Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
So hat sich Kommissar Schächtle seinen Kuraufenthalt nicht vorgestellt. Schon in der ersten Nacht wird seine nette Zimmer- nachbarin, die er im Zug kennengelernt hat, auf bestialische Weise erstochen. Schächtle ist am Boden zerstört, denn für ihn war es Liebe auf den ersten Blick, als er die junge Frau im Zugabteil traf. Seine Konstanzer Kollegen, die an den Tatort gerufen werden, nehmen sofort die Ermittlungen auf. Bald stellt sich heraus, dass die Tote eine Schwester hatte, die auf dieselbe Art vor Jahren zu Tode kam. Als die Ermittlungen immer schwieriger werden, beschließt der Konstanzer Kommissar, seine Kur zu unterbrechen und sein Ermittlungsteam zu unterstützen. Da geschieht ein weiterer Mord in einer Konstanzer Klinik. Schächtle findet bald einen Zeugen, der die Tat beobachtet hat. Dennoch kommt er mit den Untersuchungen der Mordfälle nicht wirklich voran, weil er entweder von seinem Chef zurückgepfiffen wird oder auf scheinbar unüberwindbare Barrieren bei der Aufklärungsarbeit stößt ... Schächtle fühlt sich umgeben von einem Sumpf aus Korruption und Schweigen. Dennoch gelingt es ihm, den Mörder nach einer aufregenden Verfolgungsjagd mit dem Heli, dingfest zu machen.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 249
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Andreas E. Graf
wurde 1954 in Konstanz am Bodensee geboren. Er ist gelernter Maler, Lackierermeister und Betriebswirt im Handwerk. Von 2009 bis 2013 absolvierte er eine Ausbildung zum Autor im Fernstudium an der »Schule des Schreibens« in Hamburg. »Korruption am Bodensee« ist sein zweiter Krimi.
Andreas E. Graf
Korruption am Bodensee
Bodenseekrimi
Oertel+Spörer
Dieser Kriminalroman spielt an realen Schauplätzen.Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden.Sollten sich dennoch Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen ergeben, so sind diese rein zufällig und nicht beabsichtigt.
© Oertel + Spörer Verlags-GmbH + Co. KG 2017Postfach 16 42 · 72706 ReutlingenAlle Rechte vorbehalten.Titelbild: fotolia © powell83Gestaltung: PMP Agentur für Kommunikation, ReutlingenLektorat: Ingeborg KunzeSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-88627-598-4
Besuchen Sie unsere Homepage und informierenSie sich über unser vielfältiges Verlagsprogramm:www.oertel-spoerer.de
Donnerstag, 15. Juni 2006
15 Uhr
Dr. Tamara Feldstein schloss eilig ihre Wohnung auf. Die vierzigjährige Frauenärztin war mal wieder nicht rechtzeitig aus ihrer Praxis in der Konstanzer Rosgartenstraße gekommen. Die Zeit war knapp. Dabei sollte sich heute ihre Zukunft entscheiden. Sie hängte ihre Jacke an die Garderobe im Flur, ging in die Wohnküche und überzeugte sich, dass im Kühlschrank genügend Sekt war. Im gegenüberliegenden Schlafzimmer bereitete sie das Bett. Dann ging die große schlanke Frau ins Bad, sah sich im Spiegel an, schminkte die Lippen, prüfte das Gesicht und kämmte ihre langen blonden Haare mit einer weichen Bürste durch.
»Das gefällt ihm«, sagte sie leise.
Sie freute sich auf den Sex mit ihrem Liebhaber, aber zuerst musste er ihr die Frage aller Fragen beantworten. Während sie im Wohnzimmer die Sektgläser bereitstellte, gingen ihr Gedanken durch den Kopf:
Diese Wohnung in der Beethovenstraße hatte ihr Vater, Gero von Glutwitz, ihr zur Hochzeit geschenkt. Das war vor über drei Jahren.
Die Wohnung hatte er gekauft, weil er überzeugt war, dass ihre Ehe nicht lang halten würde: Ihr Mann Rüdiger Feldstein war Malervorarbeiter beim Malermeisterbetrieb Häuffle. Aber so einer war keine Partie für seine Tochter. Doch sie war damals sehr verliebt in Rüdiger. Er sah gut aus, war groß, muskulös, durchtrainiert und immer höflich. Doch als der Alltag einkehrte, merkte sie, dass sie von der Gesellschaft gemieden wurde. Sie wurde nicht mehr zu den Veranstaltungen der wichtigen Leute und der Gesellschaft in Konstanz eingeladen, weil sie durch ihre Heirat mit einem einfachen Handwerkergesellen nicht mehr dazugehörte.
Das tat ihr weh. Mit Rüdiger stritt sie sich immer öfter. Jeder ging seiner Wege. Sie unternahmen nichts mehr gemeinsam. Dann lernte sie ihn kennen: Ein Bild von einem Mann, einiges älter als sie und sehr gut im Bett. Für sie war es Liebe auf den ersten Blick. Seitdem trafen sie sich, um miteinander Sex zu haben, waren öfter auch über das Wochenende weg. Dann vergnügten sie sich in einem Hotel und Tamara war glücklich.
Es klingelte. Sie wachte aus ihren Gedanken auf, strich die blonden Haare aus dem Gesicht, öffnete die Wohnungstür und lief ihm entgegen:
»Endlich bist du da, mein Schatz. Ich halte es nicht mehr aus ohne dich.«
Sie küsste ihn stürmisch auf der Treppe.
»Tut mir leid, ich wurde noch aufgehalten«, antwortete er mit seiner tiefen Stimme und drückte sie fest an sich heran.
Sie gingen Hand in Hand ins Wohnzimmer und setzten sich auf das Sofa.
Am liebsten hätte sie ihn jetzt geliebt, so sehr begehrte sie ihn. Es wäre das erste Mal in ihrer Wohnung. Er umarmte sie. Seine großen Hände tasteten sich unter ihrer Bluse zu ihrem großen Busen, massierten ihn, und Tamara bekam einen verliebten Gesichtsausdruck. Plötzlich schob sie seine Hände weg.
»Bitte, Schatz, hol’ den Sekt aus dem Kühlschrank. Du weißt, wir müssen was besprechen.«
»Können wir nicht vorher ins Bett?«
»Nein, erst wenn das geklärt ist.«
Er kam mit der geöffneten Sektflasche und schenkte ein.
»Was willst du mir sagen, Tamara?«
»Wir sind seit über einem Jahr befreundet. Unser Sex ist gut und auch sonst haben wir die gleichen Interessen. Ich möchte unser Verhältnis legalisieren.«
»Wie meinst du das?«
»Ich möchte dich heiraten und Kinder haben. Es ist noch nicht zu spät dafür.«
»Wir sind doch beide verheiratet, wie soll das gehen?«
»Ganz einfach, wir lassen uns scheiden.«
»Wie stellst du dir das vor? Ich kann mich doch nicht einfach scheiden lassen. Jetzt, wenn ich endlich befördert werde. Eine Scheidung bringt Gerede und meine weitere berufliche Karriere ist dahin. Nein, das kommt für mich nicht infrage. Wieso kannst du es nicht lassen, wie es ist?«
Tamara wurde rot und weiß im Gesicht. Sie nahm einen kräftigen Schluck.
»Ich habe einen Grund, weshalb ich dich heiraten will. Ich bekomme ein Kind von dir. Du wirst Vater.«
»Ich werde dich nicht heiraten, dabei bleibt es. Wer weiß, ob das Kind von mir ist. Es liegt doch eher die Vermutung nahe, dass dein Mann der Vater ist.«
Tamara atmete tief, ihr Blutdruck stieg.
»Jetzt will ich dir mal eines sagen: Ich kann so nicht weiterleben. Ich will wieder zur Gesellschaft gehören. Seit ich mit Rüdiger verheiratet bin, werde ich geschnitten. Auch deshalb will ich, dass wir heiraten. Vor allen Dingen wegen unseres Kindes. Du bist der Vater. Mit Rüdiger habe ich seit Monaten nicht mehr geschlafen.«
»Jetzt reicht es. Tamara, ich mache Schluss! Es ist doch sinnlos, mit der Tochter des Apfelbarons ein Verhältnis einzugehen. Und dann willst du mir noch ein Kind unterschieben! Jetzt, wenn meine Karriere richtig losgeht, kann ich das nicht gebrauchen. Lass uns noch einmal Sex machen und das war es dann.«
Tamara stand auf und gab ihm eine Ohrfeige.
»Wenn du dich von mir trennst, dann werde ich dich unmöglich machen! Ich sage alles meinem Vater, dann kannst du froh sein, wenn du noch Mülleimer auswaschen darfst. Ich mache dich fertig, das garantiere ich dir!«, schrie sie ihn aufgeregt mit schriller Stimme an.
Der große Mann stand auf und ging Richtung Wohnungstüre.
»Wenn du jetzt gehst, bist du erledigt.«
»Ich muss nur kurz ins Bad, mein Schatz. Dann reden wir über alles in Ruhe.«
»Ich wusste ja, dass du vernünftig bist.«
Der Mann zog weiße Stoffhandschuhe an, die er in seiner Jackentasche mitgebracht hatte, ging in die Küche, nahm aus dem Messerblock das große, sechsundzwanzig Zentimeter lange Messer, trat hinter das Sofa, auf dem Tamara saß, zog sie an ihren langen Haaren hoch.
»Was soll das, spinnst …?«
Weiter kam sie nicht. Sie spürte den Schnitt, der ihre Kehle durchtrennte, Blut strömte heraus.
Er stieß sie nach vorn, Sofa und Boden verfärbten sich. Er legte die Tatwaffe neben die Frau in das warme Blut.
»Ich lasse mich nicht erpressen. Jetzt hast du die Quittung«, sagte er spöttisch, trank einen Schluck Sekt und blickte die Tote an.
Donnerstag, 15. Juni 2006
18 Uhr
Rüdiger Feldstein betrat das Haus in der Beethovenstraße. Er freute sich auf den Abend mit seiner Frau, obwohl sie gestern wieder gestritten hatten. Sie hatte sogar eine Vase nach ihm geworfen, doch er wollte, dass sie sich versöhnten. In den letzten Wochen hatte es ziemlich heftige Auseinandersetzungen gegeben. Wegen Kleinigkeiten, aber Tamara war schnell gereizt und flippte aus. Das wiederum brachte ihn zur Weißglut. Deswegen flogen öfter die Fetzen im Hause Feldstein.
Während er die Treppe hinaufging, zum zweiten Stock, dachte er:
»Tamara wird wohl noch in der Praxis sein. Dann mache ich mal das Abendessen oder besser, wir gehen zum Essen. Im La Grotta waren wir schon lange nicht mehr. Antonino, der Patron, würde sich sicher freuen, uns wieder mal zu sehen.«
Er schloss die Wohnungstüre auf und sah die Jacke seiner Frau.
»Schatz, bist du schon da? Es tut mir leid, wegen gestern Abend. Was hältst du davon, wenn wir heute ins La Grotta gehen?«
Keine Antwort.
Er schaute in den kleinen Wandspiegel im Flur, strich sich über seine blonden Stoppelhaare und fand, dass er ordentlich aussah. Tamara hasste es, wenn er ungepflegt heimkam.
»Wo bist du?«
Er ging in die Küche, sah den offenen Kühlschrank mit einigen Flaschen, machte die Kühlschranktür zu, ging in den Flur, ins Bad – auch da war niemand.
»Tamara, jetzt werde ich aber sauer. Wo bist du? Hast du dich versteckt?«
Im Schlafzimmer sah er die purpurrote Decke auf dem Bett liegen, die immer dort lag, wenn sie Sex miteinander hatten.
»Schatz, ich bin da, komm’ doch bitte.«
Keine Antwort.
Er trat ins Wohnzimmer und erschrak: alles voller Blut. Vor dem Sofa lag seine Frau, das Gesicht nach unten, die langen blonden Haare im Blut.
»Was ist passiert?«, rief er erschrocken, und drehte sie um.
Sie war tot, ihre Kehle durchgeschnitten.
»Nein, das darf nicht wahr sein!«, schrie er, und nahm sie weinend in die Arme.
Dann entdeckte er das große Messer, das neben ihr im Blut lag. Er holte es am schwarzen Griff heraus und schaute es genau an.
»Wer war das?«, fragte er, als ob das Messer ihm Antwort geben könnte.
Rüdiger Feldstein setzte sich in eine Ecke und heulte ununterbrochen. Seine weiße Malerhose und Teile seiner Arbeitsjacke waren voller Blut. Er wusste nicht, wie lang er dort gesessen hatte. Die Wohnungstür war offen und sein Chef Alois Häuffle kam herein:
»Rüdiger, wo bist du?«, rief der Malermeister.
Da sah er ihn im Wohnzimmer auf dem Boden sitzen und weinen, in seinen Armen die tote Frau. Er half Feldstein auf und setzte ihn im Flur auf einen Stuhl. Im Getränkeschrank, der in die Wand eingelassen war, suchte und fand er einen Cognac. Feldstein trank ihn auf einen Zug leer.
»Was ist passiert, Rüdiger? Warst du das?«
Er bekam keine Antwort. Häuffle ging ans Telefon:
»Polizei? Ich möchte einen Mord melden.«
Als die beiden Schutzpolizisten wenig später die Wohnung betraten, saß Feldstein immer noch im Flur und starrte vor sich hin. Daneben stand Häuffle und wusste nicht, was er machen sollte.
»Polizeioberkommissar Walter Haller und Polizeihauptmeisterin Ilselore Frei«, er fünfundvierzig Jahre, groß, schlank, sie dreißig, klein und kräftig.
»Hier soll ein Mord geschehen sein?«, fragte der Polizeibeamte.
Häuffle wies mit dem Zeigefinger Richtung Wohnzimmer.
»Walter, komm schnell, diese Frau wurde regelrecht abgeschlachtet. Wir müssen Ambs verständigen«, rief die Schutzpolizistin.
Haller kam ins Wohnzimmer und wich entsetzt zurück in den Flur. So etwas hatte er noch nie gesehen. Bestialisch.
»Sind Sie Herr Feldstein?«
Doch der antwortete nicht.
»Ich habe Sie was gefragt: Haben Sie Ihre Frau getötet?«
»Er steht unter Schock, sehen Sie das nicht?«, sagte Häuffle.
»Und wer sind Sie?«
»Ich bin Malermeister Häuffle, sein Chef.«
»Was machen Sie hier?«
»Ich habe Rüdiger telefonisch nicht erreicht. Also bin ich zu ihm nach Hause gefahren, um ihn zu fragen, ob er morgen etwas früher anfangen kann.«
»Hat Frau Feldstein da noch gelebt?«
»Nein, glaube nicht. Er saß in einer Ecke im Wohnzimmer und heulte. Seine tote Frau hielt er im Arm. Er stand und steht immer noch unter Schock.«
Haller schaute die Tote an und nahm sein Handy:
»Ja, Walter hier. Verbinde mich mal mit dem Dezernat für Tötungsdelikte.«
Wenig später betrat Kriminalhauptkommissar Wolfgang Ambs, sechzig, mit seinem Mitarbeiter, dem vierzigjährigen Kriminalkommissar Frank Leute, den Tatort. Eingetroffen war auch der Notarzt, den Schutzpolizist Haller alarmiert hatte.
»Wo ist der Verdächtige?«, fragte Ambs.
Der Kriminalbeamte hatte graue lichte Haare und einen grau-weißen Schnauzbart.
»Welcher Verdächtige, Chef?«, antwortete Frank Leute.
»Der Ehemann.«
»Der sitzt im Flur auf einem Stuhl und starrt vor sich hin.«
»Ich bin Kriminalhauptkommissar Ambs, Herr Feldstein, und leite die Ermittlungen.
Haben Sie Ihre Frau ermordet und warum?«
Keine Antwort, Ambs schüttelte ihn.
»Lassen Sie das, Feldstein steht unter Schock. Wir nehmen ihn erst mal in das Klinikum mit. Sie können ihn später befragen«, sagte der Notarzt.
»Aber die Fingerabdrücke nehmen wir ihm noch ab, die brauchen wir«, sagte Leute.
»Das können Sie machen, wenn es sein muss.«
Plötzlich lautes Gepolter im Treppenhaus. Dann stand in der Wohnungstüre ein großer, kräftiger Mann von etwa fünfundsechzig Jahren, grauer Haarkranz um die Glatze.
»Verlassen Sie sofort den Tatort!«, schrie Ambs.
»Ich bin Gero von Glutwitz, genannt der Apfelbaron, ehemaliger Justizminister. Das ist die Wohnung meiner Tochter Tamara. Stimmt es, dass sie ermordet wurde?«
»Kriminalhauptkommissar Wolfgang Ambs vom Dezernat für Tötungsdelikte. Ihre Tochter ist tot. Was genau geschah, kann ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht sagen. Sie liegt im Wohnzimmer, aber betreten dürfen Sie es nicht.«
Glutwitz sah im Flur seinen Schwiegersohn, bei ihm der Notarzt.
»Du Mörder, du verdammter Mörder! Wieso hast du Tamara getötet?«
Feldstein schaute ihn nur teilnahmslos an. Da schüttelte er ihn und gab ihm wütend einen Kinnhaken.
»Sind Sie noch normal? Ihr Schwiegersohn kann Ihnen nicht antworten, er hat einen Schock«, sagte der Notarzt.
»Verlassen Sie sofort die Wohnung. Seien Sie froh, dass ich Sie nicht wegen Körperverletzung festnehmen lasse«, sagte Ambs.
»Dazu haben Sie kein Recht. Ich bin der Vater und darf mich hier aufhalten.«
»Und ich bin der leitende Kriminalbeamte. Wenn Sie nicht sofort den Tatort verlassen, nehme ich Sie vorläufig fest wegen Körperverletzung und Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte.«
Von Glutwitz war erstaunt. Er ging zu Ambs und sagte leise:
»Herr Hauptkommissar, ich bin Jurist, ich mache Sie fertig. Sie können froh sein, wenn Sie noch Strafzettel schreiben dürfen bis zu Ihrer Pension.«
Dann ging er zu Feldstein:
»Rüdiger, ich sorge dafür, dass du nie wieder aus dem Knast kommst, verdammter Mörder.«
Freitag, 16. Juni 2006
10 Uhr
Wolfgang Ambs saß mit seinem Mitarbeiter Frank Leute im Büro des Dezernats für Tötungsdelikte. Staatsanwalt Dr. Friedhelm Kümmerle kam herein.
»Sagen Sie, Ambs, was haben Sie mit Glutwitz gemacht?«
»Sie meinen den Apfelbaron?«
»Ja, den meine ich«, antwortete Kümmerle aggressiv, und strich sich durch seine grauen Stoppelhaare.
»Ich habe ihn in seine Grenzen verwiesen. Auch als Vater des Mordopfers hat er mir nicht am Tatort herumzuspazieren.«
»Er ist ein VIP, das wissen Sie doch, Jurist und ehemaliger Justizminister. Also legen Sie sich nicht mit ihm an.«
»Doch, Herr Staatsanwalt, das werde ich. Wenn er meint, mich als kleinen Kriminalbeamten fertigmachen zu müssen, dann soll er es versuchen. Wieso haben Sie so ein persönliches Interesse an diesem arroganten Baron?«
»Ich bin mit ihm befreundet, er ist ein einflussreicher Mann und ich wünsche, dass Sie seine Anweisungen befolgen. Und er ist fest davon überzeugt, dass sein Schwiegersohn Rüdiger Feldstein der Mörder ist. Also verhaften Sie ihn und ich werde die Anklage vertreten. Der kommt nicht mehr aus dem Knast, das habe ich ihm versprochen.«
Ambs wurde einerseits sichtlich nervöser, andererseits auch Kümmerle gegenüber immer sicherer. Er hatte etwas gegen diese Art von Staatsanwalt, der nur über solche Zweckfreundschaften nach oben gekommen war.
»Riskieren Sie nicht Ihre Pension. Das könnte üble Folgen für Sie haben.«
»Herr Staatsanwalt, wollen Sie mich erpressen?«
»Werden Sie nicht unverschämt!«, schrie Kümmerle, schaute auf den kleineren Ambs herunter und fuchtelte mit den Händen.
»Richten Sie Ihrem Freund aus, dass wir den richtigen Täter finden werden. Egal ob er Rüdiger Feldstein heißt oder ob ein anderer der Mörder ist. Und wenn er mich nicht in Ruhe lässt, dann werde ich es hinter die Presse stecken. Wenn diese Art, die Sie und dieser feine Apfelbaron an den Tag legen, bekannt wird, dann werden Sie beide die längste Zeit auf Ihren Posten gewesen sein. Haben Sie mich verstanden, Herr Kümmerle? Und jetzt gehen Sie, wir haben in einen Mordfall zu ermitteln.«
Der Staatsanwalt fluchte, verließ das Büro und ließ die Tür mit lautem Knall zufallen.
»So, Frank, was hat du herausbekommen?«
»Ich habe in diesem Haus die Nachbarn befragt. Alle haben unabhängig voneinander ausgesagt, dass es öfter laute Streitereien zwischen den Ehepartnern gegeben hatte. Rüdiger Feldstein hat seine Frau geschlagen und ihr den Tod angedroht.«
»Ich glaube, das dürfen wir nicht überbewerten. Ist bekannt, ob das Mordopfer einen Liebhaber hatte?«
»Da hatte niemand was gewusst.«
»Was sagt die KTU?«
»An der Tatwaffe, dem großen Messer, sind Fingerabdrücke von Feldstein. Auch von dem Mordopfer sind welche dran, kaum zu erkennen, weil die Waffe im Blut lag.«
»Das Messer hat ja denen gehört. Feldstein hat es in die Hand genommen, als er seine tote Frau fand.«
»Dem Staatsanwalt werden diese Beweise reichen.«
»Ja, das befürchte ich auch. Schon weil der Fall sehr viel Aufsehen erregt in Konstanz. Man will ihn zum Abschluss bringen. Frank, ist die Wohnung noch versiegelt?«
»Ja, sie ist noch nicht freigegeben.«
»Dann gehe du mit der KTU noch mal hin. Nehmt sie ganz auseinander, auch auf Kleinigkeiten achten. Und alle Räume genauestens untersuchen. Wenn der Mörder ein anderer war, dann müsstet ihr fremde Spuren finden.«
»Gut, dann berichte ich Ihnen morgen früh darüber.«
»Ich habe noch eine Frage: Weißt du, wieso man Gero von Glutwitz den Apfelbaron nennt?«
»Er kommt aus einer alten Adelsfamilie, die früher in der Gegend von Stuttgart gelebt hat. Sein Vater hat bei Konstanz-Litzelstetten sämtliche Ländereien aufgekauft und Apfelplantagen aufgebaut. Sein Sohn Gero hat den Betrieb erweitert durch den Zukauf aller Felder bis Konstanz-Dingelsdorf. Er ist einer der größten Arbeitgeber in Konstanz. Auf der rechten Seite, bei dem großen Hügel, stehen mehrere Gebäude von ihm. Da stehen Maschinen und verschiedene Arbeitsgeräte. Er hat mehrere Wohnungen dort, wo auch sein Geschäftsführer wohnt. Zur Apfelernte beschäftigt er noch Saisonarbeiter, die er auch dort unterbringt. Von der Bevölkerung wird er deswegen respektvoll »Der Apfelbaron« genannt.«
»Wohnt er auch auf seinem Anwesen?«
»Nein, er hat vor über dreißig Jahren ein Schloss direkt am Bodensee in Konstanz gekauft. Es ist ein großes Grundstück und liegt in der Nähe des Freibades Horn an der Eichhornstraße. Noch eine Frage, Chef?«
»Gero von Glutwitz ist Volljurist, er hat in Stuttgart Jura studiert. Sein Vater wollte das, weil sie den großen Obstbetrieb haben und es gut ist, wenn jemand die rechtliche Seite kennt. Er ist außerdem Mitglied der konservativen Partei.«
»Woher weißt du das alles?«
»Das hat mir gestern Staatsanwalt Kümmerle gesagt. Er kennt die Familie sehr gut.«
»Danke für deine Auskünfte. Wenn noch was ist, ich bin in etwa einer Stunde daheim zu erreichen.«
Wolfgang Ambs war auf dem Weg zur Rechtsmedizin im Keller des Polizeipräsidiums am Benediktinerplatz. Der siebenundvierzigjährige Dr. Hademar Funkel war Rechtsmediziner und gleichzeitig Chef der Pathologie am Klinikum Konstanz. Ambs ging den langen Kellerflur entlang. Am hinteren Ende sah er Licht und war sicher, dass jemand da sein musste.
Als er den ersten Raum betrat, sah er niemand.
»Dr. Funkel, wo sind Sie? Hier ist Ambs.«
»Kommen Sie in den Sezierraum.«
»Haben Sie schon Ergebnisse im Mordfall Feldstein?«
»Ja, sehen Sie«, sagte der Rechtsmediziner, und zeigte auf die durchgeschnittene Kehle.
»Der Mörder muss groß und kräftig sein, weil das schwierig ist, da sich dort Knorpel und festes Gewebe befinden. Ist nicht der Ehemann sehr kräftig?«
»Ja, aber woher wissen Sie das? Kennen Sie ihn?«
»Flüchtig, die Ermordete war schließlich eine Kollegin von mir.«
»Sonst noch weitere Ergebnisse?«
»Ja, sie war im dritten Monat schwanger.«
»War das bekannt in Ärztekreisen?«
»Ich wusste nichts davon, hatte aber mit ihr nicht viel zu tun. Der Ehemann wird es wissen, schließlich müsste er der Vater sein.«
»Die Gerüchteküche brodelt wieder. Ich halte ihn nicht für den Täter. Dafür war er zu sehr geschockt, was auch der Notarzt bestätigen kann. War sie sofort tot?«
»Ja, sie ist ausgeblutet wie ein Schwein. So etwas Brutales habe ich bis jetzt noch nicht erlebt«, sagte Funkel, zog die Gummihandschuhe aus und strich sich mit beiden Händen durch sein schütteres braunes Haar.
»Danke, Doktor, bitte schicken Sie mir schnellstens den Bericht hoch.«
»Mach’ ich, Herr Ambs. Morgen früh haben Sie ihn.«
Freitag, 16. Juni 2006
19 Uhr
Wolfgang Ambs schloss seine Wohnung im Stadtteil Niederburg auf. Dieser Mordfall strengte ihn sehr an, da er nicht mehr so stabil war wie früher. Das hatte ihm heute die Auseinandersetzung mit dem Staatsanwalt gezeigt. Er zog seinen blauen Trainingsanzug an und ging in die kleine Küche. Seit seine Frau vor über fünf Jahren gestorben war, musste er sich selber versorgen. Das ging bis jetzt ganz gut. Er hatte sich sogar das Kochen beigebracht, doch meist hatte er Fertiggerichte im Tiefkühlschrank. Die musste er nur noch in der Mikrowelle warm machen, so auch heute, er hatte keine Lust zum Kochen. Der ganze Tag belastete ihn. Sein Gedanke: Bis jetzt sieht alles so aus, dass Feldstein der Mörder ist. Doch er konnte es sich nicht vorstellen, dass dieser Mann seine Frau so bestialisch ermordet hat. Ein großer, kräftiger Mann konnte nur der Täter sein, hatten die KTU und der Rechtsmediziner festgestellt. Alle diese Indizien trafen auf den Ehemann zu. Und Rüdiger Feldstein war zu diesem Zeitpunkt mit seinem Geschäftswagen in der Gegend seiner Wohnung. Die Staatsanwaltschaft wird ihn als Täter präsentieren, wenn man nicht schnellstens den wahren Mörder findet. Ambs war überzeugt, dass Feldstein seine Frau nicht ermordet hat.
Da klingelte es an der Wohnungstüre. Wolfgang Ambs öffnete und war erstaunt, wer da stand:
»Was wollen Sie? Reicht es nicht, dass Sie mir im Präsidium auf die Nerven gehen? Müssen Sie mich jetzt auch noch bei mir daheim belästigen?«
»Nicht so aggressiv, Ambs! Ich habe mit dem Oberstaatsanwalt gesprochen. Wir müssen den Fall zum Abschluss bringen«, sagte Kümmerle.
»Herr Hauptkommissar, ich will Ihnen bestimmt nichts Böses. Auch liegt mir fern, Sie fertig zu machen. Wir haben Ihnen ein Angebot zu unterbreiten, dass Sie nicht ablehnen können. Dürfen wir reinkommen?«, fragte Gero von Glutwitz.
Ambs nickte und ahnte schon, dass das ein Fehler war.
Samstag, 17. Juni 2006
10 Uhr
Der Kriminalhauptkommissar Wolfgang Ambs betrat aggressiv das Polizeipräsidium am Benediktinerplatz. Er wusste, dass es nicht gut war, dass er diese beiden Juristen in seine Wohnung gelassen hatte. Sie hatten zu ihm gesagt: Entweder er lässt die Finger von dem Fall und erklärt ihn für gelöst, oder der Apfelbaron sorgt als Jurist dafür, dass er strafversetzt wird. Dann kann er sich seine Pension abschminken und schauen, wie er weiterkommt. Glutwitz will unbedingt, dass Feldstein als Mörder verurteilt wird.
»Wenn ich nicht mitspiele, dann opfert er mich und Feldstein kommt trotzdem in den Knast«, sagte er zu sich.
Es ärgerte ihn, dass er so machtlos gegen diese Willkür war: Feldstein würde das Bauernopfer.
Als er das Büro betrat, kam ihm Kommissar Leute entgegen.
»Chef, wir haben noch andere Spuren im Bad und in der Küche gefunden. Leider können wir sie nirgends zuordnen. Sie sind gänzlich unbekannt. Sollen wir dem BKA die Spuren übergeben. Vielleicht haben die was in ihrem Computer?«
Emeran Schächtle, sein Mitarbeiter und alter Freund, war beim BKA. Auf die Idee war er bisher noch nicht gekommen. Er sollte ihn anrufen und mit ihm das Problem besprechen. Der hat bestimmt eine Lösung, dachte Ambs, und im gleichen Zug:
»Das hat doch auch keinen Zweck. Gegen die kommt niemand an«, flüsterte er.
»Haben Sie was gesagt Chef?«
»Nein, nur laut gedacht.«
»Ambs, alles klar! Ist der Fall nun endgültig von Ihrer Seite abgeschlossen?«, fragte der Staatsanwalt, als er in das Büro kam.
»Ja, das ist er. Hier sind die Akten.«
Freudig übernahm Kümmerle die Unterlagen und verließ das Büro.
»Bin ich im falschen Film? Ich denke, der Ehemann ist nicht der Täter?«, fragte Leute.
»Der Fall ist von unserer Seite aus abgeschlossen. Die Staatsanwaltschaft wird Anklage gegen Rüdiger Feldstein erheben«, antwortete Ambs.
»Was ist mit den Spuren, die wir gestern gesichert haben?«
»Was für Spuren habt ihr gefunden, Frank?«
»Im Bad, am Waschbecken und an der Toilette fremde Fingerabdrücke.«
»Die gibst du mir, ich werde sie aufbewahren. Aber darüber kein Wort. Es läuft gerade die größte Schweinerei, die man sich vorstellen kann.«
Freitag, 17. November 2006
11 Uhr
Landgericht Konstanz: Urteilsverkündung
Der Prozess wurde mit zehn Verhandlungstagen angesetzt. Der Gerichtssaal war überfüllt, sogar an den großen Saaltüren drängten sich die Zuschauer. Mit Maschinenpistolen bewaffnete Polizeibeamte mussten den Angeklagten schützen. Die Ärztin Dr. Tamara Feldstein, das Mordopfer, war beliebt, genauso wie ihr Vater. Am zweiten Verhandlungstag kamen dem Oberstaatsanwalt Dr. Klaus Dieter Schumann Zweifel, dass Feldstein der Täter sei. Zuerst sollte, wie geplant, Staatsanwalt Kümmerle den Fall übernehmen. Seinem Chef kam die Sache nicht sauber vor, deshalb übernahm Schumann die Anklage. Nachdem er am dritten Verhandlungstag die Aussetzung des Verfahrens beantragt hatte, wegen zu geringer Beweismittel, wurde die Entscheidung vom Vorsitzenden Richter Dr. Dieter Wohlwender auf den nächsten Tag verlegt.
Am Abend bekam Schumann ein Fax vom Justizministerium. Er war suspendiert. Kümmerle hatte den Fall übernommen und der Antrag wurde abgewiesen.
Als der Richter den Gerichtssaal am zehnten Verhandlungstag betrat, erhoben sich die Anwesenden. Feldstein stand zusammengekauert in Handschellen, neben ihm sein Strafverteidiger Dr. Arnulf Moser aus Singen.
»Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil:
Der Angeklagte Rüdiger Feldstein wird wegen Mordes in einem besonders schweren Fall zu lebenslanger Haft mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt«, sagte Richter Wohlwender.
Dann die Urteilsbegründung. Der Angeklagte war beschuldigt, dass er nachmittags, während seiner Arbeitszeit, in seine Wohnung gegangen war und seine Frau brutal und heimtückisch mit einem großen Messer ermordet hatte. Als er am Abend erneut nach Hause gekommen war, hatte er Schock und Entsetzen nur gespielt. Der Mord war von ihm geplant und ausgeführt worden.
Die Anwesenden im Saal applaudierten nach diesem Urteil. Dr. Moser ging auf von Glutwitz zu:
»Wir werden in Revision gehen. Dann wird der Prozess fairer verhandelt als bisher. Ich weiß nicht, wie Sie Ihre Finger drin haben. Wenn ich das rausbekomme, sorge ich dafür, dass Sie die längste Zeit Jurist waren.«
»Ich gebe Ihnen einen guten Rat, Moser, lassen Sie es bleiben und akzeptieren Sie das Urteil. Sie wären nicht der erste Strafverteidiger, dem die Zulassung entzogen wird. Das kostet mich nur einen kleinen Anruf.«
Da kam eine etwa vierzigjährige schlanke Frau mit einem schwarzen Pagenkopf auf ihn zu.
»Papa, Rüdiger ist nicht der Täter, du weißt das. Wieso willst du ihn unbedingt im Gefängnis sehen? Das bringt dir Tamara auch nicht zurück.«
»Sei ruhig, Andrea, davon verstehst du nichts. Gehe lieber zurück zu deinen Kühen nach Duchtlingen.«
»Ich war es nicht!«, schrie Feldstein, als er abgeführt wurde.
Ambs erhob sich, schüttelte den Kopf und schaute Feldstein an.
Da lief der schwarze Pagenkopf auf den Verurteilten zu:
»Rüdiger, ich glaube dir, dass du meine Schwester nicht ermordet hast. Ich hole dich raus, das verspreche ich.«
»Na, Herr Kommissar, es hat doch die Gerechtigkeit gesiegt«, hörte er hinter sich.
Er drehte sich um und sah den Apfelbaron, der sich vor Freude die Hände rieb.
Ambs ging auf ihn zu und flüsterte:
»Das sieht Ihre Tochter ganz anders, Herr von Glutwitz. Eines Tages werden Sie dafür bezahlen müssen. Das verspreche ich Ihnen.«
Fünf Jahre später
Montag, 2. Mai 2011
7 Uhr
Emeran Schächtle lief unruhig am Bahnsteig drei des Hauptbahnhofes umher. Es roch nach Öl und Diesel. Er liebte diesen Geruch, er erinnerte ihn an seine Kindheit. Der Konstanzer Bahnhof war verschmutzt und schmuddelig.
Die Deutsche Bahn könnte diese schöne denkmalgeschützte Bahnstationsanlage etwas sauberer halten, dachte er.
Er trug einen dunkelblauen Anzug und ein weißes Hemd mit einer feuerroten Krawatte. Der Kriminalhauptkommissar ging nie ohne Anzug und Krawatte aus dem Haus. Das war sein Markenzeichen.
Heute war es so weit. Er fuhr in die Waldhofklinik, eine Fachklinik für psychosomatische und psychotherapeutische Medizin in St. Blasien. Dr. Amanda Maucher, die Polizeipsychologin, hatte ihm dazu geraten. Es hatte lang gedauert, bis er sich dazu entschlossen hatte. Der fünfundfünfzigjährige Kriminalhauptkommissar, groß und schlank, strich sich mit dem Zeigefinger zuerst seinen grau-schwarzen Schnurrbart, den seine Frau so geliebt hatte. Er seufzte, stierte auf einen Punkt des Bahnhofsgebäudes und hing seinen Gedanken nach:
Er war mit seiner Frau Elvira über dreißig Jahre beim Bundeskriminalamt. Sie hatten, wie üblich bei Ehepartnern, in verschiedenen Dezernaten gearbeitet. Bei einem gemeinsamen Einsatz im Herbst 2010, bei dem sie eine Mädchenhändlerbande verhaften wollten, hatte er aus Versehen seine geliebte Frau erschossen. Er selbst wurde lebensgefährlich verletzt. Als er erfuhr, dass er Elvira getötet hatte, wollte er nicht mehr leben. Nur seine Kinder, die zwanzigjährige Franziska, die auf der Polizeischule in Biberach war, und der zweiundzwanzigjährige Thomas, der ein Arztstudium in Berlin machte, überredeten ihn, weiter zu machen. Er wurde der Leiter des Dezernats für Tötungsdelikte bei der Kripo Konstanz. Immer noch hatte er Ängste wegen des Todes seiner geliebten Elvira. Bei jedem Toten sah er ihr Gesicht, auch bei Polizeieinsätzen. Deswegen ging er jetzt nach St. Blasien, um dieses Problem zu bewältigen.
»Emeran, hörst du mich? Was ist mit dir los?«, vernahm er eine helle Stimme.
Neben ihm stand seine Mitarbeiterin, die zweiunddreißigjährige Kriminalhauptmeisterin Angelika Fischer. Emeran Schächtle sah ihre langen feuerroten Haare und ihr helles Gesicht mit den vielen Sommersprossen. Sie lächelte ihn an.
»Du bist es. Schön, dich zu sehen. Ich war in Gedanken, Elvira ging mir wieder durch den Kopf.«
Sie umarmte ihn.
»Du darfst nicht so viel an sie denken. Elvira ist tot. Um das zu bewältigen, gehst du heute in Kur.«
»Du hast recht. Aber das ist nicht einfach für mich. Wo sind die anderen? Die wollten doch auch kommen.«
»Da sind sie schon!«
Alle waren sie da. Der fünfundzwanzigjährige untersetzte blonde Kriminalobermeister Dirk Steiner, die dreißigjährige Kriminalkommissarin Karin Reissner, schlank, schwarzhaarig, und der fünfundfünzigjährige große, kräftige Kriminaloberrat Eugen Schmitz, der Leiter der Kriminalpolizei Konstanz und Freund von Schächtle, seit sie gemeinsam beim BKA waren. Auch die zweiundvierzigjährige Dr. Amanda Maucher, die Polizeipsychologin, war gekommen, um ihn zu verabschieden.
»Emeran, erhole dich gut. Wir werden die Stellung im Dezernat halten. Denke bitte nur an deine Gesundheit, dass du nach diesen sechs Wochen erholt zurückkommst, um mit neuen Kräften an die Arbeit zu gehen.«
»Danke für die guten Wünsche, Eugen. Ich werde das meine dazu beitragen.«
»Wir vertreten dich gut, das verspreche ich dir«, sagte Angelika Fischer, umarmte ihn und gab ihm einen Kuss.
»Ich weiß, Angelika, wenn was ist, rufe mich ruhig an, damit ich euch helfen kann.«
»Nein, Emeran, das werde ich nicht. Du sollst dich erholen, außerdem ist noch dein Freund Kriminaloberrat Schmitz da.«
»Aber gewiss werde ich die schützende Oberhand über das Dezernat für Tötungsdelikte halten«, sagte dieser lächelnd.
»Achtung am Gleis 3, bitte einsteigen zum Zug nach Radolfzell mit Anschluss nach Waldshut«, tönte es durch den Lautsprecher.
»Chef, mache es gut und komme gesund wieder«, sagte Reissner, umarmte Schächtle, schaute in sein Gesicht und gab ihm einen Kuss auf seine Lippen.
Fischer schaute ihre Kollegin entsetzt an.
»Emeran, du musst dir keine Sorgen machen. Wir schaffen das, und freuen uns jetzt schon, wenn du wieder kommst«, sagte Steiner, und gab ihm die Hand.