KÖRPER-HAFT - Martin Romey - E-Book

KÖRPER-HAFT E-Book

Martin Romey

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Beschreibung

Frank Schirmer, Inhaber einer Werbeagentur, wird als vermeintlicher Mörder seines Geschäftspartners verurteilt. Um eine Haftverkürzung zu erlangen, lässt er sich auf ein folgenschweres Experiment ein: Er soll die Haft im künstlichen Wachkoma, eingesperrt in seinem regungslosen Körper, verbringen. Eine Reise durch die Abgründe des menschlichen Geistes beginnt und führt ihn – immer dicht am Rande des Wahnsinns entlang – in Welten, die er nicht für möglich gehalten hätte. Ein sadistischer Pfleger und ein unmenschliches Haftsystem zwingen ihn dazu, völlig außergewöhnliche Überlebensstrategien zu entwickeln. Die ersten Zellengenossen sterben und ein Wettlauf mit der Zeit beginnt.

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Martin Romey

KÖRPER-HAFT

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Klappentext

Das Ende vom Anfang:

Regungslos

Gewitter

Nur geträumt?

Kaffee und Brötchen

Was bin ich?

Lagebericht

Infotainment

BSS – Beschleunigter Strafvollzug mit Sozialisierungsprogramm

Angebot

Bruder Martin

Hirnwäsche

Kehrwasser

Der weiße Elefant

3648

Die Grube

Julia Roberts

Rodeo

Der Walbuckel

Platzhalter

Fluchtwagen

Bahnhofstoilette

Ausmisten

Puppentheater

Die Würde des Menschen …

Stubenrein

Erlösung

Eingeschworen

Dankbarkeit

Obi Wan

Professor Marquez

Cocooning

Boxenstopp

Sensenmann

Atmen

Braver Hund

Die Reise nach Jerusalem

Gefängnis-Ballett

Sunny

Der Auftritt

Magic Flashmob

You Tube

Katatonie

Eigenwerbung

Hafenbar

Mike

Singin’ in the Rain

Mord!

Stockholm

Licht im Dunkel

Routine

Geisterfahrer

Die schwarzen Schuhe

Der erste Eindruck

Kuppler

Die Unbekannte

Der lächelnde Mönch

Fern – schnell – gut!

Die zweite Chance

Allein

Ich und ich

Funktelefon

Forschungsreise

Beweise

Apothekengang

Die Beichte

Notruf

Danke!

Kapitulation

Tourist

Weltenordnung

Reiseziele

Frühlingserwachen

Unkaputtbar?

Das Fenster zum Hof

Geile Ratte

Daheim

Reisebeschränkung

Blechvogel

Spielwiese

Unterwegs

Bildschirmschoner

Abflug

Bannkreis

Gralstor

System Adler

Sprechende Haut

Rauchmelder

Sprachlos

Umwerfend

Unsicherheit

Entscheidung

Frei?

Sackgasse

Nr. 5 lebt!

Teambesprechung

Der Magier

Verkabelt

Das Ende vom Anfang:

Der Anfang vom Ende:

Ende

Danksagung

Der Autor / Biografie

Impressum neobooks

Klappentext

Frank Schirmer, Inhaber einer Werbeagentur, wird als vermeintlicher Mörder seines Geschäftspartners verurteilt. Um eine Haftverkürzung zu erlangen, lässt er sich auf ein folgenschweres Experiment ein: Er soll die Haft im künstlichen Wachkoma, eingesperrt in seinem regungslosen Körper, verbringen.

Eine Reise durch die Abgründe des menschlichen Geistes beginnt und führt ihn – immer dicht am Rande des Wahnsinns entlang – in Welten, die er nicht für möglich gehalten hätte. Ein sadistischer Pfleger und ein unmenschliches Haftsystem zwingen ihn dazu, völlig außergewöhnliche Überlebensstrategien zu entwickeln.

Die ersten Zellengenossen sterben und ein Wettlauf mit der Zeit beginnt.

»Vorstellungskraft ist wichtiger als Wissen.«

Albert Einstein

Das Ende vom Anfang:

»So Herr Schirmer, jetzt müsste es gleich losgehen. Vielleicht brennt die Neurokanüle ein wenig, aber danach dürften wir Bild und Ton haben …«

Regungslos

Die Angst war schon tagelang mein engster Begleiter und hatte sich wie ein bösartiger Tumor mit kleinen spitzen Zähnen in meine Eingeweide gefressen …

»Haben Sie noch was zu sagen?«, fragte der spindeldürre Mann mit der widernatürlich roten Spritze in der Hand und dem schmierigen Lächeln im Gesicht. »Oder hat es Ihnen die Sprache verschlagen?«, grunzte er verächtlich.

»Nein«, sagte ich, »nein, ich will nur, dass es schnell geht.«

»Schnell? Schnell gibt es nur auf der Autobahn, aber nicht bei mir, mein Lieber«, antwortete der Dünne, während er provokativ mit seinem Zeigefinger gegen den großen Glaskolben der Spritze schnickte.

Er freute sich sichtlich über seine dürre Rhetorik in seinem dummen Schädel und fuhr fort mich zu duzen. Das gehörte wohl zu seinem persönlichen Erniedrigungsprogramm.

»So, hat der kleine Held etwa ein bisschen Bammel vor der Spritze?«

Was sollte ich sagen? Man hatte mich mit dicken, breiten Lederarmbändern an das Bett gefesselt. Ich konnte meinen Kopf gerade weit genug drehen, um die fleckigen Lederbänder zu sehen, die meine Handgelenke umschlossen. Ich fragte mich kurz, woher die dunklen Flecken wohl kamen, beschloss aber gleich darauf, dass ich das gar nicht wissen wollte.

»Also mein Junge«, drang seine Stimme schnippisch in mein Ohr, »hast Du nun Angst oder nicht?«

»Arschloch!«, dachte ich und sagte: »Jetzt fang schon an, oder traust Du Dich nicht?!«

Er beugte sich über mich und funkelte mich mit seinen durch die Nickelbrille unnatürlich vergrößerten Augen an. Dann fuchtelte er mit der Spritze vor meinem Gesicht herum. Er stank nach Zigaretten und roch nach irgendwelchem Zeug, das man äußerst ungern mit Essen in Verbindung brachte.

»Ich werde Dir schon zeigen, was ich mich traue«, kicherte er und fing an, mit der Spritze meine Unterarme zu malträtieren, indem er mehr als lieblos in den Venen herumstocherte. Die Tränen schossen mir in die Augen, aber ich versuchte krampfhaft, mich nicht wegen der Schmerzen aufzubäumen. Soviel »Spaß« sollte er nicht haben.

Er hatte die Nadel bestimmt schon ein Dutzend Mal angesetzt und sie mindestens einmal in jede Himmelsrichtung gedreht. Ich war kurz davor, wieder gläubig zu werden, um irgendeinen Gott anflehen zu können, mich zu erlösen. Ich beschloss den erstbesten zu wählen, der sich meiner annahm. Trotz meiner alles andere als gut zu bezeichnenden Situation stellte ich mir vor, wie ein Pannenwagen, der aussah wie der Pick-up-Truck der Waltons, durch die weiß geflieste Wand krachte, ein graubärtiger Gott im Blaumann ausstieg und fragte: »Na, mein Junge, wie kann ich Dir helfen?« Es kam natürlich keiner, aber immerhin half meine überdrehte Phantasie mir, für ein paar Sekunden ein Schmunzeln in meine Hirnwindungen zu zaubern und mich von den Schmerzen abzulenken.

Die Tür wurde aufgerissen – das musste mein Gott im Blaumann sein! Dieser jemand, den ich durch den Tränenschleier nicht richtig sehen konnte, brüllte: »He, Mosquito, lass den Scheiß, bist Du denn von allen guten Geistern verlassen? Draußen steht die Presse und will sehen, wie er sanft entschlummert ist. Hast Du denn kein Gramm Hirn in Deinem knorpeligen Schädel. Deine sadistische Ader kannst Du ein andermal ausleben, aber doch nicht heute, Du Volltrottel.«

»Ich mach doch gar nichts«, nuschelte der Angesprochene kleinlaut, »der hat nur so verdammte Rollvenen.«

»Rollvenen!«, wiederholte die andere Stimme gereizt, riss dem Dünnen die Spritze aus der Hand und stieß ihn beiseite. Noch bevor ich etwas sagen konnte, wurde mir die Spritze in die Armbeuge gerammt.

Soviel zu meinem persönlichen Gott! Wie eine heiße Nadel breitete sich der Spritzeninhalt in meinen Adern aus und durchströmte bald meinen ganzen Körper. Ich dachte dies wäre der schlimmste Tag in meinem Leben, sollte mich mit dieser Einschätzung jedoch gehörig täuschen ...

Die Stimme sagte: »Keine Angst, das ist wie ein kleiner Rausch, und dann ist alles vorbei.«

»Ich will weder einen kleinen Rausch, noch dass alles vorbei ist«, dachte ich noch und verlor immer mehr die Kontrolle über mich und mein Bewusstsein. Eine kalte Schwärze empfing mich, kroch durch meinen Körper, hüllte mich ein, bis sie mich ganz auffraß und verschluckte.

– SCHWARZ –

Gewitter

Meine trockene Zunge rollte durch meinen Mund wie der Klöppel einer Glocke, die auf der Seite liegt. Stimmengemurmel brandete immer wieder wie dunkle Wellen an meine Ohren. Ich versuchte verzweifelt in meinem Bewusstsein aufzutauchen.

Es war, als trieb ich tief unter der Oberfläche eines dunklen Ozeans. Wie kleine Luftblasen drängte mein Bewusstsein an die Oberfläche. Sie wurden jedoch von der Schwärze, die mich umgab, sofort wieder verschluckt und ich fiel zurück in den dunklen Ozean des Unbewussten.

Wieder und wieder versuchte ich mich an die Oberfläche meines Bewusstseins zurückzukämpfen, zappelte und strampelte. Und jedes Mal kam ich ein Stückchen weiter.

Irgendwo weit draußen glaubte ich, ein Gewitter wahrzunehmen. Lichtblitze zuckten unkontrolliert durch das Dunkel. Fernes Stimmengemurmel schwoll zu einer Brandung an. Aber ich konnte nichts verstehen. Ich sank wieder hinab in das Dunkel, das mich ruhig wartend empfing, als wüsste es, dass ich früher oder später doch noch in ihm aufgehen würde.

Ich hörte es kurz hintereinander mehrmals klatschen. Unsanft wurde mein Kopf zur linken, dann zur rechten Seite gerissen.

»Seien Sie doch nicht so grob!«

»Oh, das ist leider unvermeidlich, anders bekommen wir von unseren Gefangenen, wir nennen sie hier Patienten, nicht die notwendige Aufmerksamkeit in der Aufwachphase. Durch die Komprimierung der Blutgefäße in den Wangen kurbeln wir sozusagen den Kreislauf wieder an.« Der Rest ging in einem für mich unverständlichen Geblubber unter.

Ich hörte erneut ein Klatschen, das mal von rechts und dann wieder von links kam. Es hörte sich an, als würden Wellen gegen den Rumpf eines Boots schlagen, doch dieses Mal spürte ich das dumpfe Brennen in den Wangen. Ich versuchte, die Augen aufzumachen.

»Da, sehen Sie, seine Lieder fangen an zu zucken. Gleich haben wir ihn«, sagte die Stimme in einem Tonfall, als würde sie einen Hecht am Haken ans Land ziehen.

Ich hatte plötzlich das Gefühl, dass eine große Menschenmenge um mich herumstand und sich immer enger schloss. Das Gewitter, das ich vorher zu sehen geglaubt hatte, war hinter meinen Lidern immer noch da und verstärkte sich. Um mich herum brandete Stimmengemurmel. Wie bei einer vom Sturm aufgepeitschten See schlugen die Wellen der Wortfetzen immer höher. Ich versuchte, meine Lider aufzuschlagen. Doch sie waren schwer wie ein altes Garagentor, das in rostigen Angeln hing. Mit der allergrößten Willensanstrengung schaffte ich es, die Augen aufzureißen. »Jetzt!«, schrie eine völlig euphorische Stimme.

Wenn Schmerz – WEISS – sein kann, so war er es in diesem Moment. Kalte weiße Finger aus Licht bohrten sich in meine Augen und schienen mühelos mein Hirn zu durchstechen. Tausende Nadeln aus Licht wurden auf meine Augen abgefeuert und schienen direkt in meinem Kopf zu explodieren. Das seltsame mechanische Rascheln und das Stimmengewirr machten mir plötzlich eines klar: Ich lag im Zentrum eines Blitzlichtgewitters. Die Presse war da!

»Kann er nicht mal hierher schauen, wir brauchen was fürs Titelbild!«

»Hast du es denn immer noch nicht kapiert? Er kann sich nicht bewegen ...«

Die Gesprächsfetzen vermengten sich wieder zu einem Stimmengemurmel und wurden zum Soundtrack meiner Übelkeit. Die Augen hatte ich sofort nach der ersten Blitzlichtattacke wieder geschlossen, aber das gleißende Licht war immer noch da und breitete sich unaufhaltsam in meinem Kopf aus. Magensäure kroch in mir hoch, begleitet von meinem Henkersmahl. Ich bäumte mich krampfartig auf. Aber nur innerlich – stellte ich mit kaltem Erschrecken fest. Mein Körper blieb einfach nur liegen, obwohl er sich ganz offensichtlich übergab. Was war bloß mit mir los? Schlagartig hatte mich die Panik ergriffen und einfach mitgerissen.

»Er kann sich nicht bewegen … er kann sich nicht bewegen«, echote es in meinem Kopf. Mein Mageninhalt schob sich unerbittlich in meine Mundhöhle, schwappte in die Luftröhre und drängte weiter bis in meine Nase. Kein Aufbäumen, kein Zur-Seite-Rollen, kein Um-sich-Schlagen und was wesentlich schlimmer war – keine Luft! Mein persönlicher Gott im Blaumann blitzte kurz vor meinem geistigen Auge auf und sorgte für ein sarkastisches Grinsen in mir.

Dann war statt irgendeines Gottes nur noch Panik in mir. Das Blitzlicht flackerte von draußen immer noch rot durch meine geschlossenen Augenlieder. Der schrille Pfeifton eines medizinischen Gerätes trug auch nicht unbedingt dazu bei, meine Angst zu mindern.

»Schnell, verdammt noch mal, schafft die Presse raus. Wir brauchen einen Intubator und einen Absauger, sonst erstickt er uns noch.«

«Der Regenschirm-Mörder erstickt! Toller Titel!«, meinte irgendein Reporter.

Nach einem heillosen Durcheinander hatte man sich wohl entschieden, anstatt der Presse mich mitsamt dem Bett, auf dem ich lag, in ein Nebenzimmer zu schieben, um mich ungestört behandeln zu können. Wie ein Stück Fleisch wuchtete man mich zur Seite und schob mir einen Intubator und Absauger in den Mund. Völlig losgelöst von meinem Körper bekam ich das Herumwerkeln an mir nur noch als außenstehender Betrachter mit. Ich stand schon soweit neben mir, dass ich mühelos zwischen die Ärzte und Sanitäter hätte treten können, um Tipps abzugeben: »He, wisch mal einer den Speichelfaden aus seinem Wundwinkel weg. Der Kerl versaut uns ja noch den neuen Boden! Das ist ja eklig!«

Die Tür, die mich und meine Lebenserhalter von der Presse trennte, knarzte bedenklich in ihren Angeln. »Der Sturm auf die Bastille lief sicher auch nicht glimpflicher ab«, dachte ich verwundert über diese eigenartige Assoziation und begab mich wieder in die tiefe, schwarze Stille, aus der ich vor ein paar Minuten mühevoll aufgetaucht war.

Nur geträumt?

»Der Regenschirmmörder erstickt!« Zugeben, ich hatte schon deutlich bessere Headlines beim Aufwachen im Kopf. Und dieser Kopf fühlte sich üblicherweise beim Aufwachen auch wesentlich klarer an. Was für ein scheußlicher Traum! An welcher Bar war ich gestern bloß dermaßen versackt, dass ich heute so ein wattiges Gefühl im Kopf und in den Gliedern habe? Egal, die Erinnerung kommt erfahrungsgemäß mit allen Konsequenzen wieder. Vielleicht lag ja neben mir jemand, der mir auf die Sprünge helfen konnte. Mein persönlicher Gott im Blaumann aus diesem Horrortraum zum Beispiel?

Aber eigentlich wünschte ich mir nichts sehnlicher, als Tanja neben mir vorzufinden, wenn ich die Augen aufmachte.

Der Geruch von frischen Brötchen zog aus der Ferne an meiner Nase vorbei. Seit wann war Tanja ein Frühaufsteher? Das konnte nur eines bedeuten: Samstag! – Mmhh! – Erst gemütlich frühstücken, ein Nümmerchen schieben und dann rüber in die Agentur. Oder in irgendeiner anderen Reihenfolge – egal!

Ich beschloss mich noch ein Weilchen schlafend zu stellen, um zu sehen, mit welcher Reihenfolge Tanja mich überraschen wollte. Merkwürdig, die Brötchen rochen klasse, aber der Kaffee … Fast wie aus einem dieser Automaten, bei denen man von der Fleischbrühe bis zur Wiener Melange alles aus einer Ausgussrinne bekommt. Scheußlich!

Ich verzog die Nase, besser gesagt, ich wollte die Nase verziehen und bekam mein Gesicht nur sehr begrenzt unter Kontrolle. Ein dickes Fragezeichen machte sich in meinem Gehirn breit. Ich machte den schlimmsten Fehler des Tages und öffnete die Augen, die seltsamerweise fast genauso schwer aufgingen, wie in meinem Traum …

Ein 3-D-Flachbildschirm hing über mir an der Decke. An sich nicht schlecht, es war eines der neuesten Modelle mit einer Diagonale von etwa 120 Zentimetern. Genau genommen nicht nur einer dieser gewöhnlichen 3-D-Flachbildschirme, sondern ein Hybrid 3-D, mit dem man wahlweise ein 3-D-Bild auf dem Schirm anschauen oder sich über die Mikro-Projektoren im Gehäuserahmen eine lebensechte Holografie zeigen lassen konnte.

Ich hatte schon seit Längerem mit dem Gedanken gespielt, solch ein Prachtexemplar an die Decke meines Schlafzimmers zu hängen. Tanja hatte jedoch immer etwas dagegen gehabt. Jetzt stellte ich mit erschrecken fest: Das war nicht mein Schlafzimmer! Wo zum Henker war ich!

Meine Bar-Versackungs-Theorie ging mir nochmals durch den Kopf, ich begann mich zu fragen, wie ich das nur Tanja erklären sollte. Dann fiel mir auf, dass circa 2,5 Meter rechts neben dem 3-D-Hybrid-Flachbildschirm über mir der nächste Bildschirm an der Decke hing. Ein weiterer folgte und danach in gebührendem Abstand eine Wand, die den Raum begrenzte. Zur Linken befanden sich vier weitere Bildschirme an der Decke, der Raum wurde durch eine Fensterreihe begrenzt. War ich über Nacht in ein Möbelhaus eingestiegen, in dem über den Testbetten Flachbildschirme an der Decke hingen?

Ich registrierte nur unbewusst, dass ich lediglich meine Augen nach links bewegt hatte, mein Kopf der Blickrichtung jedoch nicht gefolgt war.

Mein Blick ging zurück zu dem Monitor über mir und ich entdeckte in der linken oberen Ecke ein kreisrundes Symbol mit einem senkrechten Strich darin. Das inzwischen international gültige Zeichen für den Einschalter. Mich interessierte die grafische Umsetzung des Symbols und ich fokussierte meinen Blick darauf.

Mit einem leisen Sirren ging der Bildschirm an. Ich stutzte einen Moment, bis ich begriff. Wow, neuester Stand der Technik, Fernbedienung via Eye-Tracking. Es dauerte einen Augenblick, bis sich die Zeilen aufgebaut hatten und die Mikropixel sich zu einem gestochen klaren Bild sortierten.

Begleitend zur angezeigten Textzeile ertönte eine Frauenstimme aus den Monitorlautsprechern: »Guten Morgen Nr. 5, wir freuen uns, dass Sie den beschleunigten Strafvollzug mit Sozialisierungsprogramm gewählt haben.«

»Hä?! Was soll ich gewählt haben? Und wer ist Nr.5?!«

Kaffee und Brötchen

Ein Stuhl wurde quietschend über den Linoleumboden zurückgeschoben. Jemand stand auf und Schritte näherten sich, begleitet vom Geruch des bereits erschnupperten billigen Automatenkaffees. Als Erstes erschien ein Pappbecher in meinem Gesichtsfeld. Ich folgte neugierig den knochigen Fingern, die ihn hielten, folgte der dürren Hand, die in einen Arm überging … Der Klassiker Dry Bones von The Delta Rhythm Boys aus den 30er Jahren drängte sich in mein Gedächtnis, das ihn auf die Situation hin ummünzte.

The finger bone is connected to the hand bone

the hand bone is connected to the forearm bone

the forearm bone is connected to the upper arm bone

the upper arm bone is connected to the shoulder bone

the shoulder bone is connected to the neck bone

the neck bone is connected to the head bone

Oh Lord, we`re here in the world of the bones

Oh, Lord – Oh, Lord.

Dann beugte sich das Gesicht eines schlanken, geradezu ausgemergelten Mannes über mich. Kurze, blonde, mit Frisiercreme nach hinten gekämmte Haare und tiefe, scharf eingekerbte Mundwinkel nahm ich als Erstes wahr. Dann eine kleine Nickelbrille mit starken Gläsern, welche die kalten Augen unnatürlich groß wirken ließen.

Mein Herz blieb stehen, ich kannte den Mann! Mosquito … Unwillkürlich wollte ich den Namen laut aussprechen, aber aus meinem Mund drang nur ein jämmerliches Wimmern: »Mmo-ihooo.«

Ich konnte nicht mehr sprechen! Der Versuch, mich aufzusetzen, scheiterte kläglich. Mein Körper machte keinen Mucks! Ich war nicht nur vor Entsetzen wie gelähmt … Was hatten diese Schweine mit mir gemacht?!

Es durchlief mich ein heißer Schauer, als ob flüssiges Blei durch mich hindurchfließe. Meine Augen weiteten sich. Das war vermutlich das klare Signal für Mosquito, mit seinem Auftritt fortzufahren.

»Na, also«, sagte er betont jovial. »Du erkennst mich. Wie schön! Dies ist sicherlich der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Du wirst schon sehen, wir werden viel Spaß miteinander haben … Aber entschuldige, ich habe mich noch gar nicht richtig vorgestellt. Mein richtiger Name ist …«, er beugte sich mit seinem weißen Kittel über mich, damit ich sein Namenschild am Revers sehen konnte, »Mengele«.

Er überprüfte mit raschem Blick, ob sich meine Augen noch mehr geweitet hatten. Offenkundig zufrieden mit dem Ergebnis zupfte er sich den Kittel zurecht und fuhr fort: »Doktor Joseph Mengele!«

Ich hatte keine Ahnung, was dieser kranke Psychopath von mir wollte, aber eine Scheißangst hatte er mir eingejagt. Ein weiterer Stuhl quietschte über das Linoleum. Das musste das frische Brötchen sein, das ich vorhin gerochen habe.

Dann donnerte das frische Brötchen los: »Jetzt hör endlich mit diesem Scheiß-Nazi-Arzt-Getue auf, da kommt einem wirklich das Kotzen. Du magst ja Mengele mit Nachnamen heißen, aber in Deinem Bewerbungsschreiben habe ich gesehen, dass Du nicht Joseph, sondern Jonas heißt. Außerdem kennt Dich eh jeder bloß als Mosquito und Doktor bist Du erst recht nicht!«

»Aber hast Du gesehen, es funktioniert! Bei den Studierten funktioniert das immer mit Doktor Mengele. Ich sag’s ja schon immer – Bildung macht Angst!«

Was bin ich?

Ganz unrecht hatte er nicht, mit weniger Wissen hätte ich mir den Schrecken erspart. Aber mich beschäftigte eine andere, mindestens ebenso philosophische Frage: Was war real? Befand ich mich immer noch in einem furchtbaren Alptraum oder war das die Realität? Und wenn ja, welche Realität? Hatte mich irgendein unglücklicher Zufall in eine Art Paralleluniversum geschleudert? Ich hatte jedenfalls das starke Gefühl, definitiv nicht hierher zu gehören. Ja, ich wusste ja nicht einmal, wo »hier« eigentlich sein sollte.

Ich versuchte der Sache also analytisch auf den Grund zu gehen: »Wenn ich mit zwicke, wache ich auf und alles ist gut! Wenn ich mich allerdings im Traum zwicke, baue ich das in meinem Traum ein und träume weiter …«

Ich beschloss es dennoch zu versuchen, war aber nicht in der Lage, auch nur den kleinen Finger zu bewegen. Dies konnte grundsätzlich drei Dinge bedeuten: Ich war tot und schmorte gerade in der Vorhölle. Oder ... ich träumte lediglich, dass ich mich nicht bewegen kann. Oder aber … Folgenschwere Wahrheiten scheinen immer besonders bedächtig durch die Synapsen zu schleichen. Oder aber ich konnte mich tatsächlich nicht bewegen! Querschnittsgelähmt?!

Ich hatte ein wirklich ernst zu nehmendes Realitätsproblem und habe es bisweilen immer noch. Was war real? Wie viele Realitäten gab es? Und welche davon konnte und welche davon sollte ich akzeptieren? In meiner Erinnerung war ich Teilhaber einer Film- und Event-Agentur, der ein mehr oder minder glückliches Leben führte. Andererseits lag ich hier wie einbetoniert in einem Körper, den ich nicht einmal sehen konnte. Ich ging davon aus, ein Mann zu sein, konnte es aber in meiner Verwirrung und Desorientierung nicht beschwören. Und dann waren da noch diese komischen Leute, die ich, um ihnen den Schrecken zu nehmen, »Kaffee« und »Brötchen« nennen wollte. Wieso quälten sie mich? Und wieso nannten sie mich den Regenschirm-Mörder oder Nr.5? Nach Chanel duftete ich gerade bestimmt nicht! Ganz im Gegenteil! Ich roch muffig, krank und mein Schweiß hatte die Ausdünstung von Medikamenten in sich. So langsam wurde ich wirklich neugierig, welche Rolle ich eigentlich spielte und spielen sollte. Ich beschloss mein Identitätsproblem zuerst einmal beiseite zu schieben, um das erste Problem zu lösen. Vielleicht würde ich sich dadurch auch mein Identitätsproblem klären. Also beschloss ich, rein hypothetisch, meine Umgebung als »wahre« Realität zu akzeptieren. Ich hatte die leise Hoffnung, dass ich durch das Erkunden meiner Umgebung entweder ein Fluchtloch in meinem Traum finden oder ich sonstige Aufschlüsse bekommen würde.

Lagebericht

»Lagebericht!«, lautete das donnernde Kommando von Captain Kirk jedes Mal, wenn sein Raumschiff schwer beschädigt durchs All trudelte. Ohne sich von der Stelle zu bewegen, bekam er auch noch aus den letzten Ecken des Schiffkörpers alle relevanten Informationen übermittelt. Ich saß zwar nicht in einem Kommandosessel, sondern lag stattdessen in einem Bett, aber dafür war ich zu völliger Reglosigkeit verdammt. Da sollte so ein Lagebericht doch kein Problem sein.

Mein persönlicher Gott mit grauem ZZ-Top-Rauschebart und Blaumann hatte sich bereits auf die Brücke gebeamt und fragte: »Das Persönlichkeitsortungssystem ist ausgefallen? Ich brauche dafür zwei Tage – aber für Dich mache ich es in einem!«

Mit solchen Ablenkungsspielchen versuchte ich, meine immer wieder aufkeimende Panik im Zaum zu halten. Denn unbewusst stieg mit der Angst bereits die Gewissheit einer unumkehrbaren Wahrheit in mir auf.

Ich begann also damit, alle greifbaren Informationen um mich herum zu sammeln. Ich konnte mich nicht bewegen und nicht sprechen – ich hatte es wieder und wieder versucht und lediglich undeutliches Gegrunze zustande gebracht. Ich konnte mich also nur auf das verlassen, was meine Augen sahen, meine Ohren hörten, meine Nase roch und mein Körper fühlte. Im Augenblick fühlte er sich recht nass zwischen den Beinen an und meine Nase glaubte, diese unangenehme Botschaft bestätigen zu können. Diese überaus realistischen Empfindungen versuchte ich angestrengt auszublenden.

Inzwischen hatte ich herausbekommen, dass zu meiner Linken nicht nur vier weitere 3-D-Flachbildschirme an der Decke hingen, sondern sich auch vier weitere Betten mit Menschen darin befanden. Zählte man von der Fensterseite her, war ich die Nr.5.

Rechts neben mir gab es zwei weitere belegte Betten. Ich versuchte Kontakt mit den anderen aufzunehmen, aber wie sollte das gehen, wenn der eigene Kopf unbeweglich und starr zur Decke gerichtet war und man die Augen nur bis in die Augenwinkel drehen konnte. Immerhin sah ich, dass bei Nr.1 bis 4 der 3-D-Flachbildschirm lief. Nur Nr. 6 und Nr. 7 waren tot – zumindest was den Flatscreen betraf. Der Bildschirm über mir hatte sich, kurz nachdem »Kaffee« und »Brötchen« streitend aus dem Raum gegangen waren, abgeschaltet. Anscheinend liefen die Geräte nur, solange Blickkontakt bestand. Vielleicht konnte ich ja so etwas herausfinden, nicht umsonst wurde der Fernseher das Fenster zur Welt genannt.

Infotainment

Ich konzentrierte mich wieder auf den Ein-Schalter an meinem Flachbildschirm. So schnell wurde etwas zu meinem, nur weil es seit ein paar Stunden über mir an der Decke hing oder ich darunter lag.

»Guten Abend Nr. 5, wir freuen uns, dass Sie den beschleunigten Strafvollzug mit Sozialisierungsprogramm gewählt haben. Möchten Sie sich jetzt mit dem Steuerungsprogramm vertraut machen, blinzeln Sie bitte jetzt recht deutlich! Haben Sie bereits geblinzelt? Falls ja, blinzeln Sie bitte noch einmal, um die Klickfrequenz zu synchronisieren …«

Was für ein furchtbares Wortgebilde! Beschleunigter Strafvollzug mit Sozialisierungsprogramm? So ein zusammengestammelter Mist!

Mit einem Schlag kehrte die Erinnerung zurück: Sunny … tot, ich als Regenschirm-Mörder verurteilt, Tanja hatte mich verlassen und Mike die Agentur übernommen. Der Supergau in einem Satz!

Tränen schossen mir in die Augen.

»Bitte versuchen Sie den Feuchtigkeitsgehalt in Ihren Augen zu regulieren, das Programm kann die Klickfrequenz sonst nicht kalibrieren …«

BSS – Beschleunigter Strafvollzug mit Sozialisierungsprogramm

Ich erinnere mich jetzt nur allzu gut daran, wie man dieses spröde Wortgebilde mit einem eigens dafür gedrehten Werbespot der Bevölkerung hatte schmackhaft machen wollen.

Paul Kellermann, Projektleiter und Initiator des Pilotprojektes »BSS«, stand unter dem Brustbild eines circa 50-jährigen Mannes mit Halbglatze und kurzen, braunen Haaren, die ihm als Haarkranz um seinen etwas eckigen Schädel verblieben waren. Zwei kleine schwarze Augen schauten einen durch das Gestell einer noch schwärzeren Hornbrille an, sodass die Brille mit den Augen schon fast als eigenständiges grafisches Element betrachtet werden konnte. Tiefe Furchen schnitten die Wangen um die Mundwinkel ein.

Als Hintergrund hatten sich die Macher des Spots eine idyllische Waldlichtung ausgesucht. Wohl um dem Ganzen einen positiven Anstrich zu geben. Man hätte Herrn Kellermann ansonsten eher mit einem staubigen Aktenregal im Hintergrund assoziiert. Auch der offene Hemdkragen ohne Krawatte unter dem lässigen Jackett schien wohl eher eine Idee der Imageberater zu sein. Sein fröhlicher Plauderton wirkte gestelzt.

»Hallo, mein Name ist Paul Kellermann, Projektleiter und Initiator des Pilotprojektes BSS«, wiederholte er unnötigerweise, was der Untertitel dem Zuschauer bereits verraten hatte. »Ich lade Sie ein zu einer kleinen Reise in die zum Greifen nahe Zukunft von BSS.« Er lief los, lächelte in die Kamera und lud den Betrachter mit einem Winken ein, ihm zu folgen.

»Wir wollen eine bessere Zukunft für bessere Menschen. Kommen sie mit!«, sagte er, bevor er in einen wartenden weißen und hypermodernen Hubschrauber stieg. Während der Hubschrauber startete, das Fahrwerk einzog und in einer eleganten Schleife über eine grüne Wald- und Seenlandschaft flog, plauderte Kellermann weiter: »Lassen Sie uns zuerst einmal einen Blick auf den aktuellen Strafvollzug richten.«

Der Hubschrauber war jetzt über einem mit Mauern und Stacheldraht gesicherten Areal angekommen. Der Blickwinkel zeigte einen Wachturm mit Gefängnishof, der immer näher rückte, bis man einzelne Personen sehen konnte. In der Mitte des Gefängnishofes sah man fünf Männer in Feinrippunterhemden miteinander kämpfen – wie konnte es auch anders sein, Feinripp schürt Aggressionen!

»Leider stoßen wir heute in unserem Strafvollzug an Kapazitätsgrenzen. Die Gefängnisse sind nach dem heutigen Standard zu eng und überfüllt. Aggressionen brechen aus und Gewalt erzeugt Gegengewalt.« Die Kamera wandte sich endlich ab von den drei Männern, die auf die anderen zwei am Boden liegenden brutal eintraten.

Der Hubschrauber drehte ab und flog nun flach über einen in der Sonne glitzernden Fluss. Im hohen Gras blickten ein paar Rehe auf und sprangen davon.

»In der Zukunft sieht alles ganz anders aus! Bisher sprach man im Strafvollzug von Resozialisierungsprogrammen, um die Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu fördern. BSS hingegen setzt einen Schritt früher an. Unser Programm setzt auf Sozialisierung! Was ist der Unterschied, werden Sie sich fragen ... Nun, die Resozialisierungsthese geht davon aus, dass die Straftäter über ihre Eltern, Freunde, Erziehung, Schule et cetera einen erlernten sozialen Hintergrund haben und lediglich vom rechten Pfad abgekommen sind, im Prinzip aber den Unterschied zwischen Gut und Böse kennen. Wir alle wissen natürlich, dass diese Vorstellung schon lange nicht mehr der Wirklichkeit entspricht und viele Jugendliche die Schule nur als Drogenumschlagsplatz kennen.«

Er machte eine kurze rhetorische Pause, um die Worte wirken zu lassen, während satte grüne Landschaften unter dem Betrachter durchzogen. »BSS setzt mit seinem Programm der Sozialisierung sehr viel früher an. In einem harmonischen Umfeld, ohne Hass und ohne jegliche Gewalt lernen die Straftäter das Miteinander und die sozialen Werte unserer Gesellschaft von Grund auf kennen. Sie werden als neue, wertvolle Mitglieder unserer Gesellschaft das Programm verlassen und einen wichtigen Beitrag für unser Land leisten.«

»Lassen Sie uns nun einen der Förderer des BSS–Programms besuchen. Er bietet sozusagen die Grundlage unseres Programms.« Kellermann betonte das Wort Grundlage besonders, drehte seinen mit Kopfhörern bestückten Kopf über die Rückenlehne des Co-Pilotensitzes nach hinten und grinste in die Kamera. Der Zuschauer sollte mit dieser Einstellung das Gefühl bekommen, er sitze im hinteren Teil des Hubschraubers. Während sich der grinsende Kellermann wieder nach vorne wandte, gab er den Blick durch das Cockpit auf ein riesengroßes, orangefarbenes Firmenschild frei, das auf dem Dach eines modernen Gebäudes prangte. Mc Bed sah man in großen Lettern und in einer kleineren Schreibschrift darunter:

»Liegen ist unsere Profession.«

Der Hubschrauber landete direkt auf dem Dach des modernen Gebäudes. Im Rotorenabwind kam ein durchtrainierter Mittdreißiger in einem orangefarbenen Poloshirt und einer Fitnesshose angerannt. Entweder war das Poloshirt zu klein oder die muskulöse Brust zu groß.

»Hallo Paul, schön, dass Du auf einen Besuch vorbeischaust«, sagte er mit leicht schottischem Akzent.

»Hallo John, lange nicht gesehen.«

Während die beiden geduckt aus dem Rotorenabwind zum Treppenabgang liefen, stellte Kellermann seinen sportlichen Begleiter vor: »Das ist John Mc Lay, Inhaber des Mc-Bed–Bettenimperiums. Er kam im zarten Alter von achtzehn Jahren hierher und studierte Sport- und Physiotherapie. Nur sechs Jahre später kaufte er sich bei einem kurz vor der Insolvenz stehenden Hersteller für Pflege- und Krankenbetten ein und machte daraus ein Unternehmen mit mehr als 5000 Mitarbeitern.«

»Oh, vielen Dank für die netten Worte, Paul«, sagte er künstlich verschämt.

»Paul kam vor ein paar Monaten mit der Grundidee des BSS-Projekts auf mich zu. Ich war natürlich sofort Feuer und Flamme! Kommen Sie mit und schauen Sie selbst, was wir daraus gemacht haben!«

Er drückte zwei Stahlflügeltüren auf und gab den Blick auf eine große Halle mit Parkettboden frei. Das Ganze mutete eher wie ein Fitness-Studio an, in das sich irgendwie sieben Betten verirrt hatten, als wie eine Fabrikhalle.

»Willkommen in meinem Bettenlabor.«

Die Kamera fuhr auf die High-Tech-Betten zu, die auf einem komplizierten, aber futuristisch designten Gestell lagerten. Man konnte jetzt erkennen, dass sechs der Betten belegt waren. John schwang sich mit einem katzenhaften Sprung in das freie Bett und kam in Idealposition auf dem Rücken zu liegen, um genauso dynamisch loszuplaudern: »Die Herausforderung bestand nicht nur in einem ansprechenden Design, sondern vor allem in der Ergonomie und Funktionalität. Bei Patienten, die lange liegen, besteht die Gefahr von Sehnenverkürzungen, Muskelschwund und dem Verlust der Flexibilität des Skeletts. Wir haben die Herausforderung angenommen und ein vollautomatisches Physiotherapiebett entwickelt. Aber sehen Sie selbst!«

Bettdecken flogen beiseite und gaben drei bauchfreie, durchtrainierte Mädels und drei halbnackte, knackige Jungs frei. Die Betten begannen, begleitet von klassischer Musik, mitsamt ihren Insassen das reinste Ballet zu vollführen. Das Beinteil des Bettes wurde, von Elektromotoren angetrieben, angezogen und führte in den Kniegelenken angewinkelt nach hinten. Sechs Six-Packs wurden synchron kontraktiert, dann die Oberschenkel … und das Programm lief weiter und weiter …

Inzwischen hatte John seinen Platz Kellermann überlassen, der sich bei jeder neuen Bewegung des Bettes immer wieder die Brille zurechtschob.

»Und?« John stand stolz und strahlend neben ihm. »Wie fühlst Du Dich?«, fragte er.

»Phantastisch, einfach phantastisch!«, keuchte Kellermann.

»Und das Ganze gibt es noch mit optionalem Infotainment-3-D-Holo-Flat-Pad-Learning-Advisory und Easy-Handle-Sanitizer!«, rief ihm John euphorisch zu. Er hätte genauso gut einen Bauchmuskel-Trainer aus Fernost oder eine weitere Fahrt im Kettenkarussell anbieten können.

Von der Decke kamen 3-D Flachbildschirme heruntergeschwebt, die in wechselnder Reihenfolge die Worte Lernen, Verhalten, Sprache und Mathematik als Hologramme aufblinken ließen.

»Das ist ja wirklich großartig John, und glaube mir«, er schickte ihm einen verschwörerischen Blick auf die Fitnessmädels zu, »ich würde gerne noch ein wenig bleiben!«

»Du bist immer willkommen, Paul.«

»Ich komme gerne darauf zurück, bin heute aber noch nicht am Ende meiner kleinen Reise.«

In der nächsten Einstellung sah man, wie Kellermann im Hubschrauber sitzend sein derangiertes Hemd zurechtzupfte, während unter ihm John und seine Fitness-Crew zum Abschied winkten.

Kellermann setzte zum Reden an: »Sie fragen sich jetzt sicherlich, wie man mit einem Bett und einen Infotainment-Monitor Straftäter auf den Pfad der Tugend führen kann?! Dann begleiten Sie mich doch einfach zu meinem nächsten Ziel … Uuups!« Er musste sich am Haltegriff rechts über seinem Kopf festhalten, da der Hubschrauber plötzlich in einer steilen Spirale durch ein paar hübsche Quellwölkchen nach unten abtauchte und elegant auf eine Ansammlung verspiegelter Hi-Tech-Gebäude zuflog.

»Das ist der Sitz von Skyline Technologies, der beste und innovativste Pharma-Entwickler weltweit!«, sagte er, als der Hubschrauber in einer parkähnlichen Anlage inmitten der gläsernen Paläste landete. Die Rotoren liefen die letzten ruhigen Umdrehungen nach, als bereits ein weißer Golf-Caddy angefahren kam.

»Professor Marquez, ich freue mich, Sie zu sehen.«

»Gansz meinerseitsz, es ist mir immer eine grrossze Freude, Szie bei uns szu haben«, erwiderte der Angesprochene mit einem zischelnden spanischen Akzent, gerade so, als hätte er einen Fuszel auf szeiner Szunge. Er hatte ein scharf geschnittenes Gesicht, schwarz-grau melierte Haare und war von oben bis unten in Weiß gekleidet. Seine Statur und seine Art sich zu bewegen hatten mich stark an Christopher Lee in einem seiner Vampirfilme erinnert.

»Wir fahren am beszten hinüber zu meinem Privatlabor«, zischelte er, als er auf dem schmalen, verschlungenen Weg durch den Park fuhr und ihm freundlich lächelnde Weißkittel zuwinkten: »Herr Professor.« Er nickte den Leuten freundlich zu. Schließlich waren sie an einem Pavillon angekommen, der in den See hinein gebaut und nur über einen weißen Holzsteg erreichbar war.

Im Inneren angekommen, schritt der Professor durch das wohnliche aber minimalistische Ambiente, schob eine Wandvertäfelung zur Seite und machte sich an einem Safe zu schaffen. Er holte eine massive Schatulle aus poliertem Plexiglas hervor, in deren Innern sieben grün und sieben rot schimmernde Glaskolben von Spritzen den Blick magisch auf sich zogen. Er stellte sie auf einen brusthohen weißen Marmorblock.

»Ich habe etwasz für Szie!« Ein Sonnenstrahl, der durch das Fenster hereinfiel, brachte die Schatulle zum Glitzern und den grünen und roten Inhalt zum Leuchten.

»Professor Marquez, Sie haben es tatsächlich geschafft!«, sagte Kellermann und seine Augen glänzten hinter seiner Hornbrille. »Bitte erklären Sie mir, wie es funktioniert.«

»Wir werden unszere Patienten mit unserem roten Neuro-Szerum in einen aktiven Winterschlaf versetzen. Oder um es etwas wisszenschaftlicher zu szagen: Ein Grosszteil der Neurosynapsen auf der motorischen Ebene werden vorübergehend unterbrochen. Alle vegetativen Funktionen und der Geiszt des Patienten bleiben aber weiterhin aktiv, um szich voll auf das Lernprogramm von B-Sz-Sz konzentrieren zu können. Während der Szoszialszierungszphasze kümmert sich dann das physziotherapheutische Bett von John Mc Lay um die optimale Fitnessz desz Patienten. Nach vollendetem Szozialiszierungsprogramm, verabreichen wir dann dasz grüne Szerum, wodurch alle vorher getrennten Verbindungen zu den Neuroszynapsen wieder vollständig hergesztellt werden.«

Paul Kellermann nickte. »Uijui-jui, das war ja eine ganze Menge Informationen, Herr Professor. Aber habe ich Sie richtig verstanden?« Er schnipste mit dem Finger. »Sie meinen einfach nur ROT – aus«, wieder schnipste er mit dem Finger, »und GRÜN – an?«

Professor Marquez lächelte nachsichtig. »Ja wie bei einem Lichtschalter – Ausz und An! Oder wie bei einem Ampelmännchen, bei Rot sztehen – bei Grün gehen.«

»Das ist ja phantastisch, Sie und Ihre Leute von Skyline Technologies haben ja wahre Wunder vollbracht!« Dann beugte er sich verschwörerisch zu Professor Marquez hinüber: »Noch eine Frage, warum hat das Serum diese geheimnisvolle rote und grüne Farbe?«

Der Professor imitierte die Verschwörergeste und legte Kellermann vertraulich den Arm um die Schulter: »Offsziell szagen wir immer, esz wäre wegen der Unterscheidung. Aber unter unsz, alter Freund, wir fanden esz einfach nur hübscher!« Beide Männer fingen herzhaft an zu lachen und klopften sich gegenseitig auf die Schulter.

Als sie sich etwas beruhigt hatten, fragte Professor Marquez: »Jetzt haben wir allesz wasz wir brauchen. Wie geht esz jetzt weiter?!«

Kellermann schüttelte den Kopf. »Wir haben fast alles! Was uns jetzt noch fehlt, sind die ersten Teilnehmer für unser BSS-Pilotprojekt.« Dann zeigte er mit dem Finger auf den Betrachter. »Wenn Sie jemanden wissen, der sich für unser Projekt interessiert oder Sie selbst in den nächsten drei Monaten eine Haftstrafe zu verbüßen haben, dann melden Sie sich bei uns unter www.BSS-Eine-bessere-Welt-fuer-bessere-Menschen.com. Es stehen für unser Pilotprojekt nur sieben Plätze zur Verfügung! Wir suchen Teilnehmer aus einem möglichst breit gefächerten kulturellen und religiösen Umfeld. Da wir und das Ministerium für innere Sicherheit, das uns bei dieser Aktion unterstützt, vom Erfolg unseres Sozialisierungsprojektes voll und ganz überzeugt sind, wird unseren Teilnehmern die Hälfte ihrer Haftzeit erlassen.«

Das Schlussbild zeigte die beiden Männer, wie sie die erhobenen Daumen ins Bild hielten. Sie wirkten wie eine Klammer, in der folgende Worte eingerahmt waren:

– BSS –

Beschleunigter Strafvollzug mit Sozialisierungsprogramm

Angebot

Natürlich sah ich den Spot mit den Augen des Werbeprofis. Am Anfang des Films blieb der Inhalt völlig offen – es hätte sich genauso gut um die Werbung einer Versicherung handeln können. Der Spannungsbogen wurde bis zum Schluss aufrecht erhalten, dass Versuchspersonen für eine Art Casting gesucht wurden, ohne jedoch zu sagen, um was es eigentlich geht. Nahezu alle emotionalen Trigger wurden eingesetzt. Der etwas unbeholfen wirkende Kellermann sollte die Harmlosigkeit des Projekts symbolisieren. Der weiße Hubschrauber stand für den Fortschritt. Das hässliche Bild des Gefängnishofes sollte abschrecken, die grünen Landschaften im überdeutlichen Gegensatz eine heile Welt darstellen. John Mc Lay und seine Fitness-Jünger köderten mit Kumpanei und nackter Haut. Der Glaspalast von Skyline Technologies mit seiner Parkanlage und dem Pavillon strahlte Kompetenz und den fürsorglichen Umgang mit der Natur aus. Professor Marquez sollte mit seinem Erscheinungsbild und seinen zischenden »sz« vom eigentlichen Inhalt ablenken. Zum Schluss ein kleiner, auflockernder Scherz mit den Farben des Serums. Und als Dreingabe noch der halbe Preis.

Wenn man den Aufwand der Videoproduktion plus den logistischen Aufwand in Relation mit den lediglich sieben Teilnehmern setzte und dann noch die Hafterleichterung sah, mussten eigentlich bei jedem die Alarmglocken klingeln.

Aber wie heißt es immer, wenn Nacktbilder von Prominenten in den Medien auftauchen? »Ich war jung, wusste es nicht besser und brauchte das Geld!«

Ich hingegen verkaufte meine Seele aus einem anderen Grund. Der Hafterlass würde auf einen Schlag meine zwanzig Jahre auf zehn reduzieren und ich setze alles daran, dass mich mein Anwalt früher herausboxte. Außerdem konnte ich mir nur zu gut vorstellen, was mir blühen würde, wenn das Medieninteresse nachgelassen hätte. Der Luxus meiner Einzelzelle, die ich während der Untersuchungshaft hatte, würde sich ganz schnell in Gar-nicht-Wohlgefallen auflösen. Und daran, dass ich in der Gemeinschaftsdusche nicht nur meine Seife verlieren könnte, wollte ich gar nicht denken …

Dann doch lieber die verkappte Hirnwäsche!

Noch bevor die Werbung für das Programm in den Medien richtig angelaufen war, stürzten sich die selbigen darauf und bekamen von der politischen Opposition Rückenwind.

Hintergrund für dieses ganze Theater um das Pilotprojekt war folgender: Kritiker des BSS-Programms vermuteten, dass es früher oder später auch in Alten- und Pflegeheimen eingesetzt werden sollte, um Personal und damit Kosten zu sparen. Für diese Vermutung sprachen auch das Engagement von Mc Bed und Skyline Technologies, die ihre Investitionen sicherlich gewinnbringend wieder einfahren wollten.

Die Renten- und Pflegekassen waren leer, der Staat hatte aber weiterhin die politische Verpflichtung eine lebenserhaltende Grundversorgung zu bieten. Dem standen zwar die enormen Investitionskosten für das BSS-Programm im Weg. Mit den zu erwartenden gewaltigen Personaleinsparungen hätte sich das Ganze aber schnell gerechnet. Darüber hinaus hatte die verheerende Sozial- und Rentenpolitik der letzten Jahre zu einem rapiden Anstieg der Verbrechensrate geführt. Insbesondere die Beschaffungskriminalität wuchs in erschreckendem Ausmaß. Viele der alten Menschen konnten sich ihre Medikamente nicht mehr leisten und brachen für sich, Freunde und Verwandte in Apotheken und Krankenhäusern ein. Diesen Trend erkannten auch viele der arbeitslosen jungen Generation und bedienten neben dem eigenen Bedarf auch einen gut florierenden SchwarzmarktderAlten. Die Generationenzusammenkunft hatten sich die Politiker in ihren Planspielen sicherlich anders vorgestellt. Aber sie funktionierte!

Kurz nachdem ich mich auf Drängen meines Anwalts Thomas für das Projekt gemeldet hatte, wurde der Clip abgesetzt. BSS hatte seine sieben Versuchskarnickel im Sack. Und eines davon war ich! Nur wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, welche folgenschwere Entwicklung diese Entscheidung mit sich bringen würde.

Bruder Martin

Ein Klopfen an der Tür forderte meine Aufmerksamkeit ein. Hoffentlich nicht Mosquito! Erstaunlich wie schnell mein Hirn ihn mit Angst assoziiert hatte ...

Ein Mittdreißiger mit braunem Haar und einer klassischen Prinz-Eisenherz-Frisur steckte seinen Kopf herein. »Hallo, ich bin Bruder Martin, Ihr Gefängnisseelsorger und möchte mit Ihnen über Gott und wie dieses Gefängnis Sie zu ihm führen kann sprechen.«

Ich atmete auf, zum Glück nur ein Seelenhirte, der hilflose Opfer missionieren wollte. Er betrat den Raum und stellte sich mitten in das Zimmer, sodass jeder ihn sehen konnte.

»Ich bin zum einen hier, um Ihnen seelischen Beistand bei Ihrer langen und beschwerlichen Reise durchs Tal der Läuterung zu geben. Zum anderen möchte ich Sie mit Ihrem künftigen Tagesablauf und Ihren Holo-Flat-Pads, also Ihren 3-D-Flachbildschirmen, vertraut machen.« Über den Betten meiner Zimmer-, oder sollte ich besser Zellengenossen sagen, schwebten bereits flirrende Holografien. Allerdings nur über den Betten zu meiner Linken, also Nr. 1bis 4. Ich kannte ihre Namen nicht, deshalb nannte ich Sie von der Fensterseite her aufsteigend Nr. 1 bis 4. Über mir und zu meiner Rechten leuchteten lediglich die Stand-By-Dioden der Holo-Flat-Pads.Nr. 7 hatte man vermutlich irgendwann in der Nacht in seinen neuen Wirkungskreis geschoben.

Aus meinen Augenwinkeln konnte ich über Nr. 1 und Nr. 2 die Holografie von Jesus am Kreuz erkennen. Über Nr. 3 sah ich die Kaaba und eine Menschenmenge, die diese in einer Hadsch umrundete. Es beeindruckte mich tief, dass man sogar die dabei aufgewirbelten Staubwolken sehen konnte, sodass mich unwillkürlich ein leichter Hustenreiz überkam.

Über meinem unmittelbaren Bettnachbarn, Nr. 4, war die äußerst plastische Holografie eines indischen Brahmanen mit langen, hochgesteckten Haaren zu sehen, der über einen kleinen runden Altar gebeugt unhörbare Worte murmelte. Ich musste unwillkürlich an Prinzessin Lea aus Krieg der Sterne denken, die als flirrende Holografie dem kleinen Roboter R2-D2 eine geheime Botschaft mit auf den Weg gab.

Aber vor uns stand nicht Luke Skywalker, sondern Bruder Martin, der mich vom Aussehen her deutlich stärker an Mister Bean erinnerte. Allerdings bei Weitem nicht so lustig … nein, eigentlich alles andere als lustig.

Während meines Gedankenspaziergangs war ich seinen Worten nicht gefolgt und stieg damit wieder mitten in seiner Rede ein. »… bin katholischer Priester und sowohl für den normalen Gefängnistrakt als auch das Sonderprojekt BSS zuständig. Ich selbst habe die religiösen Lerninhalte für die erste Weltreligion, das Christentum, für Sie zusammengestellt.«

Er machte eine kleine Pause, um die eben gesagten Worte im Raum schweben zu lassen und seinen Stolz darüber zu bändigen. »Nach wie vor sind wir mit 2,1 Milliarden Anhängern die absolute Nr.1 in Glaubensfragen! Weit abgeschlagen folgt der Islam mit etwa 1,3 Milliarden Anhängern. Die Nr. 3 ist der Hinduismus mit circa 850 Millionen Anhängern. Fast schon nicht mehr nennenswert ist der Buddhismus mit etwa 375 Millionen Anhängern. Und das Schlusslicht bildet das Judentum mit etwa 15 Millionen Anhängern. Da erscheint es mir, und Ihnen hoffentlich auch, nur allzu schlüssig, sich in die Hände der wahren Glaubensexperten zu begeben und keine esoterischen Experimente zu machen. Um Sie alle auf den rechten Weg zu bringen und Ihre Läuterung zu unterstützen, werde ich jetzt Ihre Holo-Flat-Pads auf die Werkseinstellung, das Christentum, zurücksetzen.«

Er zauberte eine Fernbedienung aus seiner Priesterkutte hervor, hob sie wie ein Zepter an und drückte auf einen Knopf. Die Kaaba und der Brahmane fielen über Nr. 3 und Nr. 4 in sich zusammen, um als Jesus am Kreuz wieder aufzuerstehen. Die Symbolik war unmissverständlich und ich konnte regelrecht den inneren Ruck spüren, der Nr. 3 und Nr. 4 durchlief. Inzwischen schwebte über allen sieben Betten das Kruzifix.

»Ich möchte Sie natürlich nicht bevormunden oder gar missionieren. Es steht Ihnen frei, die Religion Ihrer Wahl über das Untermenü des Untermenüs im Bereich Einstellungen Ihres Holo-Flat-Pads einzuzwinkern. Jawohl, einzuzwinkern! Denn so funktioniert die Menüführung dieses technischen Wunderwerkes. Das entsprechende Symbol auf dem Holo-Flat-Pad mit beiden Augen anvisieren und dann blinzeln. Dabei entspricht das schnelle Schließen des linken Auges der linken Maustaste und das rechte Auge entsprechend der rechten Maustaste. Wenn Sie beide Augen länger als fünf Sekunden schließen, schaltet das Gerät selbsttätig ab. Es sei denn, es läuft gerade das Sozialisierungsprogramm von 8:00 Uhr bis 12:00 Uhr und von 15:00 Uhr bis 18:00 Uhr. Das lässt sich selbstverständlich nicht abschalten. Schließlich sollen Sie hier ja auch etwas lernen. Denn umsonst haben Sie die Haftzeitverkürzung nicht bekommen. Und denken Sie bei Ihren Bemühungen stets daran: Man lernt nicht fürs Gefängnis, man lernt fürs Leben! Und außerdem haben Sie ja genügend freie Zeit! Sie müssen schließlich keine Hausaufgaben machen, hihi.«

Mein Gott, worauf hatte ich mich da eingelassen. Als ich den Vertrag zu BSS unterschrieben hatte, waren die zeitliche Abfolge und das Programm noch gänzlich anders strukturiert gewesen. Für mich hörte sich das Ganze jetzt plötzlich stark nach einer umfassenden Gehirnwäsche an.

»Ach, nebenbei bemerkt«, fuhr Bruder Martin fort. »Das Sozialisierungsprogramm beinhaltet folgende Fächer: Religion, Ethik, Kniggeund derUmgang mit Menschen, einfache Mathematik sowie Umgangmitder Sprache und ihre Wirkung. Wie ich von dem Linguisten Frederik Ludwig, der das Programm zum Thema Sprache zusammenstellt hat, weiß, hat Ihre temporäre Sprachlosigkeit den Vorteil, dass der Gedanke erst das Wort formt und nicht das Wort den Gedanken. Falls Sie übrigens, und das kann ich mir beileibe nicht vorstellen, während unseres Sozialisierungsprogramms einschlafen sollten, dann wird Sie ein kleiner Stromstoß daran erinnern, dass Sie dem Steuerzahler, der Sie nährt, das Versprechen gegeben haben, als gutes und nützliches Mitglied unserer Gemeinschaft zurückkehren! Wenn wir schon beim Thema Nähren sind, kann ich Ihnen versichern, dass Sie über Ihre Nasensonde in den Genuss einer ausgewogenen künstlichen Ernährung kommen. Da kommen sogar die Vegetarier auf Ihre Kosten, nicht wahr Herr Schirmer? Hihi.«

Und ich hatte mich noch über den Punkt Ernährungspräferenzen im Gefängnisfragebogen gewundert.

»Und da alles was reingeht, irgendwann auch wieder raus will, hat die Gefängnisverwaltung keine Kosten und Mühen gescheut, ihre Betten mit dem Easy-Handle-Sanitizer von Mc Bed ausstatten zu lassen. Die antiseptisch ausgestattete Latexmanschette, die Ihren Unterleib umschließt, einspricht einer Unterhose, die eine Art Absaugglocke eingebaut hat. Sprich, alles was Sie fallen lassen, wird sofort abgesaugt und in die Kanalisation geleitet. Infolgedessen besteht keine Notwendigkeit, Sie täglich zu waschen. Es sei denn, es geht mal was daneben, hihi. Und selbst dann kann die Hose an seitlichen Verschlüssen geöffnet und gewechselt werden. Normalerweise reicht einmal Waschen pro Woche völlig aus.«

Die Fäkalabsaugung und die um die Hüfte herum fixierte Manschette waren vermutlich der Grund, weswegen wir ansonsten völlig nackt unter unseren Bettdecken lagen. Wieso einmal Waschen pro Woche ausreichen sollte, blieb mir schleierhaft und weckte in mir schon die schlimmsten Befürchtungen.

Bruder Martin fuhr fort: »Bei Bedarf werden Bart, Haare und Nägel geschnitten. Den Strohhalm für die Mundspülung und Trinkwasser können Sie über das Holo-Flat-Pad anfordern. Es wird dann automatisch mit dem kleinen Roboterarm zur linken Seite Ihres Kopfes in Ihren Mund geführt. Wir wollen schließlich mit so wenig Personal wie möglich auskommen. Dieses Pilotprojekt lebt letzten Endes von der Effizienz. Also halten Sie durch! Und sollten Sie in einer schwachen Minute an Ihrem Entschluss für BSS Zweifel haben, verzagen Sie nicht! Denn der Glaube, der wahre Glaube, gibt Ihnen die Kraft und versetzt Berge.«

Effizienz und Glaube – diese Kombination erschien mir aberwitzig skurril.

»Ach übrigens: Noch ein kleines Wunder, wenn auch ein rein technisches … Falls Sie sich wundern, dass Sie den Ton des Holo-Flat-Pads ihres Nachbarn nicht hören. Die Zimmerdecke über jedem einzelnen Bett ist als superflache Schallglocke ausgeformt, die ein Interferenz-Tonsignal parallel zur ihrem gewählten Ton aussendet. Dadurch werden die Schallwellen gegenseitig aufgehoben und sind für Außenstehende nicht hörbar. Es entsteht so eine Art Vorhang der Stille. So oder so ähnlich hat man mir das jedenfalls erklärt. Kurz, alles was Sie über Ihr Holo-Flat-Pad hören, kann außerhalb Ihres Bettes nicht gehört werden. Ist das nicht toll?«

Ich hatte diese Technik schon in einer höllisch lauten Gesenkschmiede erleben dürfen und war von dieser Art von kleinen isolierten und völlig geräuscharmen Gesprächsinseln völlig begeistert. Dass ich jetzt inmitten einer solchen Schallinsel lag, beeindruckte mich wirklich.

»Falls Sie trotz dieser tollen und mannigfaltigen Infotainmentmöglichkeiten ein paar warme Worte benötigen, klicken Sie einfach nur auf das Kruzifix am rechten oberen Bildrand und ich komme so schnell wie möglich. Ansonsten können Sie natürlich auch die speziell für Sie abgestellten Pfleger Jonas Mengele und Daniel Becker mit dem roten Kreuz direkt unter dem Kruzifix rufen. Routinemäßig kommen Sie immer freitags, da ist Waschtag! Während der Nachtwache stehen weitere Pfleger beziehungsweise Aufseher für Sie zur Verfügung, die allerdings in Ihren Schichten unregelmäßig rotieren und aus dem anderen Gefängnistrakt herüberkommen müssen. Machen Sie sich keine Gedanken um ihr körperliches Wohlergehen. Doktor Gregor wird sie turnusmäßig untersuchen. Darüber hinaus werden alle ihre Vitalfunktionen rund um die Uhr über ihre persönlichen Vitalometer gescannt. Alles andere was Sie für Ihren Aufenthalt hier wissen müssen, werden Sie sicherlich selbst herausfinden!«

Freitag ist Waschtag – das erinnerte mich an meine Großmutter, die mir mal erzählt hatte, wie die gesamte fünfköpfige Familie immer freitags den Inhalt einer Badewanne kollektiv genutzt hatte. Ich schüttelte mich innerlich. Waschen und im speziellen Körperreinigung sah für mich anders aus.

»Im Übrigen muss ich noch einmal in aller Deutlichkeit herausstellen, in welch privilegierter Lage Sie sich befinden. Sie liegen in der vermutlich am besten ausgestatteten Gefängniszelle der Welt, eigentlich eher ein Gefängniszimmer. Sie bekommen die neueste Technik zur Verfügung gestellt. Sie können den ganzen Tag lang lernen, wie Sie ein wichtiges Mitglied unserer Gesellschaft werden. Sie bleiben beim Freigang von Gefängnisschlägereien verschont. Übergriffe anderer Häftlinge, Drogenkonsum, Drogenhandel, die dazugehörige Beschaffungskriminalität – all das ist zu 100 % unterbunden. Sie können niemanden verletzen oder gar töten. Und« – das schien ihm besonders wichtig zu sein – »Sie sind nachhaltig geschützt vor der Verunreinigung des Geistes durch Selbstbefleckung!«

Ausgerechnet dieser bigotte Bruder sprach vom Schutz des Geistes vor Selbstbefleckung!

»Vielleicht haben Sie sich gefragt, wieso ich diese ganze Einleitung mache? Nun, Sie alle liegen mir am Herzen und da sich sonst niemand großartig um Sie kümmern wird, dachte ich, es wäre eine gute Idee, uns schon einmal kennenzulernen. Übrigens werde ich einmal pro Woche zu Ihnen kommen, um die Werkseinstellungen Ihres Holo-Flat-Pads wieder zurückzusetzen. Ich möchte Ihnen immer wieder die Chance geben, über die einzige und richtige Religion nachzudenken …«

Als Bruder Martin schon an der Tür stand, drehte er sich nochmals um, kam zu mir ans Bett und meinte: »Ach Herr Schirmer, ich habe mit großem Bedauern in Ihrer Akte gelesen, dass Sie als Einziger keine Religionszugehörigkeit angegeben haben. Ich nehme an, dass Sie Atheist sind? Also ein armes, orientierungsloses Schäfchen, das nicht weiß, was es glauben soll! Ich versichere Ihnen meinen Beistand und werde Sie, metaphorisch gesprochen, mit der richtigen Beschilderung schon auf den richtigen Weg bringen …«

Hirnwäsche

Ich schluckte, als die Tür ins Schloss fiel. Ich hatte keine Hoffnung mehr, dass dies ein Traum sein könnte. Ich war in meiner Realität angekommen.

Einzelhaft im Mehrbettzimmer!

Keine Kommunikation untereinander. Nur die Dauerberieselung mit diesen Holo-Flat-Pads, die uns gefügig machen sollten. Gefangen im eigenen Körper. Ich hatte dem BSS-Programm deshalb in Gedanken einen passenderen Namen gegeben:

Körper-Haft.

Selbst mein persönlicher Gott mit Rauschebart und Blaumann verkroch sich in meiner Phantasie schluchzend in einer Ecke. Nachdem auch er mir keinen weiteren Trost spenden konnte, wandte ich mich von ihm ab und versuchte mich auf andere Weise abzulenken.

Aber das war alles andere als leicht. Zuerst Mosquito und sein Handlanger und jetzt auch noch Mr. Bean in einer Soutane und einem Missionierungseifer, der ihm schon förmlich den Geifer in die Mundwinkel trieb. Darüber hinaus kam ein Tagesprogramm auf mich zu, das so nicht abgesprochen war. Es schien, als hätte ich all meine Menschenrechte an der Eingangstür dieses Etablissements abgeben. Ich kam mir vor, wie in einem schlechten Film. Nur dass ich der Hauptdarsteller war, der keine Chance hatte aus dem Vertrag zu kommen. Also hieß es mitspielen so gut es ging. Denn wer möchte schon in einem schlechten Film auch noch ein schlechter Hauptdarsteller sein?

Ursprünglich hatte ich geglaubt, während dieser auf zehn Jahre verkürzten Haft in aller Ruhe über mich und die Situation, die mich hierher gebracht hatte, nachdenken zu können. Ich hatte eine schon fast naiv verklärte Vorstellung des Ganzen gehabt: Endlich ausschlafen, an die Decke starren und den Gedanken einmal freien Lauf lassen. So etwas schafft Klarheit!

Fehlanzeige, das Erziehungsprogramm forderte, zumindest in den ersten Wochen, meine volle Aufmerksamkeit. Nach dem ersten Erziehungsblock von 8:00 Uhr bis 12:00 Uhr war ich so erschöpft, dass ich sofort danach einschlief.

Ich fiel in einen unruhigen Schlaf, in dem ständig irgendwelche Fetzen des ersten Erziehungsblocks auftauchten, an mir vorbeischwebten und mich manchmal mit sich rissen. Nach einer gefühlten Viertelstunde riss mich ein elektrisches Kribbeln wieder ins Bewusstsein. Eine ermahnende Frauenstimme über mir sagte: »Nr.5, es ist Zeit aufzuwachen, der Mittagsblock Ihres Unterrichtes fängt an. Sollten Sie die nächsten Tage nicht pünktlich zum Unterricht erscheinen, werde ich mich wie eben bemerkbar machen. Und das jeden Tag ein bisschen mehr. Sie werden schon sehen, das hilft der Konditionierung und Ihrem Zeitgefühl.«

Das Mittagsprogramm startete … und ich merkte schon jetzt, dass mich dieses Sozialisierungsprogramm weichkochen, zermürben und mein Denken und meine Persönlichkeit auflösen würde …

… wenn ich mich treiben ließ …

Treiben … man konnte von jemandem getrieben werden, also wie von diesem Programm gehetzt oder man konnte passiv in einem Fluss treiben, ohne zu wissen, wohin die Reise geht. Es gibt jedoch in jedem Fluss auch Punkte, die einen nicht mitreißen und mit sich forttragen, die sogenannten Kehrwasser.

Kehrwasser

Keine Ahnung, wie ich darauf kam, jedenfalls assoziierte ich das Wort mit meiner jetzigen Situation. Typisch Werbefuzzi! Es war mein Job, scheinbar zusammenhangslose Dinge zu verknüpfen und etwas Neues daraus zu schaffen. Das war vermutlich das, was andere Menschen kreativ nennen. Dabei merkte ich mir nur irgendwelchen Blödsinn und knüpfte aus diesen zusammengestückelten Ideen eine Patchworkdecke, die ich anschließend teuer verkaufen konnte.

Glücklicherweise hatte ich früh genug erkannt, dass ich aus diesem Talent Kapital schlagen konnte. Ansonsten wäre ich wahrscheinlich einer dieser armen Spinner, die mit dieser Gabe der Nichtigkeiten überhaupt nichts anfangen können oder ständig darauf hoffen, bei Wer wird Millionär zufälligerweise nach genau diesem Blödsinn gefragt zu werden, ohne sich jemals bei der Sendung anzumelden. Entweder das, eine erfolglose arme Sau, die Klapse oder eben … Werbefuzzi mit Kehrwasser-Assoziationen, der sich nicht willenlos treiben lassen wollte.

Bei einem unserer kleinen Firmenevents hatten wir, um unsere Belegschaft bei Laune zu halten, einen Rafting-Trip im Wildwasser für ein Wochenende gebucht. Unser Rafting-Guide erklärte uns die einfache Strömungsdynamik im Wildwasser. Er sprach von Stromzungen, Rappids, Katarakten, Verblockungen, Walzen, Strudeln und auch von Kehrwassern: »Die sind ganz ganz wichtig, weil das neben kleinen Walzen die einzige Möglichkeit ist, im Fluss anzuhalten. Kehrwasser bilden sich direkt hinter Hindernissen wie Felsblöcken oder Brückenpfeilern, die in der Strömung liegen. Und auch nahe dem Ufer, speziell in Innenkurven, da die Hauptströmung immer schneller durch die Außenkurve mäandert und die Strömung in der Innenkurve so langsam ist, dass sie oft eine Sandbank bildet. Da das langsame Wasser jedoch flussaufwärts in Richtung Hauptströmung rotiert, spricht man vom Kehrwasser. Ich sag’s noch einmal, das Kehrwasser ist die einzige Stelle im Fluss, an der wir anhalten können! Rückwärtspaddeln hilft praktisch nichts. Der Fluss gewinnt immer!«

Rückwärtspaddeln hilft nichts! Das Kehrwasser ist die einzige Stelle im Fluss, an der ich anhalten kann! Aber was bedeutete das für mich?! Nun, da ich komplett der multimedialen Gehirnwäsche des Gefängnisses ausgesetzt war, musste ich innerhalb des Datenstromes, der auf mich eindonnerte, ein solches Kehrwasser finden. Eine Stelle im Datenfluss, in der ich nicht davongetragen wurde, sondern bestehen konnte, ohne dass sich mein Ich auflöste. Es gab nur ein Problem. Wie sah das Kehrwasser für diese Situation aus?

Der weiße Elefant

Meine Gedanken rotierten um genau diese Frage wie der Strudel in einem Abfluss. Wie sah dieses Kehrwasser aus? Was sollte ich mit diesem Vergleich anfangen? Wie konnte ich ihn benutzen, um der Hirnwäsche zu entkommen? Wie konnte ich meine Situation etwas erträglicher machen? Fragen über Fragen, meine Schläfen taten mir schon weh und ich merkte, dass ich einfach zu verkrampft an das Thema heranging. Wenn ich mich in der Agentur um eine kreative Lösung bemühte, war es das Beste, eine Nacht darüber zu schlafen oder sich mit etwas anderem zu beschäftigen. Ich hatte einfach eine Blockade. Das ist wie mit dem berühmten weißen Elefanten: »Denken Sie die nächsten zwei Minuten auf keinen Fall an einen weißen Elefanten! Auf keinen Fall!«

Sie werden Probleme haben, sich keinen weißen Elefanten vorzustellen! Das ist ein klassisches Beispiel für eine Blockade, die eigentlich nur durch Ablenkung aufgelöst werden kann …

Gerade als ich mich mit dieser Analogie versuchte abzulenken, sah ich aus den Augenwinkeln, dass Jesus über Bett Nr. 4 zusammenbrach, um als Hinduistischer Brahmane wieder aufzuerstehen. Ich glaubte, die tiefe Zufriedenheit und Genugtuung von Nr. 4 regelrecht zu spüren. Kurz darauf fiel Jesus auch über Bett Nr. 3 in sich zusammen, um sich als Hadsch um die Kaaba wieder zu formieren. Abermals konnte ich die Genugtuung regelrecht fühlen. Die Holografien schienen eine Art Bildschirmschoner ohne Inhalt zu sein. Kurz darauf veränderten sich die Holografien und schienen irgendwelche religiösen Rituale zu zeigen und zu beschreiben. Meine Neugier an diesem Holo-Flat-Dings-Bums war geweckt. Vielleicht sollte ich mich ja auch endlich damit auseinandersetzen …

… immer noch besser, als weiterhin aktiv an Kehrwasser und weiße Elefanten zu denken. Die Menüführung des Holo-Flat-Pads war intuitiv gestaltet und ich fand mich schnell darin zurecht.

Neben den Grundeinstellungen für das Sozialisierungsprogramm entdeckte ich auch ein paar virtuelle Nachschlagewerke und ein TV-Programm mit dem man sich in seiner »Freizeit« vergnügen konnte. Vom Nachrichtensender über Spielfilmsender, Musikkanäle und einen Yogasender gab es nahezu alles, was der fernsehsüchtige Durchschnittsbürger zu brauchen glaubt.

Ich zappte mich durch die Programme, ließ in einem der Pop-Classic-Kanäle Michel Jackson als Holografie einen Moonwalk über meinem Bauch machen. Ich ließ die Titanic über mir versinken, um sie kurz darauf von einer imposanten Weltraumschlacht abzulösen. Alles war bunt, schnell und in phantastischen Holografien verpackt. Aber gerade diese Detailvielfalt ermüdete mich schneller, als ich gedacht hatte, und ich schaltete auf die normale 3-D-Darstellung um. Es war mir schon beinahe übel von all diesem holografischen Gewirr geworden. Die Übelkeit konnte natürlich auch eine Nebenwirkung dieses roten BSS-Serums sein, das meinen Körper in ein bewegungsloses Stück Fleisch verwandelt hatte und vielleicht auch weiterhin veränderte. Ich wusste ja nicht einmal, wie ich gerade aussah. Kein Spiegel weit und breit!

3648

Plötzlich kam mir eine Idee. Wenn ich schon im virtuellenHigh-Tech-Landals blinzelnde Mumie unter diesemHolo-Dingsdalag, dann brauchte ich doch gar keinen Spiegel! Ich suchte die obere Gerätekante nach einer kleinen Kamera ab. Bingo! Sie war tatsächlich da. Sie konnten mich also Tag und Nacht beobachten, sehen, was ich gerade tat. Zugegeben, ich lag hier wie ein zusammengerollter Teppich in einem Bett, konnte herumblinzeln und vielleicht auch noch schockiert dreinschauen. Aber sonst?! Da gab es nicht viel zu sehen. Ich lag unter einer Bettdecke, konnte zur Zimmerdecke starren oder die Augen schließen. Dass ich unter meiner Bettdecke nichts außer dieser ominösen Latexmanschette anhatte, konnte die Kamera nicht sehen. Dennoch fühlte ich mich nackt, beobachtet und in meiner Privatsphäre gestört.

Aber mein ursprünglicher Gedanke war ja auch ein gänzlich anderer. Ich wollte sehen, ob ich mich mit diesem Wunderding auch selbst sehen konnte. Nach einigem Herumprobieren fand ich schließlich das MenüPersonenstatus. Noch einmal blinzeln und ich konnte mich oben sehen, wie ich da unten in einem weißen Bett lag. War ich das tatsächlich?

Man hatte mir den Schädel rasiert, aber die ersten Stoppeln kamen schon zum Vorschein. Anhand der Länge meiner Bartstoppeln schätzte ich, dass ich seit circa drei Tagen hier liegen musste. Die Wangen waren eingefallen und irgendwie sah meine Haut grau aus. Meine Augen lagen fiebrig glänzend in dunkel geränderten Höhlen. Selbst wenn ich einmal – was wirklich selten vorkam – dem Alkohol gestattete, bis in die letzten Kapillaren meiner Blutgefäße vorzustoßen, sah ich normalerweise besser aus. Ich wirkte, als hätte man mich zum Sterben in dieses Zimmer geschoben. Ich war geschockt!

Erst jetzt nahm ich die Informationszeilen wahr, die neben meinem ausgemergelten Konterfei standen. Alter: 36, Gewicht: 82 Kilogramm, Geschlecht: männlich. Zumindest das wusste ich jetzt mit Gewissheit. Die restlichen Informationen wie zum Beispiel den Blutdruck konnte man nach Belieben herunterscrollen.

Schließlich kam ich an den PunktRestlaufzeit:3648.Restlaufzeit?Das hörte sich für mich nach der verbleibenden Laufzeit eines Atomkraftwerks an. Und3648?Keine Ahnung! Ich fixierte die Zahl und blinzelte mit dem rechten Auge, um in dasUntermenüzu gelangen.Jahre, Monate, Wochen, Tage, Stunden, Sekundenstanden dort.

Das WortTagewar grau unterlegt. Ich begriff und ließ alle Hoffnung fahren. Noch3648Tage, die ich auf diese Weise vor mich hinvegetieren sollte. Ich wagte erst gar nicht, dieRestlaufzeitaufStundenoder garSekundenumzustellen. Nur um eine riesige Zahlenkolonne wie auf derUhr der Steuerzahlerzu sehen, die immer schneller die Zahlen wechselt? Nein, danke!

Ich hasse nichts mehr als sentimentales Selbstmitleid. Dennoch badete ich geradezu darin, tauchte ein und ließ mich darin versinken. Das Bild vor mir wurde unscharf, verschwamm wie ein Aquarell und wurde im Bad meiner Tränen vollends aufgelöst.

Ich schloss völlig deprimiert meine Augen, um mich wenigstens dahin zurückzuziehen, wo ich mich bis dahin sicher fühlte ... in den Schlaf.