Kompendium der akademischen Sprachtherapie und Logopädie -  - E-Book

Kompendium der akademischen Sprachtherapie und Logopädie E-Book

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Beschreibung

Das vierbändige "Kompendium der akademischen Sprachtherapie und Logopädie" vermittelt die Grundlagen der in den Prüfungs- und Studienordnungen vorgesehenen Inhalte. Gleichzeitig berücksichtigt es sämtliche Aufgabenbereiche der Praxis. Der erste Band behandelt ausführlich grundlegende Arbeits- und Forschungsmethoden, Möglichkeiten der fachspezifischen Qualitätssicherung, Diagnostik und Therapiedidaktik und geht auf Fragen des Beratungs- und Therapeutenverhaltens ein. Damit werden Basisqualifikationen vermittelt, die in den weiteren Bänden im Hinblick auf interdisziplinäre Grundlagen der beteiligten Wissenschaften sowie Kompetenzen im Hinblick auf die einzelnen Störungsbilder und Erscheinungsformen spezifiziert werden.

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Manfred Grohnfeldt (Hrsg.)

Kompendium der akademischen Sprachtherapie und Logopädie

Band 1 Sprachtherapeutische Handlungskompetenzen

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

1. Auflage 2016

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-029288-8

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-029289-5

epub:    ISBN 978-3-17-029290-1

mobi:    ISBN 978-3-17-029291-8

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Vorwort

 

 

 

 

Seit gut einem Jahrzehnt hat sich mit der Etablierung der akademischen Sprachtherapie und der fortschreitenden Akademisierung der Logopädie als junge aufstrebende Fachdisziplinen eine vollkommen neue Situation des Sprachheilwesens in Deutschland ergeben. Verbunden damit ist eine weitgehend vergleichbare Form des Studiums und der Ausbildung, die mit den Krankenkassen als Kostenträgern abgestimmt ist und sich von dem traditionellen Studium der Sprachheilpädagogik in den meisten Studienstätten deutlich absetzt.

Das vierbändige »Kompendium der akademischen Sprachtherapie und Logopädie« vermittelt die Grundlagen der in den Prüfungs- und Studienordnungen dargelegten Inhalte. Gleichzeitig ist es ein Abbild der Aufgabenbereiche in der Praxis. Dem Umfang des damit verbundenen Stoffs entsprechend wird eine Aufteilung in folgende Bände vorgenommen:

•  Band 1: Sprachtherapeutische Handlungskompetenzen

•  Band 2: Interdisziplinäre Grundlagen

•  Band 3: Störungsbezogene Kompetenzen Sprachentwicklungsstörungen, Redeflussstörungen, Rhinophonien

•  Band 4: Störungsbezogene Kompetenzen Aphasien, Dysarthrien, Sprechapraxie, Dysphagien – Dysphonien

Der vorliegende Band 1 geht auf grundlegende Arbeits- und Forschungsmethoden, Möglichkeiten der fachspezifischen Qualitätssicherung, Diagnostik und Therapiedidaktik sowie Fragen des Beratungs- und Therapeutenverhaltens ein. Damit werden Basisqualifikationen vermittelt, die in den weiteren Bänden im Hinblick auf interdisziplinäre Grundlagen der beteiligten Wissenschaften sowie Kompetenzen im Hinblick auf die einzelnen Störungsbilder und Erscheinungsformen spezifiziert werden.

Übergreifend wird hiermit ein Werk angeboten, das in übersichtlicher Form den aktuellen Stand der sprachtherapeutischen Fachdisziplinen in Deutschland bei einem Blick nach vorne repräsentiert. Soweit möglich wird dabei auf zusätzlich online verfügbare Materialien verwiesen. Das Kompendium ist vom Ansatz her nicht nur für das Studium und die Rezeption theoretischer Grundlagen, sondern durch die informative und kompakte Darstellung auch für die Praxis »vor Ort« gleichermaßen von Interesse.

Zu danken ist den Autorinnen und Autoren des Fachbeirats, die sich dieser anspruchsvollen Aufgabe gestellt haben sowie dem Kohlhammer Verlag und hier insbesondere Herrn Dr. Klaus-Peter Burkarth für die lange und vertrauensvolle Zusammenarbeit, die Grundlage für die Herausgabe dieser Publikation ist. Es bleibt zu wünschen, dass damit ein prospektives Standardwerk für viele Jahre vorgelegt wird.

München, im Juni 2016

Manfred Grohnfeldt

Inhalt

 

 

 

Vorwort

I Einführung

Entstehung und Wandel der Berufsgruppen des Sprachheilwesens in Deutschland

Manfred Grohnfeldt

II Wissenschaftliche Arbeits- und Forschungsmethoden

Wissenschaftstheoretische Grundlagen

Manfred Grohnfeldt

Evidenz im sprachtherapeutischen Alltag: Methodisches Vorgehen

Nicole Stadie

Zur Bedeutung der ICF

Holger Grötzbach & Claudia Iven

III Qualitätssicherung

Grundlagen und Merkmale der Qualitätssicherung

Ulla Beushausen

Zur Bedeutung qualitativer Studien

Jürgen Kohler

Fragen der Evidenzbasierung

Erich Hartmann

IV Diagnostik

Allgemeine Kriterien und Grundlagen der Diagnostik

Steffi Sachse & Markus Spreer

Überblick zu störungsspezifischen Verfahren bei Kindern

Markus Spreer

Überblick zu störungsspezifischen Verfahren bei Erwachsenen

Sandra Schütz

V Therapiedidaktik

Sprachtherapeutische Didaktik

Karin Reber & Wilma Schönauer-Schneider

Sprachtherapeutische Didaktik bei Kindern und Jugendlichen

Elisabeth Wildegger-Lack & Karin Reber

Spezielle Fragen und Voraussetzungen der Therapiedidaktik bei Erwachsenen

Cornelia Zeller

VI Beratungs-/Therapeutenverhalten

Kooperation in der Sprachtherapie

Hilke Hansen

Beratung und Gesprächsführung in der Sprachtherapie

Manfred Grohnfeldt

Interdisziplinäre Kooperation zwischen Institutionen und Professionen

Stephan Sallat & Julia Siegmüller

Herausgeber

Autorenverzeichnis

 

 

 

 

 

I           Einführung

Entstehung und Wandel der Berufsgruppen des Sprachheilwesens in Deutschland

Manfred Grohnfeldt

 

Einleitung

Das Sprachheilwesen in Deutschland ist durch die Existenz unterschiedlicher Berufsgruppen, die sich zudem in ihren Grundlagen erheblich unterscheiden, bei teilweise je nach Bundesland verschiedenartigen Institutionen und Formen der Ausbildung weltweit einzigartig. Zudem ist es in einer ständigen Veränderung begriffen. Bereits die letzten 20 Jahre haben durch einen erheblichen Ausbau an Logopädenschulen zu einer Schwerpunktverlagerung vom pädagogischen in den klinischen Bereich geführt. Das letzte Jahrzehnt hat durch die Etablierung der akademischen Sprachtherapie als eigenständige Fachrichtung und den zunehmenden Anteil an akademischen Ausbildungsformen der Logopädie in Fachhochschulen diesen Trend verstärkt. Zudem befindet sich die Sprachheilpädagogik, die als traditionelle sonderpädagogische Fachdisziplin lange Zeit dominierend war, durch das neue Aufgabengebiet der Inklusion in einer deutlichen Veränderung, die zu einer Metamorphose und Diversifikation des Selbstverständnisses führen kann. Im Folgenden wird abrissartig aufgezeigt,

•  wie es dazu gekommen ist,

•  welche Merkmale die aktuelle Situation kennzeichnen und

•  mit welchen Perspektiven und Aufgabenstellungen das Fachgebiet in der Zukunft zu rechnen hat.

Übergreifend geht es darum, auf der Basis einer strukturbezogenen Analyse prospektive Aufgabenstellungen für die betroffenen Fachdisziplinen und ihre Kooperation abzuleiten.

1           Vorgeschichte

Die klassischen Fachdisziplinen Sprachheilpädagogik und Logopädie berufen sich beide auf gemeinsame Wurzeln in der Pädagogik und Medizin (Grohnfeldt 2014a, Maihack 2001), die ebenso für die akademische Sprachtherapie gelten. Im Folgenden werden abrissartig wesentliche Weichenstellungen, Bezugspunkte und Entwicklungslinien der drei Fächer aufgezeigt. Genauere Angaben und Details finden sich u. a. bei Grohnfeldt (2014a, 2014b).

1.1         Sprachheilpädagogik

Als wesentlicher Initiator der Sprachheilpädagogik gilt der Gehörlosenpädagoge Albert Gutzmann (1837–1910), der mit seinem Buch »Das Stottern und seine gründliche Beseitigung durch ein methodisch geordnetes und praktisch erprobtes Verfahren« (Gutzmann 1879) Wegbereiter einer Entwicklung wurde, bei der über die Einrichtung von Sprachheilkursen (ab 1883), Sprachheilklassen (ab 1901) und Sprachheilschulen (ab 1910) ein System pädagogischer Institutionen für sprachbehinderte Kinder und Jugendliche aufgebaut wurde. Das damit verbundene Selbstverständnis einer Verbindung von Unterricht und Therapie überdauerte die Zeit des Nationalsozialismus und wurde nach dem Zweiten Weltkrieg weitergeführt und vertieft. Für den flächendeckenden Ausbau an Sprachheilschulen waren die »Empfehlungen zur Ordnung des Sonderschulwesens« vom 16. März 1972 entscheidend. Die Sprachheilpädagogik hatte sich in den Jahren davor als »eigenständige«, von der Medizin unabhängige Fachdisziplin erklärt (Orthmann 1969) und partizipierte an dieser Grundsatzentscheidung für den Ausbau von Sonderschulen in Deutschland. Eine erhebliche Unterstützung erfolgte dabei durch die »Deutsche Gesellschaft für Sprachheilpädagogik« (dgs).

Die nächsten beiden Jahrzehnte zwischen 1970 und 1990 kann man als Höhepunkt einer Entwicklung ansehen, bei der die Sprachheilpädagogik innerhalb des Sprachheilwesens in Deutschland rein quantitativ und von ihrem pädagogischen Selbstverständnis her eindeutig dominierte. Einen Paradigmenwechsel brachten die »Empfehlungen zur sonderpädagogischen Förderung in Schulen in der Bundesrepublik Deutschland« vom 6. Mai 1994 mit sich, da hier integrative Einrichtungen und behinderungsübergreifende Förderzentren (Lernen, Verhalten, Sprache) favorisiert wurden. In den meisten Bundesländern führte dies zu einem gravierenden Abbau von Sprachheilschulen. Gleichzeitig wandelte sich das Selbstverständnis des Faches, wobei die parallel laufenden Entwicklungen in der Logopädie und akademischen Sprachtherapie ebenso eine Rolle spielten. Diese Entwicklung wurde vertieft und beschleunigt durch den Beschluss der Kultusministerkonferenz »Inklusive Bildung von Kindern und Jugendlichen in Schulen« vom 20.10.2011, der zu neuen Aufgabenstellungen im Kontext mit der Regelschulpädagogik führte, die auf die Standortbestimmung der Sprachheilpädagogik einen erheblichen Einfluss ausübten.

1.2         Logopädie

Die Bezeichnung »Logopädie« wurde zum ersten Mal durch den Wiener Ohrenarzt Emil Fröschels (1885–1972) in seiner Veröffentlichung »Lehrbuch der Sprachheilkunde (Logopädie) für Ärzte, Pädagogen und Studierende« (Fröschels 1913) genannt. Die von ihm auf dem Kongress der »International Association of Logopedics and Phoniatrics« (IALP) 1926 in Wien geforderte eigenständige akademische Ausbildung wurde jedoch nicht weiter verfolgt. Erst 1962 kam es durch die Initiative des Mediziners Hermann Gutzmann jun. (1892–1972), dem Enkel von Albert Gutzmann, zur Gründung der ersten Logopädenschule in Berlin. Ganz anders als von der ursprünglichen Idee Fröschels her gedacht handelte es sich jedoch um eine Ausbildung in Fachschulen als Heilhilfsberuf bei einer deutlichen Abhängigkeit von der Weisungsbefugnis durch einen Mediziner (Phoniater).

1980 wurde das Logopädengesetz verabschiedet, auf dessen Grundlage eine einheitlich geregelte staatliche Ausbildung durch die »Logopädenausbildungs- und Prüfungsordnung« (LogAPro) erfolgte, die die Berufsbezeichnung gesetzlich schützte und die Abrechnung mit den Krankenkassen ermöglichte. Dies war ein Vorteil gegenüber den Sprachheilpädagoginnen/-pädagogen. Andererseits war die Ausbildung auf einem nichtakademischen Fachschulniveau. Bei einer Unterstützung durch den »Deutschen Bundesverband für Logopädie« (dbl) erfolgte ein allmählicher Ausbau an Logopädenschulen, der sich Ende der 1990er Jahre durch die Gründung privater Einrichtungen erheblich steigerte. Heute gibt es 90 Logopädenschulen, von denen über 60 auf privater Basis mit teilweise hohen Gebühren tätig sind. Parallel kam es zu einer erheblichen Schwerpunktverlagerung in den klinischen Bereich. Die Logopädie ist heute (zusammen mit der akademischen Sprachtherapie) quantitativ eindeutig dominierend im öffentlichen Bewusstsein. War sie vor 30 Jahren am Rande erwähnt, so gibt es derzeit – variierend je nach Bundesland – fünfmal so viel Angehörige klinisch tätiger Berufsgruppen im Vergleich zu Sprachheilpädagoginnen.

Gleichzeitig führte das Manko der Fachschulausbildung, die im internationalen Vergleich die totale Ausnahme darstellt, zu einem langdauernden Kampf um Akademisierung. Erfolge verspricht hier die am 26. Mai 2009 im Deutschen Bundestag verabschiedete Modellklausel (Öffnungsklausel), bei der zeitlich befristete Ausbildungskonzepte auf Hochschulniveau im Bereich der Ergotherapie, Logopädie, Hebammenkunde, Pflege und Physiotherapie bis zum Jahr 2017 erprobt werden. Erste wegweisende Entscheidungen sind jetzt gefallen (Kap. 2).

1.3         Akademische Sprachtherapie

Von einer eigenständigen Fachrichtung der akademischen Sprachtherapie kann man seit dem Jahr 2004 sprechen. Vorausgegangen war die Gründung der »Arbeitsgemeinschaft der freiberuflichen und angestellten Sprachheilpädagogen« (AGFAS) am 23.1.1993 als unselbständige Untergliederung der »Deutschen Gesellschaft für Sprachheilpädagogik« (dgs). Wesentlicher Initiator war Volker Maihack (dazu: Grohnfeldt 2015). Gegen erhebliche Widerstände vertrat er die Interessen der »außerschulischen« (der damalige Ausdruck) Sprachheilpädagogen und baute den Verband zielstrebig aus. Am 23.1.1999 erfolgte eine Umbenennung der AGFAS in »Deutscher Bundesverband der Sprachheilpädagogen« (dbs) als selbständige Untergliederung der dgs.

Die entscheidende Statusänderung erfolgte am 24.1.2004 durch eine Umbenennung in »Deutscher Bundesverband der akademischen Sprachtherapeuten« (dbs) bei einer Loslösung von der dgs. Gleichzeitig wurden durch den dbs die Interessen der Klinischen Linguisten (BKL), Patholinguisten (vpl) und Klinischen Sprechwissenschaftler (DBKS) vertreten. Dabei wurden durch den dbs in Kooperation mit dem dbl und maßgeblichen Hochschulvertretern die Grundzüge eines einheitlichen universitären Studiums der Sprachtherapie entwickelt, das von den Krankenkassen als Kostenträgern anerkannt wurde. Nachträglich gesehen kann man von einer Geburtsstunde der akademischen Sprachtherapie als klinische Wissenschaft sprechen. Die dabei ablaufenden Ablösungsprozesse von der Sprachheilpädagogik im Kontext der sprachtherapeutischen Berufe verdeutlichen diesen Vorgang (Abb. 1).

Schon früh zeichnete sich ab, dass die akademische Sprachtherapie mehr Berührungspunkte zur Logopädie als zur Sprachheilpädagogik hat (Grohnfeldt 2004). Heute kooperieren dbs und dbl in gemeinsamen Forschungsprojekten, Kongressen und Fachgesprächen eng miteinander. Die Landschaft des Sprachheilwesens in Deutschland hat sich nicht nur quantitativ zugunsten der klinischen Berufsgruppen, sondern auch strukturell in ihrem Selbstverständnis entscheidend gewandelt.

Abb. 1: Entstehungsphasen der Sprachtherapie aus der Sprachheilpädagogik im Kontext der sprachtherapeutischen Berufe (Grohnfeldt 2010, 160)

2           Die aktuelle Situation

So wie für die Sprachheilpädagogik derzeit die Inklusion das beherrschende Thema ist, so ist für die Logopädie und indirekt auch für die akademische Sprachtherapie die Modellklausel (Öffnungsklausel) von entscheidender Bedeutung (Kap. 1, »Logopädie«). Die am 26. Mai 2009 im Deutschen Bundestag verabschiedete Erprobung für eine Akademisierung der Logopädie sieht einen Vergleich der Ausbildungsqualität in den herkömmlichen Fachschulen für Logopädie im Vergleich zu neuen Studiengängen an Fachhochschulen vor.

Erste Ergebnisse liegen aus Nordrhein-Westfalen vor. Bei einer Evaluation der Modellstudiengänge stellt der wissenschaftliche Fachbeirat fest, dass das Studium an Fachhochschulen zu einem »Kompetenzniveau mit erkennbarem Mehrwert führt« und »die akademische Ausbildung […] in den Regelbetrieb zu überführen« (Maihack 2015, 234) ist. Damit ist eine grundlegende Weichenstellung in diesem bevölkerungsreichsten Bundesland für die Zukunft vorgenommen worden. Ebenso positiv wurde die wissenschaftliche Evaluation des Studiengangs B. Sc. Logopädie an der medizinischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg in Kooperation mit der Berufsfachschule für Logopädie Erlangen vollzogen, wobei »die gelungene Verbindung der wissenschaftlichen mit der praktischen Ausbildung« (Krüger & Degenkolb-Weyers 2015, 202) besonders hervorgehoben wurde. Die Entscheidungen in anderen Bundesländern sind abzuwarten. Die Tür zu einer Akademisierung der Logopädie ist jedoch nach jahrzehntelangem Bemühen geöffnet.

Diese Situation ist Ausdruck einer Entwicklung, die sich bereits in den letzten Jahren abzeichnete. Dem extremen Anstieg auf aktuell 90 Logopädenschulen folgte die Einrichtung von 9 Bachelor-/Masterstudiengängen der akademischen Sprachtherapie sowie die Gründung von aktuell 18 Studiengängen für Logopädie an Fachhochschulen, von denen 12 auf privater Trägerschaft betrieben werden (Scharff Rethfeld & Heinzelmann 2013). Dem stehen 14 Universitäten und 2 Pädagogische Hochschulen gegenüber, an denen Sprachheilpädagogik studiert werden kann (Abb. 2).

Abb. 2: Ausbildungs- und Studienmöglichkeiten im klinischen und schulischen Bereich (Grohnfeldt 2014c, 78)

Allein die Anzahl der Absolventinnen in den nächsten Jahren lässt erwarten, dass sich die bereits vor über einem Jahrzehnt festgestellte Schwerpunktverlagerung vom pädagogischen in den klinischen Bereich in den nächsten Jahren vertiefen wird. Doch es geht nicht nur um quantitative, sondern auch um qualitative Merkmale der zu erwartenden Entwicklung. Die Verbände der Logopädie (dbl) und akademischen Sprachtherapie (dbs) haben bereits 2002 einen Kooperationsvertrag abgeschlossen, der in letzter Zeit durch gemeinsame Projekte und Initiativen – auch im Hinblick auf die Modellklausel (Öffnungsklausel) – vertieft wurde. Die Zeitschrift »Logos. Die Fachzeitschrift für akademische Sprachtherapie und Logopädie« ist erklärtermaßen Publikationsorgan für beide Berufsgruppen.

Gleichzeitig befindet sich die Sprachheilpädagogik durch das neue Aufgabengebiet der Inklusion in einem erheblichen Strukturwandel. Die KMK-Empfehlungen vom 20.10.2011 haben zu einem erneuten Paradigmenwechsel geführt und die bereits durch die KMK-Empfehlungen vom 6.5.1994 eingeleiteten Veränderungen im institutionellen Bereich und des Selbstverständnisses weiter vertieft und beschleunigt. Die Umsetzung der Empfehlungen verläuft dabei in den einzelnen Bundesländern total unterschiedlich, so dass es zu einer erheblichen Diversifikation kommt. Die Sprachheilpädagogik steht vor der Aufgabe, ihre Identität unter Wahrung bestimmter grundsätzlicher Merkmale neuanpassend zu definieren.

Sieht man sich übergreifend die Stellung der beteiligten Fachdisziplinen des Sprachheilwesens in Deutschland an, so ist eine Einschätzung »zwischen Konkurrenz und Kooperation« (Huber 2013, 30) der pädagogischen und klinischen Berufsgruppen realistisch. Aktuell zu konstatieren ist die Tendenz des Auseinanderdriftens. Es erfolgt keine offene aktive Abgrenzung der Verbände untereinander. Die Gemeinsamkeiten nehmen aber eher ab. Die Anzahl der Fachvertreter/innen sinkt, die sich in beiden Bereichen zu Hause fühlen. Bedenken sollte man jedoch, dass ein Verständnis des Gesamtkontextes die Kenntnis beider Perspektiven voraussetzt. Eins hängt vom anderen ab. So hat ein Erfolg der Modellklausel (Öffnungsklausel) für die Sprachheilpädagogik ebenfalls erhebliche Auswirkungen, auch wenn manche/r Pädagogin/Pädagoge von deren Existenz kaum etwas weiß. Und ebenso wird die für die Sprachheilpädagogik geradezu existenzielle Inklusion auch Auswirkungen auf die Sprachtherapie haben – wahrscheinlich mehr, als viele derzeit vermuten.

3           Perspektiven und Aufgabenstellungen für die Zukunft

Es ist nicht ausgeschlossen, dass im Zusammenhang mit einer weiteren Schwerpunktverlagerung in den klinischen Bereich auch eine Auseinanderentwicklung der Interessen im Bereich der Sprachheilpädagogik und akademischen Sprachtherapie/Logopädie erfolgt. Die aktuelle Aufgabenstellung der Modellklausel (Öffnungsklausel) auf der einen Seite und die Inklusion auf der anderen Seite sind jedoch nur die herausgehobenen Spitzen von Eisbergen. Dahinter liegen komplexe Zusammenhänge, deren Merkmale sich aufeinander beziehen und den klinischen und pädagogischen Bereich miteinander vernetzen. Es besteht die Notwendigkeit, Kontexte zu erkennen, um auf die Vielfalt an Strukturen eingehen zu können, die sich auf das Gesamtsystem auswirken. Eine gemeinsame Aufgabenstellung ist sicher das Zusammenwirken von Sprachheilpädagoginnen und Sprachtherapeutinnen mit Regelschulpädagoginnen im Bereich der Inklusion. Dazu gibt es prospektive Ansätze (Grohnfeldt & Lüdtke 2013), deren Umsetzung je nach den lokalen Bedingungen »vor Ort« erfolgt.

Aktuell ist jedoch eher die Situation einer unverbindlichen Koexistenz zu beobachten. Die Sprachheilpädagogik und die klinischen Berufe haben zwar inhaltlich, durch ihre finanziellen Grundlagen in der Kultusbürokratie bzw. im Krankenkassensystem jedoch formal wenige Bezugspunkte. Dieses Nebeneinander kann in Krisenzeiten oder bei einem regionalen Überangebot zu einer latenten Konkurrenz werden. Ein Aufruf zur Kooperation (Grohnfeldt 2013, 10: »Gemeinsam sind wir stärker«) hängt weniger von theoretischen Konzeptionen, sondern eher von den beteiligten Menschen in den Verbänden und praktischen Einrichtungen ab. Bedenken sollte man, dass man Weichenstellungen für die Zukunft am besten dann vornehmen kann, solange es einem gutgeht. Ansonsten läuft man der Entwicklung hinterher.

Literatur

 

Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 20.10.2011 (KMK): Inklusive Bildung von Kindern und Jugendlichen in Schulen. Verfügbar unter http://www.kmk.org/fielad-min/veroeffentlichungen_Beschluesse/2011/2011_10_20-InklusiveBildung.pdf.

Empfehlungen zur Ordnung des Sonderschulwesens. Beschlossen von der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland am 16. März 1972.

Empfehlungen zur sonderpädagogischen Förderung in den Schulen in der Bundesrepublik Deutschland. Beschluß der Kultusministerkonferenz vom 6.5.1994.

Fröschels, E. (1913): Lehrbuch der Sprachheilkunde (Logopädie) für Ärzte, Pädagogen und Studierende. 3., erw. Auflage 1931. Leipzig/Wien: Franz Deuticke.

Grohnfeldt, M. (2004): Merkmale und Veränderungen im Berufsfeld von Sprachheilpädagogik und Logopädie. Die Sprachheilarbeit 49, 141–148.

Grohnfeldt, M. (2010): Sprachheilpädagogik und akademische Sprachtherapie als kooperierende Fachdisziplinen?! Analyse und weiterführende Überlegungen. Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete (VHN) 79, 158–168.

Grohnfeldt, M. (2013): 100 Jahre Logopädie. Die Logopädie im Kontext der sprachtherapeutischen Berufe in Deutschland. Forum Logopädie 27 (5), 6–11.

Grohnfeldt, M. (2014a): Gemeinsame Wurzeln der beteiligten Fachdisziplinen. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Grundwissen der Sprachheilpädagogik und Sprachtherapie (127–134). Stuttgart: Kohlhammer.

Grohnfeldt, M. (2014b): Weichenstellungen und Perspektiven der neueren Geschichte. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Grundwissen der Sprachheilpädagogik und Logopädie (134–140). Stuttgart: Kohlhammer.

Grohnfeldt, M. (2014c): Sprachheilpädagogik und Sprachtherapie als komplementäres System. Praxis Sprache 59, 77–82.

Grohnfeldt, M. (2015): Ungeschehene Geschichte der Sprachheilpädagogik, Logopädie und akademischen Sprachtherapie. Praxis Sprache 60, 155–161.

Grohnfeldt, M. & Lüdtke, U. (2013): Sprachtherapie in inklusiven schulischen Kontexten. Logos. Die Fachzeitschrift für akademische Sprachtherapie und Logopädie 21, 117–121.

Gutzmann, A. (1879): Das Stottern und seine gründliche Beseitigung durch ein methodisch geordnetes und praktisch erprobtes Verfahren. Berlin: Staude.

Huber, W. (2013): Akademisierung der Logopädie in Konkurrenz und Kooperation mit akademischer Sprachtherapie. Forum Logopädie 27 (1), 30–33.

Krüger, A. & Degenkolb – Weyers, S. (2015): Wissenschaftliche Evaluation des Studiengangs B. Sc. Logopädie der medizinischen Fakultät der Friedrich – Alexander – Universität Erlangen – Nürnberg (FAU) in Kooperation mit der Berufsfachschule für Logopädie Erlangen. Logos. Die Fachzeitschrift für akademische Sprachtherapie und Logopädie 23, 202.

Maihack, V. (2001): Sprachheilpädagogik und Sprachtherapie. Zur historischen Entwicklung klinisch therapeutischer Handlungsfelder von Sprachheilpädagogen unter besonderer Berücksichtigung der Zeit von 1945 bis 1990. Unveröffentlichte Dissertation: Universität Dortmund.

Maihack, V. (2015): Evaluation der Modellstudiengänge: Studieren lohnt sich! Logos. Die Fachzeitschrift für akademische Sprachtherapie und Logopädie 23, 234.

Orthmann, W. (1969). Die Eigenständigkeit der Sprachheilpädagogik. In: Deutsche Gesellschaft für Sprachheilpädagogik e. V. (dgs) (Hrsg.): Die Eigenständigkeit der Sprachheilpädagogik (13–26). Hamburg: Wartenberg & Söhne.

Scharff Rethfeld, W. & Heinzelmann, B. (2013): Vergleich europäischer Standards und der deutschen Ausbildungssituation zur Primärqualifikation. Forum Logopädie 27 (1), 22–24.

 

 

 

 

 

II          Wissenschaftliche Arbeits- und Forschungsmethoden

Wissenschaftstheoretische Grundlagen

Manfred Grohnfeldt

 

Einleitung

Wissenschaftstheorie ist eine Teildisziplin der Philosophie. Dementsprechend weit zurück lassen sich auch aktuelle Diskussionen in ihren Anfängen und Grundlagen zurückverfolgen, wobei ein wissenschaftstheoretischer Diskurs im engeren Sinne als Metatheorie vor allem seit Mitte des 20. Jahrhunderts geführt wird. Übergreifend geht es dabei um Methoden, Ziele und Kernfragen zur Erkenntnisgewinnung.

Die damit verbundenen Gedankengänge sind außerordentlich vielfältig und kontrovers. Dabei erfolgt eine unterschiedliche Bezugnahme auf bestimmte Paradigmen, d. h. grundlegende Vorstellungen der Welt und ihres Funktionszusammenhangs. Im Folgenden soll ein Ausschnitt aus den damit verbundenen Gedankengängen im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Sprachheilpädagogik, akademische Sprachtherapie und Logopädie thematisiert werden. Dazu erfolgt ein

•  Abriss zu unterschiedlichen Richtungen in der Philosophie (Kap. 1),

•  eine Diskussion zur Bedeutung von Menschenbildern (Kap. 2) sowie

•  eine Analyse zum unterschiedlichen Selbstverständnis der Fachdisziplinen des Sprachheilwesens in Deutschland (Kap. 3).

Übergreifend werden Grundlagen und Querverbindungen zu den nachfolgenden Artikeln, insbesondere zur Forschungsmethodologie (Stadie) sowie zur Qualitätssicherung (Beushausen, Kohler, Hartmann) aufgezeigt. Die übrigen Kapitel sind indirekt davon betroffen.

1           Grundlegende Richtungen

Mit Fragen der Philosophie und wissenschaftstheoretischen Verortung im weiteren Sinne beschäftigt sich der Mensch spätestens seit der Antike und damit seit über 2500 Jahren. Dabei ist eine Vielzahl an Richtungen zu konstatieren, wobei man zusätzlich bedenken muss, dass viele der historischen Denker gar nicht überliefert oder ihre Werke verlorengegangen sind – man denke an den legendären Brand und die Zerstörung der berühmten Bibliothek in Alexandria zur Zeit des Altertums. Einige Fragen durchziehen die Jahrhunderte, wobei in der Sprache der jeweiligen Epoche neue Antworten gefunden werden, die sich jedoch in ihrem Wesen ähneln.

Im Folgenden wird eine Auswahl an philosophischen Grundrichtungen im Hinblick auf fundamentale Sichtweisen vorgenommen, die sich im historischen Verlauf als bedeutsam erwiesen haben. Sollten Filme dazu verfügbar sein, so sind die Angaben dazu in Klammern hinzugefügt.

1.1         Antike

Innerhalb der umfangreichen griechischen Philosophie soll hier auf unterschiedliche Aussagen zum Verhältnis von Teil und Ganzem eingegangen werden. Nach Ansicht der Atomisten, zu denen vor allem Demokrit (ca. 460–370 v. Chr.) gehörte,1 besteht der Kosmos aus unteilbaren Atomen, die sich zudem in ständiger Bewegung befinden. Diese Theorie ist erstaunlich modern und wird auch heute vertreten (z. B. beim Gesetz von der Erhaltung der Energie). Gegen diese Vorstellung wendete sich u. a. Aristoteles (384–322 v. Chr.). Er gilt – neben Sokrates (470–399 v. Chr.) und Platon (427–347 v. Chr.) – als einer der bedeutendsten Philosophen der Antike und wurde durch seine Lehren zur Logik, nikomachischen Ethik, Metaphysik und wissenschaftlichen Methodik bekannt.2 An dieser Stelle soll er durch den ihm zugesprochenen Ausspruch »Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile« genannt werden, der in der Ganzheits- und Gestaltpsychologie des 19. Jahrhunderts aufgenommen und weitergeführt wurde.

Es ist zu fragen, inwieweit derartige Gedankengänge für das heutige Verständnis der Welt bedeutsam sind. Dabei zeigt sich, dass damit existenzielle Fragestellungen des menschlichen Seins angesprochen sind, die sich einerseits auf eine immer dezidiertere Analyse von Einzelteilen und andererseits auf das Erkennen sinnhafter Zusammenhänge von Strukturen und eines komplexen Ganzen richten. Es kommt darauf an, was man wissen möchte.

1.2         Renaissance und Aufklärung

Nachdem im Mittelalter schwerpunktmäßig Fragen des Glaubens aus theologischer Sicht reflektiert wurden, erfolgte im Zeitalter der Renaissance eine Rückbesinnung auf die Antike. Zunehmend gewannen Fragen des Empirismus an Bedeutung, indem wissenschaftliches Denken als logisches, aus der Erkenntnis gewonnenes Denken und im Experiment überprüfbares Wissen verstanden wurde. Vertreter dieser Richtung mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung waren u. a. Francis Bacon (1561–1626; »Wissen ist Macht«)3, René Descartes (1596–1650; »Cogito, ergo sum« – »Ich denke, also bin ich«)4 als Vertreter des Rationalismus, John Locke (1632–1704; »tabula rasa« – Der Geist ist ein unbeschriebenes Blatt«)5 und David Hume (1711–1776)6 als Vertreter eines erfahrungswissenschaftlichen Ansatzes.

Von den Philosophen des 18. Jahrhunderts soll hier vor allem auf Immanuel Kant (1724–1804; Kategorischer Imperativ: »Handle stets so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne«)7 mit seinem entscheidenden Einfluss auf das Verständnis von Ethik verwiesen werden.

Es versteht sich, dass die genannten Philosophen und Richtungen eine Auswahl darstellen. Der Einfluss des Empirismus und Rationalismus auf das heutige Verständnis von Forschung und Wissenschaft ist aber unmittelbar einsichtig, ebenso wie die Notwendigkeit von Ethik in der Forschung erkannt wird und durch Ethik-Kommissionen eingehalten werden soll (Grohnfeldt et al. 2016).

1.3         19. und 20. Jahrhundert

In den letzten 200 Jahren gab es eine Vielzahl an bedeutenden Philosophen, die sich verschiedenartigen Richtungen wie dem Idealismus, Materialismus, Existentialismus und der Postmoderne zuordnen lassen. Auf die dabei vertretenden Meinungen kann und soll hier nicht eingegangen werden. Im Hinblick auf das unterschiedliche Wissenschaftsverständnis der Berufsgruppen des Sprachheilwesens in Deutschland im Wandel der Zeit (Kap. 2) erfolgt hier eine Nennung der Hermeneutik sowie des Positivismus und Kritischen Rationalismus.

Die Hermeneutik als Lehre vom Verstehen beschäftigt sich mit der Auslegung und Deutung von Schriften. Wesentliche Vertreter waren z. B. Wilhelm Diltey (1833–1911)8 und Hans-Georg Gadamer (1900–2002).9 Der Einfluss auf die Sozialwissenschaften und die Pädagogik in ihrer Phase bis ca. 1970 (Brezinka 1971) ist erheblich.

Der Positivismus lässt sich letztlich bis zu Auguste Comte (1798–1857)10 zurückverfolgen. Die wesentliche Grundannahme besteht darin, dass wissenschaftliches Forschen durch die Aufstellung von Hypothesen erfolgt, die im Hinblick auf eine Verifikation zu überprüfen sind. Die meisten Forschungsarbeiten heute basieren auf diesem Grundverständnis wissenschaftlichen Arbeitens. Davon setzt sich die Richtung des Kritischen Rationalismus mit ihrem bedeutenden Vertreter Karl Popper (1902–1994)11 ab, bei der betont wird, dass eine Verifikation im Sinne eines endgültigen Beweises letztlich unmöglich ist. Stattdessen wird auf das Prinzip der Falsifikation verwiesen, d. h. den Nachweis durch Widerlegung in Form eines Gegenbelegs (Bsp.: Die Vermutung »Alle Schwäne sind weiß« wird durch die Existenz eines schwarzen Schwans widerlegt.).

Die hier nur kurz genannten Richtungen haben einen erheblichen Einfluss auf das heutige Verständnis von Philosophie und Wissenschaftstheorie. Von wesentlicher Bedeutung ist dabei, inwieweit sich verschiedene Paradigmen, d. h. grundsätzlich angenommene Vorstellungen miteinander verknüpfen lassen oder im Sinne eines Axioms einmalig sind. Die Gedankengänge zur »Struktur wissenschaftlicher Revolutionen« (Kuhn 1979) und zur Paradigmenverknüpfung von Thomas Kuhn (1922–1996)12 sind hier wegweisend. Ebenso ist zu fragen, ob eine »Wahrheit« bzw. »Überprüfbarkeit« überhaupt möglich ist oder nur innerhalb bestimmter Denkstile Gültigkeit hat. Die lapidare Antwort »Anything goes« von Paul Feyerabend (1924–1994; Feyerabend 1984)13 drückt das Verständnis einer postmodernen Epoche aus.

Weitere Details zu den einzelnen Richtungen und Modellvorstellungen finden sich in den genannten (Stand: 25.05.2016) sowie jeweils aktuellen Internetquellen.

2           Die Bedeutung von Menschenbildern

Menschenbilder stehen in enger Verbindung mit den genannten philosophischen und wissenschaftstheoretischen Grundlagen, sind aber anwendungsbezogener und umfassen die Handlungsebene.

»Menschenbilder sind grundlegende Vorstellungen vom Wesen des Menschen, die zu einer umfassenden Überzeugung im Hinblick auf fundamentale Prinzipien des Menschseins führen. Da der Mensch Teil der Welt ist, sind Menschenbilder auch Merkmal übergreifender Weltbilder. Für den Einzelnen erlangen sie eine hohe subjektive Gültigkeit, obwohl es keine objektiven Beweise im Sinne eines ›richtig‹ oder ›falsch‹ geben kann. Sie führen zu grundsätzlichen Werthaltungen und Einstellungen, die nur noch selten kritisch hinterfragt werden.« (Grohnfeldt 2014b, 49 f.)

Menschenbilder haben dadurch einen geradezu prägenden Einfluss auf das Leben und werden zur Grundlage für persönliche Einstellungen und Handlungsweisen. Dies gilt zunächst einmal für den einzelnen Menschen, wobei sich ein Gefühl der Vertrautheit ergibt, wenn man mit seinem Kommunikationspartner in wesentlichen Einstellungen übereinstimmt. Es gilt aber auch für ganze Fachdisziplinen, was sich dadurch erklären lässt, dass die damit verbundenen Berufsgruppen ja letztlich aus einer Vielzahl von Individuen bestehen, die aus ähnlichen Motivationen den Beruf erwählt haben und in ihm sozialisiert werden.

Natürlich können dabei fundamentale Spannungsverhältnisse wie die bei einer Bezugnahme auf ein mechanistisches versus ganzheitliches Menschenbild auftreten, was häufig in Übergangsphasen der Fall ist. Dies lässt sich für das Selbstverständnis der Sprachheilpädagogik aufzeigen (Grohnfeldt 1987), wobei das nicht nur von akademischem Interesse ist, sondern auch die Ebene des praktischen Handelns umfasst. Die heutige Art der Sprachtherapie ist eine andere als die vor 30 bis 40 Jahren. Während damals übungstheoretische Arten des Vorgehens im Vordergrund standen, werden heute anwendungsbezogene Formen unter Einbezug eines »In-vivo-Trainings« und pragmatischer Aspekte bevorzugt. So ist auch die in Tabelle 1 abgebildete Darstellung von Subjektmodellen in einem epochalen Rahmen zu sehen.

Zudem ist zu beachten, dass es sich wie bei jeder Unterteilung um idealtypische Abgrenzungen handelt, die zudem einer ständigen Weiterentwicklung unterliegen. Weiterhin gibt es Mischformen im Sinne einer Paradigmenverknüpfung (Kap. 1; Kuhn 1979).

Tab. 1: Subjektmodelle im Vergleich (Grohnfeldt & Ritterfeld 2005, 38)

ModellCharakteristikTherapeut-Klient- BeziehungTherapeutische Ansätze (Beispiele)

Ebenso sind Subjektmodelle durch epochale Sichtweisen beeinflusst. Man denke an die Entdeckung der Psychoanalyse durch Siegmund Freud zur Zeit des späten 19. Jahrhunderts unter den Bedingungen des Wiener Bürgertums. Und letztlich haben »neue« Modellbildungen fast immer Vorläufer, die sich weit zurückverfolgen lassen. So hat das heute präferierte Systemmodell Grundlagen in der Ganzheits- und Gestaltpsychologie, deren Grundannahmen sich bereits bei Aristoteles (Kap. 1) finden lassen.

Zu fragen ist, welche Auswirkungen Menschenbilder nicht nur auf unser persönliches Handeln, sondern auch auf Vorgehen bei beruflichen Aufgabenstellungen haben. Hier zeigt es sich, dass Menschenbilder erhebliche Auswirkungen in der Sprachheilpädagogik und Sprachtherapie auf die Einschätzung unterschiedlicher Erscheinungsformen und Störungsbilder, die Art des diagnostischen und therapeutischen Vorgehens sowie letztlich der Institutionalisierung in sonderpädagogischen Organisationsformen, inklusiven oder klinischen Einrichtungen haben.

3           Auswirkungen auf das Selbstverständnis

Bezieht man die Überlegungen zu den wissenschaftstheoretischen Grundlagen sowie zu den unterschiedlichen Menschenbildern aufeinander, so lassen sich spezifische Auswirkungen auf die Forschungsmethodik, die Interdisziplinarität der Fachdisziplinen im Sprachheilwesen Deutschlands sowie das Selbstverständnis der Sprachheilpädagogik, akademischen Sprachtherapie und Logopädie aufzeigen.

3.1         Forschungsmethodik

Grundsätzlich wird zwischen einem qualitativen Vorgehen, das sich vorwiegend auf problemzentrierte und narrative Interviews, Gruppendiskussionen und Formen der teilnehmenden Beobachtung stützt (Mayring 2002), und einem quantitativen Vorgehen unterschieden, bei dem Formen der empirischen Sozialforschung angewendet werden. Der Zusammenhang mit Grundlagen der Hermeneutik und Ganzheit auf der einen Seite sowie des Empirismus und Positivismus auf der anderen Seite ist offensichtlich.

Zu fragen ist, welche Art des Vorgehen zu bevorzugen ist. Die lapidare Antwort ist erneut: Es kommt darauf an, was man wissen möchte. Bei Einzelfallstudien steht sicher die Deutung eines individuellen Beziehungsgefüges im Vordergrund. Zudem wäre es ein Kardinalfehler, aus Mittelwertvergleichen auf den Einzelnen schließen zu wollen. Bei Umfragen dagegen sind eine Mindestzahl an Probanden, die Repräsentativität der Stichprobe, die Parallelisierung zu einer Kontrollgruppe sowie eine statistische Auswertung sicherzustellen. Beide Arten des Vorgehens haben zunächst nichts miteinander zu tun. Es ist aber sicher, dass durch eine Verbindung eines quantitativen und qualitativen Ansatzes die Aussagekraft einer Studie steigt.

3.2         Die Interdisziplinarität des Fachgebietes

Sowohl die Sprachheilpädagogik als auch die akademische Sprachtherapie/Logopädie (Grohnfeldt 2012) sind Integrationswissenschaften, d. h. für das praktische Handeln sind Kenntnisse aus der Medizin, Pädagogik, Linguistik und Psychologie erforderlich. Dementsprechend ergibt sich die Notwendigkeit einer interdisziplinären Zusammenarbeit, die auch in der theoretischen Positionierung der Fachdisziplinen ihren Ausdruck findet. Sowohl ein historischer Rückblick (Grohnfeldt in diesem Buch: »Entstehung und Wandel der Berufsgruppen des Sprachheilwesens in Deutschland«) als auch ein Vergleich der curricularen Anteile an den Studieninhalten zeigt, dass hier ganz unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt werden. Bei der Sprachheilpädagogik (Abb. 1) liegt der Schwerpunkt im Bereich des Unterrichts.

Abb. 1: Proportionen der Ausbildungsanteile und Aufgabenbereiche in der Sprachheilpädagogik (Grohnfeldt 2014a, 79)

Therapeutische Anteile sind zumindest bei den heutigen Studiengängen kaum noch vorhanden. Von den beteiligten Wissenschaften sind die Medizin und Psychologie im Vordergrund, die Linguistik hat eine Zulieferfunktion, die Medizin ist geradezu marginal. Bei der akademischen Sprachtherapie (Abb. 2) fehlt die Unterrichtsqualifikation völlig und wird auch gar nicht angestrebt.

Abb. 2: Proportionen der Ausbildungsinhalte und Aufgabengebiete in der akademischen Sprachtherapie (Grohnfeldt 2014a, 79)

Stattdessen werden Inhalte zur Therapie bei Sprach-, Sprech-, Rede-, Stimm- und Schluckstörungen ausführlich in Theorie und Praxis vermittelt. Die Bezugnahme auf die Medizin ist eindeutig. Es folgen linguistische Anteile. Die Psychologie und Pädagogik stehen mit weitem Abstand im Hintergrund.

Es deutet sich an, dass damit unterschiedliche Formen der wissenschaftstheoretischen Bezugnahme verbunden sind. Dies müsste im Selbstverständnis, in der vorherrschenden Art des Forschungsdesigns, aber letztlich auch im praktischen Vorgehen innerhalb der beteiligten Berufsgruppen seinen Ausdruck finden.

3.3         Unterschiede im Selbstverständnis von Therapeuten und Pädagogen

Die Sprachheilpädagogik war in ihren Anfängen aus der Praxis erwachsen und eher erfahrungswissenschaftlich orientiert (Gutzmann 1879). Auch in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg standen kurze Einzelfallstudien (Beispiel: Reuter 1956: »Ein Fall von …«) im Vordergrund. Eine systematische Forschung wurde nicht betrieben. Vom Selbstverständnis her war die Sprachheilpädagogik ausschließlich hermeneutisch orientiert, wobei sich Phasen der geisteswissenschaftlichen Pädagogik, des kritischen Rationalismus und der empirischen Bildungsforschung sowie einer wertgeleiteten Integrations- und Handlungswissenschaft (Grohnfeldt 1989, 26) aufzeigen lassen. Die heutige Situation ist durch zahlreiche empirische Forschungsaktivitäten gekennzeichnet, die sich aktuell auf Themenbereiche im Rahmen aktueller Aufgabenstellungen zur Inklusion beziehen (z. B. Mahlau 2015, Glück 2015, Spreer & Sallat 2015, Theisel 2015). Als ein Wegbereiter auf dem Gebiet der Evaluationsstudien innerhalb der Sprachheilpädagogik sollen die Evaluationsstudien von Motsch zur Kontextoptimierung (z. B. 2002) sowie in neuerer Zeit zur Therapie bei lexikalischen Störungen (z. B. Motsch & Ulrich 2012) genannt werden. Am Rande sei vermerkt, dass Hans-Joachim Motsch als Lehrstuhlinhaber für Sprachheilpädagogik sein Studium und seine Karriere an der Universität Fribourg (Schweiz) begann. Es ist symptomatisch, dass ein empirischer Forschungsaspekt eher von außen an die Sprachheilpädagogik herangetragen wurde und nicht aus der typischen Sozialisation von Sprachheillehrern erwuchs.

Dies ist bei der akademischen Sprachtherapie ganz anders. Sie entstand als Fachdisziplin nach einem Vorlauf von ca. zehn Jahren formal erst im Jahre 2004 (siehe Grohnfeldt in diesem Band: »Entstehung und Wandel der Berufsgruppen des Sprachheilwesens in Deutschland«). Nachdem sie sich in der Vorbereitungsphase ab 1994 innerhalb der »Deutschen Gesellschaft für Sprachheilpädagogik e. V. (dgs)« noch pädagogisch orientierte, wobei immer ein Spagat mit der Anerkennung als Leistungsträger bei den Krankenkassen auftrat (Pädagogische Arten des Vorgehens fallen nicht in den Leistungsbereich der Krankenkassen und werden nicht bezahlt …), ist heute die Vorherrschaft der Medizin im interdisziplinären Kontext durch die Orientierung an den Krankenkassenvorgaben bei der Konzeption der neuen Bachelor- und Masterstudiengänge für Sprachtherapie gegeben. Und so ist es kein Zufall, dass von vornherein Evaluationsstudien mit einem empirischen Forschungsdesign im Vordergrund standen. Von den jährlich stattfindenden dbs-Kongressen seit 2000 sind nahezu alle auf Fragen der Qualitätssicherung, Effektivitätssteigerung und Evaluationsstudien gerichtet, so dass hier Dutzende an hochkarätigen Autorinnen und Autoren genannt werden könnten. Kein Zweifel, die akademische Sprachtherapie hat im Gegensatz zur Sprachheilpädagogik (auch aus historischen Gründen) ein empirisches Verständnis von Forschung und wissenschaftstheoretischer Bezugnahme.

Die Logopädie in Deutschland ist aufgrund ihrer historischen Wurzeln (Fröschels 1913) und der Gründung der ersten Logopädenschule in Berlin durch den Mediziner Herrmann Gutzmann jun. eindeutig medizinisch orientiert. Vom Status her ist sie bis heute ein Heilhilfsberuf mit deutlichen Abhängigkeiten von der Phoniatrie, aber auch von den Krankenkassen. »Bezahlt wird nur, was wirkt«, sagte die ehemalige Präsidentin des »Deutschen Bundesverbandes für Logopädie (dbl)« (Rausch 2009, 74). Damit ist ein heilsamer Zwang zur Evaluation und Effektivitätsnachweisen gegeben, dem Sprachheillehrer durch ihren ganz anderen Finanzierungsträger der Kultusbürokratie in der Regel nicht unterliegen. Für die heutigen immer mehr akademisch ausgebildeten Logopädinnen an Fachhochschulen ist der Nachweis der Effektivität ihres Handelns geradezu selbstverständlich. Das 4. gemeinsame Symposium von dbs und dbl am 14.3.2015 in Berlin zum Thema »Forschungsvielfalt in der Sprachtherapie/Logopädie« unter besonderer Berücksichtigung der Evaluation in der Sprachtherapie ist dafür ein deutliches Zeichen.

4           Epilog

Es ist deutlich geworden, dass es in den letzten 2500 Jahren nicht nur ganz unterschiedliche wissenschaftstheoretische Bezugnahmen und Menschenbilder gegeben hat, sondern sich diese auch im Selbstverständnis der Sprachheilpädagogik, akademischen Sprachtherapie und Logopädie aufzeigen lassen. Erneut ist vor einer Beurteilung im Sinne eines »richtig« oder »falsch« zu warnen. Zudem kann sich vieles im Laufe der Geschichte in der Einschätzung der jeweiligen Epoche ändern.

Und was heißt »Erfolg« in der Sprachtherapie!? Manches lässt sich in einer noch so gut randomisierten Studie mit »Goldstandard« nicht messen und bleibt für den Einzelnen nur wenig aussagekräftig. Manches bleibt in einer Fallstudie auf den Einzelnen begrenzt und ist nicht verallgemeinerbar. Bei jeglichem Diskurs ist eine gewisse Toleranz notwendig. Zudem lassen sich wissenschaftstheoretische Positionen und Menschenbilder nicht so eindeutig einer bestimmten Berufsgruppe zuordnen, wie dies aufgrund des Selbstverständnisses von bestimmten Fachdisziplinen vielleicht erwartet wird. Letztlich ist es immer der einzelne Mensch mit seiner jeweiligen grundsätzlichen Ansicht zu den Fragen des Lebens – zuweilen ganz unabhängig von seiner Profession.

Literatur

 

Brezinka, W. (1971): Von der Pädagogik zur Erziehungswissenschaft. Weinheim und Basel: Beltz.

Feyerabend, P. (1984): Wissenschaft als Kunst. Frankfurt a. M.: edition suhrkamp.

Fröschels, E. (1913): Lehrbuch der Sprachheilkunde (Logopädie) für Ärzte, Pädagogen und Studierende. 3., erw. Aufl. 1931. Leipzig/Wien: Franz Deuticke.

Grohnfeldt, M. (1987): Menschenbilder in der Sprachbehindertenpädagogik. Situationsanalyse und Perspektiven zur Weiterentwicklung unter besonderer Berücksichtigung der Sprachtherapie. Die Sprachheilarbeit 32, 1–9.

Grohnfeldt, M. (1989): Merkmale der pädagogischen Sprachtherapie. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Grundlagen der Sprachtherapie. Handbuch der Sprachtherapie. Band 1 (13–31). Berlin: Volker Spiess.

Grohnfeldt, M. (2012): Grundlagen der Sprachtherapie und Logopädie. München: Ernst Reinhardt.

Grohnfeldt, M. (2014a): Sprachheilpädagogik und Sprachtherapie als komplementäres System. Praxis Sprache 59, 77–82.

Grohnfeldt, M. (2014b): Zur Bedeutung von Menschenbildern – Unterschiede in der Sprachheilpädagogik und Sprachtherapie? In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Grundwissen der Sprachheilpädagogik und Sprachtherapie (49–54). Stuttgart: Kohlhammer.

Grohnfeldt, M. & Ritterfeld, U. (2005): Grundlagen der Sprachheilpädagogik und Logopädie. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Lehrbuch der Sprachheilpädagogik und Logopädie. Band 1: Selbstverständnis und theoretische Grundlagen. 2., veränd. Aufl. (15–46). Stuttgart: Kohlhammer.

Grohnfeldt, M., Domahs, F., Cholin, J., Heim, S, Höll, J. & Neumann, S. (2016): Die dbs – Ethikkommission. Logos. Die Fachzeitschrift für akademische Sprachtherapie und Logopädie 24, 71–72.

Glück, C. (2015): Forschung zur Inklusion von Schülern mit Sprachstörungen. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Inklusion im Förderschwerpunkt Sprache (129–144). Stuttgart: Kohlhammer.

Gutzmann, A. (1879): Das Stottern und seine gründliche Beseitigung durch ein methodisch geordnetes und praktisch erprobtes Verfahren. I. und II. Teil. Berlin: Staude.

Kuhn, Th. S.(1979): Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. (Original: Chicago 1962). Frankfurt a. M.: edition suhrkamp.

Mahlau, K. (2015): Evaluationsstudie zur Effektivität von Sprachförderung und Unterricht im Rügener Inklusionsmodell bei Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Inklusion im Förderschwerpunkt Sprache (145–154). Stuttgart: Kohlhammer.

Mayring, P. (2002): Einführung in die qualitative Sozialforschung. 5., überarb. und neu ausgest. Auflage. Weinheim und Basel: Beltz.

Motsch, H.-J. (2002): Effektivitätssteigerung durch Kontextoptimierung in der Therapie spezifischer Sprachentwicklungsstörungen. In: Suchodoletz, W. von (Hrsg.): Therapie von Sprachentwicklungsstörungen – Anspruch und Realität (83–105). Stuttgart: Kohlhammer.

Motsch, H.-J. & Ulrich, T. (2012): »Wortschatzsammler« und »Wortschatzfinder« – Effektivität neuer Therapieformate im Vorschulalter. Die Sprachheilarbeit 57, 70–78.

Rausch, M. (2009): Dreiteilung wirft viele Fragen auf (Antwort der dbl – Präsidentin). Forum Logopädie 23, 2, 74.

Reuter, G. (1956): Ein Fall von universellem Stammeln und von Sprechscheu. Die Sprachheilarbeit 1, 13–15.

Spreer, M. & Sallat, S. (2015): Gesellschaftliche Teilhabe ehemaliger Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf Sprache: Bildung und Berufsbiographien im Fokus. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Inklusion im Förderschwerpunkt Sprache (179–191): Stuttgart: Kohlhammer.

Theisel, A. (2015): Qualitätsmerkmale des Unterrichts mit sprachbeeinträchtigten Kindern. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Inklusion im Förderschwerpunkt Sprache (167–178): Stuttgart: Kohlhammer.

 

 

1     https://www.youtube.com/watch?v=TTGV7Hyinzc; https://www.youtube.com/watch?v=FGq2XFZgMcw

2     https://www.youtube.com/watch?v=9VfgS92ycF8; https://www.youtube.com/watch?v=NoxNWYtvhH8

3     https://www.youtube.com/watch?v=2eOQm9yZN3c

4     https://www.youtube.com/watch?v=Dyp21KGleRc; https://www.youtube.com/watch?v=f2OeZ8Z32VM

5     https://www.youtube.com/watch?v=M-7oQ1m7X-M; https://www.youtube.com/watch?v=uFqbwIzyvRM

6     https://www.youtube.com/watch?v=8ZQKqxdC2fA

7     https://www.youtube.com/watch?v=eQ2t5h6dYxs; https://www.youtube.com/watch?v=Z8b4sCTrzkE

8     https://www.youtube.com/watch?v=l4Rw8slu284

9     https://www.youtube.com/watch?v=FSTXlbLc6Rk

10  https://www.youtube.com/watch?v=ofmnGmI115E

11  https://www.youtube.com/watch?v=SuQwtZax4OE; https://www.youtube.com/watch?v=ZO2az5Eb3H0; https://www.youtube.com/watch?v=W7EnHg4RIfg

12  https://www.youtube.com/watch?v=-o_C8WQSCmI

13  https://www.youtube.com/watch?v=nyhLK75AC1A; https://www.youtube.com/watch?v=sE1mkIb1nmU

Evidenz im sprachtherapeutischen Alltag: Methodisches Vorgehen

Nicole Stadie

 

Überblick

»[…] Clinicians need to be able to match individuals to effective therapy tasks now – not when research has finally enabled us to write a ›prescription guide‹ […].« (Nickels 2002, 957)

Mit diesem Zitat beschreibt die in der angloamerikanischen Sprachtherapieforschung richtungsweisende Lyndsey Nickels eine gegenwärtig wichtige und tägliche Herausforderung für Sprachtherapeuten: die Wahl einer Therapieaufgabe(/-methode), von der angenommen werden kann, dass sie besonders effektiv für die Behandlung einer spezifischen Sprach- bzw. Sprechstörung ist.

Welche »Aspekte« können diesen Entscheidungsweg leiten? Es scheint gegenwärtig kaum möglich, sich ausschließlich von Ergebnissen aus der Sprachtherapieforschung leiten zu lassen, denn zahlreiche Fragen zum Einfluss individueller Faktoren auf den Behandlungserfolg sind noch ungeklärt, und es liegen bislang noch zu wenig Therapiemethoden und -materialien vor, die ausreichend empirisch erprobt sind. Folglich müssen Sprachtherapeuten selbst und für jeden Patienten individuell neu entscheiden, ob eine bestimmte Therapiemethode angemessen erscheint, und prüfen, ob das gewählte therapeutische Vorgehen für den Probanden effektiv und effizient ist. Ein klares Bekenntnis zu evidenzbasierter Praxis (EBP) ist dafür wesentlich (vgl. Roddam & Skeat 2010).

Dieser Beitrag zeigt auf, wie ein evidenzbasiertes Vorgehen in der Diagnostik, Therapieableitung und Wirksamkeitsprüfung in die sprachtherapeutische Praxis übertragen werden kann und wie der Sprachtherapeut selbst feststellen kann, ob ein Proband von der sprachtherapeutischen Behandlung profitiert. Notwendige Vorüberlegungen sowie das methodische Vorgehen im sprachtherapeutischen Handeln werden erläutert und anhand zweier Fallbeispiele (Kind mit Sprachentwicklungsstörung, SES und Erwachsener mit Aphasie) veranschaulicht. Die konkrete Umsetzung in das alltägliche sprachtherapeutische Umfeld kann mit Hilfe von Protokollbögen erfolgen, die eigens dafür entwickelt wurden (vgl. Vorlagen in Stadie & Schröder 2009, Kap. 9) und im vorliegenden Beitrag auszugsweise vorgestellt werden (Abb. 2–4). Die Struktur der Protokollbögen leitet durch die erforderlichen Schritte einer Wirksamkeitsprüfung und unterstützt dabei die transparente und klare Dokumentation wichtiger sprachtherapeutischer Inhalte (z. B. Ziele der Therapiemethode in Bezug auf die ICF-Ebenen, Strukturierung des Materials, Registrierungskonventionen, Beurteilung des Therapieerfolgs).

Einleitung

Unser Wissen über den Erfolg einer Sprachtherapie ist vor allem implizit und wird nur selten explizit in der Fachliteratur beschrieben (Byng 1995). Tatsächlich beruhen zahlreiche Entscheidungen, die wir im Laufe einer sprachtherapeutischen Intervention treffen, auf intrinsischem Wissen und auf den individuellen, teilweise sehr unterschiedlichen, therapeutischen Erfahrungen (z. B. über die Art und Durchführung der Aufgaben, die Auswahl von Hilfen, das Therapiematerial, die Bewertung des Antwortverhaltens von Probanden). Dies liegt vor allem darin begründet, dass die Beziehung zwischen der Art sprachlicher sowie sprechmotorischer Defizite und dem tatsächlichen Nutzen spezifischer sprachtherapeutischer Interventionsmaßnahmen immer noch nicht gut und vollständig verstanden wird (z. B. Hillis 2005, Howard & Hatfield 1987). Für praktizierende Sprachtherapeuten hat dies zur Folge, dass sie therapeutische Verfahren bzw. Fördermaßnahmen größtenteils ohne entsprechende Theorie zur Rehabilitation anwenden müssen, was letztlich auch zu Interventionen mit einem gewissen »Mangel an Rationalität« führen kann (Basso & Marangolo 2000, 219).

Um sprachtherapeutische Maßnahmen auf ihre Effektivität hin für einen Probanden zu beurteilen, brauchen wir jedoch explizite, eindeutige und genaue Informationen. Nur dann können wir z. B. entscheiden, ob und wenn ja, welcher Teil einer Therapie (z. B. im Fall ausbleibender Verbesserungen) geändert werden muss: die Aufgabe, unsere Interaktion mit dem Probanden oder das Therapiematerial (vgl. Byng 1995)? Diese Entscheidung kann teilweise durch evidenzbasiertes Vorgehen geleitet werden. Evidenzbasierte Praxis (Sackett et al. 1996) erfordert die Verwendung von Therapieverfahren, deren Effektivität wissenschaftlich erwiesen wurde (sog. externe Evidenz). Evidenzbasiertes Handeln im therapeutischen Alltag beinhaltet noch weitaus mehr: die sinnvolle Verknüpfung externer Evidenz, individueller therapeutischer Expertise und individueller Bedürfnisse und Wünsche des Probanden (sog. interne Evidenz, vgl. Dollaghan 2007, Beushausen & Grötzbach 2011). Sprachtherapeuten müssen also relevante Diagnostikverfahren sachkundig auswählen, um sowohl gestörte als auch erhaltene Fähigkeiten so genau wie möglich zu identifizieren, damit ggf. vorhandene Ressourcen gestärkt und eine angemessene, evidenzbasierte Therapiemethode ausgewählt werden kann, in der ebenfalls die Bedürfnisse des Probanden mit einbezogen werden.

Wenn auch gegenwärtig rege darüber diskutiert wird, welche Forschungsmethodik für den Nachweis der Effektivität sprachtherapeutischer Interventionen zielführend ist (vgl. Pring 2004, Cholewa 2010, Howard et al. 2015), so ist im letzten Jahrzehnt die Anzahl veröffentlichter Studien zur Erbringung externer Evidenz in der sprachtherapeutischen Forschung dennoch deutlich gestiegen. Aus einigen Überblicksarbeiten kann der Leser mittlerweile relativ detaillierte Informationen über die Durchführung einer spezifischen Interventionsmethode, zum verwendeten Therapiematerial und zu den objektiv gemessenen Veränderungen bei den Probanden entnehmen. Allerdings können sich tätige Sprachtherapeuten zum gegenwärtigen Forschungsstand in ihrer Entscheidungsfindung für die effektivste Therapiemethode bei einem Probanden nicht ausschließlich durch veröffentlichte empirische Befunde leiten lassen. Die Gründe hierfür sind vielfältig: Der Umfang empirisch erprobter Therapiemethoden, die als »empirisch validiert« gelten (Schlosser & Sigafoos 2008, 61), ist bislang begrenzt und die zum Teil sehr heterogenen Leistungsmuster erhaltener und beeinträchtigter Fähigkeiten bei den untersuchten Probanden erschweren die Passung mit dem individuellen Probanden in der sprachtherapeutischen Praxis. Zu wenig ist auch über die Wirksamkeit spezifischer Behandlungsverfahren bei unterschiedlichen Probanden bekannt. Darüber hinaus verstehen wir noch nicht, welche der möglicherweise individuell sehr heterogenen Faktoren den Therapieverlauf in einer bedeutsamen Weise beeinflussen, wie z. B. die Dauer und Frequenz der Behandlung, die persönliche Relevanz sprachtherapeutischer Materialien, individuell unterschiedliche Lernmechanismen, die Art der Hilfestellung (vgl. Raymer et al. 2008 für die weitere Diskussion). Ebenso fehlen systematische Vergleiche hinsichtlich der Wirkweise unterschiedlicher therapeutischer Verfahren, die auf ein bestimmtes Defizit abzielen, sowohl bei einem als auch bei mehreren Probanden. Wurde bei einem Probanden mit Aphasie z. B. eine lexikalisch-phonologische Zugriffsstörung beim mündlichen Benennen diagnostiziert, stellt sich u. a. die Frage, ob eine Therapiemethode, die vornehmlich auf das besonders häufige Benennen der Zielbegriffe und semantisch naher Begriffe abzielt (z. B. Martin et al. 2004, Schröder et al. 2014), genauso erfolgversprechend ist wie das Erarbeiten semantischer Merkmale (z. B. Boyle & Coelho 1995, Kiran & Thompson 2003). Profitieren unterschiedliche Patienten mit einer lexikalischen Zugriffsstörung gleichermaßen von der Arbeit mit semantischen Merkmalen? Und wenn nicht, wie sind die ungleichen Wirkmechanismen zu erklären?

Das Wissen aus der Sprachtherapieforschung lässt gegenwärtig noch keine zweifelsfreie Entscheidung darüber zu, ob eine bestimmte therapeutische Maßnahme für einen bestimmten Probanden angemessen ist. Deshalb muss für jeden Probanden erneut geprüft werden, ob das gewählte Verfahren den Verlauf der Therapie erheblich verändert, bzw. ob es zu den gewünschten Verbesserungen führt.

1           Vorgehen bei der Evaluation therapeutischer Maßnahmen

Ein Bestandteil der evidenzbasierten Praxis ist die Evaluation und Wirksamkeitsprüfung therapeutischer Intervention. Den Einsatz und Nutzen einer sprachtherapeutischen Methode können wir bei einem Probanden bewerten, indem wir eine Vorgehensweise einsetzen, die in der sozial- und verhaltenswissenschaftlichen Forschung weit verbreitet ist, sowohl in den Bereichen der Psychologie, Pädagogik und kognitiven Neuropsychologie als auch in der Sprachtherapie (vgl. Bergin & Strupp 1970, Kazdin 1982, McReynolds & Kearns 1982, Howard et al. 2015). Für die Behandlung von aphasischen Sprachstörungen haben Franklin (1997) und Nickels (2002) relevante Maßnahmen zusammengefasst, die nicht nur in der Forschung, sondern auch in der täglichen sprachtherapeutischen Praxis angewendet werden können, um die Wirksamkeit einer Behandlung zu prüfen. Dieser Versuchsplan zur Evaluation lässt sich auch ohne Weiteres auf Fördermaßnahmen im Bereich der Kindersprache sowie auf die Behandlung sprechmotorischer Beeinträchtigungen übertragen und umfasst folgende Aufgaben:

•  Wiederholte Prüfung mit denselben Untersuchungsmaterialien vor und nach der Therapie (zur Prüfung genau derjenigen Fähigkeiten, die in der Behandlung geübt werden sollen)

•  Durchführung von mehreren Untersuchungen vor der Therapie (zur Prüfung der Stabilität von Leistungen vor der Behandlung)

•  Teilung des Untersuchungsmaterials in zwei vergleichbare Subsets (Set 1: Items, mit denen geübt wird; Set 2: Items, mit denen nicht in der Therapie geübt wird)

•  Verwendung einer Kontrollaufgabe vor und nach der Therapie (zur Prüfung von Fähigkeiten, die in der Therapie nicht geübt werden)

•  Evaluation der Ergebnisse mit Hilfe von statistischen Verfahren

Wesentlich bei dem Vorgehen ist, dass der individuelle Leistungsstand eines Probanden zu mehreren, unterschiedlichen Zeitpunkten erhoben wird und die Ergebnisse anschließend miteinander verglichen werden, um Lernfortschritte festzuhalten. Die einfachste Variante besteht darin, zwei Untersuchungsergebnisse gegenüberzustellen: erstens das aus der Untersuchung vor der Therapie und zweitens das nach der Therapie, um zu prüfen, ob Leistungsveränderungen, bestenfalls Verbesserungen, eingetreten sind. Diese Untersuchungen müssen sensitiv genug sein, um therapeutisch intendierte Fortschritte messen zu können, d. h. es sollten Verfahren und Materialien ausgewählt werden, die speziell diejenige Funktion bzw. sprachliche Aktivität prüfen, die im Fokus der Therapie steht. Nur dann ist eine Aussage darüber möglich, inwieweit ein Proband von der aktuellen therapeutischen Intervention profitiert. Für die Erfassung stark variierender Leistungen vor Behandlungsbeginn wird in der Forschungsliteratur das individuelle Leistungsniveau zumeist mehrfach untersucht. Nur wenn ein stabiles Leistungsmuster vorliegt, kann es als Vergleichswert für die Wirksamkeitsprüfung nach der Behandlung herangezogen werden. Da die Evaluation in erster Linie dazu dient, individuelle Fortschritte sichtbar zu machen, erfolgt die Bewertung der Leistung auch auf der Grundlage einer individuellen Bezugsnorm (vgl. Rheinberg & Krug 2005, Grohnfeldt 2002). Insofern müssen die Leistungen eines Probanden nicht mit denen von anderen sprachgesunden (Kontroll-)Probanden verglichen werden, da jeder Patient sozusagen seinen »eigenen Kontrollprobanden« darstellt (Howard & Hatfield 1987). Folglich können in den Vor- und Nachuntersuchungen auch ausschließlich auf den Probanden zugeschnittene, alltagsrelevante Aufgaben und Items verwendet werden. Je nach Struktur und Einsatz des Materials kann darüber hinaus für jeden Patienten individuell entschieden werden, ob die eingetretenen Fortschritte ausschließlich bei geübtem Material (Übungseffekte) beobachtbar oder ob sie möglicherweise auch bei ungeübtem Material bzw. in ungeübten Aufgaben (Generalisierungseffekte) zu verzeichnen sind.

Obwohl sich diese Vorgehensweise zu einer Standardmethode in der Interventionsforschung entwickelt hat, besteht weiterhin eine Lücke zwischen Forschung und Praxis, insbesondere weil die für die Evaluation notwendigen Arbeitsschritte vor allem vor Beginn der Behandlung relativ zeitaufwendig und komplex sind und weil sie eine gewisse Form von Expertise erfordern. Deshalb stellt die Integration der Wirksamkeitsprüfung in den Katalog sprachtherapeutischer Handlungskompetenzen eine große Herausforderung dar, die sowohl von praktisch tätigen Sprachtherapeuten, den verantwortlichen Ausbildungseinrichtungen als auch von den Kostenträgern bewältigt werden muss. Die Komplexität dieser Aufgabenstellung bringt Nickels (2005, 184) in folgendem Zitat zum Ausdruck:

»We have a duty to all those involved in the rehabilitation process to […] critically evaluate the efficacy of our therapies as part of routine clinical practice. As Kearns (1993) argues failure to apply scientific thinking and measurement during the clinical process is surely as misguided as leaving our empathy, clinical intuition, and caring attitudes behind as we enter the clinical arena.«

Das Vorgehen einer Wirksamkeitsprüfung ist in Abbildung 1 exemplarisch anhand einzel ner therapeutischer Sitzungen dargestellt und macht auf einen zentralen Aspekt therapeutischen Handelns aufmerksam: Für die Evaluation muss der Sprachtherapeut vor Beginn der therapeutischen Intervention sämtliche Aufgaben und Materialien auswählen, die in den Untersuchungen und während der Therapie mit dem Probanden bearbeitet werden (sollen). In der Abbildung sind oberhalb der Zeitachse die drei wesentlichen Phasen und die erforderliche Material- und Aufgabenstruktur dargestellt – (1) Voruntersuchung (z. B. zwei Sitzungen); (2) Therapie (z. B. zehn Sitzungen); (3) Nachuntersuchung (z. B. zwei Sitzungen) – sowie der anschließende Leistungsvergleich für eine einfache Evaluation. Unterhalb der Zeitachse sind die vom Probanden erzielten Leistungen in den verschiedenen Aufgaben aufgeführt sowie die Ergebnisse und Interpretation der Leistungsvergleiche.

Abb. 1: Komponenten und zeitliche Abfolge einer Wirksamkeitsprüfung in der Sprachtherapie