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Während eines schönen Sommertages wird in der Hahnenklamm in Saarbrücken eine Leiche in einem parkenden Auto entdeckt. Was erst wie ein Unglücksfall aussieht, entpuppt sich als eiskalter Mord. Mit welcher Waffe der Tode umgebracht wurde, kann zunächst auch die Gerichtsmedizin nicht klären. Kommissar Scherff und sein Kollege, Polizeihauptmeister Jürgen Habermann, werden auf den mysteriösen Fall angesetzt. Sie finden heraus, dass der Tote ein skrupelloser Betrüger war. Mit unglaublich dreisten Methoden hat er jahrelang sämtliche Geschäftspartner aufs Kreuz gelegt - und ist damit vor Gericht durchgekommen. Thomas Scherff geht davon aus, dass der Mörder im Kreis dieser Geschäftspartner zu suchen ist. Er verdächtigt den italienischen Bauunternehmer Federico Lombardo . . . Doch kann er seine Schuld beweisen?
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Inhaltsverzeichnis
Donnerstag, der 17. August
Freitag, der 18. August
Montag, der 21. August
Dienstag, der 22. August
Mittwoch, der 23. August
Donnerstag, der 24. August
Freitag, der 25. August
Samstag, 26. August
Montag, der 28. August
Dienstag, der 29. August
Mittwoch, der 30. August
Donnerstag, der 31. August
Freitag, der 1. September
Montag, der 4. September
Dienstag, der 5. September
Mittwoch, der 6. September
Donnerstag, der 7. September
Freitag, der 8. September
Montag, der 11. September
Dienstag, der 12. September
Mittwoch, der 13. September
Donnerstag, der 14. September
Freitag, der 15. September
Francesco Sanzo
Tod in der Hahnenklamm
Der Autor
Der im ländlichen Kalabrien geborene Autor Francesco Sanzo kam in den 1950er Jahren mit elfeinhalb Jahren zusammen mit seinem Vater nach Deutschland. Im Saarland fanden sie ein neues Zuhause. Das Land suchte nach dem Zweiten Weltkrieg händeringend Arbeitskräfte in der Industrie und im Baugewerbe. Diesem Ruf folgte der Vater, nicht zuletzt, um der Not im Süden Italiens zu entkommen und seinen jüngsten Kindern eine bessere Zukunft zu bieten.
Auch der Sohn nahm eine Arbeit in einer Zinkerei an, doch nach vier Wochen stellte man fest, dass er dafür noch zu jung war. Integration gab es im damaligen Deutschland nicht, weder Schule noch Sprachkurs wurden den Gastarbeitern angeboten. Stattdessen trafen sie auf Vorurteile, Ignoranz, Intoleranz und Anfeindungen.
Die in seiner Kindheit gesammelten Lebenserfahrungen stärkten Francesco Sanzo in seinem Willen, sich anzupassen, aber niemals aufzugeben. Er lernte, sich zu wehren, aber auch tolerant zu sein und sich zielstrebig für eine gute und bessere Zukunft für seine Familie einzusetzen.
Francesco Sanzo brachte sich alles Nötige selbst bei und schaffte es, sich in die Gesellschaft zu integrieren, dabei jedoch seine italienische Mentalität und Lebensart zu bewahren. Er war erfolgreich im Beruf, ist verheiratet und Vater von drei Söhnen.
Seit 2004 schreibt er Bücher, die unterschiedlicher nicht sein könnten: von Kinderbüchern über Kriminalerzählungen bis zu Romanen – sein Ideenreichtum ist dabei schier unerschöpflich.
Ich bedanke mich bei meiner Frau,
sie gibt mir die Freiheit zu schreiben,
und ich bedanke mich bei allen,
die an diesem Buch mitgearbeitet haben.
Francesco Sanzo
Francesco Sanzo
Tod
in der
Hahnenklamm
Kommissar Scherffs 1. Fall
Kriminalroman
Sanzo-Verlag
Francesco Sanzo
Tod in der Hahnenklamm
Kommissar Scherffs 1. Fall
Kriminalroman
ISBN: 978-3-946560-05-0
Sanzo-Verlag, Danièle Sanzo
Ahornweg 32
66399 Mandelbachtal
Telefon: 06893-6624
E-Mail: [email protected]
Coverfoto: Francesco Sanzo
Manuskriptbearbeitung: Frank Hartmann
Co-Lektorat: Astrid Pasterkamp
Buchgestaltung: Charly Lehnert
Copyright by Sanzo-Verlag, Mandelbachtal
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt.
Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.
Das Buch ist auch als E-Book erhältlich.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.
Druck: Wir machen Druck, Backnang
Gegen zehn Uhr öffnete Elisabeth Graf wie jeden Morgen ihr Küchenfenster, um den warmen Dunst aus dem Trockner auszulüften. Draußen war es immer noch kühler als im Zimmer, aber das würde heute nicht so bleiben. Einen heißen Sommertag hatte der Wetterbericht angekündigt. Elisabeth wischte sich den Schweiß von der Stirn. Drei Maschinen Kinderwäsche, ihr übliches Pensum.
Ihr Blick blieb an einem unbekannten Auto auf der anderen Straßenseite hängen. Der Mercedes hatte die schmale Straße halb zugeparkt.
Na, ein Glück, dass da heute nicht die Müllabfuhr vorbeimusste! Das gäbe wieder ein Theater mit den Müllmännern. Elisabeth Graf schüttelte missbilligend den Kopf. Was sich manche Leute dachten!
Sie betrachtete das Auto genauer. Hinter dem Steuer saß eine Person, die sie auf die Entfernung nicht genauer erkennen konnte. Der Fahrer bewegte sich nicht und schien auch nicht aussteigen zu wollen.
Bestimmt wartet der auf jemanden, überlegte sie.
Ein weiteres Auto näherte sich, verlangsamte das Tempo im Engpass, schlängelte sich am Mercedes mühsam vorbei. Obwohl das Fenster an der Fahrerseite heruntergelassen war, nahm die Person im parkenden Auto keine Notiz von den Schwierigkeiten der anderen Verkehrsteilnehmer.
Wenn man überlegte, dass so ein Schwachkopf mit seinem Falschparken Kinder gefährdete! Elisabeth Graf schloss kopfschüttelnd das Fenster wieder. Sie hatte keine Zeit mehr, sich über die Rücksichtslosigkeit mancher Menschen Gedanken zu machen, denn sie musste losfahren, um Anna und Jonas abzuholen. Ihre beiden Kinder warteten wie immer nach Schulschluss am Bübinger Bahnhof auf sie.
Bei ihrer Rückkehr blockierte der Mercedes nach wie vor die Straße, an der das hübsche Einfamilienhaus der Grafs gelegen war. Elisabeth schaute sich das Kennzeichen an: Saarbrücken.
Eigentlich könnte man da ja schon die Polizei rufen, überlegte sie. Sie wunderte sich, dass der Fahrer bei dreißig Grad Außentemperatur so geduldig hinter dem Steuer saß. Die Sonne knallte zu dieser Tageszeit aufs Autodach.
»Mami, Mami, ich hab echt Hunger!« – »Mami, was gibt es zu essen?« Anna und Jonas lenkten sie von ihren Grübeleien ab. Die beiden mussten nach sechs Stunden Unterricht ausgehungert sein.
»Kommt rein!« Sie schloss ihnen die Tür auf und stellte die beiden Schulrucksäcke in die Diele. »Ich hab euch Milchreis mit Kirschen gekocht, das esst ihr doch so gern.«
Die Jubelschreie vertrieben den Falschparker aus Elisabeths Gedanken. Die Alltagsroutine ließ sie den Mercedes komplett vergessen, bis abends ihr Mann Michael die Haustür aufschloss. Noch in der Diele rief er: »Was ist denn das für ein Blödmann, der da die halbe Straße zustellt?«
Elisabeth stand auf und ging ans Fenster. Tatsächlich. Der Mercedes stand an derselben Stelle wie zuvor.
»Du, der parkt schon seit heute Morgen so da«, sagte sie erschrocken. »Und der Fahrer sitzt immer noch drin. Das ist jetzt wirklich seltsam. Ich glaube, wir sollten die Polizei anrufen.«
*
»Dein Date heute Abend kannst du wohl vergessen. Das wird eine lange Nacht. Aber du hast ja keine Probleme mit dem Aufreißen neuer Frauen«, stichelte Thomasʼ Kollege Jürgen Habermann. Thomas grinste nur und antwortete nicht. Er war noch optimistisch. Der Streifenpolizist hatte nämlich die Vermutung geäußert, der Mann im Mercedes sei eines natürlichen Todes gestorben. Dann würde Thomas vielleicht in einer halben Stunde hier abhauen können. Selbst wenn es noch Angehörige zu benachrichtigen gab, war das in einem solchen Fall viel einfacher als bei einem Mord.
Die Frau aus der Nachbarschaft, die sie angerufen hatte, hatte Jürgen schon befragt. Ihr war nur aufgefallen, dass der Mercedes mit dem Mann darin den ganzen Tag in der brütenden Hitze gestanden hatte. Gemeinsam schauten Thomas und Jürgen zu, wie die Beamten von der Spurensicherung ihre weißen Ganzkörperanzüge überstreiften und mit ihrer Arbeit begannen. Thomas Scherff ließ den Eindruck vom Tatort auf sich wirken.
Das schmucke Einfamilienhaus der Grafs, die sie benachrichtigt hatten, stand separat auf eine Anhöhe gebaut. Der Hang hinter dem Haus zur Straße war dicht mit Buschwerk bewachsen, das kräftige dunkelgrüne Blätter hatte. Rechts und links lagen Felder, daran angrenzend sah man ein Wäldchen und ein paar weitere, verstreut stehende Häuser. Eine Doppelgarage befand sich hinter dem Haus der Grafs, deren Zufahrt führte zum Weg hinunter.
Der Mercedes mit dem Toten stand auf der gegenüberliegenden Straßenseite unter einem Baum. Thomas trat näher heran, um sich die Leiche anzusehen. Ein älterer Mann an die Siebzig, graumelierter Haarkranz, rundliches Gesicht. Er war ein wenig in sich zusammengesunken, fast so, als würde er schlafen. Der Gesichtsausdruck war friedlich. Thomas fand auf den ersten Blick den Eindruck des Streifenpolizisten bestätigt. Er sah keine Anzeichen von äußerer Gewaltanwendung.
Die schmale Straße war mittlerweile komplett abgesperrt worden. Die Kollegen erledigten ihre Arbeit gewissenhaft wie gewohnt. Thomas entdeckte die untersetzte Gestalt des Gerichtsmediziners Dr. Robert Groß. Der Mann mit dem kantigen Profil und der Adlernase, der immer Abstand zu den Kollegen hielt und sich von fast allen siezen ließ, veranlasste, dass der Tote auf eine Bahre gelegt wurde. Gleich würde er dessen Körpertemperatur bestimmen. Unter Berücksichtigung der Außentemperatur konnte so der mögliche Todeszeitpunkt festgestellt werden.
Nach einer Weile kam Groß zu Thomas und Jürgen hinüber. Sein stechender Blick fixierte Thomas. Der Gerichtsmediziner hatte einen seltsam watschelnden Gang, der seine Kollegen veranlasste, ihn in seiner Abwesenheit respektlos ›die Ente‹ zu nennen. Das durfte man ihn nur nicht hören lassen, denn sein Humorpotenzial war begrenzt. Er streifte sich im Gehen die Latexhandschuhe ab. Anders als sein Name implizierte, war der Rechtsmediziner eher klein. Er zupfte seinen stets eleganten Anzug zurecht, und Thomas grübelte einen Moment lang darüber nach, wieso Groß genau wie Jürgen immer so viel Wert auf seine Kleidung legte. Jürgen hatte seinen Blick bemerkt und wisperte ihm grinsend zu: »Herumzulaufen wie eine Vogelscheuche ist halt nicht jedermanns Sache.« Dabei glättete er sich demonstrativ mit der Linken seine stoppelkurzen blonden Haare.
»Sicher. Vogelscheuche.« Thomas schaute an sich herunter und fand außer jeder Menge Knitterfalten nichts wirklich Vogelscheuchenmäßiges an seinem Aufzug.
Erwartungsvoll sah er Dr. Groß entgegen. Der kam wie immer ohne Umschweife zum Punkt: »Bis jetzt sieht es nach einer natürlichen Todesursache aus. Eventuell ein Hirnschlag oder ein Herzinfarkt. Näheres muss die Obduktion zeigen. Auffällig ist nur, dass der Kopf etwas angeschwollen ist. Das deutet auf eine Hirnblutung hin. Ich möchte hier aber nicht spekulieren. Der Mann muss zuerst auf meinen Tisch, bevor ich Genaueres sagen kann.«
Thomas nickte dem Mediziner zu. Wie erwartet, nichts Kompliziertes, den Fall konnte er abhaken.
»Wann dürfen wir mit den ersten Ergebnissen rechnen, Dr. Groß?«
Der Gerichtsmediziner musterte Thomas frostig. Er wurde nicht gern gedrängt.
»Morgen wissen wir mehr«, antwortete er knapp und wandte sich zum Gehen. Er gab seinen Kollegen ein Zeichen. Sie befestigten den blauen Leichensack mit Gurten auf der Bahre und schoben ihn in den Transporter. Wenig später setzte sich der silberne Mercedes Sprinter mit dem Aufdruck »Gerichtsmedizin« in Bewegung und manövrierte sich seinen Weg in der schmalen Straße.
Thomas entdeckte in einiger Entfernung den schlaksigen Kollegen, Professor Ferdinand Meyer, von der Spurensicherung.
»Habt ihr schon die Papiere?«
Ferdinand nickte. Er war bei Weitem umgänglicher als Dr. Groß, Thomas konnte ihn gut leiden.
»Hier ist der Ausweis. Der Mann heißt Walter Dölmann und ist 67 Jahre alt. Adresse ist ganz in der Nähe auf dem Bübinger Berg. Nur einen Kilometer entfernt. Es gibt Angehörige, die informiert werden müssen.«
»Danke, Ferdinand, da fahren wir mal vorbei.«
»Soll ich das allein machen?«, bot Jürgen an.
Thomas dachte an seine Verabredung und seufzte. Groß hatte länger gebraucht als erhofft, das konnte knapp werden.
»Nein, natürlich komme ich mit.«
Jürgen zog eine Augenbraue hoch.
»Na, danach wird die Dame aber sicher nicht mehr auf dich warten, oder?«
»Du weißt doch, dass die Damen immer auf mich warten.« Thomas war die Sticheleien seines Kollegen gewohnt. »Aus dir spricht nichts als blanker Neid, du braver Familienvater. Denkst sicher auch oft an deine wilden Zeiten zurück, wenn du siehst, wie bei mir die Weiber Schlange stehen!«
»Ja ja.« Jürgen lachte. »Wenn ich das genauso machen würde wie du, wäre meine Frau sicher ebenso schnell weg wie deine. Und zu Recht.«
Thomas hob abwehrend die Hände.
»Das ist doch nicht meine Schuld! Was kann ich dagegen tun, wenn es so viele Verlockungen um mich herum gibt? Man stolpert ja geradezu darüber. Und ich liebe sie alle, egal, ob sie blond, brünett oder rothaarig sind!«
»Das merkt man.« Jürgen gluckste. »Deshalb hast du auch eine Verabredung nach der anderen. Nur leider bügelt dir keine deine Klamotten oder räumt deine Bude auf, was bitter nötig wäre.«
Sie hatten den Bübinger Berg erreicht. Thomas parkte das Zivilfahrzeug vor einem klotzig wirkenden Einfamilienhaus. Hinter einem schmiedeeisernen Gartentörchen führte ein Weg aus Steinplatten zur Haustür. Neben der Klingel stand »Dölmann«. Jürgen läutete. Einen Moment später hörten sie Schritte, dann wurde die Tür geöffnet. Eine Frau Mitte sechzig mit blondiertem und kunstvoll frisiertem Haar und eleganter Garderobe schaute ihnen entgegen. Aus dem Inneren des Hauses drangen ihnen Kochdünste entgegen.
»Ja bitte?«
»Sind Sie Frau Dölmann?«
»Ja, ich bin Corinna Dölmann, was kann ich für Sie tun?«
Thomas stellte sich und Jürgen vor: »Mein Name ist Kommissar Thomas Scherff, und das ist mein Kollege, Polizeihauptmeister Jürgen Habermann.«
Frau Dölmann riss die Augen auf. Hinter ihr schob sich ein Rollstuhl in die Diele.
»Was ist los, Mutter?« Im Rollstuhl saß ein etwa vierzigjähriger Mann, der die beiden Beamten fragend musterte.
»Und Sie sind?«, erkundigte sich Jürgen bei ihm.
»Mein Sohn Dennis«, erklärte Frau Dölmann. Sie sah alarmiert aus. »Was ist passiert? Ist was mit meinem Mann, Herr Kommissar? Er ist noch nicht nach Hause gekommen! Ich habe eben schon die Polizei angerufen, die wollten aber nichts unternehmen, weil noch nicht genug Zeit vergangen war.«
Solche Gespräche sind das Schwerste im Job, dachte Thomas bedrückt.
»Ja, Ihrem Mann ist etwas passiert. Wir haben ihn gefunden, im Hahnenklamm.«
»Da geht er zweimal in der Woche spazieren.« Die aufgerissenen Augen und das Zittern in der Stimme straften die nüchternen Worte Lügen. Thomas hasste es, den Angehörigen die Todesnachricht überbringen zu müssen. Dabei stellte sich für ihn niemals Routine ein, wie er noch zu Beginn seines Berufslebens gehofft hatte. Egal, was oder wie er es sagte, er musste seinem Gegenüber wehtun.
»An diesem Morgen ist er offenbar nicht spazieren gegangen. Wir haben ihn tot in seinem Auto sitzend gefunden.«
Frau Dölmann starrte Thomas an. Sie war ganz blass geworden. Einen Moment lang hatte es ihr die Sprache verschlagen.
»Kommen Sie doch bitte herein«, stotterte sie dann und trat zur Seite, um die Beamten einzulassen. Der Sohn manövrierte seinen Rollstuhl schweigend zur Seite.
Corinna Dölmann führte die beiden Polizisten in ein teuer eingerichtetes Wohnzimmer und bot ihnen Platz in den Couchsesseln an. Sie selbst sank schwer auf die Couch und schaute stumm vor sich hin. Der Sohn stellte seinen Rollstuhl neben seine Mutter und nahm ihre Hand. Frau Dölmann schaute auf und sah den Kommissar mit traurigen Augen an. Mühsam um Fassung ringend fragte sie: »Aber warum? Er war doch nie krank. Was ist denn genau geschehen?«
»Nach Aussage des Gerichtsmediziners ist Ihr Mann eventuell an Hirnbluten gestorben. Die Ursache dafür kennen wir noch nicht. Näheres wird die Obduktion ergeben.«
»Ich möchte meinen Mann sehen.« Corinna Dölmann hielt den Kopf gesenkt und knetete ihre Hände im Schoß.
Thomas nickte.
»Ja, natürlich. Sie müssen ihn identifizieren. Wir können Sie zur Gerichtsmedizin mitnehmen. Geht es Ihnen gut? Fühlen Sie sich dazu imstande?« Thomas hatte schon mehr als einmal erlebt, dass Angehörige bei der Identifizierung der Toten ohnmächtig wurden. Das wollte er Corinna Dölmann heute Abend gern ersparen.
»Ja, ich muss ihn unbedingt sehen. Vielleicht ist er es ja gar nicht? Vielleicht haben Sie den Falschen gefunden?« Ihre Stimme klang auf einmal viel kräftiger.
»Bitte klammern Sie sich nicht an diese Hoffnung, sie erweist sich erfahrungsgemäß als falsch.«
Corinna Dölmann nickte langsam. Immer noch blass ging sie voran in die Diele, nahm sich einen Autoschlüssel vom Haken und hängte ihre Handtasche um. Auf Thomasʼ fragenden Blick sagte sie: »Ich werde mit meinem eigenen Auto fahren. Mein Sohn muss auch mit, und ich gehe nicht davon aus, dass das Polizeifahrzeug behindertengerecht umgebaut wurde. Aber trotzdem vielen Dank für Ihr Angebot, Kommissar Scherff.« Ihr Lächeln verrutschte. Thomas nickte.
»Fahren Sie hinter uns her, wir zeigen Ihnen den Weg.«
Eine Viertelstunde später erreichten sie die Pathologie.
Thomas fröstelte wie immer nicht nur von der Kälte im Raum. Der Sohn hatte es vorgezogen, draußen zu warten. Frau Dölmann trat an die metallene Bahre, auf der der Tote lag. Sie gab keinen Laut von sich, schlug nur die Hand vor den Mund. Dann schaute sie mit tränennassen Augen zu Thomas auf: »Ja, das ist mein Mann.« Ihre Stimme brach.
Der Kommissar führte sie wieder nach draußen in den Flur, wo der Sohn wartete. Er schaute seiner Mutter entgegen und senkte dann den Kopf.
Es war bereits Mitternacht, als Thomasʼ Arbeitstag endete. Jürgen hatte natürlich recht behalten. Die Verabredung, auf die Thomas sich so gefreut hatte, war ins Wasser gefallen. Na ja. Es war nicht die letzte dieser Art.
Thomas hatte sich seine erste Tasse Kaffee geholt. Neun Uhr, der Tag war noch jung, aber im Polizeipräsidium herrschte wie immer rege Betriebsamkeit. Thomas rümpfte die Nase angesichts des durchdringenden Ingwergeruchs, der aus Jürgens Teetasse zu ihm herüberwehte.
»Du mit deinem Gesundheitsfanatismus«, sagte er angeekelt.
»Koffein ist schädlich, und ich achte auf meinen Körper«, antwortete Jürgen heiter. »Vielleicht solltest du das auch tun. Insgesamt ein bisschen bewusster leben. Auch deinem Äußeren täte das gut, wenn ich mir deinen ständigen Schlabberlook, den Dreitagebart und deine Haare so ansehe.«
»Was ist mit meinen Haaren?«
»Sie sehen so aus, als würden sie gern mal wieder einen Friseur treffen.«
»Na und?«, sagte Thomas. »Die Damen beschweren sich nicht darüber.«
»Die betäubst du ja auch mit deinem Dauergrinsen! Sie sind so von deinem strahlenden Charme geblendet, dass sie die rissige Fassade drumherum nicht wahrnehmen!« Jürgen nahm einen tiefen Schluck aus seiner Teetasse.
»Du kannst froh sein, dass du mir so sympathisch bist«, verkündete Thomas. »Sonst kämst du jetzt auf meine schwarze Liste!«
Thomas war froh, einen Kollegen wie Jürgen Habermann zu haben. Sie verstanden sich nicht nur beruflich gut, was der Zusammenarbeit enorm förderlich war.
Nach stundenlangem Aktenwälzen ging Thomas in der Mittagspause in eine Pizzeria. Als er zurückkam, bemerkte er erheitert, wie Jürgen den würzigen Duft der Spaghetti Bolognese schnupperte, den er in seinen Klamotten mit sich brachte.
»Riecht gut, was?«, zog er seinen Kollegen auf. »Und du, hattest du wieder was feines Grünes zu Mittag?«
Jürgen knurrte und hielt ihm die obligatorischen Gemüsesticks und den Kräuterquark hin, die immer in seinem vegetarischen Lunchpaket enthalten waren.
»Du bist doch nur neidisch. Ich gebe dir gern ein paar Vitamine ab!«
»Aber nein, allerherzlichsten Dank! Was würde deine Frau sagen! Sie kontrolliert doch zu Hause sicher, ob du auch brav alles aufgegessen hast, wo sie es schon so liebevoll für dich einpackt!«
Jürgen griff sich einen Aktenordner und zielte damit auf Thomas. In diesem Moment klopfte es an der Tür.
»Rettung in letzter Sekunde«, ächzte Thomas und wischte sich imaginären Schweiß von der Stirn.
Miriam Maraschino streckte den Kopf ins Zimmer. Thomas musterte die Kollegin wie immer einen Moment zu lang, aber daran war sie seiner Meinung nach selbst schuld. Miriam hatte blauschwarzes Haar, schwarze Augen und ein klassisch schönes Gesicht, sie war eine sportliche Erscheinung. Ihre Beine reichten vom Boden bis zur Decke, und wenn sie lächelte, hatte sie Grübchen in den Wangen. Sie befand sich in der Ausbildung zur Kommissarin und übernahm für das Team immer wieder zuverlässig den Schreibkram.
»Bitte zum Chef, die Herren«, sagte sie.
Hauptkommissar Peter Reinhard saß in angespannter Körperhaltung in seinem Bürosessel und sah ihnen entgegen, als sie das Büro betraten. Durch die große Fensterfront hatte man zwar einen schönen Blick über die Stadt, aber es war Südseite und den Raum heizte sich im Tagesverlauf gewaltig auf. Thomas beneidete seinen Chef zumindest im Sommer nicht um die Aussicht.
»Miriam hat was für uns«, sagte der Hauptkommissar. Er kämmte mit den Fingern wie immer Haare vom Hinterkopf in die Stirn, um seine beginnende Glatze zu überdecken.
Thomas sah seine bildhübsche Kollegin erwartungsvoll an und wartete auf das Erscheinen der Grübchen.
Miriam rollte mit den Augen, als sie seinen Blick bemerkte, und wandte sich an die Runde.
»Ich bekam eben Nachricht von Dr. Groß«, leitete sie die Information ein. »Er ist sich hundertprozentig sicher, dass der Tote im Mercedes von gestern keines natürlichen Todes gestorben ist.«
»Auch das noch!« Thomas war überrascht. »Und wodurch ist er dann ums Leben gekommen?«
»Das kann Dr. Groß noch nicht sagen. Deshalb hätte er gern, dass du mit Jürgen zu ihm in die Pathologie kommst.«
Thomas seufzte im Stillen. Es konnte ein Unfall, aber auch Mord gewesen sein. Und er hatte gestern noch gedacht, den Fall abhaken zu können. Nun würde unter Umständen richtig Arbeit auf sie zukommen.
Als sie im Seziersaal der Pathologie eintrafen, watschelte ›die Ente‹ soeben zu dem metallenen Tisch, auf dem der unbekleidete Leichnam lag. Daneben auf einem Beistelltisch stand eine Schale mit blutigem Sezierbesteck.
»Wollen Sie ihn nicht mal zudecken, Dr. Groß, der friert doch sicher.« Thomas konnte sich den Scherz einfach nicht verkneifen. Der Gerichtsmediziner sah ihn frostig an.
»Bitte keine Flachwitze. Hier wird gearbeitet.«
Jürgen schüttelte verstohlen den Kopf. Thomas biss sich auf die Zunge. Er schätzte die Kompetenz des Gerichtsmediziners, aber Groß war humorlos, und je nach Stimmungslage konnte er schnell mal beleidigt sein. Dann ließ er sie gelegentlich auf Ergebnisse warten. Das konnten sie hier gar nicht gebrauchen. Thomas war klar, dass er den Bogen mit seinen Witzeleien besser nicht überspannte.
Groß winkte sie um den Tisch herum. Der Schädel des Toten war geöffnet.
»Wenn Sie beide mal hierhin schauen würden.« Er zeigte mit einem Instrument in das Innere. »Hier haben wir die Todesursache. Es war definitiv kein Hirnschlag.«
Thomas sah erst überhaupt nicht, worauf der Gerichtsmediziner deutete. An der linken Schläfe war eine winzige Druckstelle, so groß wie die Kuppe eines Zeigefingers, zehn Millimeter tief.
»Das hat ihn umgebracht?«
Groß nickte.
»Sein Kopfinneres war voller Blut. Wir können davon ausgehen, dass ein kleiner Gegenstand diesen Abdruck verursacht hat. Rund wie eine Kugel. Anders als ein solches Geschoss ist sie zwar nicht in den Kopf eingedrungen, hat dort aber die Blutung verursacht. Diese Verletzung hat zur Bewusstlosigkeit und nach etwa dreißig Minuten zum Tode geführt. Den Todeszeitpunkt konnte ich auf etwa neun Uhr fünfundvierzig bestimmen.«
»Wenn ich Sie richtig verstanden habe, hat der Mörder etwa um Viertel nach neun zugeschlagen«, schlussfolgerte Thomas.
»Sieht ganz so aus, als könnten Sie rechnen«, gab Groß bissig zurück.
»Und was war das für eine Waffe, gibt es dazu schon Erkenntnisse?«
Der Gerichtsmediziner sah Thomas missbilligend an, als hätte er ihn etwas Unpassendes gefragt.
»Ich kann nur spekulieren. Zum Beispiel eine Metallstange mit abgerundeter Spitze, mit großer Kraft geführt.«
Thomas bedankte sich für die schnelle und saubere Arbeit, und Groß erwiderte säuerlich: »Was haben Sie denn anderes erwartet? – Na ja, jetzt sind Sie dran!«
»Der sollte mal die Abteilung wechseln«, meinte Jürgen, als sie auf dem Weg zum Auto waren. »Er würde sich gut bei der Spaßpolizei machen.«
Thomas und Jürgen fuhren zurück zum Polizeipräsidium. Auf dem Weg zu ihrem Büro sahen sie im Flur bereits die fast zwei Meter große massige Gestalt des Hauptkommissars, die ihnen entgegenkam: »Dr. Groß hat mich soeben telefonisch in Kenntnis gesetzt. Das Auffinden der Waffe hat jetzt absolute Priorität. Wir brauchen Klarheit darüber, was für ein Gegenstand das gewesen ist.«
Er musterte Thomas und Jürgen eingehend aus seinen weit auseinanderstehenden hellblauen Augen. Thomas fand, der Blick fühlte sich immer ein wenig so an, als würde man durchleuchtet.
»Ihr beide übernehmt diesen Fall.«
»In Ordnung«, antwortete Thomas. »Aber jetzt brauche ich erst einmal einen Kaffee.«
*
Für die Suche nach Hinweisen auf die Waffe ließ Thomas den Tatort noch einmal absperren. Mit Mord hatte niemand gerechnet, Thomas hoffte, dass ihnen deshalb vielleicht etwas entgangen war. Wie viel konnten sie finden nach einem Tag? Der Chef hatte ihnen ein paar zusätzliche Polizisten zugeteilt, die schon emsig an der Arbeit waren und im näheren Umkreis Zentimeter um Zentimeter absuchten.
Der Mercedes war abgeschleppt worden und wurde zurzeit von der Spurensicherung untersucht. Thomas holte sich sein schwarzes Notizbuch aus seiner Aktentasche und schrieb in Stichworten auf, was ihm am Tatort auffiel. Manchmal skizzierte er mit Worten auch die Umgebung inklusive der Häuser, vor denen er stand. Er war ein sehr visueller Mensch und konnte sich mit dieser Gedankenstütze die Bilder später jederzeit wieder ins Gedächtnis rufen.
Dort, wo der Wagen des Opfers gestanden hatte, befand sich auf der rechten Seite ein kleiner Abhang, der zu einem Bachlauf hinab führte. Bereits die wenigen schönen Tage nach dem langen Dauerregen hatten den Bach versiegen lassen, im Bachbett schlängelte sich nur noch ein Rinnsal Wasser. Zwei vertrocknete Zweige eines Busches lagen in der feuchten Erde.
Jürgen kam aus Richtung des Einfamilienhauses zurück, in der die Zeugin wohnte, die den Mercedes gemeldet hatte.
»Ich habe Frau Graf noch einmal befragt«, sagte er. »Sie ist sich nach wie vor ganz sicher, niemanden am Auto gesehen zu haben.«
Thomas nickte.
»Dann sehen wir uns jetzt mal in der Nachbarschaft um.«
Die nächste Hauptstraße verlief in zweihundert Metern Entfernung. Ein Bewohner des Eckhauses, ein Mann jenseits der Siebzig, kam ihnen schon neugierig entgegen: »Sind Sie von der Polizei? Ich habe in der Zeitung gelesen, dass da drüben ein Mord begangen worden ist!«
Er berichtete, dass er das Auto des Toten häufiger auf einem der gegenüberliegenden Parkplätze gesehen habe.
»Der stand dann genau hier auf dem Braschenplatz!« Der alte Mann wies auf die geschotterten und von Bäumen beschatteten Parkbuchten. »Die sind in der Regel immer frei, sie werden nur von ein paar Spaziergängern genutzt. Und es ist eine Baustelle in der Nähe, deshalb parkt da im Moment ab und zu mal ein Baustellenfahrzeug von der Firma Lombardo.«
Während sie zum Auto zurückgingen, überlegte Thomas: »Warum hat der Tote gerade am vergangenen Tag sein Auto im Hahnenklamm abgestellt? Wenn er doch sonst immer bei den Schotterparkplätzen anhält? Es könnte interessant sein, die Antwort auf diese Frage zu finden!«
»Ja. Aber erst mal war das hier nicht besonders ergiebig.« Jürgen klang etwas frustriert. Ohne Ergebnis kehrten die beiden ins Präsidium zurück.
Miriam winkte ihnen schon auf dem Flur zu.
»Dr. Groß hat den Obduktionsbericht soeben geschickt!«
»Danke, Frau Kollegin, den lese ich mir durch!«, meinte Thomas. »Jürgen, schaust du dir bitte die gesicherten Spuren noch mal an?«
Nach zwei Stunden rauchten ihnen die Köpfe.
»Wir sind keinen Schritt weiter«, murrte Jürgen und biss in seine Möhre.
*
Am Nachmittag machten sich Thomas und Jürgen wieder auf den Weg zur Witwe von Walter Dölmann. Corinna Dölmann war in einem desolaten Zustand. Sie, die bei der ersten Begegnung so elegant ausgesehen hatte, trug einen sackartigen Jogginganzug, sie hatte rotgeweinte Augen und schwarz verfärbte Tränensäcke darunter. Ihre Frisur war völlig zerstört. Thomas spürte Mitgefühl in sich aufsteigen.
»Frau Dölmann, es tut uns leid, Sie noch einmal behelligen zu müssen, aber es sieht so aus, als wäre Ihr Mann keines natürlichen Todes gestorben.«
Sie riss die Augen weit auf und schnappte nach Luft. Thomas sprach schnell weiter, um die Panikattacke im Keim zu ersticken.
»Wir brauchen Informationen über die genauen Gewohnheiten Ihres Mannes, wir müssen wissen, wer seine Freunde waren und ob er Feinde hatte.«
Corinna Dölmann schluchzte erstickt und bedeutete ihnen, dass sie eintreten sollten. In diesen Moment platzte das Klingeln von Jürgens Smartphone. Er entschuldigte sich: »Das dauert nur einen Moment. Ich komme gleich nach.«
Wenig später saßen Thomas und Jürgen auf der Couchgarnitur der Witwe von Walter Dölmann gegenüber. Das gestern noch so penibel aufgeräumte Wohnzimmer wirkte, als hätte eine Bombe eingeschlagen, überall lagen Papiertaschentücher herum. Nach einem kurzen Augenblick erschien auch Dennis Dölmann mit seinem Rollstuhl in der Tür. Der junge Mann grüßte knapp.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass mein Mann überhaupt Feinde gehabt hat, jedenfalls fällt mir niemand ein.« Corinna Dölmann wedelte abwehrend mit den Händen. »Er war ein sehr umgänglicher Mensch. Er ging zweimal in der Woche zur Messe! Das kann unser Pfarrer bezeugen, wenn Sie den fragen wollen.«
Thomas nickte und zückte wieder sein Notizbuch. Warum ging jemand zweimal in der Woche zur Messe?
Frau Dölmann schien zufrieden, dass er sich das aufschrieb.
»Aber Sie sollten vorher einen Termin mit ihm ausmachen, er betreut mehrere Gemeinden und ist viel unterwegs«, fügte sie hinzu. Sie begann wieder zu schluchzen. »Ich verstehe es einfach nicht! Ausgerechnet jetzt, wo Walter sein Leben hätte genießen können, musste das passieren! Ich versuche die ganze Zeit, das zu verstehen, was Sie gesagt haben – keines natürlichen Todes. Bedeutet das, dass ihn jemand getötet hat?«
»Es ist nach der momentanen Sachlage nicht auszuschließen«, antwortete Thomas vorsichtig.
Corinna Dölmann zerknüllte das Papiertaschentuch in ihrer Hand und presste es sich auf den Mund.
»Wer hätte denn vom Tod Ihres Mannes einen Vorteil, Frau Dölmann?«, erkundigte sich Jürgen.
»Was – was meinen Sie damit?« Corinna Dölmann starrte ihn an.
»Ganz konkret: Wer erbt im Todesfall Ihres Mannes?«, führte Thomas aus.
Dennis Dölmann rollte ein Stück näher heran und meldete sich zu Wort: »Nur meine Mutter und ich sind die Erben. Ich hoffe doch nicht, dass Sie uns jetzt verdächtigen?«
»Wie können Sie denken, dass wir etwas mit dem Tod meines Mannes zu tun haben!«, schluchzte Corinna Dölmann. Sie bekam kaum noch Luft.
»Beruhigen Sie sich bitte, Frau Dölmann.« Thomas beugte sich vor und legte ihr die Hand auf den Arm. »Das sind nur Routinefragen, die wir in einem solchen Fall immer stellen müssen.«
Aber aus Erfahrung wusste er, dass es jetzt keinen Sinn mehr hatte, weiter zu fragen. Die Witwe war zu aufgeregt, vernünftige Antworten würden sie im Moment keine mehr bekommen.
»Frau Dölmann, Sie würden uns sehr helfen, wenn Sie uns ein aktuelles Foto Ihres Mannes für die Fahndung zur Verfügung stellen könnten«, sagte Jürgen. Corinna nickte fahrig, dann durchsuchte sie eine Schublade.
»Die Papierbilder sind alle schon älter«, erklärte sie. »Heutzutage macht man das ja alles nur noch digital. Dennis, hast du auf deinem Smartphone nicht Aufnahmen von vor zwei Wochen? Als wir auf der Geburtstagsfeier von Oskar waren?«
Dennis Dölmann nickte und holte sein Smartphone hervor. Thomas begutachtete den Schnappschuss, die Aufnahme zeigte einen triumphierend grinsenden Walter Dölmann im Kreise mehrerer anderer Leute, er machte das Victoryzeichen in die Kamera. Dennis scrollte weiter, bis er an eine Einzelaufnahme seines Vaters kam. Auch hier wirkte Dölmann sehr selbstbewusst.
»Das Bild können wir verwenden. Schicken Sie mir die Aufnahme freundlicherweise an diese Nummer.« Thomas nannte die Nummer seines Smartphones und wartete einen Moment, bis die Übertragung abgeschlossen war. »Ist angekommen. Vielen herzlichen Dank.«
Als sie wieder im Wagen saßen, griff Thomas zum Telefon und rief im Präsidium an.
»Miriam, kannst du bitte für uns die Vermögensverhältnisse von Herrn Dölmann ermitteln und uns so schnell wie möglich Bericht darüber erstatten?«
»Mach ich«, antwortete Miriam.
Thomas steckte sich das Smartphone in die Anzugtasche zurück.
»Lass uns noch einmal zum Tatort fahren, Jürgen.«
»Ah, willst du das noch mal auf dich wirken lassen? Manchmal hast du was von einem Medium. Die Schwingungen und so weiter.« Jürgen schüttelte gespielt verzweifelt den Kopf.
Diesmal parkten sie auf einem der geschotterten Parkplätze, die, wie der Anwohner ihnen berichtet hatte, meistens frei waren. Thomas ging die Parkplätze ab. Unter einem Busch lag lose ein weißrotes Plastikband. Er bückte sich und holte es heraus.
»Sieht aus wie ein Baustellen-Absperrband.«
»Ja, der alte Herr sagte ja, es sei hier eine Baustelle in der Nähe.«
»Ich nehme das Flatterband mal mit und gebe es in die Spurensicherung.«
Zu Fuß machten sie sich auf den Weg zu dem zweihundert Meter entfernten Tatort. Thomas betrachtete die dicht mit Buschwerk bewachsene Anhöhe erneut. Etwas entging ihm hier.
»Würdest du sagen, dass sich in dem Hang jemand gut verstecken könnte?«
Jürgen schüttelte den Kopf.
»Dieses ganze Gestrüpp steht viel zu eng nebeneinander, da passt niemand dazwischen.«
Thomas gab ihm recht, für ihn sah es genauso aus.
»Damit können wir das also wohl ausschließen.« Er verabschiedete sich nur ungern von diesem Gedanken. »Was haben wir denn sonst noch, Jürgen? Gibt es schon Nachrichten von der Spurensicherung bezüglich des Autos?«
Jürgen nickte.
»Das war der Anruf, als wir bei der Witwe des Toten waren. Im Fahrzeug des Toten wurden nur Dölmanns Fingerabdrücke sowie die seiner Frau und seines Sohnes festgestellt. Allerdings gibt es da ein ganz interessantes Detail: Sie haben einen Hausmeisterkittel, eine Schirmmütze und eine Perücke auf der Beifahrerseite gefunden.«
Thomas runzelte die Stirn.
»Kurios. Seltsam, ausgerechnet solche Kopfbedeckungen. Dölmann hatte eine Glatze, und auch auf den Fotos trug er die unbedeckt. Und der Kittel? Kannst du was damit anfangen?«
Jürgen zuckte nur die Achseln.
»Vielleicht weiß seine Frau was darüber?«
»Ja, die sollten wir fragen.«
»Dr. Groß hat im Obduktionsbericht geschrieben, dass Dölmann sich nicht gewehrt hat. Ob er seinen Mörder kannte?«
»Denkbar wäre das schon, das Fenster war geöffnet, er könnte sich mit ihm unterhalten haben. Natürlich ist es bei den Temperaturen auch denkbar, dass er einfach nur frische Luft gebraucht hat.«
»Also. Es ist möglich, dass Herr Dölmann kurz vor seinem Tod mit dem Mörder durch das offene Fenster geredet hat. Ich spekuliere mal weiter: Und dann hat der Mörder mit einer vorn abgerundeten Stange durch den Fensterspalt sein Opfer tödlich an der Schläfe getroffen. Das würde mit der Theorie von Dr. Groß übereinstimmen.«
Jürgen sah Thomas nachdenklich an. »Wäre das nicht zu auffällig gewesen, wenn hier jemand mit so einer Metallstange herumgelaufen wäre? Hätte die Zeugin, Frau Graf, das nicht zum Beispiel sehen müssen?«
»Das finden wir heraus. Wir lassen das Auto am Montag zum Tatort zurücktransportieren. Ich bin inzwischen sicher, dass wir was übersehen haben.«
Thomas war am Wochenende mit dem Fahrrad unterwegs gewesen. Der Fall ging ihm im Kopf herum, er war nicht in Stimmung für Verabredungen, obwohl die hübsche Blondine ihm mit einem Anruf signalisierte, dass er trotz seiner Absage weitere Chancen bei ihr hatte. Warum hatte Dölmann seinen Wagen nicht wie sonst auf dem Braschenplatz abgestellt, sondern genau da, wo er anschließend ermordet wurde? Thomas fuhr auf dem Leinpfad in Richtung Saargemünd immer an der Saar entlang, bis hinüber nach Frankreich. Das Grün, der Gesang der Vögel und das gleichmäßige Treten in die Pedale ließen seine Gedanken fließen, und er hatte eine Idee.
»Ich möchte etwas ausprobieren«, sagte er am Montagmorgen zu Jürgen. »Lass uns noch mal zu den Schotterparkplätzen fahren. Vielleicht hat der Mörder die blockiert, um Herrn Dölmann zu zwingen, das Auto irgendwo anders abzustellen.«
Thomas stellte den Wagen quer auf die Fläche und war zufrieden.
»Sieh an, man kann tatsächlich mit einem Auto die ganzen Parkplätze zustellen. Wir gehen von hier aus zu Fuß zum Tatort. Dort müsste inzwischen alles aufgebaut sein.«
Der Mercedes von Walter Dölmann stand am selben Platz wie vergangene Woche. Während Thomas und Jürgen auf die Kollegen warteten, die ihnen für die Untersuchung zugeteilt worden waren, suchten sie erneut nach Spuren auf dem Tatortgelände.
Eine halbe Stunde später waren die Beamten endlich vor Ort. »Wer war denn so intelligent und hat mit seinem Fahrzeug drei Parkplätze blockiert?«, fragte einer von ihnen verärgert. »Dadurch waren wir gezwungen, uns hier in diese enge Straße zu stellen. Das war übrigens nur möglich, weil sie für weitere Fahrzeuge abgesperrt ist.«
»Die Intelligenzbestie war ich, aber das hatte seinen Grund«, erwiderte Thomas heiter. »Und ihr habt gerade meine Vermutung bestätigt, dafür ein herzliches Dankeschön. Mein Versuch hat ergeben, dass hier in dieser Straße nur an der Stelle geparkt werden kann, wo man den Toten gefunden hat, weil dort eine kleine Einbuchtung ist. Das muss der Mörder gewusst haben.«
»Dann legen wir jetzt mal los!« Jürgen setzte sich hinter das Steuer des Mercedes und nahm die Position des Toten ein.
Der Schlüssel steckte noch im Zündschloss, genauso wie am Tattag. Thomas nahm einen Zweig, der für die Rekonstruktion des Geschehens als Tatwaffe dienen sollte. Er versuchte, durch das offene Fenster einen Hieb gegen Jürgen auszuführen. Aber es war unmöglich, den Zweig so präzise zu platzieren. Entweder landete die Waffe außen oder rutschte ziellos ins Wageninnere. Kein einziges Mal konnte Thomas einen tödlichen Hieb gegen Jürgens Schläfe antäuschen.
»So, wie ich gedacht habe, kann es nicht abgelaufen sein. – Lass uns mal schauen, ob der Tote auch außerhalb seines Fahrzeugs hätte umgebracht werden können und dann wieder hinters Steuer gesetzt wurde.« Thomas spürte Kopfschmerzen hinter den Schläfen aufkommen. Die Sonne knallte unerbittlich auf sie herunter. Erneut suchten sie den Tatort ab. Aber es gab keine Hinweise auf Thomasʼ Vermutung, ebenso wenig wie Anzeichen von Gegenwehr. Es blieb bei der bisherigen Erkenntnis: Der Tote hatte entweder seinen Mörder nicht gesehen oder er hatte ihn gekannt.
»Der Tathergang bleibt mir ein Rätsel«, gestand Jürgen.
»Der Mörder muss genau gewusst haben, was er tat«, meinte Thomas. »Wie hätte er Dölmann sonst mit so einer minimalen Verletzung töten können? Die Stelle war präzise gewählt. Du hast ja gesehen, dass ich es nicht hinbekommen habe.«
»Ja, du hast recht. Es ist erstaunlich, dass ihn in dieser dicht bebauten Gegend niemand gesehen hat.«
Thomas nickte.
»Der Mörder war sich anscheinend sicher, dass ihn niemand bemerken würde. Die Waffe hat er wieder mitgenommen.«
»Jemand mit Routine? Was meinst du?«
»Das wirkt alles sehr profihaft. Aber wir haben nach wie vor nichts Konkretes, sondern nur Vermutungen«, antwortete Thomas.
Er wandte sich an die anderen Beamten: »Ihr könnt den Tatort wieder räumen. Wir sind hier fertig.«
Im Präsidium wartete Miriam Maraschino mit der Information auf sie, dass der Tote gut betucht gewesen war. Als ehemaliger Geschäftsmann hatte er weitreichende Kontakte gehabt.
»Er hatte bis vor zweiundzwanzig Jahren eine florierende Textilfabrik in der Eifel, die er dann anscheinend zu einem sehr guten Preis verkauft hat«, berichtete sie. »Dr. Groß hat übrigens die Leiche zur Beerdigung freigegeben.«
»Okay«, sagte Thomas. »Herzlichen Dank, Miriam. Das Umfeld von Herrn Dölmann müssen wir prüfen. Ich möchte auch den Pfarrer befragen, denn es ist schon etwas ungewöhnlich, dass jemand zweimal in der Woche zur Messe geht. Das wirkt nicht so, als wenn er ein reines Gewissen gehabt hätte.«
Er lehnte sich in seinem Bürosessel zurück.
»Halt´ mich für verrückt, Jürgen, oder nicht, aber ich fahre noch mal zum Tatort.«
Sein Kollege sah ihn fragend an.
»Tatsächlich? Was versprichst du dir davon? Die Spurensicherung war fertig, und wir haben danach auch alles haarklein abgesucht!«
»Ich werde einfach das Gefühl nicht los, dass uns was entgeht. – Falls was Wichtiges ist, ruf´ mich bitte auf dem Handy an.«
Diesmal parkte Thomas vorschriftsgemäß auf dem Schotterparkplatz. Von hier aus hatte Dölmann nach Aussage seiner Frau seine täglichen Spaziergänge unternommen. Thomas stellte die Startzeit auf seiner Armbanduhr ein und machte sich auf den Weg.
Nach zwölf Minuten auf einem schmalen Pfad durch eine Wiese und ein Wäldchen stand er vor einem Zaun. Hier war der Weg zu Ende. Das war ein bisschen wenig für einen ausgedehnten Spaziergang.
Unterwegs suchte er nach einer Versteckmöglichkeit für den Täter. Nach sechs Minuten war er am ersten Haus, nach einer halben Stunde am Auto. Plötzlich drängte sich ein Bild in sein Bewusstsein, eine Beobachtung, die er am Tatort gemacht hatte. Er verstand die Bedeutung zunächst nicht, denn es sah völlig normal aus. Bis er endlich begriff, was ihm aufgefallen war: Ein Teil des Buschwerks gegenüber dem Tatort ließ die Blätter hängen. Im Herbst wäre das vielleicht eine völlig normale Beobachtung gewesen – er kannte sich mit Pflanzen nicht so recht aus – aber nicht zu dieser Jahreszeit, vor allem, wo rechts und links daneben alles grünte.
Er ging zurück zu der Stelle, wo der Mercedes gestanden hatte. Dann zog er sein Smartphone heraus und rief im Polizeipräsidium an. Nach einer Dreiviertelstunde waren Jürgen und die Spurensicherung wieder vor Ort. Allgemeines Staunen setzte ein.
Gegenüber dem Tatort welkten in Mannsbreite an dem dort stehenden Busch die Blätter. Rechts und links davon war saftiges Blattwerk.
»Das kann kein Zufall sein.« Thomas griff ins Gebüsch. Schon fielen die ersten Zweige zu Boden. Er trat beiseite und ließ die Kollegen der Spurensicherung ran. Einer der Männer ruckte kurz an dem Strauch, und dann hatte er ihn in der Hand. Das Buschwerk war an dieser Stelle nur in den Boden gesteckt worden.
»Da ist anscheinend am Mordtag ein frischer Busch in der Erde platziert worden, um die Lücke zu schließen«, schlussfolgerte Jürgen. »Kein Wunder, dass wir das erst jetzt sehen. Der hat jetzt ein paar Tage kein Wasser aufnehmen können, deshalb ist er welk.«
»Hier hat sich ganz eindeutig jemand versteckt«, teilte ihnen ein Beamter der Spurensicherung mit. »Da sind Schuhabdrücke.«
»Was ist das für eine Pflanze?«, erkundigte sich Thomas bei ihm. Als er den erstaunten Blick sah, grinste er entschuldigend: »Ich habe mit Grünzeug ziemlich wenig am Hut. Aber Sie scheinen es identifizieren zu können?«
Sein Gegenüber lachte.
»Das ist nichts Besonderes, ein ganz gewöhnlicher Kirschlorbeer. Die gedeihen hier anscheinend massenhaft.«
»Aha, das Kind hat also einen Namen«, mischte sich Jürgen ein. Er kannte die Pflanze offenbar auch nicht.
»Dann ist es wahrscheinlich, dass der Mörder sich hinter dem Busch – Verzeihung, dem Kirschlorbeer – verborgen und sein Opfer über längere Zeit beobachtet hat. In dem sommerlichen Grün ist niemandem die Lücke im Buschwerk aufgefallen. Was habt ihr denn sonst noch?«
»Die Schuhabdrücke, von denen ich eben sprach, ohne Sohlenprofil«, gab der Beamte zurück. »Wir machen jetzt die Gipsabdrücke, die wir nachher ins Labor schicken. Es könnte auch noch mehr an den Zweigen hängen.«
*
»Ich glaube, dass dieser Mord von langer Hand vorbereitet wurde«, meinte Thomas.
Jürgen nickte.
»Die Sache mit dem Busch lässt auf Planung schließen. Vielleicht ergibt sich durch die Abdrücke noch was Konkreteres.«
Thomas hoffte das auch, doch nach zwei Stunden Wartezeit kam das ernüchternde Ergebnis: Zwar hatte die Schuhgröße ermittelt werden können – Größe 43 – aber Näheres war nicht auszumachen gewesen.
»Es ist offensichtlich etwas über die Schuhe gezogen worden, vielleicht Einkaufstüten«, leitete Jürgen das Ergebnis seines Telefonats an Thomas weiter. »Und zwar solche von einer besonders guten, stabilen Sorte, sonst hätten wir Überreste davon gefunden. Das Gewicht der Person wird auf siebzig bis neunzig Kilo geschätzt.«
»Na, davon gibt es ja ein paar.« Thomas konnte sich die Ironie nicht verkneifen. Er gab den Auftrag, auch die toten Zweige aus dem fast ausgetrockneten Bachlauf zu untersuchen, zu dem vom Tatort ein schmaler Hang hinunterführte. Aber man fand am frischen Kirschlorbeer keine Fingerabdrücke. Und die Blätter der Buschattrappe waren bereits zu vertrocknet.
»Wir haben da was, die Herren.« Der Kollege von der Spurensicherung hielt Thomas und Jürgen einen Klarsichtbeutel mit ein paar blauen Fasern entgegen. »Sieht aus wie von Arbeitskleidung. Das muss aber erst mal geprüft werden.«
Im Präsidium bat Hauptkommissar Reinhard zum Rapport.
»Dann lasst mal hören.«
»Wir stehen immer noch am Anfang.« Thomas seufzte. Er setzte seinen Chef in Kenntnis von den Funden des heutigen Tages.
Reinhard setzte wieder seinen Scannerblick auf und strich sich mit den Fingern sein Resthaar in die Stirn.
»Dann klemmt euch dahinter, damit wir zu Ergebnissen kommen.«
Nach Verlassen des Zimmers feixte Jürgen: »Ja, klemm dich dahinter, Thomas. Du hast den Chef gehört – jetzt werden keine Blondinen gesucht, sondern ein Mörder! Deine Freundin von letztens ist bestimmt eh schon über alle Berge.«
Miriam war mit einem Stapel Aktenordnern neben ihnen aufgetaucht. Sie grinste über Jürgens Worte – Thomas wusste, dass sie seine Vorlieben kannte und ihre eigene Meinung dazu hatte. Dann sagte sie: »Der Täter hat sich also hinter diesem Busch versteckt und aus diesem Versteck heraus gemordet. Hört sich für mich nach einem eiskalten Killer an. Planen, durchführen und nach der Tat einfach wegspazieren, das ist kein Mord im Affekt.«
Thomas hielt die Luft an.
»Miriam, du meinst, dass der Täter sich nicht aus dem Gebüsch wegbewegt hat? Interessant.«
Miriam nickte.
»Wenn das Opfer den Mörder gesehen hätte, hätte er sicher die Scheibe hochgedreht und die Türen verriegelt. Stell dir mal vor, selbst wenn Dölmann den Mörder gekannt hätte, wäre ihm sicher schnell bewusst geworden, dass der etwas Schlimmes im Sinn hat. Verriegeln der Türen, Hochfahren der Scheiben geht doch bei den Autos heute ruckzuck. Ich wette, Dölmann hat seinen Mörder nicht gesehen, und daraus schließe ich, dass er die ganze Zeit im Gebüsch geblieben ist.«
»Eine spannende Theorie, Frau Maraschino, der ich gern folgen mag«, meldete sich Hauptkommissar Reinhard zu Wort, der hinter ihnen aufgetaucht war. »Jetzt hätte ich von euch allen gern eine Erklärung, wie und womit der Mörder die Tat aus drei Metern Entfernung hat begehen können, und zwar so, dass er präzise die richtige Stelle traf.«
Jürgen warf ein: »Wir sollten die Tat vor Ort nachstellen.«
»Miriam, kann ich dich dafür gewinnen?«, fragte Thomas.
»Wie bitte?«
»Ich möchte, dass du dabei bist.«
»Ach schau an. Das sind ja erstaunliche Methoden, Herr Kommissar«, amüsierte sich Miriam. »Müssen wir jetzt schon auf die Beamtin in der Ausbildung zurückgreifen, um den Fall zu lösen?«
»Schließlich ist es deine Theorie. Und stell dein Licht nicht unter den Scheffel. Du weißt selbst, wie gut du bist«, antwortete Thomas.
Miriam lachte.
»Sehr schmeichelhaft. Ich könnte es ernster nehmen, wenn ich bei dir nicht immer so meine Zweifel hätte, was deine Motivation anbelangt. Na schön. Dann versuchen wir gleich mal unser Glück.«
Thomas bestellte einen Gutachter zum Tatort. Ein Einsatzfahrzeug wurde an derselben Stelle wie der Mercedes platziert. Hinter dem Steuer saß ein Dummy. Als alles positioniert war, brachten Thomas, Jürgen, Hauptkommissar Reinhard und Miriam jeweils ihre eigene Vorstellung vom Tathergang ein. Nach mehreren Versuchen brach Thomas das Ganze schließlich ab.
»Miriam, das Ergebnis ist eindeutig. Du hast recht, Dölmann hat seinen Mörder nicht gesehen, der Täter hat sich im Gebüsch versteckt und die Tat aus drei oder vier Metern Entfernung ausgeführt.«
»Das verrät uns aber noch nicht, wie er es gemacht hat.« Miriam runzelte die Stirn. »Ich habe keine Idee, was für eine Waffe er verwendet haben könnte.«
»Ich tippe auf Pfeil und Bogen.« Thomas sah die Überraschung in den Gesichtern der anderen.
»Wie kommst du darauf?«, fragte Jürgen.
»Ich habe in meiner Jugend Bogenschießen gemacht. Ich kenne mich damit ziemlich gut aus. Das Geschoss muss eine an der Spitze abgerundete Stange oder ein abgerundeter Pfeil gewesen sein, der den Abdruck an der Schläfe des Toten hinterlassen hat.«
»Ja, das macht Sinn«, antwortete Jürgen.
»Nach den Indizien hat der Täter den Busch für sein Versteck mitgebracht, und das mindestens zweimal«, spann Thomas seine Gedanken weiter. »Er hat das Szenario vorab durchgeprobt. Das belegen die im Bachbett gefundenen verwelkten Zweige. Er hat aus den Kirschlorbeerbüschen am Hang einen schmalen Teil herausgeschnitten und sich dahinter versteckt. Damit später keine welke Stelle im Buschwerk auffiel, nahm er das abgeschnittene Geäst mit und entsorgte es im Bachlauf. Für weitere Beobachtungen hat er irgendwoher weiteren Kirschlorbeer mitgebracht, den er an der alten Stelle in den Boden steckte, um die Lücke zu tarnen. Am Tattag, an dem Dölmann zum ersten Mal an dieser Stelle parkte, hat der Mörder sein Opfer unbemerkt beobachtet. Er wusste oder hat dafür gesorgt, dass Dölmann seinen Wagen dort abstellen musste. – Kollegen, ihr könnt gleich mal schauen, woher der abgeschnittene Kirschlorbeer stammt. Vielleicht hat er ihn hier in der Umgebung herausgenommen. Das muss ja Spuren hinterlassen haben.«
»Das klingt ja schon ziemlich rund«, nickte Jürgen.
»Wir können es noch weiter ausbauen«, ergänzte der Hauptkommissar. »Ich fasse mal zusammen. Der Täter hat am 17. August aus der Deckung dieser Büsche auf das Opfer einen Pfeil abgeschossen. Nach der Tat hat er gegen Viertel nach neun das Gebüsch verlassen. Diesmal nahm er den Busch nicht mit, sondern steckte ihn wieder hinter sich in die Erde, damit die Lücke nicht auffiel. Er ging zum Wagen von Walter Dölmann, um das Geschoss an sich zu nehmen. Die Tüten, die er um seine Schuhe gewickelt hatte, hatte er zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich schon entfernt, weil sie hätten Spuren hinterlassen können und natürlich auch auffällig waren.