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Allerheiligen, quasi der Opernball von Stinatz: ein Fest to see and to be seen. Tausende Grablichter lassen den Stinatzer Friedhof beinahe taghell leuchten. Es hängt aber nicht nur ein Hauch von Andacht in der Luft, sondern auch Pepi Grandits in seinem Keller. Alles sieht nach einem tragischen Selbstmord aus. Doch der Abschiedsbrief des Toten lässt Gruppeninspektor Sifkovits zweifeln. So beginnt er, wie immer tatkräftigt unterstützt durch die "Kopftuchmafia" - die Resetarits Hilda, die dicke Grandits Resl und seine Mutter Baba, zu ermitteln.
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Seitenzahl: 167
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Über das Buch
Allerheiligen, quasi der Opernball von Stinatz: ein Fest to see and to be seen. Hunderte Grablichter lassen den Friedhof beinahe taghell leuchten. Die ganze Gemeinde ist gekommen, um der Verstorbenen des letzten Jahres zu gedenken.
Es hängt aber nicht nur ein Hauch von Andacht in der Luft, sondern auch Pepi Grandits in seinem Keller. Alles sieht nach einem tragischen Selbstmord aus. Doch der Abschiedsbrief des Toten lässt Gruppeninspektor Sifkovits zweifeln …
Bei seinen Ermittlungen unterstützt ihn die „Kopftuchmafia“ – die Resetarits Hilda, die dicke Grandits Resl und seine Mutter Baba – wieder tatkräftig.
Für meinen geliebten Bruder Christian
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„Er hat mich gesehen!“, rief der bullige Mann mit leicht ungarischem Akzent ins Telefon, während er nervös auf und ab lief. Er befand sich in einer großen Halle. Acht Abschleppfahrzeuge standen auf mit gelben Linien markierten Parkplätzen. Auf vier von ihnen waren unterschiedliche Autos geladen, alle mit österreichischen Kennzeichen.
Die Abschleppfahrzeuge waren etwas ältere Modelle, die durch ihre robuste Bauweise und den abgenutzten Look etwas altmodisch wirkten. Sie waren in einem kräftigen Gelb lackiert, das über die Jahre verblasst war. Trotz der Alterserscheinungen blieb die Farbe gut sichtbar. Auf den Lackierungen zeigten sich an vielen Stellen Kratzer und Schrammen, die auf den jahrelangen Einsatz der Fahrzeuge hindeuteten.
Auf den Türen jeder Fahrerkabine befand sich das Logo des Abschleppunternehmens, ein einfaches, aber gut erkennbares Symbol. Es war ein Esel, der lächelte. Darunter stand in Großbuchstaben: SZAMÁR. Auch die Logos waren etwas verblasst, aber immer noch deutlich erkennbar und einheitlich auf allen Fahrzeugen angebracht.
Am Heck befanden sich jeweils massive Schwenkarme aus grauem Metall. Sie waren mit dicken Ketten und Haken ausgestattet, die ebenfalls Gebrauchsspuren aufwiesen. Die Fahrzeuge waren offensichtlich oft im Einsatz.
Durch die Oberlichten der Halle fiel kaum Licht ins Innere. Große Neonleuchten an der Decke ließen die Halle in einem kalten Licht erstrahlen, das an einen Operationssaal erinnerte.
Drei Mitarbeiter waren damit beschäftigt, ein Abschleppfahrzeug zu reparieren. Sie wirkten südländisch. Es schien fast so, als würden sie den bulligen, kleinen Mann am Telefon absichtlich ignorieren. So, als wäre er gar nicht da und als hätten die drei Mechaniker Angst vor ihm.
Er sprach in ein Klapphandy. Am anderen Ende der Leitung war es still.
Es war der 31. Oktober. Nachmittag. Ein Tag vor Allerheiligen.
„Chef?“, fragte er.
Es dauerte eine Weile, bis er eine Antwort bekam.
„Ja.“
Die Stimme war bestimmt, aber besonnen. Der Mann am anderen Ende der Leitung sprach ohne Akzent. Er klang österreichisch.
„Mach dir keine Sorgen, Viktor“, sagte die österreichische Stimme, „wir haben uns ganz diskret unterhalten, er wird keine Ahnung haben, worum es ging.“
„Und die andere Sache?“, bohrte Viktor nach.
„Darin sehe ich überhaupt kein Problem“, bekam er als Antwort.
Viktor drehte sich zu den Mechanikern um. Sie waren gerade dabei, bei dem Abschleppfahrzeug einen Ölfilter zu wechseln. Als sie bemerkten, dass sie von Viktor beobachtet wurden, drehten sie ihre Köpfe blitzschnell weg. Sie sprachen sehr leise miteinander.
Gedankenversunken sah Viktor nach oben. Eines der Neonlichter hatte einen Wackelkontakt. Immer wieder flackerte es auf, schaffte es aber nicht, vollständig zu strahlen, und erzeugte ein irritierendes Geräusch.
„Viktor!“, wurde der bullige Mann am Telefon aus seinen Gedanken gerissen.
„Ja, Chef?“
„Ich kann spüren, dass du dir Sorgen machst.“
„Es ist zu riskant, die Autos sind bereits auf den Fahrzeugen. Alles ist vorbereitet.“
Viktor versuchte, ruhig zu wirken, doch sein Gesprächspartner hatte ihn sofort durchschaut.
„Er soll sich einen neuen Ort zum Leben suchen. Er wird von dort nicht mehr zurückkehren.“
Viktor wirkte erleichtert.
„Danke, Chef.“
„Aber, Viktor“, die Stimme des Österreichers klang plötzlich nicht mehr sanft, sondern sehr bestimmt. „Keine Fehler. Es ist allein deine Sache. In Kürze bekommst du einen Anruf.“ Dann legte der Österreicher auf.
Exakt 13 Minuten später läutete das Telefon. Viktor sprach nicht einmal eine Minute und wusste, was er zu tun hatte. Nachdem das Gespräch beendet war, nahm er die SIM-Karte aus dem Handy. Er warf sie auf den Boden und zertrat sie mit dem Absatz seiner schweren schwarzen Schuhe. Das Klapphandy brach er in der Mitte auseinander und warf es anschließend in eine blau-weiße Metalltonne, die an einer Wand der Halle stand.
Die Neonleuchte flackerte noch einmal auf. Kurz darauf trat eine zu große Menge Wasserstoffgas ins Innere, der Druck veränderte sich und die Leuchte implodierte. Ein lauter Knall hallte durch das Gebäude. Die Mechaniker schauten nicht nach oben.
Viktor verließ die Halle, stieg in sein Auto und fuhr Richtung Stinatz.
Gruppeninspektor Sifkovits vom Landeskriminalamt Eisenstadt stand in der Küche seiner Mutter Baba und war gerade dabei, ein heißes Blech aus dem Tischherd zu nehmen. Er trug wie immer seine ockerfarbige Chinohose, seine ockerfarbige Ballonmütze, sein weißes Hemd und seine graue Strickweste. Sifkovits hatte diese Kombination exakt zehnmal in seinem Kasten hängen.
Im LKA in Eisenstadt war zurzeit nicht sehr viel los und so hatte ihm sein Vorgesetzter Oberst Taschner angeboten, sich doch ein paar Tage Urlaub zu nehmen, um gemeinsam mit seiner Mutter und seiner Schwester Lisa Allerheiligen in Stinatz zu verbringen.
Seine Frau Carina war gerade mit „Ärzte ohne Grenzen“ in Kenia unterwegs und würde erst kurz vor Weihnachten wieder nach Österreich kommen.
Sifkovits war seinem Heimatort Stinatz noch immer eng verbunden. Es war ein typisches Straßendorf, in dem sich das Leben, soweit das Wetter es zuließ, draußen auf der Straße abspielte. Das Haus seiner Mutter Barbara, die von allen Baba genannt wurde, war ein klassisches Bauernhaus an der Hauptstraße, wie es in Stinatz ganz viele gibt. Der Inspektor war dort aufgewachsen und kehrte immer wieder gern dorthin zurück.
Heute war der große Tag. Allerheiligen ist quasi der Opernball von Stinatz, nur mit dem Unterschied, dass keine prominenten Gäste geladen werden, sondern die Promis bereits unter der Erde liegen. Alle besuchen die Grabstätten auf dem Friedhof und beten für die Toten.
Der Friedhof würde in ein paar Stunden hell erleuchtet sein. Hunderte von Grablichtern waren bereits sorgfältig auf den Gräbern drapiert. Die frischen Chrysanthemen und andere herbstliche Blumen, die auf die Gräber gelegt wurden, trugen mit einem süßlichen, tröstlichen Duft zur Atmosphäre bei.
Es war später Nachmittag. Das Dorf wirkte wie ausgestorben. Die Sonne schien schwach durch einen meist grauen Himmel. Ihre Strahlen waren mild und das Licht wirkte gedämpft, wodurch eine ruhige, fast andächtige Stimmung entstand. Sanfter Wind wehte durch die Gassen und über die Felder von Stinatz, begleitet von dem leisen Rascheln fallender Blätter.
Alle Bewohner waren damit beschäftigt, sich für den Abend herzurichten. Sifkovits war kein besonderer Fan dieses Feiertags. Es würde unendlich lange dauern am Friedhof. Aller, die heuer verstorben waren, wurde an diesem Abend besonders gedacht.
David Grandits, der Pfarrer von Stinatz, ließ es sich natürlich nicht nehmen, die Allerheiligengebete für die Verstorbenen zweisprachig, also auf Deutsch und auf Kroatisch, vorzutragen. Somit dauerte die ganze Show doppelt so lange.
Sifkovits erinnerte sich an Jahre, in denen es nur drei Tote gegeben hatte. Herrlich. Kurzes Stehen in der Kälte und danach wieder nach Hause in die warme Stube.
Heuer waren es dreizehn. Unter drei Stunden würde sich das Ganze nicht abspielen, dachte er. Die Option, zu Hause zu bleiben, gab es nicht. Man wollte gesehen werden und selber schauen. Wer zu Allerheiligen in Stinatz nicht am Friedhof war, hatte die Kontrolle über sein Leben verloren.
Der Brauch schaffte es sogar ins bundesweite Fernsehen. Nirgendwo sonst in Österreich gab es Friedhöfe, die zu diesem Anlass so hell erleuchtet waren wie in Stinatz. Darauf war man auch sehr stolz.
Böse Zungen behaupteten, dass man sich teilweise freue, wenn die Tante Hermine endlich zum Schöpfer gerufen wurde, nur um am Friedhof im Mittelpunkt zu stehen. „Niemand wird länger berühmt sein als 15 Minuten“, sagte einst Andy Warhol. Die Gebete von Pfarrer David dauerten sogar länger als 15 Minuten. Da war er voll in seinem Element. Tagelang bereitete er sich darauf vor, übte seine Gebete vor dem Spiegel und überlegte sich bedeutungsvolle Gesten zu bestimmten Worten. Ein Fehler an diesem Tag könnte zu großen Problemen führen. Einige der Gläubigen würden ihm das nicht verzeihen.
Andere wiederum gingen auf den Friedhof, weil man das eben so machte. Sifkovits gehörte zu dieser Gruppe. Er sah es auch als Gefallen seiner Mutter zuliebe.
Nicht nur Allerheiligen war etwas ganz Besonderes im Ort, Stinatz an sich war in vielerlei Hinsicht außergewöhnlich. Viele Traditionen wurden hier über Jahrhunderte gepflegt, doch ohne einen schalen nationalistischen Beigeschmack. Waldfest, Pfarrfest, Tiger-Heuriger, Kirtag oder das Musikertreffen waren nur einige der lokalen Feste.
Im Ort lebten viele Burgenlandkroaten und aufgrund dieses Hintergrunds hatte Stinatz eine feste Bindung zur kroatischen Sprache und Kultur. Fast 60 Prozent der Bewohner bekannten sich dazu.
Den gesprochenen kroatischen Dialekt gab es seit etwa 500 Jahren in Stinatz und er hatte den Ort über diesen langen Zeitraum kaum verlassen. Die Dialekte in den Nachbarortschaften hatten mit jenem von Stinatz fast nichts zu tun.
Wenn Menschen aus Stinatz Deutsch sprachen, hatte das einen gewissen Charme. Weil die meisten auf Kroatisch dachten und es erst danach ins Deutsche übersetzten. Vor allem die ältere Bevölkerung des Ortes.
Manche Worte wurden daher anders ausgesprochen, zum Beispiel: Blumen. Man sprach dieses Wort aus, als würde man Blumen mit hartem P schreiben: PLUMEN. „Pitte pring ma Plumen mit.“
Die wichtigste Regel war allerdings das fehlende H am Wortanfang. Man sagte nicht: „Schau, da kommt die Herta“, man sagte: „Schau. Erta gumt“ und „Erta ist die Frau vo Errmann“. Wenn manche Leute aus Stinatz lachten, erinnerte es ein wenig an das Schreien eines Esel, weil eben das H fehlte: „IA - IA - IA“.
Stinatzer Hochzeiten zählen mittlerweile zum UNESCO-Weltkulturerbe. Allerheiligen höchstwahrscheinlich in Bälde auch.
Für Baba Sifkovits war dieser Tag von großer Bedeutung. Das war auch der Grund, warum sie seit einer Stunde nicht mehr aus dem Schlafzimmer kam. Sifkovits wusste, dass sie sich nicht für ein Kleid entscheiden konnte.
„AUA!“, schrie der Inspektor. Das Blech, das er aus dem Ofen genommen hatte, rutschte ihm aus der Hand und fiel zu Boden. Auf dem kleinen Teppich, der in der Mitte der Küche ausgelegt war, sammelten sich Backfett, einzelne Rosinen und Teile des Striezels und es bildete sich ein schmieriger Fleck.
„Was ist passiert?“, rief seine Mutter aus dem Schlafzimmer. Es befand sich am hintersten Ende des Hauses. Dazwischen lagen das Badezimmer und das Zimmer des Inspektors.
„Der Striezel!“, plärrte Sifkovits.
„Um Gottes willen!“, schrie Baba aus dem Schlafzimmer.
Sifkovits wollte den Striezel so schnell wie möglich aufheben, doch als er ihn berührte, spürte er die Hitze und rief: „Schon wieder!“ Er zog seine Hand instinktiv zurück, als ihm die Schmerzen durch die Finger schossen.
Gerade als Sifkovits mit einer Grimasse den Schmerz ignorieren wollte, trat er auf den schmierigen Teppich. Ein kurzer Moment der Unsicherheit und schon rutschte er aus. Mit einem überraschten Aufschrei verlor er das Gleichgewicht und fiel hin. Teigreste und Rosinen klebten überall an seinem Körper. Der süße Geruch des frischen Gebäcks umhüllte ihn, während er versuchte, sich wieder aufzurappeln. Verwirrt und etwas gedemütigt schaute er geradewegs in die Augen seiner Mutter.
„Na, der schöne Striezel“, sagte seine Mutter. „Die ganze Arbeit umsonst. Was sollen wir denn danach essen?“
„Entschuldige, Mama, das Blech war heiß“, versuchte sich der Inspektor zu rechtfertigen.
„Was glaubst, Spatzl? Es kommt aus dem Ofen, der wird mit Holz geheizt. Und jetzt kommt die 1-Million-Euro-Frage: Was entsteht, wenn man Holz verbrennt?“
„Asche“, konterte Sifkovits schnell.
Seine Mutter musste lachen und half ihrem Sohn wieder auf die Beine. An Babas Finger klebten Reste des Striezels. Sie leckte ihn ab und war begeistert vom hervorragenden Geschmack. Der Teig war perfekt gebacken und harmonierte wunderbar mit dem leichten Aroma des alten Teppichs.
„Ich frag die Hilda, ob sie mir etwas von ihrem gibt. Die macht eh immer zu viel.“
„Tut mir leid, Mama. Jeder kann einmal einen Fehler machen.“ Sifkovits setzte während dieses Satzes seinen „Mir kann man ja gar nicht böse sein“-Blick auf.
Baba nahm ihren Sohn in den Arm und flüsterte ihm dabei zart ins Ohr: „Das stimmt. Jeder macht Fehler, aber du produzierst oft Katastrophen.“
Danach löste sie die Umarmung und gab dem Inspektor ein Bussi auf die Wange.
„Komm, geh dich umziehen“, forderte Baba ihren Sohn auf. „Es wird schon langsam dunkel und ich möchte früher am Friedhof sein, damit ich sehen kann, wer aller nicht kommt. Das Grab vom Papa liegt dafür an dem strategisch besten Platz.“
Sifkovits gehorchte seiner Mutter und ging Richtung Türe.
„Eines noch, Mama.“
„Ja.“
„Kannst du mir ein heißes Wasser aufkochen? Ich habe Lust auf einen Tee“, sagte der Inspektor. Er trank mit Vorliebe Käsepappeltee, den er immer in seiner Westentasche dabeihatte.
„Immer, wenn mein Magen leer ist, kriege ich ein bissl Bauchschmerzen“, sagte der Inspektor.
„Na, dann is ja gut, dass du keine Kopfschmerzen hast“, entgegnete Baba.
Sifkovits verstand den Witz nicht.
„Warum?“, fragte er.
Baba wollte es ihm nicht erklären.
„Geh dich umziehen, ich mach dir deinen Tee.“
Es war bereits Abend geworden, die Dämmerung hatte sich sanft über die Landschaft gelegt. Die Sonne war untergegangen und hatte den Himmel in schöne Orangetöne getaucht, bevor sie vollständig verschwand. Der Geruch des Novembers lag in der Luft, eine Mischung aus feuchtem Laub und dem erdigen Duft des Bodens nach dem Regen.
Im Dorf bereitete man sich auf den Gang zum Friedhof vor. Die Fenster waren schwach erleuchtet und durch die Scheiben sah man schemenhaft Gestalten. Die Männer zogen Hemden und dunkle Anzüge an, banden sorgfältig ihre Krawatten und gaben sich mit Eau de Toilette den letzten Schliff.
In einigen Häusern machte sich der Geruch von Benzin breit, weil die älteren Männer im Dorf anstatt von Versace Pitralon verwendeten. „Rasierte Haut braucht Pitralon“, hörte man als Antwort auf die Frage, was im Haus so stinken würde. Jedes noch so große Wimmerl wurde damit für immer in die Versenkung verscheucht. Manche Männer tranken es. Manchmal. Viele warfen noch einen letzten Blick in den Spiegel, um sich zu versichern, dass alles perfekt saß. Ihre Gesichter waren nachdenklich oder rot vom Pitralon.
Die Frauen kleideten sich in elegante, oft dunkle Kleider oder lange Röcke und viele trugen einen Mantel oder ein Tuch. Einige schminkten sich dezent, um ihren Angehörigen die Ehre zu erweisen.
Die Gesichter der Kinder waren neugierig, und obwohl sie den Ernst des Anlasses nicht ganz begreifen konnten, spürten sie die besondere Stimmung dieses Tages.
Leise Gespräche drangen aus den Häusern nach draußen, Geschichten und Erinnerungen wurden ausgetauscht. Hin und wieder hörte man ein sanftes Lachen, das die ernsten Gedanken etwas auflockerte.
Inspektor Sifkovits und seine Mutter Baba waren unter den Ersten am Friedhof. Sie wurden rechts und links von Hilda Resetarits und Resl Grandits flankiert. Zusammen bildeten diese drei Damen die sogenannte KTM. Das hat nichts mit einem Motorradhersteller zu tun, sondern ist die Abkürzung für Kopftuchmafia.
KTM ist eine Art ländlicher Nachrichtendienst, eine Informations- und Tratschplattform, die darauf ausgerichtet ist, Nachrichten und relevante Informationen über ländliche Gemeinschaften und Einwohner bereitzustellen. Anders als bei staatlichen Geheimdiensten erfolgt die Kommunikation ausschließlich durch mündliche Überlieferung. Die Zentrale befindet sich direkt vor Babas Haus, gut getarnt als harmlos wirkendes Bankerl.
Die Nacht schickte einen kühlen Lufthauch über den Friedhof, doch die Lichtpunkte der Grabkerzen strahlten warm und hell wie am Tag, während die Natur in der Dunkelheit schwieg.
Der Friedhof war, wenn man so sagen will, ausverkauft, es würde keine Resttickets an der Abendkasse geben. Der Duft der Blumen vermischte sich mit den verschiedensten Parfüms der Frauen und Männer. Es roch nach Chrysanthemen, Rosen, Veilchen, Orangenblüten und vor allem Benzin.
Die Kirchenglocken läuteten mit einem tiefen, melancholischen Klang und kündigten den Beginn des christlichen Hochfests an.
David Grandits, der Pfarrer, kam als Letzter auf den Friedhof. Er hatte ein Mikrofon um den Hals hängen. Neben ihm stand ein Ministrant, der eine kleine Box hielt, in die das Kabel des Mikrofons eingesteckt war. David steuerte auf ein Grab zu, auf dem noch ein Holzkreuz stand. Das bedeutete, dass erst vor Kurzem das Begräbnis stattgefunden hatte und der Grabstein noch nicht fertiggestellt war. Die Verstorbene war eine Frau Mitte fünfzig. Am Holzkreuz stand in einfachen schwarzen Buchstaben: KERSTIN BLASKOVITS. Sie war an Brustkrebs gestorben, der viel zu spät entdeckt worden war.
Rund um das Grab standen die Angehörigen der Frau. Ihr Mann Martin musste von seinem Sohn gestützt werden. Er weinte still und sagte immer wieder in die Runde, die ihn beobachtete: „Warum? Sie war so ein guter Mensch. Warum?“
„Fällt dir etwas auf, Baba?“, fragte Frau Resetarits.
„Ja, der Martin hat abgenommen.“
„Nein, das meine ich nicht. Ist ja klar, dass er dünn geworden ist, er hat die Kerstin bis zum Schluss begleitet. Glaubst du, dass er in diesen Tagen an Schweinsbraten gedacht hat?“ Die Frage von Frau Resetarits war rhetorisch gemeint.
„Weil sie halt nie zum Arzt gegangen ist. Sie hat ja nur die Globuli genommen, als wären es Stollwerck“, mischte sich Frau Grandits in die Diskussion ein.
„Bitte, das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um über Globuli zu diskutieren“, sagte Sifkovits streng.
Frau Resetarits musterte den Inspektor.
„Ist mit deinem Buam alles in Ordnung, Baba?“, fragte sie.
„Grundsätzlich ja. Warum?“
„Weil hinter seinem Ohr eine Rosine pickt.“ Frau Grandits deutete mit der Hand auf die Stelle.
„Die ist sicher vom Striezel.“
Sifkovits griff zum Ohr und schob sich die Rosine dann in den Mund. Baba erzählte den beiden Damen kurz von dem Malheur, das ihrem Sohn am Nachmittag passiert war. „Er war schon immer ein bissl patschert“, frohlockte Hilda.
Als alle drei Frauen begannen, Situationen aus Sifkovits’ Kindheit zu erzählen, bei denen er sich ungeschickt angestellt hatte, unterbrach der Inspektor das Gelächter mit einer Frage an Frau Resetarits: „Was soll uns aufgefallen sein?“
Sofort stoppte das Lachen und Frau Resetarits wandte sich Sifkovits zu. „Schau einmal genau, Schiffi. Wer fehlt?“
Er ließ seinen Blick über die Trauergemeinde gleiten. Es fiel ihm nichts auf.
„Ich weiß es nicht“, antwortete Sifkovits trocken.
„Und du willst ein guter Ermittler sein, wenn dir nicht einmal das auffällt“, sagte Frau Grandits, „ich habe es schon längst bemerkt.“
„Ich auch“, stimmte seine Mutter Baba ein. „Komisch, seine Flamme ist da.“
„Was? Redet ihr über Kerzen oder Menschen?“
Sifkovits kannte sich nicht mehr aus.
„Geh, Spatzl.“
Baba bat ihren Sohn, kurz nach unten zu schauen und seinen Kopf zu schütteln. Er machte es.
„Und?“, fragte Baba, „spürst du die Murmeln?“
Dann lachten die drei Frauen dem Anlass entsprechend pietätvoll und leise in sich hinein.
Den Spruch mit den Murmeln brachte seine Mutter schon seit seiner Kindheit. Immer, wenn er auf der Leitung stand und etwas nicht gleich begriff, forderte seine Mutter ihn auf, nach unten zu schauen und den Kopf zu schütteln.
„Also, wer fehlt?“
Sifkovits’ Stimme klang schon etwas genervt.
„Der Mali!“, sagten alle drei unisono im Chor.
„Wer?“
„Na, der Mali, Spatzl, der Grandits Pepi. Mali sagen’s zu ihm, weil er so klein ist“, erklärte Baba.
„Ah, jetzt verstehe ich“, meinte Sifkovits.
Er wusste, dass „mali“ kroatisch war und „klein“ bedeutete. In Stinatz hatten fast alle einen Spitznamen. Denn die Nachnamen waren alle gleich. Stipsits, Grandits, Sifkovits, Horvatits, Resetarits, Blaskovits, Stoisits usw. Am Friedhof las man daher überall seinen eigenen Nachnamen. Irgendwie auch ein komisches Gefühl, dachte Sifkovits.
„Grad der Mali ist nicht da. Unser Mann im Pfarrgemeinderat“, stellte Frau Grandits fest.
„Seit das damals mit dem Zimski passiert ist, war er bei jeder Messe in der Kirche“, fügte Frau Resetarits hinzu.
„Er kommt sicher noch“, sagte Sifkovits.
Der Inspektor sollte sich täuschen. Pepi Grandits kam in dieser Nacht nicht mehr auf den Friedhof.
Allmächtiger Gott, ich weiß, dass Worte oft nicht ausreichen, um die tiefsten Gefühle auszudrücken, aber ich fühle mich gezwungen, euch meinen innersten Kampf mitzuteilen.