Mord am Münsterplatz - Andreas Graf - E-Book

Mord am Münsterplatz E-Book

Andreas Graf

3,0

Beschreibung

Im Münster in Konstanz am Bodensee wird ein Toter gefunden. Kriminalhauptkommissar Emeran Schächtle, neuer Leiter des Dezernats für Tötungsdelikte bei der Kripo Konstanz, übernimmt den Fall. Bei der Besichtigung des Tatorts holt ihn seine Vergangenheit wieder ein. Schächtle, der psychisch noch immer an den Folgen eines tragischen tödlichen Unfalls bei Ermittlungen zu kämpfen hat, erleidet einen Schwächeanfall. Seine Kollegen beginnen daraufhin, an der Dienstfähigkeit des Kommissars zu zweifeln. Dann geschieht ein weiterer Mord. Auf dem Münsterplatz liegt ein fast zur Unkenntlichkeit entstellter Toter. Die Ermittlungen ergeben, dass er vom Turm gestoßen wurde. Als Schächtle beinahe aufgeben will, weil er zwar Verdächtige festnehmen kann, sie aber mangels Beweisen wieder freilassen muss, da bekommt er auf seinem Handy ein Video, das seine Tochter in der Gewalt des Mörders zeigt. Das ist die Spur, die den Kommissar und sein Team zum Täter führt.

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Über dieses Buch

In Konstanz am Bodensee wird im Münster eine männliche Leiche gefunden. Es ist der Mesner.

Kriminalhauptkommissar Emeran Schächtle, der erst vor Kurzem in seine Heimatstadt zurückgekehrt ist und zum neuen Leiter des Dezernats für Tötungsdelikte bei der Kripo ernannt wurde, übernimmt den Fall. Unter Mordverdacht gerät zunächst auch der Münsterpfarrer, ein ehemaliger Nachbar von Schächtle. Er wird allerdings kurze Zeit später selbst zum Opfer und tot auf dem Konstanzer Münsterplatz gefunden, fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt, weil er vom Turm gestoßen wurde …

Emeran Schächtle ermittelt nun fieberhaft, allerdings ist die Beweislage für den Kommissar sehr entmutigend. Denn er nimmt zwar im Laufe der Ermittlungen mehrere Tatverdächtige fest, die er aber wieder mangels Beweisen freilassen muss.

Dann gibt es plötzlich aus den eigenen Reihen der Polizei Bestrebungen, den psychisch immer noch etwas angeschlagenen Schächtle abzusetzen. Der Kommissar überlegt sich daraufhin, alles hinzuschmeißen und aufzugeben. Doch dann nimmt der Fall eine überraschende, alles entscheidende Wende. Der Täter macht einen großen Fehler. Jetzt weiß Schächtle, was er zu tun hat.

Er hat sogar einen Verdacht, wer der Täter sein könnte. In einer dramatischen Aktion, in die auch seine Tochter verwickelt ist, nimmt er den kaltblütigen Mörder fest und löst den Fall.

Andreas E. Graf wurde 1954 in Konstanz am Bodensee geboren.

An der Schule des Schreibens in Hamburg absolvierte er von 2009 bis 2013 eine Ausbildung zum Autor im Fernstudium. Den Wunsch, einen Kriminalroman zu schreiben, der in seiner Heimatstadt Konstanz spielt, sowie die Idee zur Figur des Emeran Schächtle hatte er schon länger. Andreas E. Graf lebt mit seiner Familie in Konstanz.

Andreas E. Graf

Mord am Münsterplatz

Ein Bodensee-Krimi

Oertel+Spörer

Dieser Kriminalroman spielt an realen Schauplätzen.

Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden.

Sollten sich dennoch Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen ergeben, so sind diese rein zufällig

und nicht beabsichtigt.

© Oertel + Spörer Verlags-GmbH + Co. KG 2016

Postfach 16 42 · 72706 Reutlingen

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlag:

Titelbild: ©traveldia

Umschlaggestaltung: Oertel + Spörer Verlag

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-88627-766-7

Besuchen Sie unsere Homepage und informieren Sie sich über unser vielfältiges Verlagsprogramm:

www.oertel-spoerer.de

Montag, 14. März 2011

22.30 Uhr

Karla Seibertz zog sich wie jeden Abend um diese Zeit den roten Mantel an. Mitte März war es doch recht frisch am Bodensee. Die schlanke blonde Frau ergriff ihren orthopädischen Stock, den sie nicht leiden konnte, weil er hässlich war, aber sie war auf diese Gehhilfe angewiesen. Sie verließ ihre Wohnung in der Brückengasse, hinkte und zog ein Bein nach, immer die Gehhilfe zur Stütze. Weil sie im Alter von fünf Jahren Kinderlähmung hatte, war sie gehbehindert. Ihr Mann war bei der Arbeit. Als Abteilungsleiter eines Kaufhauses kam er meist spät heim. Die Fünfunddreißigjährige ging die steile Holztreppe hinunter auf die Straße.

Die engen Gassen des Stadtteils Niederburg waren bekannt für Konstanz, auch der weiße Nebel, der sich überall breitmachte. Ebenso das unebene Kopfsteinpflaster, das Karla Schwierigkeiten bereitete. Vor ihr erhob sich schattenhaft das Münster mit dem Spitzdach, dessen Turmglocke elf Uhr schlug. Sie lief zum Buchladen Homburger und Hepp, gegenüber der Basilika, um die Auslagen in dem Schaufenster zu betrachten. Dann trottete sie am Hauptportal vorbei über den Münsterplatz zum linken Seitenportal. Hier wird im Juni die Freilichtaufführung des Stadttheaters sein, dachte sie freudig und blieb stehen.

Im Bereich des Kircheneingangs sah sie, wie sich ein Obdachloser in seine Wolldecke einrollte, neben ihm eine Zweiliterflasche Rotwein. Der Wind pfiff über den menschenleeren Platz. Karla hielt ihren roten Hut fest. Sie schlurfte zum kunstvoll gestalteten steinernen Kreuzgang, dort befand sich die einzige Tür, die um diese Zeit noch nicht geschlossen war. Die zweiflügelige alte Holztüre knarrte, als sie das Münster am Thomaschor betrat. Zielstrebig ging sie die kleine Treppe hinauf, Schritt für Schritt, um in den Hochaltarraum zu gelangen. Im geschnitzten Chorgestühl rechts setzte sie sich, holte ihr Gebetbuch heraus, bekreuzigte sich und begann leise zu beten. Gegenüber sah sie die Türe der Sakristei, die wie immer offen stand. Da betrat ein Mann den Altarraum und schaute sich verstohlen um. Er hatte einen hellen Trenchcoat an, sein schwarzer Filzhut war tief ins Gesicht gezogen.

»Den Hut könnte er wenigstens abnehmen«, sagte sie halb laut.

Sie kannte ihn nicht, obwohl sie meinte, ihn schon mal gesehen zu haben.

Der Unbekannte ging die Stufen der Marmortreppe hoch und lief eilig in die Sakristei. Karla versuchte, sich auf ihr Gebet zu konzentrieren. Nach kurzer Zeit hörte sie zwei Leute reden. Die eine Stimme war die des Mesners Karl Brunner. Die andere des fremden Mannes mit dem Trenchcoat. Die Unterredung der beiden wurde immer heftiger, der Unbekannte immer lauter. Sie vernahm Sprachfetzen wie »Ich lasse mich nicht erpressen« und »Ich bringe dich um«.

Auf einmal hörte sie einen Knall, der die Kirche ausfüllte. Ein Schuss, ging es ihr durch den Kopf. Sie eilte, ihr Bein nachziehend, zum Eingang der Sakristei, stand davor und traute sich nicht hinein.

»Herr Brunner?«

Es meldete sich niemand.

»Kann ich Ihnen helfen? Ich komme.«

Sie betrat die untere Sakristei, sah den langen Tisch, an dem man den Priester ankleidete für die Messe. Darüber die Holzschränke, die teilweise offen standen. Karla sah die Kelche und verschiedene andere kirchliche Utensilien, nur der Mesner war nirgends zu finden.

»Herr Brunner, wo sind Sie? Ich habe Sie doch gehört!«

Da sah sie auf der kleinen Steintreppe, die zur oberen Sakristei führte, etwas liegen. Sie ging hin und hob ein blaurotes Seidenhalstuch auf. Das steckte sie aufgeregt in ihre Manteltasche, sodass ein Teil noch heraushing. Nun schleppte sie sich mühevoll die kleine Treppe hinauf. Von den Längswänden auf der rechten Seite bis zur Mitte des Raumes standen neumodische Schränke, in denen die Ministrantenkleider aufbewahrt wurden. Sie schlich langsam daran vorbei. Nur ihren Stock hörte man: »klack, klack, klack.«

Sonst war es totenstill. Karla merkte, wie die Angst ihr über den Rücken kroch und Gänsehaut sich breitmachte.

Ob es besser wäre umzukehren?, dachte sie.

Dabei ging sie immer weiter auf den älteren, wuchtigen Schrank zu, der an der hinteren Stirnwand auf der rechten Seite stand. Sie öffnete die Türe, aus dem ihr etwas entgegenflog und auf dem dunklen Parkettboden landete. Sie beugte sich über ihn, erkannte im schwachen Licht den Münstermesner Karl Brunner und sah ein blutendes Loch an der linken Schläfe. Karla schrie auf und hielt sich sofort ihre Hand auf den Mund. Verängstigt schaute sie sich um, aber niemand war da. Da hörte sie ein leises Schnaufen. Irgendwo hinter den Schränken musste jemand stehen, der sie beobachtete. Sie drehte sich schnell um und lief so rasch sie konnte aus der Sakristei in den Altarraum des Münsters hinein, hatte Todesangst, wollte nur weg. Karla spürte, dass sie verfolgt wurde.

»Wenn es bloß schneller ginge«, sagte sie zu sich, während sie im Thomaschor, dem linken Seitenaltar der Kirche, ankam.

Sie keuchte, bekam kaum Luft, kam an die zweiflügelige Holztüre, öffnete sie und stand im steinernen Kreuzgang. Nun versuchte sie, durch die Doppelglastüre hinaus auf den Münsterplatz zu eilen. Auf dem unebenen Kopfsteinpflaster Richtung Brückengasse kam sie nur langsam voran, weil es regnete und der Boden rutschig war. Plötzlich stolperte sie, konnte sich gerade noch halten. Während sie weiterlief, drehte sie sich um und sah eine Gestalt, die ihr folgte. Diese kam immer näher auf sie zu. Fast war sie am Ziel, etwa hundert Meter vor ihrer Wohnung, da entdeckte sie einen tiefen Eingang im letzten Haus auf dem Münsterplatz. Dort lief sie hinein und betete leise:

»Herr, lass die Türe auf sein und rette mich.«

Sie drehte den schwarzen Türknopf, die Tür öffnete sich und sie flüchtete in das Treppenhaus. Durch das Fenster neben der Haustüre sah sie ihren Verfolger, der direkt vor dem Haus stand. Der Mann schaute sich suchend um. Nach etwa einer Viertelstunde, die Karla wie eine Ewigkeit vorkam, verschwand der Unbekannte. Er lief am linken Seiteneingang des Münsters vorbei, den kleinen Berg hinunter Richtung Stadttheater. Sie wartete eine Weile, sah sich ängstlich um und ging langsam in die Brückengasse. Plötzlich merkte sie, dass ihr Gebetbuch noch im Chorgestühl lag. Keine zehn Pferde hätten sie jedoch nochmals in die Kirche gebracht.

Als sie die Wohnungstüre aufschloss, kam Frank, ihr Ehemann, auf sie zu.

»Wo bleibst du denn? Es ist nach ein Uhr, ich habe mir Sorgen gemacht. Du weißt, ich finde es nicht gut, dass du jeden Abend so spät ins Münster gehst!«

Erst jetzt sah er ihre Tränen. Er nahm sie in die Arme und sie weinte los.

Dienstag, 15. März 2011

6 Uhr

Die Frühjahrssonne streckte ihre ersten wärmenden Strahlen durch den wolkenverhangenen Himmel. Kurt Eisenreich lag noch eingekuschelt in seiner braunen Wolldecke. Es roch nach Alkohol und Nikotin. Er übernachtete im Seitenportal des Münsters, neben dem Kreuzgang. Um ihn herum ein rotes Kissen, ein olivgrüner Rucksack und die Zweiliterflasche Rotwein. In seinem grauen schmutzigen Schlapphut, der umgekehrt auf dem Boden stand, lagen vier Eurostücke. Die steckte er ein und freute sich über die unerwartete Spende. Der 43-jährige schlanke Stadtstreicher hatte einen ungepflegten braunen Vollbart und schüttere Haare. Jetzt fiel ihm ein, dass er spätestens um sieben Uhr weg sein musste, um diese Zeit sperrte der Münstermesner die Türen auf. Mit dem war nicht gut Kirschen essen. Der war dagegen, dass er nachts hier schlief. Aber Münsterpfarrer Geiger hatte es ihm erlaubt. Er stand auf, legte seine Decke zusammen, räumte die anderen Utensilien weg und packte die angebrochene Weinflasche in seinen Rucksack. Mit der Wolldecke versuchte er die Rotweinflecken auf dem Steinboden zu entfernen. Als ihm das nicht gelang, fluchte er leise:

»Kruzifix noch mal, wenn das der Mesner sieht, gibt es Ärger. Wieso geht der Scheiß auch nicht weg.«

Er hob noch mehrere selbst gedrehte filterlose Zigarettenstummel auf, die von der letzten Nacht übrig geblieben waren. Eisenreich wollte auf die Marktstätte gehen, zur Unterführung, wo er den Tag verbrachte. Da sah er einen hellen Trenchcoat und einen schwarzen Filzhut in der Ecke auf dem Boden liegen.

»Dies hat mir ein christlicher Mensch hingelegt«, sagte er zu sich und zog die Sachen an. Als er seine Hand in die rechte Manteltasche steckte, spürte er einen länglichen Gegenstand. Er schaute ihn genau an und flüsterte:

»Ein Klappmesser, das kann ich gut gebrauchen.«

Emeran Schächtle wühlte mit beiden Händen seufzend durch seine schwarzen Haare. Heute Morgen war er gegen zwei Uhr mit dem Zug von Wiesbaden in seine Heimatstadt Konstanz zurückgekehrt. Er stand auf der Marmortreppe vor dem roten mittelalterlichen Haus seines Vaters in der Gerichtsgasse, im Stadtteil Niederburg. Wie immer sah er gepflegt aus, hatte einen dunkelblauen Anzug, ein weißes Hemd und eine feuerrote Krawatte an. Darüber einen dunkelblauen dünnen Stoffmantel, den er offen ließ. Er schweifte seinen Gedanken nach:

Als er dreizehn Jahre alt war, wollte er in die Straßenbande vom Stadtteil Paradies aufgenommen werden. Das Aufnahmeritual war, von einem Menschen etwas zu stehlen. Lange hat er sich davor gescheut, es zu tun. Eines Tages kam die Bande auf ihn zu, forderte dies unverzüglich von ihm ein. Sie gingen zum Kaufhaus Hertie in der Altstadt. Dort riss er einer älteren Frau die Handtasche weg und rannte zum Ausgang. Die kreischte alles zusammen, dass sich sofort mehrere Passanten um sie kümmerten. Im Eingangsbereich standen seine Kumpels erwartungsvoll und beobachteten ihn. Kurz bevor er die Türe erreichte, schnappte ihn der Kaufhausdetektiv und übergab ihn dann der Polizei. Als das die Bande sah, bekamen sie Angst und rannten weg.

Kriminalkommissar Wolfgang Ambs nahm den Festgenommenen ins Gebet:

»Du bist bis jetzt noch nicht bei uns aufgefallen. Aber mach nur weiter so, wenn du dir die Zukunft versauen willst. Beim nächsten Ding landest du im Gefängnis, das garantiere ich dir. Es fängt mit Diebstahl an und hört mit Mord auf.«

Da der Junge strafunmündig war, konnte ihm nicht viel geschehen. Die Worte des Kommissars hat er nie vergessen. Als er von den Polizeibeamten heimgebracht wurde, nahm ihn sein Vater zur Seite und gab ihm einige Ohrfeigen. Doch dann drückte er ihn weinend an sich.

»Du hast uns enttäuscht, Emeran. Stiehlst einer Frau die Handtasche. Haben wir dir nicht alle Freiheiten gelassen? Wieso machst du so was? Deine Mutter weint die ganze Zeit. Wir können uns nirgends mehr sehen lassen. Du bist doch unser Einziger, warum bestiehlst du jemanden? Willst du im Gefängnis landen?«

Er wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Es tat ihm leid, dass er sich dazu hatte überreden lassen. Er schämte sich für das, was er gemacht hatte. Emeran wurde für drei Tage in sein Zimmer gesperrt, durfte zum Essen nicht an den gemeinsamen Tisch kommen. Sein Vater sah keine andere Möglichkeit mehr, als ihn auf ein Internat nach Bayern zu schicken. Das katholische Landschulheim in Grunertshofen lag im Landkreis Fürstenfeldbruck. Das war die größte Strafe für den Jungen. Denn lange brauchte er, bis er sich dort eingelebt hatte.

In ihm reifte täglich der Wunsch, zur Polizei zu gehen. Wolfgang Ambs wurde sein großes Vorbild. In den Schulferien besuchte er ihn bei der Kriminalpolizei am Lutherplatz in der Konstanzer Altstadt.

Seine Eltern wohnten als selbstständige Gemüsebauern in der Fischenzstraße im Stadtteil Paradies. Ihr Sohn sollte den Betrieb übernehmen. Der wollte aber nicht, machte nach seiner Internatszeit zuerst eine Ausbildung als Maler und Lackierer. Kriminalkommissar Ambs hatte sich dafür eingesetzt, dass er nach der Malerlehre zum Bundesgrenzschutz kam, auch gegen den Widerstand seiner Eltern. Die hatten es akzeptiert, weil sie glaubten, das mache er statt des Grundwehrdienstes bei der Bundeswehr. Franziskus Schächtle war der festen Meinung, dass sein einziges Kind nach zwei Jahren zurückkommt, um im eigenen Betrieb zu arbeiten. Es gab eine Auseinandersetzung mit den Eltern, als Emeran mitteilte, dass er nicht daran denke, Gemüsebauer zu werden. Während seiner Ausbildung beim Bundesgrenzschutz hatte er seine große Liebe Elvira kennengelernt. Er bewarb sich bei der damals neuen Spezialeinheit GSG 9 und war bei der Befreiung des Flugzeuges Landshut in Mogadischu dabei. 1980 gingen beide zum Bundeskriminalamt nach Wiesbaden und haben 1985 geheiratet. Als ihre zwei Kinder Thomas und Franziska geboren wurden, waren sie die glücklichste Familie der Welt. Doch was im letzten Jahr geschah, das war unbegreiflich.

Emeran Schächtle ging in den mit Kopfsteinpflaster belegten Hof, an dem kleinen Steingarten vorbei, in die Gerichtsgasse hinein. Er schaute von dort direkt auf den stattlichen Kirchturm des Münsters. Der große schlanke Fünfundfünfzigjährige strich sich mit dem Zeigefinger über seinen grau-schwarzen Schnurrbart, den seine Frau so liebte. Er war auf dem Weg in die Stadt, die er so lange Zeit nicht mehr gesehen hatte. Es roch nach blühenden Blumen, die Sonne schien recht kräftig für diese Jahreszeit, man merkte, dass es Frühling wurde.

»Emeran, bist du es wirklich?«, hörte er eine Stimme hinter sich.

Er drehte sich um, sah einen älteren, mittelgroßen Mann mit dünnen grauen Haaren. Ein buschiger, weißer Schnauzbart zierte sein faltiges Gesicht.

»Ja, Wolfgang, es freut mich, dich zu sehen!«

Kriminalhauptkommissar Ambs stand vor ihm. Sie umarmten einander freudig.

»Jetzt im Ruhestand?«

»Ja, seit Anfang letzten Jahres. Zuletzt war ich der Leiter des Dezernats für Tötungsdelikte. Die Stelle ist immer noch nicht besetzt. Solltest du Interesse daran haben, setze ich mich gerne für dich ein«, antwortete der pensionierte Kriminalbeamte.

»Nein danke, ab April bin ich dein Nachfolger.«

»Mensch Emeran, das finde ich gut. Ich dachte schon, dass Auer die Stelle bekommt.«

»Wer ist Auer?«

»Kriminalkommissar Auer ist der derzeitige kommissarische Leiter des Dezernats. Soviel ich weiß, hat er sich als mein Nachfolger beworben. Er wäre nicht der richtige Mann dafür, weil er egoistisch ist und mit Menschen nicht umgehen kann.«

»Warten wir es ab, ich werde ihn ja noch kennenlernen.«

»Sollen wir einen Kaffee zusammen trinken? Hast du Zeit?«

Sie standen vor dem Café Wessenberg, schräg gegenüber dem Münster, gingen hinein und setzten sich auf die Barhocker an der Theke. Es roch angenehm nach frischem Bohnenkaffee. Schächtle holte seine Pfeife raus und stopfte sie mit Tabak.

»Lass das, hier wird nicht geraucht wegen des gesetzlichen Nichtraucherschutzes. Der Wirt hat erst neulich einen prominenten Schriftsteller deswegen rausgeschmissen!«

Er steckte seine Rauchutensilien weg, Ambs bestellte für beide einen Milchkaffee.

»Jetzt erzähle, wieso lässt du dich nach Konstanz versetzen? Immerhin hast du einen guten Posten beim BKA gehabt. Doch nicht wegen deiner Mutter? Ich weiß, dass sie Ende Januar an Krebs gestorben ist.«

»Deshalb ist es nicht. Vater fehlt sie zwar, aber er kommt in der Zwischenzeit damit zurecht. Elvira ist tot und ich konnte nicht mehr in Wiesbaden bleiben.«

»Dann stimmt es also, was ich gehört habe. Ich wollte es nicht glauben. Was ist passiert?«

»Die letzten zwei Jahre war ich als verdeckter Ermittler im Untergrund tätig. Ich wurde in ein Verbrechersyndikat eingeschleust, das Frauen aus dem Ausland, hauptsächlich aus den Ostblockstaaten, nach Deutschland verschleppten und illegalen Bordellen zum Kauf anbot. Der Drahtzieher der Bande war ein gewisser Fabrizio Creola, ein Italiener. Ich brauchte lange, um mit ihm in Kontakt zu kommen. Er war vorsichtig und traute keinem. Die Orte, wo man die Ware übergab, wie er es nannte, sind immer kurzfristig von ihm bekannt gegeben worden.«

Schächtle stierte zum Fenster hinaus, spielte mit einigen Bierdeckeln. Man merkte, es fiel ihm schwer, darüber zu sprechen.

»Doch diesmal hatte ich es, durch seine Freundin Lucia, früher mitbekommen. Bei diesem Treffen wollten wir die Bande verhaften und unschädlich machen. Aber Fabrizio muss davon erfahren haben. Als wir den Zugriff starteten, hat er mich mit mehreren Schüssen niedergestreckt. Ich sah noch, wie Elvira schrie und auf Creola zurannte.«

Er unterbrach, die Tränen standen ihm in den Augen. Er nahm sein weißes Taschentuch, wischte sich den Schweiß vom Gesicht.

»Wenn es dir schwerfällt, darüber zu reden, lass es«, meinte Ambs.

Doch Schächtle antwortete nicht, sondern erzählte weiter:

»Im Fallen zog ich meine Dienstwaffe, schoss auf ihn. Auf einmal wurde es dunkel um mich. Ich war in Lebensgefahr, lag einige Tage im Koma. Als ich aufwachte, erfuhr ich, dass Elvira durch meine Kugel getötet wurde. Sie ist mir direkt in die Schussbahn reingelaufen. Ich wollte nicht mehr leben. Meine Kinder Thomas und Franziska waren bei mir im Krankenhaus. Sie sind der Grund, weshalb ich mich nicht umgebracht habe.«

»Und sie haben dich überredet, weiterzumachen?«

»Ja, Elvira hätte es auch gewollt, aber ich brauchte lang, bis ich mich entscheiden konnte. Franziska hat sich mit Eugen Schmitz, ihrem Patenonkel, in Verbindung gesetzt. Du müsstest ihn kennen, er ist der Leiter der Kripo Konstanz und war mit mir beim BKA. Er hat dafür gesorgt, dass ich aufgrund meiner psychischen Probleme eine Sondergenehmigung bekam, um als Kriminalbeamter weiter arbeiten zu dürfen.«

»Ja, ich habe noch kurz mit ihm zu tun gehabt. Habt ihr das Syndikat mit Creola und seiner Freundin geschnappt?«

»Die Mädchenhändler wurden von uns alle verhaftet. Lucia fand man wenig später tot in ihrem Haus. Sie ist mit einer Maschinenpistole regelrecht hingerichtet worden. Fabrizio ist seit dem Tag unauffindbar. Ich vermute, er ist nach Italien geflohen, kommt garantiert bald zurück, um weiterzumachen, wo er aufgehört hat.«

»Bei dir ist alles in Ordnung?«

»Nein, ich habe Angst zu schießen und Sachen zu entscheiden. So was kannte ich früher gar nicht. Ich fange an zu zittern und habe mich nicht unter Kontrolle. Meine Nerven spielen mir einen Streich. Fast wie bei einem Epileptiker. Es ist nicht mehr so, wie es einmal war.«

»Das legt sich bald. Schließlich war das ein Unglücksfall. Nach vorn schauen, das Leben geht weiter.«

»Mir fehlt Elvira so!«, schrie Schächtle und fing an zu weinen.

Ambs umarmte ihn väterlich und versuchte zu trösten.

Da klingelte das Handy.

»Emeran, hier spricht Eugen Schmitz. Ich hoffe, du bist bereits in Konstanz.«

»Ja, bin heute Morgen angekommen.«

»Ich brauche dich dringend. Der Mesner vom Münster ist in der Sakristei ermordet gefunden worden. Kannst du das Dezernat übernehmen?«

»Eugen, du weißt, dass ich derzeit noch mit mir selbst viel zu tun habe. Ich bin noch nicht so weit.«

»Emeran bitte, ich bin in einer Zwickmühle. Dem kommissarischen Leiter Franz Josef Auer kann ich das nicht zumuten. Der ist nicht fähig, diesen delikaten Fall mit dem nötigen Fingerspitzengefühl zu bearbeiten. Unsere Staatsanwältin macht mir Druck. Dir ist doch bekannt, was für einen Stellenwert das Münster in Konstanz hat. Ich brauche dich dringend.«

Schächtle überlegte und blickte zu Ambs.

»Emeran, bist du noch dran?«

»Ja, ich denke nach. Wo soll ich hinkommen?«

Kurt Eisenreich war auf dem Weg zum Treffpunkt der Nichtsesshaften im Zentrum der Altstadt. Er lief langsam, seine Beine machten nicht mehr mit. Jeder Schritt tat ihm weh. Er schlurfte über die Brotlaube, an der Seniorenresidenz Tertianum vorbei, auf die Marktstätte. Konstanz wachte auf. Man sah überall Lastwagen, die ihre Waren an die Einkaufsläden brachten. Bis um zehn Uhr sollten sie fertig werden, bis dahin musste die Fußgängerzone autofrei sein. Aus allen Ecken kamen umhereilende Menschen. Auch einige Touristen waren schon unterwegs und warteten, dass die Geschäfte und Cafés öffneten. Eisenreich ging in die Fußgängerunterführung hinein, die zu den Bodenseeschiffen führte. In der Mitte war der Treffpunkt der Nichtsesshaften. Dort hielt man sich auf, bis es Abend wurde. Man durfte keinen Ärger machen oder sich mit Passanten anlegen. Ab und zu bekam man ein paar Euros.

»Hey Kurti, wo hast du den Mantel und den Hut her?«, fragte Edi.

Der war dick und jünger als Eisenreich, ungepflegte Bartstoppeln im Gesicht.

»Ein unbekannter Christ hat es mir geschenkt.«

»Tu nicht so scheinheilig, der ist garantiert geklaut. Übrigens wo ist die Flasche Rotwein? Du bist jetzt mal dran«, sagte Ossi, der so schlank war wie Eisenreich, dafür kleiner und eine Glatze hatte. Der Zwerg, wie er genannt wurde, baute sich vor ihm auf, um zu provozieren. Eisenreich packte ihn am Kragen und stieß ihn weg. Ossi lag mit dem Rücken auf dem Boden, nahm eine leere Flasche, wollte sie auf dem Kopf seines Gegners zerschlagen. Da kam Edi dazwischen, schlug ihm den Gegenstand aus der Hand, die Flasche zerschellte auf dem Asphalt.

»Hört auf damit, sonst werden wir weggejagt.«

Plötzlich zog Eisenreich das Klappmesser aus der Manteltasche, ging auf seinen Widersacher zu.

»Du wolltest mich töten, du Ratte?«, seine Stimme wurde immer lauter und piepsiger.

Fußgänger blieben stehen und beobachteten die Szene.

»Nein, ich wollte dich nicht umbringen. Glaube mir Kurti, es war eine Kurzschlussreaktion. Du weißt doch, wie unbeherrscht ich bin.«

Plötzlich nahm Ossi die rechte Hand des Gegners mit dem Messer und rammte dieses in dessen linke Schulter hinein. Kurt Eisenreich schrie auf und sah, dass er stark blutete. Da versuchte der Täter an das Messer zu kommen, doch sein Opfer war schneller. Beim Herausziehen mit seiner rechten Hand verkantete Eisenreich die Waffe und zog sich noch zusätzlich einen länglichen Schnitt zu. Da schrie er nochmals auf, lauter als zuvor. Die Wunde blutete noch mehr und das Blut strömte über den Arm auf den Boden. Mit letzter Kraft nahm er die Waffe und stach unkontrolliert mehrmals auf den Zwerg ein. Dann rutschte er die kalte Steinwand herunter und wurde ohnmächtig. Das gelbe Hemd färbte sich blutrot und Ossi brach zusammen.

Von Weitem hörte man das Martinshorn der Polizei.

Emeran Schächtle stand im Altarraum des Münsters. Er erinnerte sich an seine Jugendzeit, als er Ministrant war.

»Hier haben vor über fünfundzwanzig Jahren Elvira und ich geheiratet«, sagte er leise.

Im rechten Chorgestühl entdeckte er auf der Ablage ein weißes Gebetbuch. Er schlug es auf und las den Namen: Karla Grunert.

Es muss ein Kommunionbuch sein, dachte er.

Er steckte es in die Seitentasche seines Mantels und betrat die Sakristei.

»Hallo, jemand da? Hier ist die Kriminalpolizei.«

»Wir befinden uns im oberen Raum«, hörte er eine Stimme.

Er ging die kleine Steintreppe hinauf, alles war ihm so bekannt. Nun sah er den Pfarrer, die Putzfrau und zwei uniformierte Polizisten. Da kam einer auf ihn zu:

»Sie sind doch nicht von der Kripo, ich kenne Sie nicht.«

Er zeigte seinen BKA-Dienstausweis:

»Kriminalhauptkommissar Emeran Schächtle, seit heute der Leiter vom Dezernat für Tötungsdelikte. Kriminaloberrat Eugen Schmitz hat mich gebeten, die Ermittlungen zu übernehmen.«

»Polizeikommissar Frank Schiele und meine Kollegin Polizeiobermeisterin Tamara Heiler. Wir sind zum Tatort gerufen worden und warten auf die Kripo. Können wir gehen?«

»Bleiben Sie noch, bis die Kollegen eintreffen.«

»Ich bin Kooperator Walter Kleiner, unsere spanische Putzfrau Esmeralda Martinez hat den toten Mesner gefunden«, stellte sich der schlanke Priester vor.

»Ja, als heute Morgen putzen wollen. Sagen Padre, dieser Polizia holen«, rief die kleine, dickliche Spanierin aufgeregt.

»Die Leiche ist hinten am Schrank, Kommissar. Aber erschrecken Sie nicht, es befindet sich ein Abort darin«, informierte der 28-jährige braunhaarige Geistliche.

»Ich weiß, Herr Kleiner, ich war in meiner Jugendzeit Ministrant im Münster.«

Der Priester wollte zu dem Toten gehen.

»Wir warten, bis die KTU da ist. Nicht, dass noch Spuren zerstört werden«, meinte Schächtle etwas ängstlich.

Da hörte er Stimmen aus der unteren Sakristei.

»Unser zukünftiger Chef war einer der genialsten Köpfe in Wiesbaden, mit einer überdurchschnittlichen Aufklärungsrate«, vernahm er eine helle Stimme.

»Ja, das hat mir Schmitz auch gesagt. Aber weil er seine Ehefrau erschossen hat, ist er ein Psycho geworden. So einer soll das Dezernat leiten?«, hörte er eine Bassstimme.

»Dirk, was meinst du?«, fragte die weibliche Stimme.

»Wie immer nichts, der hat doch keine Meinung«, sagte der tiefe Bass.

Er hatte genug gehört und ging nach unten.

»Ich bin Emeran Schächtle, es ist nett, wenn man so sehnsüchtig erwartet wird«, stellte er sich vor.

»Haben Sie das alles mitbekommen? Ich bin Kriminalobermeisterin Angelika Fischer«, sagte eine 32-jährige schlanke Frau mit Sommersprossen im Gesicht und ging lachend mit strahlend weißen Zähnen auf ihn zu.

Neben ihr stand ein wuchtiger glatzköpfiger Mann. Es war bedrohlich, wie dieses Muskelpaket auftrat.

»Kriminalkommissar Franz Josef Auer, Herr Hauptkommissar. Ich war bis jetzt der kommissarische Leiter des Dezernats. Sie sind also der Superbulle vom BKA«, sagte der 45-Jährige mit seiner tiefen, lauten Stimme.

Er faltete seine Hände wie zum Gebet und nickte ihm zu.

Schächtle schaute ihn kritisch an und wusste, dass er es mit ihm nicht einfach haben würde.

»Und wer ist der schüchterne dunkelblonde Jüngling da hinten?«

Der Hauptkommissar zeigte auf einen mittelgroßen, etwas untersetzten Mann.

»Kriminalmeister Dirk Steiner«, antwortete der 25-Jährige und gab ihm die Hand.

»Sie sind von Eugen Schmitz bereits informiert worden?«

»Ja, er hat uns vor Ihnen gewarnt«, meinte scherzhaft die aparte Kriminalobermeisterin Fischer und wischte sich ihre schulterlangen roten Haare aus dem blassen Gesicht.

»Können Sie sich ausweisen, Herr Schächtle?«, fragte das Muskelpaket recht aggressiv.

»Hör auf, Franz Josef, das ist unnötig«, fauchte Fischer.

»Lassen Sie ihn, er darf misstrauisch sein. Ich kenne Sie genau, denn ihre Akten bekam ich nach Wiesbaden. Sie, Auer, sind fünfundvierzig, seit zehn Jahren bei der Kripo, davon drei in diesem Dezernat. Sie sind verheiratet und haben zwei Kinder. Kollegin Fischer ist zweiunddreißig, ledig und vor zwei Jahren von der Schutzpolizei Singen zur Kripo Konstanz gekommen.«

»Und sie mag auch Frauen.«

»Auer, das ist unpassend. Halten Sie sich zurück«, sagte Schächtle ärgerlich.

»Steiner ist fünfundzwanzig, nicht verheiratet und seit einem Jahr bei der Kripo. Zuvor war er bei der Schutzpolizei Stuttgart. Genügt das als Beweis?«

Er streckte noch seinen Dienstausweis vom BKA entgegen.

»Franz Josef, du bist wie immer peinlich«, sagte Fischer.

In der Zwischenzeit war die KTU mit dem Rechtsmediziner Dr. Walter Spaltinger eingetroffen. Als Schächtle und seine Mitarbeiter in die obere Sakristei kamen, wurde der Getötete von dem Rechtsmediziner untersucht. Hauptkommissar Schächtle blieb ungefähr fünf Meter vor der Leiche stehen.

»Können Sie was sagen, Doc?«, rief er.

»Es könnte Selbstmord sein. Er hat ein Loch in der linken Schläfe. Mit Sicherheit ein aufgesetzter Schuss, der sofort tödlich war. Kommen Sie doch her, dass ich nicht so schreien muss«, antwortete der große, glatzköpfige Fünfzigjährige.

Schächtle war jetzt etwa zwei Meter von dem Ermordeten entfernt, als der Rechtsmediziner ihn am Genick packte und zur Leiche hinunterdrückte:

»Der macht Ihnen nichts mehr. Wie Sie sehen, ist das Einschussloch an der linken Schläfe. Die versengte Haut sagt mir, dass der Schuss aufgesetzt war.«

Schächtle wurde übel, er sah abwechselnd das Gesicht des toten Mesners und das seiner erschossenen Frau.

»Reiß dich zusammen, es ist nicht Elvira«, flüsterte er zu sich.

»Haben Sie was gesagt?«, erkundigte sich Spaltinger und grinste dabei.

»Wurde die Tatwaffe gefunden?«, fragte Schächtle, als er sich ängstlich schnell von der Leiche entfernte.

»Ja, sie war in der rechten Hand des Opfers«, antwortete Klaus Ringer, der Leiter der KTU.

»Es war kein Selbstmord. Ein Rechtshänder schießt nicht in seine linke Schläfe.«

»Wie kommen Sie darauf, dass der Tote Rechtshänder war, Herr Schächtle?«

»Ganz einfach, weil die Pistole in der rechten Hand gefunden wurde. Sollte er Linkshänder sein, hat ihm sein Mörder die Pistole in die falsche Hand gelegt. So oder so, es war Mord, Herr Ringer.«

»Können Sie was wegen des Todeszeitpunkts sagen?«, fragte Fischer.

»Erst nach der Obduktion«, antwortete Spaltinger.

»Nur ungefähr.«

»Geschätzt zwischen zehn und ein Uhr letzte Nacht.«

»Das ist euer Chef? Ich habe noch nie einen Kriminalbeamten gesehen, der so viel Angst vor einer Leiche hatte«, flüsterte der Rechtsmediziner Auer zu.

»Der ist ein Psycho, nur durch Protektion von Schmitz an den Posten gekommen.«

»Chef, fahren Sie mit ins Präsidium?«, fragte Angelika Fischer, als sie das Münster verließen.

»Nein, ich komme mit dem Fahrrad nach.«

Schächtle fuhr über den Radweg der Rheinbrücke zum Benediktinerplatz im Stadtteil Petershausen, wo sich seit einigen Jahren das neue Polizeipräsidium befand. Als er den wuchtigen ockerbraunen Altbau von 1876 sah, ging es ihm durch und durch.

Ich bin daheim und werde hier arbeiten, dachte er.

Er betrat das Haus und stellte sich beim Pförtner vor. Dann lief er in den ersten Stock, wo sich die Räume der Kriminalpolizei befanden. Er öffnete die letzte Türe links, das Dezernat für Tötungsdelikte. Die Zimmer waren hell und freundlich gestrichen. Im vorderen Raum standen drei robuste Eichenholzschreibtische, auf jedem ein Computer. Der hintere Raum war etwas kleiner, aber die Einrichtung war die gleiche. Auer, Fischer und Steiner saßen an ihren Arbeitsplätzen.

»Ihr Büro ist da hinten«, sagte die Rothaarige und zeigte mit dem rechten Finger auf den kleineren Raum.

»Sie sollen sofort zum Kriminaloberrat kommen. Sie finden ihn einen Stock höher«, sagte Auer.

Als er das Zimmer im zweiten Stock betrat, saß hinter einem pompösen, mit Holzintarsien versehenen Schreibtisch sein alter Freund Eugen Schmitz. Der 55-jährige große und kräftige Mann stand auf, ging auf ihn freudig zu und umarmte ihn fest:

»Endlich bist du da, Emeran!«

Schächtle nickte und bekam feuchte Augen.

Der glatzköpfige Kriminaloberrat gab ihm den Dienstausweis und die Marke der Kripo Konstanz.

»Gib mir noch die Legitimation vom BKA. Deine Dienstwaffe bekommst du oben im Waffenlager.«

»Nein, Eugen, ich will keine Waffe. Du weißt warum.«

»Ja, aber ich muss darauf bestehen. Du kennst die Vorschriften.«

»Gut, ich hole sie und werde sie im Schreibtisch verstauen, vorläufig.«

Schmitz ging auf eine Diskussion mit seinem Freund nicht ein. Er kannte den Stursinn von Schächtle.