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Endlich verständlich: Physik für alle – für Physiker wie für Nichtphysiker! Der Astrophysiker Josef M. Gaßner und der Experimentalphysiker Jörn Müller erklären in ihrem Grundlagenwerk alle Highlights der Physik. Indem sie allgemein verständlich und anschaulich in die großen Theorien der Physik einführen, schlagen sie eine Brücke zwischen Populärwissenschaft und Fachpublikationen. Die Lektüre ähnelt einer Bergwanderung, die sich über die vorgelagerten Hügel der Klassischen Mechanik und der Speziellen Relativitätstheorie empor hangelt zu den ersten Aussichtspunkten der Allgemeinen Relativitätstheorie und der Quantenmechanik. Vom Hauptkamm der Quantenfeldtheorien, dem Standardmodell mitsamt Higgsmechanismus geht es weiter hoch zur Eichtheorie, der Quantenschleifentheorie, der Supersymmetrie und den Stringtheorien. Josef M. Gaßner und Jörn Müller verfolgen stets mit großer Leidenschaft ihre Mission, komplexe Zusammenhänge so anschaulich wie möglich zu erklären. Ihre Begeisterung für die Schönheit und Klarheit der Physik ist so ansteckend, dass sie einem die Scheu vor den großen Theorien und Modellen nimmt. Mit einem Vorwort von Harald Lesch.
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Seitenzahl: 840
Josef M. Gaßner | Jörn Müller
Meilensteine der Physik von Aristoteles zur Stringtheorie
Mit einem Vorwort von Harald Lesch
Zu Lebzeiten von Aristoteles waren die naturwissenschaftlichen Methoden zur Ergründung der Welt noch vergleichsweise rudimentär. Trotzdem gelangten die griechischen Naturphilosophen zu erstaunlich genauen Aussagen über die Welt. Seitdem wird das Staffelholz der Erkenntnis von Generation zu Generation weitergegeben und es entsteht ein immer vollständigeres Bild der Welt. Auch wenn es nach wie vor Lücken aufweist, erahnen wir doch das große Ganze.
Der Astrophysiker Josef M. Gaßner und der Experimentalphysiker Jörn Müller nehmen uns mit auf eine Reise entlang des naturwissenschaftlichen Weltbildes. Mit großer Leidenschaft verfolgen sie dabei ihre Mission, komplexe Zusammenhänge so anschaulich wie möglich zu erklären. Ihre Begeisterung für die Schönheit und Klarheit der Physik ist so ansteckend, dass sie einem die Scheu vor den großen Theorien und Modellen nimmt.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Josef M. Gaßner (www.Josef-Gassner.de), Astronom, Mathematiker, Physiker und Kosmologe, ist Grundlagenforscher an der Universitätssternwarte München und Lehrbeauftragter für Naturwissenschaft, Astronomie und Kosmologie an der Hochschule für angewandte Wissenschaft in Landshut. Sein Anliegen ist es, physikalische Themen einem breiten Publikum zu vermitteln. Gemeinsam mit Harald Lesch schrieb er 2012 den großen Erfolg »Urknall, Weltall und das Leben«, zu dem es eine eigene Website und einen YouTube-Kanal gibt. Das vorliegende Buch basiert auf einer Vorlesungsreihe, die in über 70 YouTube-Videos bereits mehrere Millionen Aufrufe verzeichnet.
Jörn Müller ist Physiker und hat am Deutschen Elektronensynchrotron »DESY« auf dem Gebiet Festkörperphysik promoviert. Er arbeitete in Forschungs- und Entwicklungsabteilungen im Bereich Optik und Elektrofotografie sowie an der Entwicklung von Hochenergielasern. Nach einem Studium der Astronomie war er freiberuflich am Institut für Astronomie und Astrophysik an der Universität München tätig. Gemeinsam mit Harald Lesch schrieb er fünf Bücher zum Thema Kosmologie, darunter den Longseller »Kosmologie für Fußgänger«.
von Harald Lesch
Was, ich soll das Vorwort schreiben? Dieses Buch braucht kein Vorwort. Es geht ja um das große Ganze – um alles. Also ist das Vorwort auch schon mit eingeschlossen. Vorwort, was soll das eigentlich heißen? Vor dem Wort? Was war denn vor dem Wort? Stille, zumindest sprachliche Stille. Auf unserem Planeten wurde, bevor es Menschen gab, deren Kehlkopf in der Lage war, ganz spezielle Schallschwingungen zu erzeugen, nicht gesprochen. Es wurde vielleicht gedeutet, geschrien, gepfiffen oder sonstwie Zeichen gegeben, wenn Gefahr im Verzug war. Aber gesprochen wurde nichts. Mit der Erfindung der Sprache tritt diese Welt in eine neue Phase ein. Zum ersten Mal gibt es Wesen, die nicht nur auf äußere Reize reagieren, sondern die auch zu einer äußerst effizienten Form der Kommunikation fähig sind, mit deren Hilfe sie sich über ihre Erfahrungen austauschen können. Der Homo sapiens tritt auf den Plan, und dank seiner Sprache beginnt er, die Welt um sich herum nicht mehr ausschließlich als Welt der Gefahren und Bedrohungen zu beschreiben. Die Menschen stellen nicht nur fest, was der Fall ist, was offensichtlich ist, weil sie es sehen können. Sie beginnen schon in ganz früher Zeit, etwas zu tun, was bis dahin noch kein Tier getan hat: Sie stellen Fragen. Dabei geht es nicht nur um die Oberfläche, um das, was ihre Sinne ihnen präsentieren. Nein, sie fragen nach den Hintergründen, nach dem Woher und auch nach dem Wohin.
Damit sind wir auch beim Wesen der modernen Wissenschaft angelangt. Auch sie gibt sich nicht mit dem zufrieden, was uns unsere Sinne offenbaren. Wir trauen unseren Augen nicht, wir staunen vielmehr über die Welt und fragen uns, was hinter dem scheinbar Unerklärlichen steckt. Und mit diesem Staunen und Fragen beginnt der Siegeszug der menschlichen Vernunft im Hinblick auf die verstandesmäßige, also rationale Durchdringung der Welt. Unsere Fragegier macht vor keinem Thema der Welt mehr halt. Unentwegt sind wir seit einigen tausend Jahren damit beschäftigt, die Welt mittels unserer geistigen Fähigkeiten zu durchforsten und die Ursachen und Zusammenhänge der (zunächst) sichtbaren Welt zu erkunden. Maulwürfen gleich arbeiten wir uns durch den Bestand an merkwürdigen Erscheinungen, die es wert sind, gewürdigt, also beachtet zu werden. Erste Erklärungen werden von den nachfolgenden Generationen wieder verworfen und neu interpretiert. Immer wieder wird die Welt neu ausgelegt, werden tiefere Schichten des materiellen und energetischen Seins aufgedeckt und offengelegt.
Längst schon ist Wissenschaft kein Geheimnis mehr. Indem sie sich von traditionellen und kulturellen Schranken befreit hat, versucht sie, den objektiven Charakter der Welt zu erschließen. Dabei lässt sie, soweit das möglich ist, das Subjekt beiseite. Dafür, für den objektiven Dialog mit der Natur, hat sie sich eine »Sprache« entwickelt, die Mathematik. Diese Wissenschaft handelt von logischen Strukturen, die real nicht existieren müssen. Aber sie erlaubt uns, dank elementarer quantitativer Methoden das, was da ist, zu messen, zu zählen und zu vergleichen, objektiv zu vergleichen. Dabei stellen die Wissenschaften, die sich mit realen, natürlichen Strukturen beschäftigen, fest, dass sich mathematische Strukturen in der Natur wiederfinden lassen. Trotz allem ist es nach wie vor ein Rätsel, warum die Mathematik so erfolgreich darin ist, diese Welt zu beschreiben. Gerade weil man sie aber für ein tieferes Verständnis der naturwissenschaftlichen Modelle benötigt, kratzen populärwissenschaftliche Bücher häufig nur an der Oberfläche. Wenn man sich eingehend mit Ägyptologie beschäftigt, kommt man schnell an einen Punkt, an dem man Hieroglyphen lesen können muss. Um theoretische Physik zu verstehen, muss man die Hieroglyphen der Mathematik lesen und verstehen können. Da hilft alles nichts, es sei denn, es gelingt jemandem, die Gleichungen anschaulich und allgemeinverständlich zu übersetzen und ihre innere Struktur und Bedeutung offenzulegen. Das ist tatsächlich neu und faszinierend an diesem Buch. Wenn es Ihnen gelingt, sich darauf einzulassen, garantiere ich Ihnen einen veränderten Blick auf diese Welt.
Die alten Griechen sprechen vom »Kosmos«, der Welt als mathematisch geordnetem Ganzen. In ihr herrschen Gesetze, Naturgesetze, deren Charakter absolut, nicht diskutierbar ist. Die Ergebnisse der modernen Forschung in Physik und Astronomie sind keine »Auslegware« mehr, vielmehr müssen wir heute schlicht zur Kenntnis nehmen, dass diese objektive mathematische Befragung der Natur einen epochalen Einschnitt in der Menschheitsgeschichte darstellt. Noch nie haben wir so viel über das Allergrößte, den Kosmos, und das Allerkleinste, die Elementarteilchen, gewusst. Doch auch die Verbindungen und Prozesse dazwischen sind heute in einem Ausmaß bestätigt, dass man vor der Wissenschaft der Physik und den dahintersteckenden intellektuellen Höchstleistungen nur den Hut ziehen kann. In der modernen Physik und Astronomie ist wirklich das Ganze Gegenstand der Forschung im ständigen Wechselspiel von Theorie und Experiment. Für den interessierten Laien tut sich hier ein höchst beeindruckendes Panorama an faszinierenden Theorien und Modellen auf.
Hier wäre ein freundlicher, aber auch sorgfältiger Begleiter nötig, der hilft, durch diesen faszinierenden Kristallpalast der Physik zu führen. Denn ein Labyrinth ist es schon, die Welt der Physik, aber ein wunderschönes. Meinen Freunden Josef und Jörn können Sie sich getrost anvertrauen. Sie haben ein wundervolles Meisterwerk geschrieben.
Harald Lesch
»Die Neugierde ist untrennbar mit dem menschlichen Geist verbunden.«
Aristoteles
Können wir die Welt verstehen?
Wir alle wurden in eine Welt hineingeboren, die bereits Milliarden von Jahren existiert. Vom ersten Atemzug an versuchen wir, sie mit all unseren Sinnen zu erforschen und zu begreifen. Für viele endet dieses Bemühen bereits im Zuge des Erwachsenwerdens. Manche bleiben jedoch in den zahllosen Rätseln ein Leben lang gefangen – angetrieben von einer unstillbaren Neugierde, lassen sie nicht locker im Bestreben, die Welt zu verstehen, und haben es sogar zu ihrem Beruf gemacht. Für diese Spezies aus der Unterordnung der Trockennasenaffen, die dieses pathologische Verhalten an den Tag legt, hat man einen Fachbegriff eingeführt: Man nennt sie »Naturwissenschaftler«. Wie ausweglos sich ihr Unterfangen darstellt, wird offenbar, sobald man sich die Größenordnungen unserer Welt in Raum und Zeit vergegenwärtigt.
Das Universum entstand vor 13,82 Milliarden Jahren. Unser Planet hat stolze viereinhalb Milliarden davon miterlebt und zieht mit 30 Kilometern pro Sekunde seine Bahn um einen durchschnittlichen Stern, der wiederum mit 220 Kilometern pro Sekunde in einer Spiralgalaxie mit über hunderttausend Lichtjahren Ausdehnung unterwegs ist. Vermutlich sind Ihnen diese Zahlen bereits in einschlägigen Büchern oder Dokumentationen begegnet, und Sie waren davon wenig beeindruckt. Das ist nicht weiter verwunderlich, sind doch angesichts von Staatsverschuldungen in Billionenhöhe vormals »astronomisch große Zahlen« auch nicht mehr das, was sie mal waren.
Deshalb möchte ich Sie bitten, mir bei einem Gedankenexperiment zu folgen. Stellen wir uns vor, wir würden einen Fußmarsch quer durch ganz Europa unternehmen, und für diese Wanderung hätten wir viereinhalb Milliarden Jahre Zeit. Wir beginnen am Cabo de São Vicente im Süden Portugals und laufen los in Richtung Hammerfest in Norwegen. Wie weit wären wir dann, zum Beispiel, nach tausend Jahren gekommen? Die verblüffende Antwort lautet: gerade mal einen Schritt weit. Mit anderen Worten: Wenn Sie alle tausend Jahre nur einen Schritt machen, sind Sie in viereinhalb Milliarden Jahren quer durch ganz Europa gelaufen. Für ein Lebewesen, das sich auf einer Zeitskala von etwa hundert Jahren bewegt, sind solche Dimensionen unvorstellbar.
Noch phantastischer wird es, wenn wir uns an den Raum heranwagen. Stellen Sie sich vor, Sie würden eine Orange in Ihrer Hand halten, welche die Sonne symbolisiert, d.h., die Sonne mit ihren 1,4 Millionen Kilometern Durchmesser wäre so weit verkleinert, dass sie in Ihrer Hand Platz hätte. In diesem Maßstab wäre unser Heimatplanet vergleichbar mit einem Reiskorn, und die Entfernung zur Sonne betrüge zehn Meter. Näher an der Orange wären mit 3,8 Meter Abstand der Merkur und mit sieben Meter Distanz die Venus. Fünf Meter hinter dem Reiskorn würde die Marsbahn verlaufen, und unser gesamtes Planetensystem hätte etwa einen Kilometer Ausdehnung. Wo wäre in diesem Maßstab – gewissermaßen der Blick über den Gartenzaun zu unserem nächsten kosmischen Nachbarstern Proxima Centauri – die nächstgelegene Orange zu platzieren? Nun, sie würde maßstabsgetreu nicht mehr innerhalb Ihres Wohnorts, nicht innerhalb Ihres Bundeslands oder innerhalb Deutschlands, sondern weit hinter Moskau liegen. Einem Lichtjahr entspräche in dieser Analogie die Entfernung von München nach Berlin, und Proxima Centauri ist 4,25 Lichtjahre von uns entfernt. Wohlgemerkt, das ist unser allernächster Nachbar in den Weiten des Alls.
Wer sich das noch vorzustellen vermag, insbesondere die endlose Leere zwischen den Sternen, der kann sich an unserer Heimatgalaxie versuchen, der Milchstraße mit ihren mehreren hundert Milliarden Sternen. Diese Insel des Lichts in der endlosen Finsternis des Weltraums erstreckt sich bereits über hunderttausend Lichtjahre. Dabei versagt auch unser anschaulicher Orangen-Maßstab – spätestens bei den zweieinhalb Millionen Lichtjahren Entfernung zur nächsten Sterneninsel, der Andromeda-Galaxie. Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass es im Universum, nach aktueller kosmischer Volkszählung, einige hundert Milliarden Galaxien gibt.
Und diese Welt, mit unvorstellbaren Abgründen aus Raum und Zeit, wollen wir Trockennasenaffen verstehen, obwohl wir auf Skalen von Metern und Jahren auf einem Planeten leben, der mit vielfacher Geschwindigkeit einer Gewehrkugel durchs All rast? Ist das überhaupt möglich? Können wir diese Welt verstehen – zumindest ansatzweise? Fragen dieser Art fallen üblicherweise in den Aufgabenbereich der Philosophie. Einer ihrer bekanntesten Vertreter, Immanuel Kant, begann seine Kritik der reinen Vernunft mit der Feststellung: »Die menschliche Vernunft […] wird durch Fragen belästigt, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft.« Würde diese Aussage auch auf unsere Frage zutreffen, müssten wir konsequenterweise, kaum dass wir begonnen haben, auch schon wieder resigniert die Flinte ins Korn werfen. Viele Generationen von Wissenschaftlern haben sich jedoch anders entschieden, haben all ihr individuelles Können und ihre Begabung in die Waagschale geworfen, um sich einen Weg durch den scheinbar undurchdringlichen Erkenntnis-Dschungel zu bahnen. Man könnte ihr Tun auch mit einem Staffellauf vergleichen, wobei der Stab der Erkenntnis innerhalb einer Generation oft nur ein winzig kleines Stück weitergetragen werden konnte. In der Summe ist allerdings eine beträchtliche Strecke zurückgelegt worden, die wir in diesem Buch nachvollziehen wollen. Da uns dabei auch steilere Passagen erwarten, würde ich es eher eine Bergwanderung nennen, bei der wir beizeiten grandiose Ausblicke genießen werden – Blicke auf unsere Welt durch die Augen vieler außergewöhnlicher Menschen, allesamt Erstbesteiger auf ihrem jeweiligen Wegstück. Für diese Expedition zu den grundlegenden Theorien und Gesetzmäßigkeiten unseres Kosmos bedarf es natürlich eines erfahrenen Bergführers, und ich kenne niemanden, den ich dabei lieber an meiner Seite gehabt hätte, als meinen guten Freund Jörn Müller mit seiner fachlichen Kompetenz, seiner akribischen Arbeit am kleinsten Detail und seinem feinen didaktischen Gespür.
Gemeinsam werden wir Sie nach Kräften unterstützen auf diesem Weg zu den Stationen der Entwicklung des naturwissenschaftlichen Weltbildes, insbesondere an steilen oder ausgesetzten Passagen. Beginnend im Basislager der klassischen Mechanik und der Himmelsmechanik führt der Pfad über moderate Steigungen hinauf zu den ersten Anhöhen von Elektrodynamik, Atom-, Kern- und Teilchenphysik und von dort immer höher zu den Steilhängen von Spezieller und Allgemeiner Relativitätstheorie, von Quantenmechanik und Quantenfeldtheorie. Über den grandiosen Aussichtspunkt der Quantenelektrodynamik geht es weiter hinauf zu den Höhen der Quantenchromodynamik, Quantenflavourdynamik und zum Standardmodell, bis wir schließlich die Gipfelgruppe mit Eichsymmetrien, Vereinheitlichten Theorien, Supersymmetrie, Schleifenquantengravitation und Stringtheorien erreichen.
Leider ist der Weg, je höher wir kommen, nur noch mit festem Schuhwerk in Form von soliden mathematischen Grundlagen begehbar. Damit verlassen wir mit unserer Streckenführung die ausgetretenen Pfade der populärwissenschaftlichen Literatur, die üblicherweise diese Bereiche großräumig umgeht. Schlimmer noch: Einzelne Gipfel tauchen nicht einmal mehr im Tourenverzeichnis eines Physikstudiums auf.
Hoffentlich wird Stephen Hawking nicht recht behalten mit seiner Warnung, wonach jede Formel in einem Buch die Anzahl der Leserinnen und Leser halbiere. Diesbezüglich möchte ich mich bei den Studierenden der unterschiedlichsten Fachbereiche der Hochschule Landshut bedanken, die mit ihrem großen Interesse zum Erfolg der interdisziplinären Vorlesung »Können wir die Welt verstehen?« beigetragen haben. Ihre Begeisterung hat mich über mehrere Semester hinweg dazu ermutigt, die großen Theorien und Modelle der Naturwissenschaften in ihrer Klarheit und Schönheit für ein breiteres Publikum von Nichtphysikern so anschaulich wie möglich und mit dem nötigen Minimum an Mathematik zu formulieren – doch nie weiter vereinfacht, als es die korrekte wissenschaftliche Darstellung erlaubt.
Oft habe ich den Satz gelesen, die Mathematik sei die Sprache der Naturwissenschaften. Tatsächlich wird man damit ihrem Beitrag zum Verständnis bei weitem nicht gerecht. Denn sie liefert darüber hinaus noch einen entscheidenden Baustein, eine Methode von unschätzbarem Wert: den Beweis. Damit ist es möglich, Argumente und Aussagen nach wahr und falsch zu klassifizieren. Das mag auf den ersten Blick sehr formal und theoretisch klingen, doch genau diese Unterscheidung macht die Mathematik so wertvoll. Über all unserem Bemühen in den empirischen Wissenschaften schwebt stets das Damoklesschwert des sogenannten Rabenparadoxons. Es besagt, dass eine Hypothese durch Beobachtung stets nur auf Falschheit geprüft werden kann. Man kann bestenfalls zeigen, dass etwas nicht falsch ist – der Weg zur Wahrheit bleibt damit versperrt. Betrachten wir das Beispiel, dem das Paradoxon seinen Namen verdankt: Bei der Überprüfung der Hypothese »Alle Raben sind schwarz« können wir durch jede neue Beobachtung eines schwarzen Raben lediglich zeigen, dass sie bisher nicht falsch ist. Das macht sie aber nicht zu einer wahren Aussage, denn wir können nicht ausschließen, dass es irgendwo einen farbigen Raben gibt, den wir nur noch nicht gefunden haben. Umgekehrt genügt die Sichtung eines einzigen bunten Raben, um die Hypothese zu kippen, egal wie viele Bestätigungen sie bis dato erfahren hat. »Versuch und Irrtum« lautet das Credo der Naturwissenschaft – oder mit den Worten des Physikers und Philosophen Gerhard Vollmer: »Wir irren uns empor.« Zu jeder Zeit arbeiten wir mit Modellen zur Beschreibung der Welt, die sich bestenfalls als »bislang nicht falsch« erwiesen haben. Sicher können wir uns nur über das sein, was sich eindeutig als falsch erwiesen hat. Ein ungleich steinigerer Weg, verglichen mit dem mathematischen Beweis. Schließlich sind wir ja nicht angetreten, um zu erfahren, wie die Natur nicht ist.
Aber keine Angst! Wir haben den mathematischen Überbau so weit wie möglich zurückgedrängt und uns im Wesentlichen auf die vier Grundrechenarten (Arithmetik) und auf die Algebra einfacher, zumeist linearer Gleichungen beschränkt. Es ist schon erstaunlich, wie tief man mit diesem einfachen Rüstzeug in die theoretische Physik eintauchen kann. Wo dennoch gelegentlich die Differential- und Integralrechnung zur Anwendung kommt, wird die Methode leicht verständlich erklärt. Gelegentliche Abstecher zu prominenten Aussichtspunkten abseits des Weges werden wir durch ein Schleudersymbol kennzeichnen. Diese Passagen dienen einem vertieften Verständnis und sind für den roten Faden nicht zwingend erforderlich. Sie enden jeweils mit dem Symbol für freie Fahrt: .
Bevor wir aufbrechen, möchte ich noch auf eine weitere Gefahr in der Wissenschaft hinweisen: den sogenannten Beobachter-Selektionseffekt. Es ist eine Art blinder Fleck, der sich anhand des folgenden Beispiels leichter verstehen lässt: Fängt man in einem See nur Fische, die größer als 10 Zentimeter sind, so ist man versucht, daraus die Hypothese abzuleiten, dass es dort keine kleineren Fische gibt. Stellt sich nun heraus, dass die Fische mit einem Netz von 10 Zentimeter Maschenweite gefangen wurden, dann wurde durch diese spezielle Art des Fischfangs das Ergebnis entscheidend verfälscht. Wir sind also gut beraten, stets die Methoden sorgfältig zu prüfen, mit denen wir uns auf Informationsfang begeben – insbesondere wenn unser Netz aus Prognosen bestehender Modelle geknüpft wurde.
Zu Lebzeiten von Aristoteles, vor rund 2400 Jahren, waren die wissenschaftlichen Methoden, mit denen man die Welt zu ergründen suchte, noch vergleichsweise einfach, um nicht zu sagen rudimentär. Dennoch gelangten schon die griechischen Naturphilosophen zu erstaunlich genauen Aussagen etwa über die Größe der Erde oder die Entfernungen in unserem Sonnensystem. Im Lauf der Jahrhunderte entwickelte sich dann die Astronomie immer mehr zu einer ernsthaften Wissenschaft. Die Messinstrumente wurden zunehmend verbessert, neue, empfindlichere kamen hinzu, und die Experimentiertechniken wurden immer raffinierter. Insbesondere die intensive Beobachtung des Naturgeschehens eröffnete einen immer tieferen Einblick in die Geheimnisse des Kosmos. Schließlich erwuchsen aus den gewonnenen Daten neue Hypothesen und erweiterte wissenschaftliche Theorien zu den physikalischen Vorgängen in dieser Welt. Und nicht zuletzt gelang es auch immer besser, die theoretischen Prognosen mit Hilfe gezielter Experimente zu überprüfen und die Theorien gegebenenfalls zu korrigieren bzw. zu verwerfen.
Heute versteht man die Welt, wenn auch nicht in allen Details, so doch zumindest im Großen und Ganzen. Man hat eine konkrete Vorstellung von den Kräften, welche das Geschehen in der Natur auf den großen wie auch den kleinen Skalen bestimmen, man kennt die Regeln, nach denen sich die Materie ordnet und die entsprechenden Prozesse ablaufen, man weiß über das Alter unseres Universums, seine Struktur und dessen Bestandteile zumindest halbwegs Bescheid. Und nicht zuletzt hat man mit Hilfe der Mathematik tiefe Einblicke in die zeitliche Entwicklung des Kosmos gewonnen.
Dass auch der moderne Mensch untrennbarer Teil dieses alles umfassenden Weltgefüges ist, dessen sind sich aber wohl nur wenige bewusst. In unserer von Hektik und Reizüberflutung geprägten Zeit bleibt kaum Raum für eine Beschäftigung mit diesen Themen. Auf diesen gedanklichen Spuren treffen wir abermals auf Immanuel Kant. Auf seinem Grabstein in Kaliningrad, dem ehemaligen Königsberg, ist der Satz eingemeißelt: »Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der gestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir.« In diesem vermutlich bekanntesten Leitgedanken aus Kants Kritik der praktischen Vernunft offenbart sich das große Interesse, aber auch die Demut und Achtung, mit der er und seine Zeitgenossen der Natur begegneten. Und heute?
Seit geraumer Zeit tut sich da was. Befeuert durch die Medien, die im Rahmen ihres Bildungsauftrages vermehrt neue Erkenntnisse aus Wissenschaft und Forschung der Allgemeinheit bekannt machen, wächst das Bedürfnis, die Stellung des Menschen in der Natur zu erkennen und zu begreifen. Fragen wie »Was habe ich mit dem Universum zu schaffen?« bzw. »Woher komme ich?« beschäftigen immer mehr Menschen. Wer zu Antworten kommen will, der muss sich auf eine vertiefte Auseinandersetzung mit den Spielregeln und Gesetzen der Natur einlassen. Um den kosmischen Materiekreislauf zu verstehen und um – frei nach Goethe – »zu erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält«, kommt man um eine gewisse geistige Anstrengung nicht herum.
Eine letzte Warnung bei der Interpretation des modernen Weltbildes möchten wir noch mit auf den Weg geben: Obwohl wir heute über mächtige Modelle zur Beschreibung dieser Welt verfügen, müssen wir uns jedoch immer wieder vergegenwärtigen, dass es eben nur Modelle sind. Die Wahrheit, die Realität hinter diesen Modellen, bleibt uns leider aus oben erwähnten Gründen nach wie vor verborgen.
Unser Erkenntnisgewinn beginnt stets mit Beobachtungen. Anhand der gesammelten empirischen Daten leiten wir sodann Gesetzmäßigkeiten ab, die wir wiederum an der Realität messen können, indem wir in Form von Experimenten gezielt Fragen an die Natur stellen. Mit den Ergebnissen präzisieren wir sodann zunächst schrittweise unsere Fragestellungen und schließlich auch die aus den Daten gewonnenen physikalischen Gesetze. Zuweilen sind auch Gedankenexperimente sehr hilfreich. All das tragen wir zu einem vorläufigen Bild zusammen, bestehend aus empirischen Daten, das ich mit folgender Graphik veranschaulichen möchte:
Unser Weltbild ist noch sehr löchrig. Der Versuch, unsere empirischen Einzelerkenntnisse zu einem Gesamtbild zu verbinden, ähnelt sehr dem Malen nach Zahlen. Anfangs ist es noch einfach, Bilder zu entwerfen, weil nur wenige Fixpunkte bestehen. Der Kreativität sind kaum Grenzen gesetzt. Über die Jahrhunderte gesellen sich aber stetig mehr Erkenntnisse zu unserem Bild hinzu. Immer mehr Punkte begrenzen nach und nach die Interpretation, und da sie allesamt in das jeweilige neue Weltbild integriert werden müssen, setzt das immer restriktivere Leitplanken – Wissenschaft wird mehr und mehr zur Imagination in der Zwangsjacke!
Verstärkt wird dies nicht nur durch jede neue Messung und Beobachtung, sondern insbesondere durch die Verbindung einzelner Erkenntnisse zu umspannenden, prognosefähigen Theorien. Im Weltbild kristallisieren sich erste klare Konturen heraus.
Das klingt vielversprechend, birgt jedoch neue Probleme. Je besser eine etablierte Theorie durch experimentelle Daten gestützt wird, desto schwieriger wird es, sie in Bausch und Bogen zu verwerfen. Die anfangs dynamische Kreativität in der Evolution der Modelle kommt mehr und mehr zum Erliegen – Paradigmenwechsel werden selten. Neue Ansätze ergänzen und erweitern nun die bestehende, immer weiter verfestigte Basis, anstatt sie vollständig zu verdrängen. So behielt beispielsweise die Newtonsche Mechanik für kleine und mittlere Massen und Geschwindigkeiten ihre Gültigkeit bei, auch nach der Entwicklung der Relativitätstheorien. Auch die Schrödinger-Gleichung liegt heute noch vielen quantenmechanischen Überlegungen zugrunde, obwohl Erwin Schrödinger daran gescheitert war, sie relativistisch zu formulieren. Vor rund hundert Jahren begannen die Modelle friedlich zu koexistieren – jede innerhalb ihres Gültigkeitsbereiches. Die Allgemeine Relativitätstheorie beanspruchte für sich das Terrain hoher Energien, und die Quantenmechanik war in der Welt des Allerkleinsten zu Hause. Doch dieser Burgfriede war nur von kurzer Dauer. Neue Phänomene und Denkansätze hielten Einzug – beispielsweise die Urknall-Hypothese –, mit Szenarien, die sehr wohl das Allerkleinste mit den höchsten Energien verbinden. Auch die Wechselwirkung von Licht und Materie konnte erst durch den Überbau der Quantenelektrodynamik schlüssig verstanden werden. Rufe nach einer vereinheitlichten Theorie wurden immer lauter, um den tiefen Graben zwischen den mächtigsten Schwergewichten zuzuschütten, die sich bezüglich der Deutungshoheit über unserer Welt in Stellung gebracht hatten: auf der einen Seite die Quantenmechanik, die das Springen zwischen quantisierten, portionierten Zuständen und Größen zum Grundsatz erhoben hat, und auf der anderen Seite die kontinuierliche Allgemeine Relativitätstheorie, die Raum und Zeit als beliebig fein verschmiert erklärt und mit einer Quantisierung partout nichts am Hut hat. Beide hatten unzählige Falsifizierungsangriffe mit Bravour überstanden, und doch muss mindestens eine davon offensichtlich irren. Eine Vereinheitlichte Theorie soll nun erneut einen Überbau bewerkstelligen, beispielsweise durch die Körnigkeit von Raum und Zeit in der Schleifenquantentheorie.
So starren wir in der Naturwissenschaft seit geraumer Zeit auf die obige Abbildung und erkennen immer offensichtlicher einen Elefanten. Aber sitzt auf dem Kopf des Elefanten vielleicht ein Äffchen, und könnte es auf einer Trommel spielen, und wenn ja, in welchem Takt? Mühsam entsteht ein »Big Picture« – und ja, es ist unvollständig, um nicht zu sagen: falsch. Allerdings falsch im Sinne von »verdammt gut falsch« bzw. weniger falsch als noch zu Zeiten von Albert Einstein und noch weniger falsch als zu Zeiten von Isaac Newton. Unser Weltbild wird von Generation zu Generation »besser falsch«. Trotz seiner verbliebenen Lücken lässt sich mittlerweile ein Gesamtmotiv erahnen. Dieses Bild werden wir auf den folgenden Seiten herausarbeiten. Vermutlich wird es nicht genügen, dass Sie sich zurücklehnen und dabei zusehen. Wir werden Interaktion benötigen – es wird eine Reihe von Fragen geben. Dafür haben wir auf www.urknall-weltall-leben.de ein Forum eingerichtet mit einer eigenen Kategorie »Von Aristoteles zur Stringtheorie«. Auf der Webseite finden Sie auch begleitende Videos zu den einzelnen Kapiteln. Mit Hilfe der QR-Codes im Buch gelangen Sie bequem dorthin, oder Sie wählen direkt die eigene Playlist auf unserem YouTube-Kanal »Urknall, Weltall und das Leben«.
In jedem Falle wünschen wir Ihnen viel Freude bei dem Versuch, diese Welt zu verstehen. Der Weg ist das Ziel – getreu dem Zitat von Richard Feynman: »Wissenschaft ist wie Sex. Nur manchmal kommt etwas Sinnvolles dabei heraus – aber das ist auch nicht der einzige Grund, warum wir es tun.«
Vom Mythos zum Logos
Wie erstellt man einen Kalender?
Wer jetzt gemäß dem Untertitel des Buches den »Auftritt« von Aristoteles erwartet hat, wird sich verwundert die Augen reiben. Es kommt halt immer anders, als man denkt. Denn entgegen unserer Ankündigung beginnen wir nicht mit dem berühmten griechischen Philosophen und Naturforscher, sondern mit einer Geschichte, die sich auf dem Gebiet des heutigen Sachsen-Anhalt zugetragen hat. Doch der Reihe nach.
Spekulieren wir einmal, was die Menschen vor einigen tausend Jahren umgetrieben haben mag. Auch wenn sie noch keine schlüssigen Theorien zu all dem zu entwickeln vermochten, was sich »da draußen« zutrug, dürfte es ihnen gleichwohl wichtig gewesen sein, sich Fixpunkte im Lauf der Jahreszeiten zu schaffen, an denen sie sich zeitlich orientieren konnten. Die richtige Beantwortung von Fragen wie »Wann tritt der Fluss wieder über die Ufer und schwemmt den nährstoffreichen Schlamm auf die Felder?« oder »Wann ist die rechte Zeit, um das Saatgut auszubringen?« war von essentieller Bedeutung. Wer hier das richtige »Timing« hatte, war im Vorteil. Man brauchte also etwas, anhand dessen man eine Prognose wagen konnte – kurz: Man brauchte etwas, das man heute Kalender nennt.
Die vermutlich erste derartige Darstellung des Himmels stammt wider Erwarten nicht von den Griechen und auch nicht von den Ägyptern, sondern, wir haben es schon angedeutet, aus dem heutigen Sachsen-Anhalt. Dort, in der Nähe des Städtchens Nebra im Tal der Unstrut, haben Raubgräber 1999 eine aus Bronze gefertigte, 32 Zentimeter große Scheibe gefunden (Abb. 1.1 links), deren Alter man auf 3700 bis 4100 Jahre datiert.
1.1 Die Himmelsscheibe von Nebra. Sie besteht aus 2,3 kg Bronze und wird auf 2100 bis 1700 v. Chr. datiert. Geeignet justiert kennzeichnen ihre Goldapplikationen den Verlauf der Sonnenauf- und -untergänge (Bögen mit 82 Grad Öffnungswinkel, von denen nur einer erhalten blieb).
Auf dieser sogenannten Scheibe von Nebra sind mehrere markante Himmelskörper zu sehen. Am rechten Rand ist der Halbmond abgebildet, während die etwas aus der Mitte gerückte Scheibe links daneben vermutlich den Vollmond darstellt. Die sechs Plättchen aus Goldblech, die rechts oberhalb des Vollmondes einen Kreis bilden, mit einem weiteren Plättchen in ihrer Mitte, sind das sogenannte Siebengestirn – die mit bloßem Auge sichtbaren, leuchtkräftigsten Sterne des rund 440 Lichtjahre entfernten offenen Sternhaufens der Plejaden, zu dem insgesamt etwas mehr als tausend Sterne gehören. Dieses »Sternbild« hat man übrigens auch in anderen Kulturkreisen als etwas Besonderes angesehen. Der Beweis findet sich in den Höhlen von Lascaux, deren Wände neben anderen Zeichnungen auch ein Bild dieser herausragenden Sterngruppe schmückt. Die restlichen Plättchen auf der Scheibe symbolisieren weitere Sterne, die man jedoch bislang nicht eindeutig zuordnen konnte.
So weit, so gut, aber war das jetzt schon alles? Mitnichten! Zwar sieht man es der Scheibe nicht auf den ersten Blick an, doch ist sie auch ein Kalender, wenn auch ein etwas primitiver! Der Clou »versteckt« sich in den ursprünglich zwei am linken und rechten Rand eingelassenen (Horizont-)Bögen, die beide einen Winkel von genau 82 Grad umfassen (der linke Horizontbogen wurde später wieder entfernt). Diese 82 Grad entsprechen exakt dem Bogen, den die Sonnenauf- bzw. Sonnenuntergangspunkte zwischen dem 21. Juni, der Sommersonnwende, und dem 21. Dezember, der Wintersonnwende, auf der geographischen Breite von Nebra am Horizont markieren.
Wie wurde der Kalender benutzt? Dazu muss man wissen, dass von einem kleinen Hügel aus gesehen, dem heute bewaldeten Mittelberg, die Sonne am 21. Juni genau hinter dem Brocken, dem höchsten Berg im Harz, untergeht. Damit lässt sich die Scheibe justieren. Man montiert sie waagrecht auf einem Stock und peilt täglich über den Rand des Sonnenuntergangbogens auf den Brocken. Überschreitet der Sonnenuntergang den Rand des Bogens nicht mehr, hat man die sogenannte Sommersonnwende ermittelt, den 21. Juni. Die Ausrichtung der Scheibe darf jetzt nicht mehr verändert werden. Das nächste halbe Jahr wandert die untergehende Sonne Tag für Tag vom Brocken weg nach links bzw. nach Süden. Nach einem Vierteljahr, also am 21. September, ist sie genau auf der Hälfte des westlichen Horizontbogens angekommen, d.h., die Sichtlinie Auge – Scheibenmitte – Sonnenuntergangspunkt schneidet den Horizontbogen nun genau in der Mitte. Nach einem weiteren Vierteljahr steht die untergehende Sonne dann hinter dem linken Ende des Horizontbogens. Im Verlauf des folgenden Halbjahres wandert der Sonnenuntergangspunkt wieder zum Ausgangspunkt auf dem Horizontbogen zurück. Anhand der Stellung der untergehenden Sonne relativ zum Horizontbogen konnte man sich also jahreszeitlich ziemlich genau orientieren. Die Symbole für Plejaden und Mondsichel könnten auch ein Hinweis darauf sein, dass man anhand der Größe der Mondsichel am Nachthimmel vor den Plejaden den Zeitpunkt für einen Schaltmonat ermittelt hat, um Sonnenjahr (365 Tage) und Mondjahr (354 Tage) in Einklang zu halten. Es ist höchst eindrucksvoll, wie vertraut dem Konstrukteur der Scheibe das Geschehen am Himmel schon damals gewesen sein muss.
Wie der Landesarchäologe von Sachsen-Anhalt, Harald Meller, herausgefunden haben will, dürfte die Scheibe jedoch nur etwa 100 bis 150 Jahre in Gebrauch gewesen sein. Begründet wird das mit der Herkunft des für die Scheibe verwendeten Kupfers. Es soll aus Bischofshofen in Österreich stammen, wo man frühestens vor 3750 bis 3700 Jahren mit dem Abbau dieses Materials begonnen hat. Da die Scheibe vor rund 3600 Jahren vergraben wurde, verbleibt für ihre Nutzung nur die erwähnte Zeitspanne. Dass wir ausgerechnet hier den Startpunkt unserer Wanderung durch die Welt der Wissenschaft festlegen, mag stark abendländisch geprägt sein und wird den Leistungen beispielsweise chinesischer und arabischer Gelehrter nicht gerecht. Bitte sehen Sie uns das nach, wir sind keine ausgewiesenen Wissenschaftshistoriker und suchen einen möglichst geradlinigen Anstieg hinauf zu den Höhen der modernen Wissenschaftsdisziplinen.
Übrigens ist die Fund- und Entschlüsselungsgeschichte der Scheibe von Nebra auch ein Kriminalfall, der glücklicherweise gut ausging. Ein Kölner Händler hatte den beiden Raubgräbern bereits einen Tag nach der »Exhumierung« der Fundstücke 31000 DM dafür bezahlt – im Glauben, es handle sich um ein Stück eines Schildes. Anschließend sollten Mittelsmänner die Scheibe in Berlin und München für eine Million DM an Interessenten losschlagen. Doch als bekannt wurde, dass die Scheibe Eigentum des Landes Sachsen-Anhalt ist, konnte man sie nur noch unter der Hand am Schwarzmarkt anbieten. Schließlich traf sich im Februar 2002 Landesarchäologe Meller in der Rolle eines Kaufinteressenten mit den Hehlern in einem Hotel in Basel. Ob er die geforderten 700000 DM dabei hatte, wissen wir nicht. Tatsache ist jedoch, dass die Polizei die Hehler gleich im Hotel verhaftet hat.
Auf den Schultern von Riesen
Alles dreht sich – aber um was eigentlich?
Gestützt auf die Erkenntnisse der griechischen Naturphilosophen bestanden bis weit hinein in das erste Jahrtausend n. Chr. kaum Zweifel daran, dass die Welt wirklich so ist, wie man sie sich vorstellte. Erst Jahrhunderte später konnten insbesondere Nikolaus Kopernikus, Tycho Brahe und Johannes Kepler neue Akzente setzen, die dazu beitrugen, das Weltbild revolutionär zu verändern. Dass mit dem ptolemäischen System (Abb. 2.1), das die Erde, von Sonne und Planeten umkreist, im Mittelpunkt des Geschehens sah, etwas nicht stimmen konnte, zeigte sich spätestens gegen Ende des 16. Jahrhunderts am damals verwendeten, von Julius Cäsar eingeführten julianischen Kalender.
2.1 Das geozentrische Weltbild zur Zeit von Ptolemäus, mit zehn Sphären.
Im Vergleich zum Sonnenjahr war das julianische Kalenderjahr mit 365,25 Tagen etwas zu lang, so dass der kalendarische Frühlingsbeginn nicht mehr mit dem astronomischen Frühlingspunkt, der Frühlings-Tagundnachtgleiche, übereinstimmte und sich das Datum des christlichen Osterfestes im Laufe der Jahrhunderte immer weiter nach hinten verschoben hatte. Mit der sogenannten gregorianischen Kalenderreform durch Papst Gregor XIII. im Jahre 1582 wurde dieser unhaltbare Zustand korrigiert, indem man per Dekret zehn Tage aus dem Kalender strich und die mittlere Jahreslänge auf 365,2425 Tage festsetzte.
Damit waren zumindest Kalender und jahreszeitlicher Verlauf wieder im Einklang. Der Weg zu einem entsprechend geänderten Weltbild war jedoch weitaus holpriger. Der Erste, der sich an diese Reform heranwagte, war Nikolaus Kopernikus, ein fürstbischöflicher Domherr sowie Astronom und Arzt.
2.2 Nikolaus Kopernikus (1473–1543)
Nach seiner Theorie steht nicht die Erde, sondern die Sonne im Zentrum, und die Planeten umrunden sie auf Kreisbahnen. Die Bewegung der Sonne und der Fixsterne am Himmel konnte Kopernikus mit der Drehung der Erde um ihre Achse und mit der Bewegung der Erde um die Sonne erklären (Abb. 2.3).
2.3 Seite aus De revolutionibus orbium coelestium.
Ob sich Kopernikus bei seinen Überlegungen auf die von Aristarch ermittelten Daten zu den Größenverhältnissen im Sonnensystem und dessen Erkenntnis, dass die Sonne im Mittelpunkt des Geschehens steht, gestützt hat, ist nicht bekannt. Sehr wahrscheinlich jedoch hat er sich von Nikolaus von Kues (1401–1464) inspirieren lassen, der anhand rein philosophischer Überlegungen zu der Überzeugung gelangt war, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Kosmos sein kann. Und auch die Arbeiten des Mathematikers und Astronomen Regiomontanus (1436–1476) dürften als Grundlage für seine Überlegungen gedient haben. Mit Sicherheit weiß man jedoch, dass Kopernikus seine Theorien zunächst in seinem sogenannten »Commentariolus« niederlegte, die Schrift aber nicht veröffentlichte. Als Grund dafür vermuten Historiker Kopernikus’ Befürchtung, er könne sich damit lächerlich machen und die damalige wissenschaftliche Gemeinde könne ihm entgegenhalten, dass seine berechneten Planetenbewegungen, die ja auf Kreisbahnen beruhten, mit den Beobachtungen nicht ganz übereinstimmten. Möglicherweise hatte er auch Angst, mit seinen Ansichten gegen die Lehrmeinung der Kirche zu verstoßen und Gefahr zu laufen, verurteilt, exkommuniziert und schlimmstenfalls hingerichtet zu werden. Und nicht zuletzt bemängelten selbsternannte Astronomen, dass man nichts von dem Wind bemerke, den man doch verspüren müsste, wenn sich die Erde bewegt.
Im März 1543, zwei Monate vor seinem Tod durch einen Schlaganfall, wurde seine Schrift De revolutionibus orbium coelestium, in der er seine Theorien zu dem neuen Weltbild darlegt, in Nürnberg schließlich gedruckt. Vermutlich hat er das Buch noch am Sterbebett in Händen halten und einsehen können. Dass er dieses Werk dem damaligen Papst Paul III. gewidmet hat, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Solange jedoch im Vatikan Kopernikus’ Ansichten als Hypothese durchgingen, hatte die Kirche keine Einwände gegen das Buch. Erst als sich Galileo Galilei vehement für das heliozentrische Weltbild einsetzte, beschäftigte sich auch die Inquisition mit Kopernikus’ Werk. 1616 wurde es von Papst Paul V. auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt und erst 1822 bzw. 1835 wieder freigegeben.
Der Geist eines neuen Weltbildes war jedoch aus der Flasche und nicht mehr einzufangen. Seine Mächtigkeit zeigte sich insbesondere in seiner Prognosefähigkeit. So hatte Kopernikus eine partielle Sonnenfinsternis vorhergesagt, die 17 Jahre nach seinem Tod, am 21. August 1560, auch von einem 13-jährigen Knaben in Dänemark bestaunt wurde. Die Tatsache, dass man derartige Himmelsschauspiele über den eigenen Tod hinaus so genau vorhersagen konnte, zog den jungen Tycho Brahe in ihren Bann.
2.4 Tycho Brahe (1546–1601)
Brahe (1546–1601), aus einer dänischen Adelsfamilie stammend, wuchs zu einem hitzigen jungen Mann heran, der in einem Duell seine Nase verlor und seitdem eine Nachbildung aus einer Metallfolie trug. Er war es, der dem heliozentrischen Weltbild zum Durchbruch verholfen hat. Allerdings war das gar nicht seine Intention, vielmehr suchte er nach einer Bestätigung für sein eigenes, etwas abweichendes, geo-heliozentrisches System, das sogenannte tychonische Weltbild, in dem der Mond und die Sonne die im Zentrum stehende Erde umrunden, wogegen alle anderen Planeten um die Sonne kreisen (Abb. 2.5).
2.5 Das tychonische Weltbild mit der Erde im Zentrum der Gestirne, wobei sich die restlichen Planeten um die Sonne drehen.
Obwohl sich sein Weltbild letztlich als falsch erwies, war Brahe einer der bedeutendsten Astronomen seiner Zeit. Was ihn auszeichnete, war seine Fähigkeit zur akribischen Beobachtung der Planeten- und Sternbewegungen. Wie kein anderer vor ihm war er in der Lage, mit bloßem Auge die zeitlichen Veränderungen der Planetenpositionen exakt zu bestimmen und zu dokumentieren. Zu diesem Zweck entwickelte er mehrere Präzisionsmessinstrumente, unter anderem einen sogenannten Mauerquadranten mit einem Radius von 6,4 Metern, den er in Augsburg aufstellen ließ. Damit konnte er die Position der Himmelkörper bis auf zehn Bogensekunden genau bestimmen.
2.6 Der Mauerquadrant von John Bird (London 1773) mit 2,5 Meter Höhe.
Im Jahr 1580 bezog Brahe auf der ihm von König Friedrich II. von Dänemark überlassenen Öresund-Insel Ven (heute zu Schweden, damals zu Dänemark gehörend) eine speziell für seine Beobachtungen erbaute Sternwarte. Im Laufe der Zeit entwickelte sich diese Uraniborg genannte Forschungsstätte zu einer der berühmtesten Sternwarten der frühen Neuzeit. 1584 bezog er die nur 100 Meter entfernte, aus Stabilitätsgründen in den Erdboden eingelassene, neue Sternwarte Stjerneborg.
Außer seinem Datenkatalog zu den Planetenpositionen verdankt Brahe seinen Ruhm nicht zuletzt zwei seltenen Himmelsereignissen. 1572 gelang ihm die Beobachtung eines neu am Himmel aufscheinenden »Sterns«, einer Supernova, und 1577 vermaß er die Bahn eines am Himmel aufgetauchten Kometen. Da beide Ereignisse keine Parallaxe zeigten, d.h., die Position des Sterns verschob sich nicht vor dem Hintergrund der anderen Sterne, wenn man ihn von unterschiedlichen Orten aus anvisierte, war für ihn klar, dass sie nicht zur Planetensphäre gehören konnten, sondern weit außerhalb, in der Fixsternregion, angesiedelt sein mussten. Damit widerlegte er nicht nur die Ansicht Aristoteles’, für den die Fixsternsphäre ewig und unveränderlich zu sein hatte, sondern zeigte auch, dass das beobachtbare Universum viel größer sein musste als bisher angenommen.
Als sein Förderer Friedrich II. 1588 starb, wurden Brahe immer mehr die Mittel gekürzt. Deshalb entschloss er sich, Ven zu verlassen und in das Herzogtum Holstein überzusiedeln. Im Oktober 1601 verstarb Brahe unter mysteriösen Umständen in Prag. Um seine Todesursache rankten sich lange wilde Gerüchte. War es Mord, begangen durch Johannes Kepler? Starb er an einer selbstverschuldeten Quecksilbervergiftung oder an einem Herzinfarkt im Bordell? Oder erlag er einer geplatzten Harnblase? Um die Spekulationen einzudämmen, wurde Brahes Grab in der Prager Teynkirche im Jahr 2010 nochmals geöffnet. Die Untersuchung seiner sterblichen Überreste durch dänische und tschechische Pathologen ergab, dass Quecksilbervergiftung als Todesursache ausgeschlossen werden kann und Brahe vermutlich an einer Blasenentzündung starb.
Machen wir einen kleinen Schritt zurück in das Jahr 1600. Im Februar dieses Jahres lud Brahe den deutschen Astronomen und Mathematiker Johannes Kepler (1571–1630) zu sich nach Prag ein, um ihn zu seinem Assistenten zu machen. Dadurch wurden zwei Menschen zusammengeführt, die unterschiedlicher nicht hätten sein können. War Brahe aufbrausend, jähzornig, ungeduldig und herrschsüchtig, mit begrenzten mathematischen Fähigkeiten, dafür jedoch ein begnadeter, akribischer Beobachter, so war Kepler ein ruhiger, besonnener, zurückhaltender, glänzender Mathematiker, aber nahezu »blind wie ein Huhn«, so dass er kaum die Sterne erkennen konnte. Insofern ergänzten sich die beiden Persönlichkeiten hervorragend.
2.7 Johannes Kepler (1571–1630)
Im Rahmen dieser »Zusammenarbeit« erhoffte sich Brahe eine mathematische Bestätigung seines tychonischen Weltbildes. Da er aber um seinen Ruhm fürchtete, gab er Kepler aus seinem Datenschatz stets nur so viel zur Kenntnis, wie dieser für seine jeweils aktuellen Berechnungen unbedingt benötigte. Erst als Brahe starb, gingen seine kompletten Beobachtungsdaten an Kepler über. Wie von Kepler überliefert, soll Brahe an seinem Sterbebett ausgerufen haben: »Herr, lass mich nicht umsonst gelebt haben!« Ob diese Bitte an Kepler oder an Gott gerichtet war, sei dahingestellt.
Wie auch immer, Brahes flehender Wunsch sollte in Erfüllung gehen, gleichwohl jedoch etwas anders, als er sich das vermutlich gewünscht hatte. Denn nicht das tychonische, sondern das von Kopernikus vorformulierte heliozentrische Planetensystem sollte als das die Realität richtig wiedergebende Weltbild die Anerkennung Keplers finden. Dazu hatte Brahe einen nicht zu unterschätzenden Beitrag geliefert. Denn ohne den von ihm über Jahrzehnte immer wieder verbesserten und erweiterten Datenkatalog der Planetenbewegungen wäre Kepler wohl nicht in der Lage gewesen, die »Mechanik des Sonnensystems« zu entschlüsseln und seine drei revolutionären Keplerschen Gesetze zu formulieren.