paul in den Kindergarten zu fahren. Miriam packte ihm etwas Essbares ein und wunderte sich, dass Chiara Rosso, ihre langjährige Reinemachefrau, noch nicht da war. Normalerweise kam sie pünktlich mit dem Gongschlag. Ob sie auch so pünktlich Feierabend machte, wusste Miriam nicht.
Sie hatte das Auto noch nicht aus der Garage gefahren, als plötzlich vor ihrer Einfahrt ein Polizeiauto stehenblieb. Im Bruchteil einer Sekunde fiel ihr die zuvor wahrgenommene Sirene ein. Sie befürchtete sofort, dass entweder Chiara oder Thomas unterwegs etwas passiert sein musste, auch wegen der Autos, die zurückgekommen waren. Miriam kannte die beiden Polizisten, die jetzt auf sie zukamen, sehr gut von früher. Einer der Beamten bat sie umgehend und mit ernster Miene, mit ihm ins Haus zu gehen, während der andere bei Paul blieb. Miriam wurde nun über den schweren Unfall ihres Mannes informiert und auch, dass Thomas keine Schuld daran hatte, weil der Verursacher einfach ohne ersichtlichen Grund die Spur gewechselt und dadurch den Frontalzusammenstoß herbeigeführt hatte. Beide würden sich zurzeit im Krankenhaus befinden.
Miriam erschrak, schloss kurz die Augen, stellte aber keine weitere Frage, sondern ging sofort hinaus, zog die Tür ins Schloss und stieg mit Paul ins Auto. Der Polizist riet ihr noch, nicht die übliche Strecke nach Saarbrücken zu benutzen, sondern über Ormesheim, dann in Fechingen auf die Autobahn und von dort ins Krankenhaus zu fahren, weil die Straße zwischen Bliesransbach und Bliesmengen-Bolchen von der Verkehrspolizei abgesperrt wäre. Es stünde auch noch nicht fest, wann sie wieder freigegeben werden könnte. Als sie auf dieser Strecke unterwegs war, kam sie automatisch in ein paar hundert Metern Entfernung am Kindergarten vorbei. Weil Paul von dem Unfall noch nichts wusste, ließ sie ihn dort aussteigen und folgte der empfohlenen Straße weiter Richtung Krankenhaus.
Mittlerweile waren eineinhalb Stunden vergangen. Es war 8.45 Uhr, als sie endlich auf der Saarbrücker Winterbergklinik einen Parkplatz gefunden hatte. An die Fahrt konnte sie sich überhaupt nicht mehr erinnern, ihre Gedanken weilten pausenlos bei ihrem Mann.
Sichtlich aufgewühlt und aufgeregt rannte sie zum Empfang, wo sie erfuhr, dass ein Thomas Scherff bisher noch nicht eingeliefert wurde. Von dort lief sie eilig zur Notaufnahme. Doch auch da bekam sie keine weiteren Informationen. Der Fahrer des Krankenwagens war jedoch noch da und berichtete, dass er selbst einen Thomas Scherff hierhergefahren hatte, aber wo der Patient sich zurzeit befinden würde, konnte er nicht sagen. Dann schaltete sich die Mitarbeiterin an der Rezeption ein und fragte ihn ärgerlich, wieso er solche Informationen preisgeben würde. Erstens wüssten sie noch nicht, wie der Verletzte hieß und auch nicht, ob Miriam tatsächlich dessen Frau war. Die Empfangsdame ließ Miriam einfach stehen. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als mit Wut im Bauch zu warten.
Nach weiteren endlosen 10 Minuten kam eine OP-Schwester mit verschiedenen Unterlagen in der Hand auf dem Weg zur Notaufnahme vorbei: „Hier sind die Papiere von dem Schwerverletzten.“ Miriam schnellte hoch wie eine Feder, hielt sie auf und wollte sofort wissen, um wen es sich handeln würde. Die OP-Schwester und die Empfangsdame zeigten keinerlei Reaktion. Da knallte Miriam ihren Personalausweis auf die Theke. Dadurch konnten sie erkennen, dass die ungeduldige Frau tatsächlich die Ehefrau des Unfallopfers war. Natürlich wollte Miriam sofort zu ihrem Mann. Die zwar sichtlich genervte aber mittlerweile freundlich gewordene Dame an der Rezeption gab ihr einige Informationen und erklärte: „Da, wo Ihr Mann sich gerade befindet, darf niemand zu ihm.“ Die OP-Schwester ergänzte noch: „Nicht einmal ich, nachdem ich das Krankenzimmer verlassen habe.“ Doch Miriam wollte genau wissen, in welcher Abteilung ihr Mann liegen würde. Die Schwester ließ dann heraus, dass es ein OP-Saal sei. Dann beruhigte sie Miriam mit dem Hinweis, dass sie ihn eventuell am nächsten Morgen besuchen könnte. Schließlich riet sie ihr, nach Hause zu fahren, sich zu beruhigen und zu versuchen, auf andere Gedanken zu kommen.
Noch im Wartezimmer nahm Miriam ihr Handy und rief in der Bank an, um zu erklären, was passiert war. An diesem und den beiden nächsten Tagen würde sie sicher nicht zur Arbeit kommen. Mit einem zweiten Anruf informiere sie ihre Eltern und mit einem dritten unterrichtete sie ihren Cousin, Federico Lombardo, über den Unfall. Nur ihr Sohn Paul wusste immer noch nicht, dass sein Papa schwerverletzt im Krankenhaus lag. Anschließend sprach sie mit Thomas‘ Kollegin, Mara Santo, die alles stehen und liegen ließ und gleich zur Unfallstelle fuhr.
Mara fuhr mit hoher Geschwindigkeit. Sie hatte ein Blaulicht mit Magnet auf ihrem Wagen angebracht und hielt sich an keinerlei Geschwindigkeitsbegrenzungen. Als sie nach etwa 25 Minuten dort ankam, wurde sie zuerst stutzig, denn wen entdeckte sie? Federico Lombardo. Kurze Zeit später traf auch Miriam ein, ging direkt zu Federico und ließ sich schluchzend in seine ausgebreiteten Arme fallen. Er versuchte, sie zu beruhigen und zu trösten, während Mara beobachtete, wie die letzten Plastikteile von der Straße entfernt wurden. Anhand der Kreideskizze auf dem Asphalt war genau sehen, wo das Auto von Thomas beim Aufprall gestanden hatte. Es war auch gut zu erkennen, wo der Lkw-Fahrer die Straßenseite gewechselt und ihn dadurch frontal erwischt hatte. Mara hatte einen nervösen Finger, sie nahm ihr Handy und schoss Fotos aus allen Richtungen.
Miriam saß mittlerweile wieder in ihrem Auto. Federico ging zu Mara und bat: „Alle Fotos, die du gerade aufgenommen hast, wirst du mir schicken.“ Sie erwiderte: „Ich weiß nicht, ob ich das tue oder überhaupt darf.“ Federico Lombardo war kein Mensch von vielen Worten, zog sein Handy aus der Tasche und machte dann seine eigenen Aufnahmen. Danach ging er zu Frank von der Freiwilligen Feuerwehr, den er gut kannte, und bat ihn, die Leiter des Löschfahrzeugs hochzufahren, weil er von dort oben bessere Fotos machen konnte. Mara durfte die Leiter nicht hochsteigen und schaute dumm aus der Wäsche. Sie dachte nur: ‚Der Mann kennt wirklich jeden‘. Federico sah Mara an und versprach: „Du wirst von mir alles bekommen, was du brauchst. Früher oder später werden wir beide uns wieder begegnen.“
Während die Fotos geschossen wurden und die Anwesenden sich ausgetauscht hatten, war die Unfallstelle geräumt und die zwei Autos abgeschleppt worden. Die Feuerwehr war mittlerweile auch schon abgefahren, nun ohne Sirene. Zum Schluss blieben vor Ort: eine Kommissarin, ein pensionierter Bauunternehmer und Miriam, die immer noch reglos in ihrem Auto saß und leise weinte. Alle drei konnten sich nicht vorstellen, wieso jemand auf einer kurzen geraden Strecke einfach die Fahrbahn wechselt. Sie schauten sich zum Schluss ratlos wieder die Kreidestriche auf der Straße an.
Mara richtete sich an Federico: „Von oben hast du bestimmt die besseren Fotos aufgenommen. Du bist eigentlich verpflichtet, sie mir zu schicken.“ „Das ist mir nicht bewusst, aber ich habe das doch schon versprochen. Denk‘ dran, wenn es sich um meine Verwandten handelt, bekomme ich alles was ich will. Auch deine Fotos, Mara.“ Dann tauschten sie tatsächlich ihre Fotos aus. Zusätzlich verlangte Federico, dass er über alles informiert würde, auch, wie der Unfall passiert war und was in Zukunft für die Aufklärung unternommen würde.
Miriam wartete immer noch schluchzend in ihrem Wagen, aber beide wollten sie momentan nicht mit Untersuchungs-Details behelligen, weil sie sich in ihre Lage versetzen und dadurch nur zu gut vorstellen konnten, wie elend sich Miriam derzeit fühlte. Nach einer kurzen Zeit ging Mara zu Miriams Auto und stieg ein. Man konnte Mara ansehen, dass auch sie sehr unter dem Unfall litt. Alle konnten im Moment nichts anderes tun als darauf zu warten, was das Krankenhaus über Thomas‘ Verletzungen feststellen und die Polizei über den Unfall herausfinden würde. Warten, wie so oft im Leben. Federico Lombardo lief die ganze Zeit über am Straßenrand entlang, so, als ob er etwas verloren hätte und danach suchen würde. Nach 10 Minuten drehte er um, ging zurück zu den beiden und bat sie, wegzufahren, bevor in der schmalen Straße noch ein weiterer Unfall passieren würde.
Mara verabschiedete sich von ihrer Ex-Kollegin und fuhr ins Präsidium. Miriam fuhr im Schneckentempo den einen Kilometer bis zu ihrem Wohnhaus. Immer wieder liefen ihr die Tränen über das Gesicht, sodass sie ihre Umwelt nur noch verschwommen wahrnahm. Als sie vor ihrem Haus ankam, blieb sie in der Einfahrt stehen, schaltete den Motor aus, legte den Kopf auf das Lenkrad und schluchzte bitterlich. So saß sie fast eine halbe Stunde, ehe sie ausstieg und ins Haus ging.
Federico Lombardo wollte eigentlich auch wieder nach Hause fahren, parkte jedoch sein Auto kurzentschlossen ein Stück weiter, um die Straße freizumachen. Er kehrte dann erneut zu Fuß an die Unfallstelle zurück. Dort grübelte er wieder, wie ein solcher Zusammenstoß auf dem kleinen geraden Stück Straße hatte passieren können. Er nahm zuerst an, dass der Fahrer des Lkws vielleicht telefoniert hätte oder sogar betrunken war. Aber um diese Uhrzeit früh am Morgen ist selten jemand so betrunken. Federico beschloss, die Transportfirma aufzusuchen, auf die der Lkw zugelassen war. Die Spedition hieß „Schorr-Logistik“. Federico schmunzelte etwas, kannte er die Firma doch von seinen früheren Bautätigkeiten.
Anhand seines Smartphones fand Federico schnell die Adresse der Spedition heraus. Sie hatte noch immer den gleichen Standort. Glücklicherweise war die Firma in der Nähe von Saarbrücken angesiedelt, unweit der Unfallstelle. Während er sich nun auf dem Weg Richtung Industriegebiet Güdingen befand, wartete Miriam zu Hause ungeduldig auf einen Anruf vom Krankenhaus. Jedoch blieb das Festnetz, genau wie ihr Handy, einfach still, während Mara schon herausgefunden hatte, dass der Lkw-Fahrer kaum verletzt war, aber trotzdem im Koma lag. Jedoch war der Unfall mit Thomas nicht die Ursache dafür: Der Fahrer des Lkw war offensichtlich sturzbesoffen und hatte sage und schreibe 2,9 Promille im Blut, und das um diese Uhrzeit. Das konnte Mara einfach nicht glauben, wollte aber Miriam nicht stören und ihr diese Information weitergeben, um nicht noch mehr Leid zu verursachen. Es blieb ihr also weiter nichts übrig, als Federico Lombardo zu informieren. Deshalb rief sie ihn auf seinem Handy an, gerade in dem Moment, als er das Büro der Firma Schorr betreten wollte. Er schaute auf das Display, und als er die Nummer sah, entstand auf seinem Gesicht ein kleines Grinsen. Nach der Information, die er nun bekam, wusste er, dass er mit seiner ersten Vermutung richtiggelegen hatte. Er bedankte sich herzlich bei Mara, steckte sein Handy wieder ein und betrat dann das Gebäude.
Als die Empfangsdame ihn entdeckte, begrüßte sie ihn freundlich: „Oh, guten Morgen, Federico. Ich dachte, du wärst schon lange in Rente? Was führt dich denn heute zu uns?“ Er antwortete: „Hallo Karin, ich wünsche dir auch einen schönen Tag. Ich brauche jedoch keineswegs einen Transport, habe aber dafür schlechte Nachrichten mitgebracht. Einer von euren kleinen Lkws hat heute früh gegen 7 Uhr einen schweren Unfall verursacht. Euer Fahrer blieb fast unverletzt, hatte aber oder hat immer noch 2,9 Promille Alkohol im Blut.“
„Was?“, schrie Karin und riss ihre Augen auf. Sie schaute ganz verstört und rief sofort ihren Chef. Als beide auf Herrn Schorr warteten, fragte Karin ihn, ob er das Kennzeichen notiert hätte. Lombardo sagte: „Ja klar, SB-SBX 720.“ Sie kontrollierte sofort, welcher Fahrer für dieses Auto eingeteilt war. In wenigen Sekunden hatte Karin alle Fahrten des gesamten Jahres bis zum aktuellen Datum auf ihrem Bildschirm und informierte ihn: „Der Fahrer heißt Maurice Rubald. In all den Jahren, seitdem er hier arbeitet, hatte er nie einen Unfall, geschweige denn nur einen Kratzer an einem Fahrzeug verursacht. Und noch was, Federico, ich kann dir fest versichern, dass er absoluter Antialkoholiker ist. Sein Fahrzeug ist innen und außen immer das sauberste von allen. Die anderen Fahrer können sich daran ein Beispiel nehmen.“
Endlich kam Siegfried Schorr, der Chef, sah Federico an und stellte fest: „Ach, ein bekanntes Gesicht“, und fragte dann, „wann haben wir eigentlich den letzten Kaffee zusammen getrunken? Das machen wir jetzt.“ Aber Karin ließ sich nicht nehmen, ihn zuerst darüber zu informieren, was passiert war. Nun brauchte Siegfried Schorr keinen Kaffee mehr, sondern einen Stuhl. Zu dritt saßen sie zusammen und waren sprachlos, weil jemand, der nie Alkohol trinkt, plötzlich 2,9 Promille im Blut und dadurch einen schweren Unfall verursacht hatte. Schorr schimpfte auf die Polizei, weil die ihn bisher noch nicht kontaktiert hatte, und wunderte sich dann, nachdem er auf Karins Bildschirm geblickt hatte: „Wann genau ist der Unfall passiert?“ „Noch vor 7 Uhr heute Morgen“, antwortete Federico und Siegfried runzelte seine Stirn: „Das ist doch merkwürdig. Die erste Fahrt sollte er erst um 8 Uhr antreten. Wieso war der schon so früh unterwegs?“ Da erkundigte sich Federico: „Bist du sicher, dass der Lkw nicht in der Nacht von deinem Hof geklaut worden ist?“ „Nein, das kann nicht sein, der Wachdienst patrouilliert jede Nacht regelmäßig auf dem ganzen Gelände. Auf jeden Fall müssen wir die Situation irgendwie regeln, trotz Alkohol.“
Lombardo stand auf, ganz ohne Kaffee, verabschiedete sich, verließ die Firma und fuhr nach Hause. Als er die Brücke über die Saar gerade überquert hatte und auf der rechten Seite der Rennbahn fuhr, bog er an der Ampel rechts ab und sofort wieder links auf die Schnellstraße mit der Nummer B 51. Es war nur ein kleiner Umweg, aber auf diesem Weg kam er auch nach Hause.
Denn dadurch passierte er wieder automatisch die Unfallstelle. Nach einer knappen Viertelstunde parkte Federico mit zwei Rädern auf der Wiese und halb auf der Straße, machte die Warnblinkanlage an, stieg aus und ging vorsichtig den Hang hoch, weil er sich von oben ein anderes Bild verschaffen wollte. Nach einem kurzen Aufstieg befand er sich genau über der Stelle, wo die Kollision zwischen Thomas‘ Auto und dem Lkw passiert war. Jetzt, wo er mittlerweile Hobby-Gärtner geworden war, bemerkte Federico etwas Ungewöhnliches, nämlich die Fußspuren eines Menschen, der durch das angrenzende Getreidefeld gelaufen war. Lombardo schätzte, dass es eine kräftige Person gewesen sein musste, sah an sich herunter und nahm an, schwerer als er, nämlich circa 90 Kilogramm. Er schaute sich das Getreide genau an, die Halme waren frisch heruntergedrückt, also musste es vor kurzem passiert sein. Der Weizen hatte es noch nicht geschafft, sich wieder aufzurichten. Um sich zu vergewissern, ging er einen halben Meter daneben in das Feld hinein und stellte fest, dass er mit seiner Vermutung recht gehabt hatte, mit seinen 79 Kilogramm waren die Weizenhalme nicht ganz so stark abgeknickt. Dann zog er sein Handy aus der Tasche und filmte die vorhandene Spur bis oben zur Asphaltstraße. Dort verlor sie sich natürlich. Er ging zu einem Bauernhaus mit einem kleinen Weingut, das oben gleich neben der Straße lag, wo die Spur endete. Federico wollte dort nachfragen, ob jemand etwas gesehen hätte. Aber es war niemand da, das Haus wirkte verlassen. Einige Tiere waren im Stall und die Hühner spazierten in dem kleinen Weingut herum. Lombardo bemerkte sofort, dass auf der oberen Wiese frische Schafsköttel lagen. Also konnte der Schäfer nicht weit sein. Den wollte er jetzt suchen und ihn fragen, ob der etwas vom Unfall gesehen hatte.
Wie ein Indianer folgte er den Spuren der Schafe durch das Gelände. Etwa einen Kilometer weiter hatte er ihn eingeholt. Federico schnaufte, begrüßte ihn dann und fragte, ob er am Morgen etwas gesehen oder gehört hätte. Der Schäfer antwortete freundlich: „Ja tatsächlich, einen lauten Knall habe ich gehört, dann das Motorengeräusch eines Hubschraubers und später dann die Sirenen, sicher von Feuerwehr, Polizei und Krankenwagen. Gesehen habe ich leider nichts und niemanden. Ich habe nur Augen für meine Schafe.“
Federico kehrte anschließend zu seinem Auto zurück. Aber anstatt jetzt nach Hause zu fahren, besuchte er Miriam. Sie hatte ihr Auto mittlerweile rückwärts vor der Garageneinfahrt geparkt, sodass sie jederzeit schnell zu Thomas ins Krankenhaus abfahren konnte. Federico klingelte und wenige Sekunden später ging die Tür auf. Ohne ein Wort gingen beide ins Haus hinein und Miriam setzte sich auf einen Stuhl, davor lagen beide Telefone auf dem Tisch. Der Frühstückstisch war noch immer gedeckt und nicht abgeräumt. Chiara war mittlerweile nach eineinhalb Stunden Verspätung angekommen. Auch sie hatte keine Lust, aufzuräumen oder den Besen zu schwingen, und saß schweigend am Kopfende vom Esstisch. Man konnte ihr ansehen, dass sie keine Kraft hatte, irgendetwas anzufassen, geschweige denn zu putzen. Sie saß regungslos da wie eine Statue. Nur ihre Augen bewegten sich und schauten immer wieder auf die Telefone. Nicht einmal ihr eigenes Telefon klingelte. Auch das von Federico meldete sich nicht. Derjenige, der ihn öfter anrief und nach seiner Meinung fragte, lag momentan schwerverletzt im Krankenhaus. Allen dreien merkte man an, dass ihre Geduld durch das erzwungene Warten erschöpft war. Federico nahm aus Neugier sein Handy aus der Tasche, sah auf die Uhr und konnte kaum glauben, dass es schon Mittag war.
Im gleichen Moment klingelte es an der Haustür. Federico stand auf und öffnete für Miriam. Miriams Eltern waren gekommen. Er bat sie hinein, und sofort wollten sie wissen, in welchem Zustand sich Thomas befinden würde. Ihr Bluts-Cousin informierte sie, dass bis jetzt vom Krankenhaus keinerlei Informationen herausgegeben worden waren. Federico Lombardo sagte: „Wir haben jetzt keine Nerven mehr, zu warten. Giovanni Maraschino, Miriams Vater, entschied: „Ich werde auf keinen Fall weiter hierbleiben, sondern fahre jetzt mit meiner Tochter ins Krankenhaus.“ Miriam stand auf, nahm ihr Handy und wandte sich an ihre Mutter: „Holst du bitte Paul vom Kindergarten ab, wenn wir nicht beizeiten zurück sind?“
Dann verließen Vater und Tochter das Haus, danach auch Federico. Elisabeth Maraschino räumte zusammen mit Chiara Rosso den Tisch ab, während Federico wieder an die Unfallstelle zurückkehrte. Irgendetwas stimmte hier nicht. Sein Verstand sagte ihm, dass er etwas übersehen haben musste.
Dort angekommen, schaute er sich erneut die zwei Spuren im Weizen an. Bei der von ihm verursachten lagen die Halme noch flach auf dem Boden, während die anderen abgeknickten Halme anfingen, sich langsam wieder aufzurichten. Er rechnete aus, dass mittlerweile fünf Stunden seit dem Zusammenstoß vergangen waren. Seine Spuren waren vor ungefähr zwei Stunden entstanden. Es war für ihn somit nicht schwierig festzustellen, dass die fremde Spur direkt nach dem Unfall entstanden sein musste.
Federico stand da und betrachtete die Gegend. Seine Gedanken gingen weit zurück, bis tief nach Kalabrien, zu der ‘Ndrangheta. Er beschloss plötzlich, nicht nach Hause zu fahren, sondern direkt zum Schrottplatz, wo das Auto von Thomas inzwischen abgestellt worden war.
Während er dorthin unterwegs war, warteten Miriam und ihr Vater im Krankenhaus ungeduldig auf den zuständigen Arzt. Aber der behandelte gerade einen anderen Patienten. Und wieder mussten sie warten.
Federico stand mittlerweile vor dem total zerstörten Auto von Thomas und sah sich das Fahrzeug genau an. Die Fahrerseite war komplett eingedrückt, die Scheiben auseinandergeplatzt, außer auf der Beifahrerseite. Das von der Feuerwehr ausgeschnittene Blechteil lag daneben auf dem Boden. Das Loch in der Karosserie war so groß, dass man hineinkriechen konnte. Ein Arbeiter vom Schrottplatz sagte: „Wer auch immer innen gesessen hat, der hat den Unfall mit hundertprozentiger Sicherheit nicht überlebt. Der Fahrer auf keinen Fall.“ Federico schaute ihn gedankenvoll an und fragte: „Sag‘ mal, wo steht denn der Lkw, der den Unfall verursacht hat?“ Der Arbeiter antwortete: „Da darfst du nicht hin, der ist von der Polizei beschlagnahmt worden. Es kommt zuerst ein Gutachter, der kontrolliert, ob an diesem Fahrzeug alle Funktionen in Ordnung sind.“ Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und ging weg, um weiter seinen Schrott zu sortieren.
Federico schaute in das Innere des Autos. Auf dem Boden vor dem Beifahrersitz entdeckte er auf einmal einen unscheinbaren Zettel. Er schob seinen Arm durch das Loch und nahm ihn an sich. Auf dem leicht zerknüllten Papierfetzten standen drei Namen: Peter, Uwe und Jan, aber kein Familienname. Ohne weiter nachzudenken, was er damit anfangen könnte, steckte er den Zettel in seine Tasche. Dann kehrte er zurück zu seinem Auto, setze sich hinein, zog die Tür zu und rief seinen kalabrischen Cousin, Lorenzo Lombardo, an. Thomas hatte den vor gut einer Woche als Polizist in Kalabrien kennengelernt, und der war auch noch vor einem Tag hier in Saarbrücken gewesen, um den gesuchten und verhafteten Verbrecher, Giulio Rotta, nach Italien zu überführen. So wie es bei Italienern üblich ist, hatten beide sich gleich viel zu erzählen, obwohl sie sich noch vor 24 Stunden in Saarbrücken gesehen hatten. Federico berichtete ihm dann, was am Vormittag mit Thomas passiert war. Der Angerufene am anderen Ende der Leitung konnte das alles nicht glauben. Er war richtig schockiert, aber wusste, dass Federico nur das sagte, was auch wahr war. „Ich muss sofort Marcello benachrichtigen“, sagte Lorenzo und wollte das Gespräch beenden. Federico bat: „Noch nicht auflegen, warte einen Moment. Ich bin gerade auf dem Schrottplatz und habe im Auto von Thomas einen Zettel gefunden, auf dem drei Namen stehen. Kannst du mir dazu etwas sagen?“ „Klar“, antwortete Lorenzo, „diese Namen hat uns der Gefangene, Giulio Rotta, gegeben, während wir von Saarbrücken zum Flughafen nach Hahn gefahren sind. Schade, die Familiennamen wusste er nicht, sonst hätte er sie uns genannt. Das Einzige, was er wusste, dass einer von den dreien ein Kinderschänder ist. Dieses Schwein hätte ich gerne oben auf dem Berg, du weißt genau, wo. Kannst du dir vorstellen, dass jemand Mädchen zwischen acht und zwölf Jahren missbraucht, dem die Größeren schon zu alt sind? Giulio Rotta hat vermutet, dass genau der auch der Mörder von Claudia Kore ist.“ Federico bat ihn, alle seine Kollegen zu informieren, auch von ihm zu grüßen und weiter, dass die italienischen Kollegen einspringen sollten, wenn er Hilfe brauchen würde.
Danach rief Federico Miriam an, die ihm mitteilte, dass sie und ihr Vater immer noch auf Informationen warteten.
Miriam saß mit ihrem Vater im Wartebereich vor der chirurgischen Abteilung. Als sie dann sah, wie ein Arzt zu ihnen kam, beendete sie sofort das Gespräch mit Federico. Der Arzt blickte sehr ernst und bat Miriam und ihren Vater, mit in sein Büro zu kommen. Er bot ihnen einen Platz an und setzte sich ihnen gegenüber.
Er sah Miriam lange in die Augen, holte tief Luft, schüttelte bedauernd den Kopf, bevor er in leisem Ton sagte: „Frau Scherff, es tut mir sehr leid. Ihr Mann hat den Unfall nicht überlebt. Sie können mir glauben, wir haben alles versucht, was in unseren Kräften steht, aber er hat es leider nicht geschafft.“
Der Arzt entschuldigte sich noch, dass sie auf diese schlimme Nachricht so lange hatten warten müssen. Miriam fing an zu weinen, brach fast zusammen und umklammerte hilfesuchend ihren Vater. Inzwischen hatte der Arzt ihr ein Glas Wasser geholt und wandte sich gedämpft an den Vater: „Herr Scherff hatte einen Organspende-Ausweis bei sich. Wir konnten seine Nieren entnehmen, die anderen Organe waren jedoch zu schwer verletzt.“ Als er mit seinen Informationen zu Ende war, verließ er das Zimmer und es erschien ein Psychologe, der die zwei schwer betroffenen Hinterbliebenen betreute.
Federico rief unterdessen Mara an. Er wollte von ihr wissen, ob es neue Erkenntnisse gäbe. Sie bedauerte: „Es war ein Unfall. Wir von der Mordkommission haben deshalb mit der Sache nichts zu tun.“ Während er mit Mara telefonierte, sah er auf dem Display einen weiteren Anruf und unterbrach sie: „Wir müssen Schluss machen, ich rufe dich später wieder an.“ Er hatte gesehen, dass es der Vater von Miriam war, ihn wollte er auf keinen Fall warten lassen.
Federico stand auf dem Schrottplatz, war entsetzt und lange Zeit sprachlos. Er hatte sich an Thomas‘ zerstörten Wagen angelehnt und starrte ins Nichts. Noch selten hatte ihn eine Nachricht so geschockt. Er dachte umgehend an den letzten Besuch von Thomas in seinem Garten und an die vielen kleinen Wortgefechte, die sie beide im Laufe der letzten Jahre geführt hatten. Federico wurde schlagartig klar, dass er Thomas in dieser Zeit liebgewonnen hatte, ihn jedoch nie wiedersehen würde. Kopfschüttelnd blickte er auf sein Handy und drückte die Wahlwiederholung, um Mara zu erreichen, die er informierte, dass Thomas den Unfall nicht überlebt hatte.
Mara sagte eine gefühlte Ewigkeit gar nichts. Federico wusste aber, dass sie noch in der Leitung war. „Das kann nicht sein“, sagte sie tonlos, aber Federico bestätigte: „Doch, Mara. Thomas ist tot.“
Federico wollte sich jedoch mit der Unfalltheorie nicht abfinden und sagte in forderndem Ton zu Mara: „Jetzt ist mir egal, ob die Mordkommission mit dem Unfall nichts zu tun hat. Kümmere du dich um den Lkw und den Fahrer. Er heißt übrigens Maurice Rubald, trinkt niemals Alkohol, hatte aber heute Morgen 2,9 Promille im Blut. Und dann fährt er mit dem Lkw schon lange vor Schichtbeginn herum. Mara, ich muss wissen, was tatsächlich abgelaufen ist“, verlangte er.
Mara war zuerst etwas empört, auf welch fordernde Art ein Hobby-Gärtner mit einer Kommissarin der Mordkommission umging. Sie antwortete knapp: „Jetzt hör‘ mir mal gut zu, Federico. Ich habe dir schon zu viele Informationen gegeben. Alles, was ich ab jetzt erfahre, werde ich nicht weiterleiten.“ Dabei hatte Mara Tränen in ihren Augen. Lombardo war jedoch sicher: „Ich wette mit dir, dass du mich doch informieren wirst.“ Trotz der großen Trauer lachte sie am Telefon kurz auf. „Lach‘ noch lauter, immerhin ist es nur dein Kollege, der gestorben ist. Ich habe drei Namen, die dich sicher interessieren werden“, ergänzte Federico. Natürlich wollte Mara diese Namen sofort erfahren. Er sagte jedoch: „Später werde ich sie dir vielleicht geben. Zuerst kümmerst du dich darum, dass die Spurensicherung den Lkw genau untersucht. Ich bin mir hundertprozentig sicher, dass im Führerhaus nicht nur der Fahrer gesessen hat. Und jetzt nicht weiterfragen. Leg‘ los, und wenn du etwas herausgefunden hast, informiere mich sofort. Sonst werde ich dich anrufen. Jetzt muss ich Schluss machen, mein Akku ist leider leer. Das ist mir auch noch nie passiert.“
Mara, die nun gleichzeitig traurig und wütend war, ging zu Udo Frenzel ins Büro und setzte sich. Bettina Krüger war ebenfalls anwesend, und als Mara ihnen die traurige Nachricht überbrachte, saßen sie lange schweigend zusammen. Dann wurde viel über Thomas geredet, über seine spezielle Art, komplizierte Fälle zu lösen, und natürlich sprachen sie über seinen trockenen, jedoch liebevollen Humor. All das wird ab heute nicht mehr sein. Sie dachten auch an Miriam und Paul, und gerade Bettina tat der kleine Junge leid, musste er nun ohne seinen geliebten Vater aufwachsen. Sie weinte nun hemmungslos.
Mara sah irgendwann Udo an und dachte an das Telefonat mit Federico. Sie gab Udo die Informationen von Federico und bat ihn, einen Durchsuchungsbeschluss für Prof. Meyer, den Leiter der Spurensicherung, zu beantragen, damit das Führerhaus des Lkws untersucht werden konnte. Udo Frenzel stellte jedoch klar: „Mara, das ist nicht die Aufgabe einer Mordkommission, aber ich vermute, dass automatisch ein Gutachter bestellt wird, um zu prüfen, ob der Lkw fahrtüchtig war. Einen Durchsuchungsbeschluss werde ich zusätzlich nie bekommen. Uns bleibt nichts übrig als zu warten, bis der Fahrer wieder nüchtern ist und vernommen werden kann. Vielleicht bekommen wir von unseren Kollegen der Verkehrspolizei weitere Informationen. Ich werde mich persönlich darum kümmern.“ Aber Mara ließ nicht locker und wollte eine Erklärung, wieso der Kerl morgens um 7 Uhr sturzbesoffen durch die Gegend fuhr. Noch dazu, bevor seine Schicht begonnen hatte. Udo antwortete: „Von denen gibt es doch genügend. Anscheinend konnte er nicht schlafen und hat sich irgendwo Schnaps gekauft.“
Mara konnte nach dieser gefühlslosen Aussage ihren Mund nicht halten und provozierte ihn: „Vielleicht wäre es manches Mal besser gewesen, ebenso besoffen zur Arbeit zu kommen, bevor ich dich hier sehen musste. Aber einen Hinweis gebe ich dir trotzdem. Ich weiß, dass Maurice Rubald, der Fahrer des Lkws, Antialkoholiker ist.“ Sofort wollte Udo natürlich wissen, woher sie diese Information hätte. „Ach, das hat mir jemand anonym verraten, er wollte seinen Namen jedoch keinesfalls nennen.“ Da erinnerte Udo sie: „Diese Anrufe haben wir oft. Das war sicher ein guter Bekannter, der den Fahrer entlasten wollte. Soll ich dir was sagen? Von tausend Anrufen ist nur einer wahr.“ In Mara kochte das Blut, sie war ungeduldig und wusste genau, dass Federico Lombardo noch mehr Informationen haben musste.
Maurice Rubald, der Fahrer des Unfall-Lkws, war zu diesem Zeitpunkt immer noch so betrunken, dass er nicht zum Unfallhergang befragt werden konnte. Er wurde jedoch von zwei Polizisten im Krankenhaus bewacht, die vor seinem Krankenzimmer saßen. Ausgerechnet von zwei Kollegen, die Mara nicht kannte. Eigentlich konnte sie nun nur noch warten, bis Maurice wieder bei Sinnen war, aber das wollte sie auf keinen Fall. Deshalb verabschiedete sie sich von Bettina und sagte ihr, dass sie sich für den Rest des Tages freinehmen würde. Bettina wollte von Mara wissen: „Was kann ich noch für dich tun?“ Mara antwortete: „Viel. Du könntest vielleicht herausfinden, ob im Führerhaus des Lkws noch jemand gesessen hat.“ Bettina fühlte sich hilflos, wie mit gebundenen Händen, als ob sie zum ersten Mal bei der Mordkommission arbeiten würde.
Mara verschwand aus dem Büro und im Auto rief sie sofort Federico Lombardo an, der nur sagte: „In zwanzig Minuten treffen wir uns an der Unfallstelle. Sei pünktlich!“ Sie war einverstanden und fuhr sofort los.
Als sie in Bliesmengen-Bolchen ankam, war Federico schon längst da. Beide begrüßten sich kurz, und nachdem sie die aufgemalte Kreide-Skizze auf der Fahrbahn noch einmal genau angesehen hatten, wollte Mara von Federico die drei Namen wissen. Er verlangte: „Nur, wenn du mir jetzt hier vor Ort versprichst, dass du mich über jede Kleinigkeit informierst, die du erfährst. Und zwar umgehend. Ansonsten kannst du bei deinem Udo bleiben und ich rufe meine speziellen italienischen Freunde in Kalabrien an. Ich kann dir versichern, die brauchen keine Genehmigung von Holger Weinbrecht, diesem blöden Staatsanwalt. Die brauchen auch nicht vor Udo Frenzel auf die Knie zu fallen und um irgendeine Erlaubnis zu betteln. Ich wette mit dir, dass meine Freunde auch sein goldenes Fahrrad klauen und die Klingel findet er hinterher in seiner Hosentasche.“
Da versprach Mara ganz bereitwillig, dass sie tun würde, was Federico von ihr verlangte. Der scherzte noch: „Gut, dass du immer Hosen trägst. Dann kannst du vor mir den Hang hochlaufen und ich kann dir nicht unter den Rock gucken.“ Federico musste laut lachen, doch Mara war keineswegs zu Scherzen aufgelegt. Er ergänzte kurz: „Weißt du, ich bin ja älter und etwas langsamer, auch deshalb muss ich hinter dir hergehen.“
Oben angelangt wollte Federico wissen: „So, Mara, blick‘ dich mal um. Was fällt dir auf, Frau Kommissarin?“ Mara schaute sich fragend um und sah tatsächlich sofort die zwei Spuren im Weizenfeld, eine frische und eine etwas ältere. Federico erklärte ihr: „Dort, wo die Halme jetzt beginnen sich aufzurichten, das sind meine Spuren. Bei den anderen sind die Fußabdrücke größer. Ich denke, dass sie von der zweiten Person sein könnten, die im Lkw gesessen hat. Das Alter der Spuren passt zu der Uhrzeit des Unfalls. Um nicht noch weiteren Schaden im Feld anzurichten bat Lombardo: „Du gehst jetzt rechts neben der alten Spur und ich in meiner eigenen.“ Als sie losgingen, entstand durch Mara eine dritte Spur. Zusammen sahen sie sich die alte Spur ganz genau an, aber durch den dichten Bewuchs war kein Schuhprofil zu erkennen. Als sie das Feld durchquerten, fragte Federico wieder: „Was siehst du jetzt?“ Sie antwortete: „Drei Spuren, meine mit Schuhgröße 39, links von meiner die Größe 46 und deine mit 41.“ „So ist das“, bestätigte Federico. „Der Kerl mit den 46er Schuhen hat im Führerhaus gesessen. Der Fahrer des Lkw kann es ja nicht gewesen sein, so besoffen wie der war. Jetzt stehen wir auf einer asphaltierten Straße und leider enden hier alle Spuren.“
Beide gingen dicht nebeneinander, wie ein Pärchen, das gerade aus dem Wald kommt, zurück zu ihren Autos, natürlich nicht durch das Weizenfeld. Da klingelte Maras Telefon und Bettina informierte sie, dass sie schon einige vielsagende Blicke mit ihrem Kollegen Erik Hansen von der Spurensicherung gewechselt hätte: „Ich habe ihn in seinem Büro besucht, als du unterwegs warst. Zum Glück war er alleine im Zimmer und hat mir versprochen, dass er heute Abend nach der Arbeit das Führerhaus des Lkws untersuchen wird, ehrenamtlich sozusagen. Danach wird er uns berichten, ob der Fahrer alleine unterwegs war oder Gesellschaft hatte.“ Mara und Federico wussten nicht, wie sie sich bei Bettina bedanken sollten. Er warnte sie aber: „Du bist dir darüber im Klaren, dass dir die Aktion den Job kosten kann?“ Mara antwortete kurz: „Besser wie nichts.“ Lombardo stimmte zu: „Ich werde langsam alt und brauche bestimmt bald eine nette Pflegerin, vielleicht sind zwei sogar besser.“
Mara hatte ihr Handy noch in der Hand, da rief Federico schon Siegfried Schorr an und wollte von ihm wissen, ob manchmal auch zwei Fahrer gemeinsam unterwegs wären. Der versicherte ihm, dass für diesen Lkw immer nur ein Fahrer eingeteilt würde, weil das Auto lediglich im Saarland unterwegs sei. „Nur zu deiner Information, Federico: bei langen Fahrten sind es zwei Personen, damit die Ruhezeiten eingehalten werden können und der Lkw in der Zeit weiterfahren kann. Bei Kurzstrecken ist ausschließlich ein Fahrer im Einsatz.“
Nachdem Federico das Telefon wieder eingesteckt hatte, gab er Mara den Zettel mit den drei Namen. Mara sah sich die Notiz an und fragte enttäuscht: „Wie, ist das alles? Und wo stehen die Familiennamen?“ Er sagte: „Die muss die Polizei herausfinden.“ Mara rief sofort Bettina an und informierte sie, dass dieser Lkw immer nur von einem, und zwar dem gleichen Fahrer, benutzt würde und gab ihr dann die drei Namen auf dem Zettel durch, den Federico in Thomas‘ Unfallwagen entdeckt hatte: „Peter, Uwe und Jan.“ Bettina rief empört: „Ist das ein Scherz? Weißt du, wie viele es davon gibt?“ Mara bedauerte: „Es tut mir leid, aber das ist im Moment alles, was wir haben. Aber ich habe doch noch eine Information. Wir haben eine Spur in einem Weizenfeld entdeckt, die exakt zu der Zeit entstanden sein muss, als der Unfall passiert ist. Sie verläuft genau oberhalb der Stelle und geht am Feld entlang bis zur nächsten Straße. Eine andere brauchbare Spur haben wir bisher leider nicht gefunden. Wir sehen uns heute Abend am Schrottplatz.“ Bettina versicherte: „Ich bin mit hundertprozentiger Sicherheit dabei.“ Mara musste grinsen, weil sie genau wusste, dass es heute das erste Mal war, dass die beiden Kollegen sich näherkommen könnten und das sogar bei ehrenamtlichen Überstunden. Federico zog grinsend die Augenbrauen hoch und sagte: „Du willst aber wirklich alles wissen, Mara. Du bist doch nur neugierig, ob Bettina und Erik Hansen schon ein Paar sind, oder? Doch das weiß bis jetzt noch keiner. Aber du willst das unbedingt herausfinden. Ach übrigens, heute Abend bin ich auch dabei. Dann sind es schon zwei Pärchen, die sich auf einen romantischen Schrottplatz verirren.“ Mara erinnerte ihn: „Nein, du kommst besser nicht mit. Die Leute vom Schrottplatz haben dich heute früh schon gesehen und wissen, dass du nicht von der Polizei bist. Wenn ich mit Erik zusammen dort war und wir Neuigkeiten haben, werde ich dich natürlich sofort informieren. Ich habe es dir ja versprochen.“
Mara blickte in Richtung Ortseingang von Bliesmengen-Bolchen. Obwohl der Ort erst hinter ein paar Kurven anfing und sie noch keine Häuser sehen konnte, dachte sie traurig an Thomas‘ Ehefrau Miriam. Mara ging ein paar Schritte auf der Straße und drehte sich zu Federico um: „Jetzt, wo wir nicht weit von Miriams Zuhause entfernt sind, würde ich sie gerne besuchen. Wie denkst du darüber?“ Federico winkte ab: „Ich glaube, momentan wäre das nicht gut, ihre Eltern sind ja bei ihr. Gib‘ ihr noch etwas Zeit, und inzwischen müssen wir den Unfallhergang herausfinden.“ Dann verabschiedeten sie sich und fuhren in zwei verschiedene Richtungen, sie nach Saarbrücken und er nach Hause in das schöne Mandelbachtal.
Federico Lombardo konnte es nicht lassen, am Haus von Miriam vorbeizufahren, nur um sich zu vergewissern, dass sie nicht alleine war. Zu seiner Beruhigung stand der Wagen von Miriams Vater in der Einfahrt. Zu Hause angekommen parkte Federico vor seiner Garage, ging hinein, setzte sich an den Küchentisch und trank ein Glas Wasser in einem Zug aus. Hunger hatte er keinen. Luisa, seine Frau, sah ihm sofort an, dass etwas nicht stimmte. Sie setzte sich ihm gegenüber, er erzählte ihr von dem schrecklichen Unfall und dass Thomas nie wieder unangemeldet bei ihnen im Garten vorbeischauen würde. Luisa wurde kreidebleich und war fassungslos. Natürlich konnte sie ihre Tränen nicht zurückhalten. Um auf andere Gedanken zu kommen, gingen beide in den Garten, der eine pflegte das Gemüse und die andere die Blumen. Das Unkraut musste für alles bezahlen. Nur Thomas würde nie wieder neugierig hereinspazieren.
Inzwischen war auch Paul nach Hause gekommen. Miriam hatte schon die ganze Zeit hin und her überlegt, wie sie ihm vorsichtig beibringen könnte, dass sein Vater nie mehr wiederkommen würde. Sie erzählte ihm behutsam anhand einer kleinen Geschichte, dass Papa nun bei den Engeln wohnen würde. Da fragte Paul geradeheraus: „Mama, warum sagst du nicht, dass mein Papa nicht wiederkommt?“ Wie es passiert war, verschwiegen sie ihm. Zusammen mit Miriams Eltern saßen die vier stumm und verzweifelt in der Küche, alle Träume waren verflogen und sie konnten nur noch trauern. Paul verstand es noch nicht so ganz. Er spielte mit seinem kleinen Polizeiauto.
Mara stand inzwischen auf dem Schrottplatz und behauptete, dass ihr Mann eine Hinterachse für einen 7,5-Tonnen-Lkw suchen würde. „Sie müssen wissen, mein Mann hat einige kleine Lkws.“ Auf einem Schrottplatz wurde nicht gefragt, welche Firma ihr Mann hätte, das interessierte hier niemanden. Nur Bares ist Wahres. Ein knorriger, alter Arbeiter mit ölverschmierten Händen sagte: „So ein Lkw wurde heute Vormittag hierhergeschleppt.“ Mara wollte wissen, ob sie ihn anschauen dürfte, um zu sehen, in welchem Zustand das Fahrzeug sei. Sie blickte ihn dabei intensiv an. Der Arbeiter, bei dem nur die Augen leuchteten, weil sogar das Gesicht ölverschmutzt war, sagte: „Das macht sich gut, Sie können ruhig hingehen. Ein Gutachter ist gerade dort. Er kann Ihnen genau sagen, ob alles in Ordnung ist. Schauen Sie sich die Hinterachse an und wenn Sie das Teil haben wollen, können Sie ins Büro gehen und über den Preis sprechen, wenn wir ihn ausschlachten dürfen.“ Sie dachte bei sich: ‚Scheiße, Erik kommt gleich. Den muss ich unbedingt benachrichtigen‘. Leider meldete er sich nicht am Telefon. Deshalb musste sie sofort Bettina anrufen, die sagte: „Ich bin schon unterwegs und hoffe, dass ich vor ihm da bin. Dann werde ich ihn am Eingang abfangen, um ihn zu informieren.“ Schon war Mara am Lkw und entschuldigte sich beim Gutachter für ihre Frage, ob alles am Fahrzeug in Ordnung sei, weil sie eine Hinterachse inklusive der Räder bräuchte. Der fragte: „Ach, Sie haben den gleichen Lkw?“ Mara, mit ihren dunklen Augen und den schwarzen halblangen Haaren, wirkte auf den Gutachter sehr sympathisch. Deshalb stelle er sich als Peter Zimmer vor und erklärte ihr, dass dem Lkw nichts fehlen würde und die Technik nicht versagt hätte. „Die Hinterachse ist fast wie neu“, erklärte er, „nur das Führerhaus ist etwas ramponiert.“ Der Gutachter wusste natürlich nicht, dass der Fahrer dieses Lkws zum Unfallzeitpunkt 2,9 Promille in Blut hatte. Er schrieb weiter an seinem Bericht und flirtete dazwischen mit Mara. Sie dachte aber nur: ‚Hoffentlich haut der bald ab‘. Aber er hörte nicht auf zu reden und wurde fast aufdringlich. Mara dachte: ‚Nimm endlich deine Beine in die Hand und verschwinde, bevor du mich noch zum Essen einlädst‘. Es blieb ihr nichts übrig als zu behaupten: „Ich muss jetzt in das Büro gehen, um mit dem Chef über den Preis zu verhandeln“, und verabschiedete sich schnell.
Der Gutachter sah ihr noch interessiert nach, ob sie tatsächlich ins Büro ging. Dort erfuhr Mara, dass erst dann, wenn die Polizei und der Gutachter das Auto freigegeben hätten und der Besitzer einverstanden wäre, das Auto ausgeschlachtet werden dürfe. „Ist gut, dann wird mein Mann vorbeikommen und über den Preis verhandeln“, sagte Mara. Der Chef von Schrottplatz fragte: „Wann wäre das denn?“ Sie antwortete: „So schnell wie möglich.“ „Sie müssen wissen, diese Teile sind sehr begehrt und schnell verkauft“, erklärte er. Mara lächelte innerlich: ‚Da musst du noch lange warten, ich bin ja noch ledig‘. Nun betrat der Gutachter das Büro und wunderte sich, dass die hübsche Frau noch da war. Er verabschiedete sich noch einmal und vergaß nicht, ihr eine Visitenkarte in die Hand zu drücken. Mara schaute in ihrer freundlichen Art kurz darauf und steckte sie dann in ihre Handtasche.
Sie verließ das Gelände, und vor dem Tor standen Bettina und Erik, die auf sie warteten. Als Mara Bettina sah, wusste sie, dass normalerweise eine Kollegin ihren Kollegen nicht auf diese liebevolle Art ansieht. Ein bisschen ärgerte sie sich, weil sie noch nicht wusste, was zwischen den beiden lief, aber das würde sie noch herausfinden. Mara begrüßte ihn mit: „Hallo, Erik. Ich habe dich in den letzten Tagen gar nicht gesehen, geht es dir gut?“ Der antwortete: „Ja, ja, mir geht es bestens.“ Und schaute dabei Bettina tief in die Augen. Mara grinste Bettina an, wünschte den beiden viel Glück und verabschiedete sich.
Erik und Bettina gingen gleich in das Büro und wollten wissen, wo der Lkw mit der Nummer SB-SBX 720 stehen würde. So wie sie angezogen waren und aufgrund der Geräte, die sie dabeihatten, wollte niemand wissen, von welchem Institut sie kämen. Jemand informierte sie nur, dass bis vor fünf Minuten der Gutachter, Herr Zimmer, dagewesen war. Bettina antwortete: „Das wissen wir. Er hat uns bestätigt, dass der Lkw intakt ist und keiner Manipulation ausgesetzt wurde. Mein Kollege und ich werden nur noch einige Kleinigkeiten überprüfen und dann sind wir in einer halben Stunde auch wieder verschwunden.“
Jetzt standen beide vor dem Lkw und Erik öffnete die Beifahrertür, weil die noch funktionierte. Er kontrollierte das Führerhaus Stück für Stück, aber keineswegs nur eine halbe Stunde. Inzwischen war schon eine ganze Stunde vergangen. Einer der Arbeiter wollte schon den Schrottplatz abschließen, weil er Feierabend hatte, aber ein anderer war einverstanden, noch etwas bleiben. Nach weiteren zehn Minuten verließen sie schließlich das Gelände. ‚Schade, dass wir mit zwei Autos da sind‘, dachte Bettina, und Erik muss jetzt noch die ganze Nacht für mich arbeiten‘.
Sie konnte weiter nichts tun, als nach Hause zu fahren. Der Tag war für sie vorbei. Aber Bettina informierte vorher noch Mara und die gab die Neuigkeiten an Federico weiter. Als er hörte, dass das Auto am nächsten Tag auseinandergenommen würde, rief er ohne Zeit zu verlieren den Besitzer des Lkws, Siegfried Schorr, an. Karin war jedoch schneller am Telefon und verband ihn umgehend mit ihrem Chef, der zum Glück noch im Büro war. Als er die Information bekam betonte er: „Das kann doch nicht sein. Das ist mein eigener Lkw und niemand schlachtet ihn aus. Es werden auch keine Teile davon verkauft, die brauchen wir selbst. Von den Lkws haben wir noch acht Stück.“ Mit dieser Aussage war Federico Lombardo sehr zufrieden und er grinste. Für ihn war klar, dass der Unfall-Lkw nicht so schnell ausgeschlachtet werden würde.
Es war schon fast dunkel, als der Regionalzug aus Mannheim an Gleis 1 auf dem Saarbrücker Hauptbahnhof anhielt. Ein paar Dutzend Leute stiegen aus den sechs Personenwaggons aus und liefen die große Treppe zum Bahnhofsgebäude hinunter. Die meisten von ihnen zogen einen Gepäck-Trolley hinter sich her und jeder Reisende ging seinem individuellen Ziel entgegen. So auch Colina.
Niemand nahm Notiz von ihr. Sie war vollkommen unauffällig gekleidet, trug eine helle Mütze und selbst auf den Aufzeichnungen der Überwachungskameras konnte man keinen Unterschied zwischen männlich oder weiblich ausmachen. Colina Pesca wurde mittlerweile europaweit gesucht, doch niemand wusste, wie die Frau, die von den Beamten nur „das Phantom“ genannt wurde, wirklich aussah, geschweige denn, wo sie sich zurzeit aufhielt. Selbst bei ihrem Namen war sich niemand hundertprozentig sicher, ob der echt war.
Colina ging mit ihrer kleinen Reisetasche über den Bahnhofsvorplatz Richtung Reichsstraße und wartete dort auf die Straßenbahn. Nach etwa drei Minuten stieg sie mit ein paar anderen Leuten ein, sie hatte vorher eine Fahrkarte gezogen, und fuhr Richtung Brebach. Sie sah in Höhe des Römerkastells ein paar Prostituierte und wusste erneut, dass sie ihren persönlichen Racheplan vollenden würde. Nach etwa fünf Minuten Wartezeit setzte sich die Bahn von Brebach in Richtung Saargueminnes in Bewegung, wo sie an der Endstation ausstieg. Von dort fuhr sie mit einem Taxi nach Forbach, wo sie von einer älteren Frau bereits erwartet wurde.
Colina selbst ahnte jedoch nicht, dass Thomas einen schweren Unfall hatte und tot war. Das hätte sie sich auch niemals vorstellen können. Zuletzt hatte sie ihn am Flughafen in Kalabrien gesehen und ihm einen Brief in seine Jackentasche gesteckt. Auch hatte sie noch mit Thomas nach dessen Ankunft in Deutschland telefoniert.
Sie selbst war schließlich immer noch auf der Suche nach dem letzten Kandidaten auf ihrer Liste. Einem gewissenlosen Kinderschänder und Mörder. Wo könnte sie ihn suchen? Colina verstand es schon immer, sich von einer einfachen Frau in eine scharfe Bordstein-Schwalbe zu verwandeln. So konnte sie sich perfekt in das Milieu einschleusen, um einen nach dem andern auf ihrer Racheliste ausfindig zu machen und umzubringen. Sie selbst empfand den Verbrechern gegenüber keinerlei Gnade oder Mitgefühl, im Gegenteil. Sie sollten am eigenem Leib erfahren, was diese ihren oft sehr jungen Opfern angetan hatten. Colina selbst wurde jahrelang missbraucht und gequält. Einen nach dem anderen hatte sie ausfindig gemacht und unter Qualen der gerechten Strafe zugeführt.
Auf ihrer Liste stand mittlerweile nur noch ein Name. Und nur deswegen war sie hier. Colina hatte sich wie immer einen Plan ausgedacht und den wollte sie nun gnadenlos durchführen. Was danach passieren würde, war ihr vollkommen gleichgültig. Mit dem Tod des letzten Kinderschänders auf ihrer Liste hätte sie ihre Mission erfüllt.
Um das alles nun durchführen zu können, hatte sie einen gut gesicherten Unterschlupf bei Monique Calvert in Forbach. Wie oft war schon die Polizei in einem vorherigen Fall in Forbach genau in diesem Haus gewesen, in dem Colina ganz entspannt die Mansardenwohnung bewohnte, wenn sie in der Gegend war. Die 80jährige Monique hatte nur noch einen Wunsch, bevor sie stirbt, nämlich, dem Mörder von Claudia Kore in ihrem eigenen Haus in die Augen zu schauen. Frau Calvert war auch die einzige Person, die von Colinas Rachefeldzug wusste. Sie wollte Klarheit darüber haben, wie sich jemand erlauben konnte, einem unschuldigen Kind das Leben zu nehmen.
Zurzeit waren jedoch Schlacht- und Kühlraum noch leer und warteten auf den besagten Delinquenten. Genau deswegen war nun Colina Pesca wieder da. Monique Calvert sah offensichtlich etwas zerbrechlich aus, doch wirkte sie keineswegs so, als ob sie in Kürze versterben würde. Im Gegenteil, sie fühlte sich von Tag zu Tag immer stärker in dem Wunsch, ein letztes Mal diese Räume zu benutzen. Jetzt wartete sie nur darauf, dass Colina zurückkam, entweder mit Verbrecher oder ohne. Sie hatte den Raum schon auf Hochglanz gebracht mit einem Mittel, das keine Spuren hinterlässt. Außerdem war sie ständig startbereit. In all den Jahren, in denen sie immer mitgemischt hatte, hatte sie genau gelernt, worauf zu achten ist.
Monique begrüßte Colina mit einer herzlichen Umarmung, und nachdem sich die gerade erst Angekommene ein Glas Wasser gegönnt hatte, zog sie sich umgehend um. Nach nicht einmal zehn Minuten verwandelte sich Colina von einer unscheinbaren Frau in eine aufreizende Prostituierte. Kurz bevor beide das Haus verließen, zog sich Colina einen langen Ledermantel mit Kapuze über, sodass sie kaum zu erkennen war. Beide stiegen in Moniques alten Citroën ein und fuhren Richtung Saarbrücken.
Frau Calvert hielt am Anfang der Dudweiler Landstraße an und Colina stieg wortlos aus. Monique fuhr auf einen Parkplatz ganz in der Nähe und wartete, während Colina als Bordstein-Schwalbe auf der Dudweiler Straße stand. Nicht, weil sie in Geldnot war oder nach all ihren Lebenserfahrungen noch Lust auf Sex hatte.