Kopftuchmafia - Thomas Stipsits - E-Book

Kopftuchmafia E-Book

Thomas Stipsits

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Beschreibung

Auf einer kroatischen Hochzeit in der Gemeinde Stinatz geschieht etwas Furchtbares: Die Braut verschwindet nach dem Brautstehlen spurlos. Keiner der Anwesenden kann sich erklären, was mit ihr passiert sein könnte. Tage später wird die verschollene Braut tot auf einem Feld gefunden – ein Fall für den Polizeiinspektor Sifkovits. Warum wurde die Braut getötet? Sifkovits hofft bei der Lösung des Falles auf Hinweise der älteren Bewohner des Dorfes:die alte Resetarits-Resl, die dicke Grandits-Hilde und der Greissler des Ortes, Maikits. Denn diese alten Damen und Maikits wissen mehr als Google, Facebook und Amazon zusammen …

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Seitenzahl: 187

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Sammlungen



Über das Buch:

Dramatisches Ende einer Hochzeit in Stinatz: Die Braut verschwindet und wird am nächsten Tag ermordet aufgefunden – ein Fall für Inspektor Sifkovits!

Die Ermittlungen in seinem Heimatort stellen ihn zunächst vor einige Rätsel. Aber er bekommt tatkräftige Unterstützung von der „Kopftuchmafia“ – so wird das alteingesessene Trio liebevoll genannt – die Resetarits Hilda, die dicke Grandits Resl und seine Mutter Baba.

Denn diese rüstigen Damen wissen mehr als Google und Facebook zusammen …

Für Hansi Opa

Inhalt

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

Babas Erdäpfelstrudel

Danke an

Thomas Stipsits über Stinatz

1.

Man sagt, jeder Mensch wäre imstande, einen anderen Menschen zu töten. Man sagt, es sei nur eine Frage der Zeit, bis einem die Sicherungen durchbrennen und man Dinge tut, die man nur aus der Zeitung kennt. Man sagt, in den meisten Fällen gehe es sehr schnell. Man sagt aber auch, dass sich Opfer und Täter häufig kennen. Tja. Das alles kann ich hiermit bestätigen.

Es war nur ein einziger Schlag. Der Körper sackte sofort zu Boden. Es gab keinen Schrei, nichts, nur ein dumpfes Geräusch, irgendetwas ist dabei gebrochen, glaube ich. Den Gegenstand halte ich noch in meiner Hand, ich spüre, er ist aus Metall. Ich weiß gar nicht, was es ist. Er lag einfach da auf einer Werkbank.

Aus dem Wirtshaus dringt lautes Treiben in den Hinterhof. Ich betrachte den leblosen Körper. Fast kein Blut. Ich war mir sicher, dass ein Mensch mehr blutet. Ich greife mir den Schlauch, der sich wie eine Schlange quer durch den Hinterhof schlängelt, und spritze auf den betonierten Boden. Das wenige Blut läuft schnell in den Kanal, so als würde es flüchten wollen.

Kurz überlege ich hineinzugehen, um alles zu sagen. Ihnen die Wahrheit ins Gesicht zu spucken wie eine Krebsdiagnose. Nein, es gibt keine Heilung. Ich will, dass ihr den Schmerz richtig spürt, so wie ich ihn spüre. Jeder von euch hat Schuld, keiner ist dazu berechtigt, den ersten Stein zu werfen.

Und wenn ihr euch in eurer Trauer bemitleidet, euch eure gut gemeinten Ratschläge in eure Gehirne fräst, werde ich zu den dilettantischen Tönen der Kapelle auf Gräbern tanzen. Und ihr werdet nichts dagegen tun können. Zugegeben, der Gedanke hat etwas Verlockendes, aber ich habe andere Pläne.

Ich nehme die Leiche an den Armen und schleife sie nach hinten, wo der Besitzer sein Holz lagert. Dort kann mich auch keiner der Gäste sehen, selbst wenn sie den Hinterhof betreten. Schnell nehme ich das Handy, das dem Opfer gehörte, an mich und schalte es ab. Die SIM-Karte werde ich dann im Auto entfernen. Mit einem Brillenputztuch wische ich den Schlauch ab.

Als ich gerade dabei bin, den leblosen Körper durch die alte Holztür nach draußen zu zerren, betritt einer der Gäste den Hinterhof. Ich verstecke mich hinter einem Holzstoß und beobachte ihn.

Er blickt sich kurz um und ruft den Namen des Opfers. Er wartet natürlich vergebens auf eine Antwort. Er steckt sich eine Zigarette in den Mund und ruft erneut den Namen, der mir schon lange schlaflose Nächte bereitete. Doch was ich heute erfahren habe, war zu viel für mich. Meine Sicherungen sind einfach durchgebrannt.

Und die Wirkung nach außen hätte meinen guten Ruf beschädigt, sie hätten hinter meinem Rücken getuschelt und mit dem Finger auf mich gezeigt.

Der Mann hat bereits den obersten Knopf seines Hemdes geöffnet und seinen Krawattenknoten gelockert. Der Anzug, den er trägt, war nie modern. Die Bundfalten in seiner Hose bestätigen meine Annahme. Er steht nun genau an der Stelle, wo das Opfer lag. Der Boden ist noch feucht, aber aufgrund der schummrigen Beleuchtung fällt ihm das nicht auf. Die Zigarette fällt zu Boden und ertrinkt im schuldigen Wasser.

Jetzt kommt er direkt auf mich zu, biegt kurz vor dem Holzlager ab und betritt die Herrentoilette. Wenn er die Spülung betätigt, werde ich schon längst weg sein.

Vorsichtig lege ich die Leiche in den Kofferraum. Gott sei Dank habe ich genug Platz, locker würde auch noch ein weiterer Körper darin Platz finden. Ich achte behutsam darauf, den Wagen nicht mit Haaren und Blut zu beschmutzen. Langsam rollt mein Leichentransport davon, die Scheinwerfer vorerst noch ausgeschaltet entferne ich mich vom Tatort. Die Lichter des Wirtshauses sind nur mehr kleine Punkte und werden schließlich von der Dunkelheit verschluckt.

Unterlimbach in der Steiermark knapp an der Grenze zum Burgenland wirkt um diese Zeit völlig ausgestorben, kein einziges Auto begegnet mir auf meinem Weg. Der Gedanke, dass heute ein Mensch durch mich sein Leben verlor, blitzt durch meinen Kopf. Wenn er eine Farbe hätte, würde ich sagen rot. Auch beim Blinzeln flackern rote Tupfen vor meinen Augen. Die Tatwaffe liegt am Boden des Beifahrersitzes. Ich werde sie am geplanten Ort verschwinden lassen. Der Ort liegt hinter der Grenze, über den Lafnitz-Fluss drüber, im Burgenland.

Sicher werden die Leute vor Ort langsam unruhig werden. Der unmodische Typ hat sicher schon berichtet, dass er gerufen und keine Antwort bekommen habe.

Man wird sich auch drüben langsam Sorgen machen und den toten Menschen in meinem Fond zu vermissen beginnen. Ich muss schnell wieder dort sein, sonst merken sie noch, dass auch ich fehle.

Das Gute an kroatischen Hochzeiten ist die Tatsache, dass ein ganzes Dorf auf den Beinen ist und man in der großen Menschenmenge leicht unbemerkt verschwinden kann. Ich denke darüber nach, ob ich wirklich die Absicht hatte, einen Mord zu begehen. Offiziell würde ich sagen nein, aber es war mir im Grunde meines Herzens klar, dass diese Hände auf der Ladefläche meines Autos für immer ruhen würden.

Ich biege in eine kleine Landstraße ein und lösche erneut die Scheinwerfer. Dann stelle ich den Motor ab und lasse meinen Wagen im Leerlauf rollen.

Plötzlich sehe ich Lichter, die nicht da sein sollten. Mein Puls beginnt schneller zu werden und meine Hände werden feucht. Ich fange an zu schwitzen, so sehr, dass mir der Schweiß in die Augen rinnt. Wie oft hatte ich den Ausdruck „Mir rutscht das Herz in die Hose“ gehört. Nun weiß ich, wie sich das anfühlt. Beim Mord habe ich weniger gezittert.

Eine Zeit lang stehe ich einfach nur da und versuche meine Gedanken zu ordnen. Fast möchte ich zwei weitere Morde begehen, lasse aber davon ab, weil ich anscheinend noch nicht erkannt wurde. Die Männer, die ich beobachte, scheinen betrunken zu sein. Ich sehe, wie die beiden sich erleichtern, ihre Urinstrahlen kreuzen und dabei laut lachen. Fast wirken sie wie zwei fünfjährige Buben, die Spaß daran haben, sich gegenseitig ihre kleinen Zipferl zu zeigen.

Als die Männer fertig sind, legen sie sich die Hände um die Schultern und torkeln aus meinem Blickfeld. Nach kurzer Zeit wird das Licht wieder gelöscht. Ich merke, wie sich mein Puls wieder beruhigt.

Damit hatte ich nicht gerechnet. Der Platz, den ich mir überlegt hatte, um den Leichnam abzulegen und verschwinden zu lassen, ist nicht mehr relevant für mich. Auch wenn die Männer betrunken sind, sie würden mich bemerken. Wer weiß, ob sie überhaupt schlafen gehen, gut möglich, dass sie weitertrinken, und die Zeit zu warten, bis sie tief in einen alkoholischen Schlaf fallen, habe ich nicht.

Ich löse die Handbremse und mein Wagen beginnt wieder zu rollen. Ich habe an alles gedacht, nur daran nicht. Ich muss zurück zur Hochzeitsgesellschaft. Mein Wagen rollt weiter in die Dunkelheit, ganz einsam und leise. Einzig das Zirpen der Grillen durchdringt den Innenraum des Wagens. Wie fremde Musikanten spielen sie ihr Sommernachtskonzert für die grausige Fracht.

Plötzlich fällt mir etwas ein. Zugegeben, diese Möglichkeit birgt ein großes Risiko, doch sie ist die einzige Chance, die ich jetzt noch habe. Also fasse ich einen Entschluss.

Man sagt, es gäbe vier Arten von Mord: den heimtückischen, den im Affekt, den gerechtfertigten und den rühmlichen. Der jungen Frau in meinem Kofferraum ist es egal, welcher Art sie zum Opfer fiel.

Ich habe eine Stelle gefunden, wo ich sie ablegen werde. Gewiss, man wird sie bald finden, oder das, was von ihr übrig bleiben wird. Ein letztes Mal schaue ich ihr in die Augen und küsse ihr die Stirn, dann entferne ich mich von ihr.

Man sagt auch, der perfekte Mord ist jener, der nie aufgeklärt wird. In meinem Fall bin ich mir da nicht mehr so sicher, dass das gelingt.

2.

„Wo ist er? Wo ist diese Drecksau?“ Mit diesen Worten polterte Charly Pieber, Anfang 50, seines Zeichens Landwirt und Choleriker, in das Wirtshaus zum Goldenen Hirschen im steirischen Unterlimbach.

„Wer genau?“, fragte Mikovits, der dicke Wirt, ohne dabei aufzublicken. Er war darin vertieft, seine Gläser mit der Aufschrift „Trinkt Mikovits-Weine“ zu putzen, eine Tätigkeit, die er sehr gerne machte.

„Frag nicht so blöd!“

„Na ja, meinst du den Bürgermeister von Unterlimbach? Meinst du den Obmann vom Musikverein oder meinst du …“ Mikovits konnte seinen Satz nicht beenden.

„Ich spreche von meinem Bruder!“, unterbrach ihn Charly, „Wenn ich ihn erwische, dann erschlage ich ihn!“

Langsam blickte Mikovits auf. Er stellte sein Glas ab und warf den speckigen Fetzen auf die Schank.

„Tut mir leid, Charly. Diese Geschichte gibt es bereits, und sie ist sehr alt. Man wird sagen, dass du jemanden kopierst.“

„Was?“ Charly zog die Augenbrauen hoch.

„Jeder Kain hat seinen Abel, aber dein Bruder ist ja nicht einmal Hirte.“ Mikovits setzte ein leichtes Lächeln auf.

„Komm, trink ein Bier und reg dich nicht auf!“

„Ich will mich aber aufregen, das war jetzt das zweite Mal innerhalb von drei Wochen, dass mir dieser Idiot ein Metallstück ins Feld gelegt hat. Jedes Mal, wenn ich mit dem Mähdrescher drüberfahre, werden die Messer stark beschädigt. Weißt du eigentlich, was ein Messerservice bei einem Mähdrescher kostet?“ Charly hielt ihm den Metallgegenstand demonstrativ vor die Nase.

Mikovits nahm ein Stamperl vom Regal und schenkte sich einen Fernet Branca ein. Er füllte das Glas bis zum Rand und leerte es in einem Zug.

„Nein, weiß ich nicht, ist mir aber auch wurscht!“ Er füllte das Glas erneut und wiederholte den Vorgang. Dann nahm er den Gegenstand an sich und betrachtete ihn lange.

„Wieso bist du dir sicher, dass es dein Bruder war?“, fragte Mikovits, während er das dritte Stamperl leerte.

„Weil er sich rächen möchte, weil ich sein Geld verwalte und ihn kurzhalte. Nur zu seinem Besten.“

Charlys Bruder Peter wurde in Stegersbach gerne mit dem Ludwig-Hirsch-Lied „Peterle“ in Verbindung gebracht. Darin heißt es: „Wie der Peterle noch im Himmel war, damals vor vielen Jahren, da hat ihm ein ungezogener kleiner Engel, nur so aus Spaß, ganz einfach ein Kerzerl im Kopf ausgeblasen.“ Charlys jüngerer Bruder Peter war auf dem geistigen Niveau eines Kindes, und als der Vater vor drei Jahren an einem Herzinfarkt direkt am Traktor krepierte, erbte Charly die ganze Landwirtschaft, sowohl auf der steirischen als auch auf der burgenländischen Seite. Peter bekam lediglich einen neuen Vormund. Seither hilft Peter in der Küche beim Goldenen Hirschen aus. Meist lacht er die Menschen an, oft lachen sie zurück; auch wenn sie ihn dann eher aus- als anlachen, freut er sich. Manchmal rinnt ihm Speichel aus dem Mund und er nässt seine Hose ein. Ja, der Peter war eine Aufgabe, wie man hier sagt.

Mikovits hatte ihm damals eher aus Mitleid die Stelle in der Küche angeboten. Natürlich lief das inoffiziell, aber keiner der Gäste beschwerte sich darüber. Peter hatte große Freude an seiner Arbeit, weil er sich aus der Eistruhe, die hinten beim Dart-Automaten stand, so viel Brickerl-Eis nehmen durfte, wie er mochte.

Wenn Mikovits einen guten Tag hatte, schenkte er dem Peter auch schon mal ein Stamperl ein. Danach war Peter sofort betrunken, eingenässt, aber glücklich.

„Das ist sicher von der Baustelle.“ Mit diesen Worten gab Mikovits das Metallteil an Charly zurück.

„Das weiß ich selber. Ich habe schon mit dem Bauleiter gesprochen, die wissen von nichts.“

„Tut mir leid, Charly, ich kann dir da auch nicht weiterhelfen“, sagte Mikovits trocken, ehe er sich wieder seinen Gläsern widmete. Charly fixierte Mikovits mit einem stechenden Blick. Dieser ließ sich aber nicht aus der Ruhe bringen.

„Ist noch was?“

„Ist er nun da oder nicht?“ Charly wurde schön langsam aggressiv. Mikovits schüttelte den Kopf. Charly verlor die Geduld und ging schnellen Schrittes links hinter die Schank mit dem Sichtfenster, wo sich der Eingang zur Küche befand. Mikovits stellte sich ihm in den Weg.

„Lass mich durch! Ich will nur mit ihm reden.“ Mikovits schenkte Charlys Worten keinen Glauben.

„Nein. Lass den armen Buben in Ruhe. Glaubst du nicht, dass es nicht schon schwer genug für ihn ist?“

„Wieso denn? Aus seiner Sicht ist er normal und wir sind die Depperten!“

„Ich glaub, es ist besser, wenn du jetzt gehst!“, sagte Mikovits sehr bestimmt. Er kam einen Schritt auf Charly zu.

„Wie bitte? Ich glaub, ich habe dich nicht richtig verstanden“, entgegnete Charly.

„Doch, das hast du!“

Charly zog eine Packung Hobby aus der Brusttasche seiner blauen Arbeitsmontur. Nachdem er die Zigarette angezündet hatte, blies er Mikovits einen Schwall Rauch ins Gesicht. Die beiden Männer standen sich direkt gegenüber wie bei einem Duell in einem Sergio-Leone-Western. Die Luft war zum Schneiden, es herrschte aufgeladene Stille, nur das Ticken einer mit Fettspritzern verzierten Uhr war zu hören.

Mikovits ging ganz nahe an Charly heran. Er unterdrückte ein Husten, um sich vor seinem Duellanten keine Blöße zu geben. Als sie schon fast Nase an Nase standen, griff Mikovits in eine Lade, holte aus und knallte Charly einen in Folie eingeschweißten Zettel vors Gesicht.

„Rauchverbot! Neues Gesetz. Raus mit dir!“

Charly blickte kurz auf den Text, dann begann er leicht zu lächeln. Er entfernte sich von der Schank und ging Richtung Innenhof, wo sich auch die Toiletten befanden. Im Gehen sagte er noch: „Mach mir derweil ein Bier.“ Mikovits schenkte sich einen Fernet ein und nahm ein Bierglas von dem Regal.

Der Innenhof war groß und unaufgeräumt. Seit dem neuen Rauchergesetz diente er nicht nur als Übergang zu den Toiletten, sondern auch als Raucherhof. Ganz am Ende gab es ein überdachtes Holzlager, durch das man ebenfalls nach ganz draußen gelangte.

Unzähliges Gerümpel, Werkzeug, Blechreste und leere Bierflaschen von Mikovits lagen auf einer Werkbank, die ebenfalls überdacht war. Charly warf das Metallteil auf die Werkbank. Er inhalierte die letzten Züge seiner Zigarette und ließ sie anschließend in den Kanal fallen, über dem er gerade stand. Der Boden des Hofes hatte eine leichte Neigung, sodass Regenwasser oder andere Flüssigkeiten gut in den Kanal abrinnen konnten.

Charly hörte die Toilettenspülung und kurz darauf stand ein Mann im Innenhof, den er sehr gut kannte.

„Hallo. Was machst du da? Ich habe gestern ganz schlecht geträumt. Ein böser Mann hat mir mein Eis gestohlen, dabei ist das Eis so schmecklich.“

Das „Paw Patrol“-T-Shirt, das Peter trug, war ihm viel zu eng. Er wollte es damals unbedingt haben, auch wenn es keine Größen für Erwachsene gab.

„Hast du mir ein Metallteil ins Feld gelegt?“, fragte Charly und zündete sich eine neue Zigarette an.

„Der Mann hat einen Pferdefuß gehabt.“

„Lenk nicht ab, Peter! Ich habe dich etwas gefragt“, blaffte Charly.

Peter senkte den Kopf und begann in sich hineinzunuscheln. „Der mit der Bischmoschhüpfe kann mir helfen.“

„WAS?“, schrie Charly.

„Der mit der Bischmoschhüpfe kann mir helfen.“ Rund um Peters Schritt breitete sich plötzlich ein kreisrunder Fleck aus. Speichel tropfte ihm aus dem Mund und seine Augen füllten sich mit Tränen. Charly nahm Peters Kopf fest mit beiden Händen und hob ihn nach oben. Er blickte ihm direkt ins Gesicht.

„Hast du es getan?“ Charly begann ihn wild zu schütteln, was dazu führte, dass Peter in einen Weinkrampf ausbrach.

Er hatte Probleme zu antworten, weil er zu hyperventilieren begann. Charly stoppte das heftige Schütteln und nahm seinen Bruder sanft in die Arme. Dabei knickte er seine Hüfte nach außen, um die Urinflecken nicht zu berühren.

„Beruhig dich, Peter. Alles gut. Ich will ja nur wissen, ob du es warst. Ich tu dir auch nichts.“

„Versprochen?“ Peters Augen waren verschwollen und aus seiner Nase lief ein gewaltiger Fluss Nasensekret.

„Versprochen!“, besänftigte ihn sein Bruder. Peter hob ganz langsam den Kopf und blickte seinem Bruder in die Augen.

„Komm, sag’s mir!“ Charly streichelte seinem Bruder zart über die Stirn. Peters Lippen begannen zu zittern.

„Ich will auch ein Bauer sein, so wie du!“ Das Sekret aus seiner Nase lief ihm über sein Kinn. „Der Mann mit dem Pferdefuß hat gesagt, dass ich es tun soll. Er hat gesagt, dann werde ich der Bauer sein und nicht du.“

„Und deshalb hast du mir die Metallteile ins Feld gelegt?“, fragte Charly mit ruhiger Stimme

„Ja. Weil dann hörst du auf und ich darf mit dem Mähdrescher fahren.“ In Peters Gesicht zauberte sich ein Lächeln, als er mit dem Satz zu Ende war. Zum Sekret am Kinn mischte sich nun auch etwas Speichel. Fast wie in Zeitlupe tropfte das Gemisch direkt in den Kanal.

„Ich verstehe!“ Charly löste seine Umarmung und drehte Peter den Rücken zu.

„Bist du mir böse, Charly?“

„Nein.“

Charly bückte sich und nahm den am Boden liegenden Schlauch in seine Hand.

„Gott sei Dank. Ich werde dem Mann mit dem Pferdefuß sagen, dass er nicht mehr kommen darf.“

„Danke, Charly, du bist der beste Bruder, den es gibt.“ Peter wollte noch etwas sagen, kam aber nicht mehr dazu, weil Charly seinem Bruder mit einer schnellen Bewegung den Schlauch auf die Brust schlug. Peter ging sofort zu Boden, was Charly dazu veranlasste, nochmals mit dem Schlauch auf Peters Rücken einzudreschen. In wenigen Sekunden bildete sich auf Peters Rücken ein dicker roter Wulst. Er schrie, als würde man eine Sau schlachten.

„Hör mir gut zu, du Idiot, wenn du das nochmal machst, dann werde ich dir richtig wehtun und nicht so wenig wie bisher. Hast du das verstanden?“

Peter reagierte nicht, sondern schrie ununterbrochen: „Hör auf! Hör auf!“

Als Mikovits in den Hinterhof kam, um nachzuschauen, wer da so schrie, war Charly längst durch die Hintertür des Holzlagers verschwunden. Auf dem Boden lag der Küchengehilfe in einem Gemisch aus Speichel, Urin und Tränen. Das „Paw Patrol“-T-Shirt hatte sich auf der Rückseite rot eingefärbt.

Obwohl Mikovits wusste, dass Charly ihm das angetan hatte, verpfiff Peter seinen Bruder nicht. Auf Mikovits’ Frage, wer für diese Schandtat verantwortlich sei, antwortete Peter: „Der schwarze Mann mit dem Pferdefuß.“

Einige Tage später blockierten Charly Piebers Mähdreschermesser erneut und er hatte wieder etwas im Mähwerk. Nur diesmal war es kein Metallteil.

3.

Gruppeninspektor Sifkovits, Anfang 40, mit leichtem Wohlstandsbauch, saß an seinem Schreibtisch im Büro des Landeskriminalamts Eisenstadt und konstruierte eine Schlange aus Büroklammern.

Er trug wie immer seine ockerfarbige Chinohose, seine ockerfarbige Ballonmütze, sein weißes Hemd und seine graue Strickweste. Er hatte diese Kombination exakt zehnmal in seinem Schrank, um sich die allmorgendliche Entscheidung zu sparen, was er anziehen solle. Die Büroräume waren spärlich eingerichtet und nur mit dem Notwendigsten ausgestattet. Allem voran der Kaffeemaschine. Es war ein Filterkaffee, zugegeben kein wirklich guter, aber mittlerweile hatte man sich an den Geschmack gewöhnt.

Sifkovits griff nur sehr selten zu Kaffee, da er mit Vorliebe Käsepappeltee mit Honig schlürfte. Außer ihm trank das niemand im Kommissariat. Freilich hatte man das als „komisches Gesöff“ bezeichnete Getränk probiert, Enthusiasmus darüber wollte allerdings keiner aufkommen. Die höflicheren Kolleginnen und Kollegen beurteilten den Tee mit einem süffisanten „Mmhh, ja, interessant, aber nicht meins“, die Mehrzahl jedoch mit einem lauten „Scheußlich! – Wie eingeschlafene Füße!“

Es war erst 6.30 Uhr morgens, dementsprechend langsam bewegte sich Sifkovits auf den Wasserkocher zu, der direkt gegenüber auf einem Regal stand. An der Wand dahinter thronte eine riesige Burgenland-Karte, wobei das an sich schon eine Pointe für sich darstellt. Was die Kriminalstatistik betraf, belegte das Burgenland seit Jahren den letzten Platz. Wien, als ewiger Goldmedaillenträger, wurde scherzhaft als Everest der Bundesländer bezeichnet, das Burgenland eher als Geschriebenstein. Mit 884 Höhenmetern also durchaus ohne Sauerstoffgerät zu besteigen.

Als Sifkovits gerade dabei war, heißes Wasser in seine Tasse zu gießen, öffnete sich die Tür hinter seinem Schreibtisch. Intuitiv wusste er, dass die Tür seinetwegen geöffnet wurde, dennoch ließ er sein Teeei in die Tasse baumeln.

„Sifkovits. Zu mir!“, sagte eine Stimme. Danach fiel die Tür wieder zu.

„Na, das klingt aber nicht gut“, sagte ein Kollege zu Sifkovits, bevor er in eine Leberkäsesemmel biss.

Die lauten Kaugeräusche ließen hörbar keinen Zweifel daran, dass dem Kollegen sein Frühstück schmeckte. Sifkovits deutete auf die Semmel.

„Is a bissl früh, oder? Also ich würd das um die Zeit noch nicht hinunterbringen.“

Schmatzend zeigte der Kollege auf Sifkovits’ Tasse.

„Und ich das nicht!“ Dabei fiel ihm ein kleines Stück Leberkäse aus dem Mund und landete direkt auf einem Akt mit der Aufschrift: „Hühnerdiebstahl Olbendorf–Untermühlen“.

„Na dann, Mahlzeit!“ Mit dem Tee in der Hand schritt Sifkovits durch die Tür hinter seinem Schreibtisch.

„Hab ich gesagt, dass Sie sich setzen dürfen!?“ Sofort sprang Sifkovits wieder auf.

„Bevor Sie loslegen, Herr Oberst, würde ich Sie gerne noch etwas fragen.“

„Was?“, der Oberst wurde lauter.

„Darf ich mich setzen?“

Der Oberst blickte etwas verdutzt in das Gesicht seines Gegenübers, dann schallte Sifkovits ein so lautes NEIN entgegen, dass dem Kollegen draußen im Büro erneut ein Stück Leberkäse aus dem Mund purzelte.

„Sie setzen sich erst, wenn ich es Ihnen sage!“

„Alles klar, Herr Oberst, ich habe verstanden.“ Sifkovits blieb stehen und nahm einen Schluck aus seiner Tasse.

Oberst Sebastian Taschner, Sifkovits’ Vorgesetzter, war in einer merkbar schlechten Stimmung. Er war smarter als der Gruppeninspektor, trug einen makellosen blauen Anzug, der so viel Seele hatte wie seine makellose Frisur, und makellose Schuhe, bei denen er immer betonen musste, dass er sie anfertigen ließ.

Taschner war von Ehrgeiz zerfressen. Einer dieser Typen, die dich in der Schule nicht abschreiben ließen und in einer Gruppe nicht zwei Cappuccino, sondern zwei Cappuccini bestellen. Obwohl die Endung stimmt, kann man solche Menschen nur verachten.

„Sie wissen, was heute für ein Tag ist?“

Sifkovits fuhr sich unter seine Kappe, um sich am Kopf zu kratzen. „Also, wenn Sie mich jetzt so direkt fragen, dann würde ich sagen … Montag.“

„Richtig, Herr Gruppeninspektor. Und was ist am Montag?“ Sifkovits zuckte kurz mit den Schultern, bevor er eine Antwort gab.

„Äh, wahrscheinlich läuft wieder eine Wiederholung von den ‚Vorstadtweibern‘ oder so.“

Taschner erhob sich von seinem protzigen Stuhl und reichte Sifkovits eine Liste. Nachdem der den Zettel kurz überflogen hatte, wurde ihm einiges klar.