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Im Ferienlager treffen 60 Jungen und Mädchen aufeinander. Alle vereint der Wunsch, es ihren Eltern zu beweisen, dass sie alles ganz alleine können. Fast die wichtigste Aufgabe ist es, miteinander gut auszukommen. Zunächst sieht es gar nicht danach aus. Vor lauter Zankerei kommt kein Kind mehr zum Spielen. Dies ändert sich erst, als Helmut eine Idee hat: Machen wir es doch wie die Großen, schlägt er seinen Freunden vor, leben wir eine Demokratie zusammen! Diese Idee begeistert alle. Es gibt Wahlen mit verschiedenen Parteien und so wird ein Parlament gegründet, in dem sogar eine Koalition geschlossen wird. Dort wird über alles diskutiert und debattiert und zum Schluss abgestimmt. Es läuft alles wie am Schnürchen und die Ferien werden ein tolles Erlebnis mit vielen aufregenden Abenteuern.-
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Seitenzahl: 195
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Marie Louise Fischer
Das große Abenteuer der Freiheit
Mit Illustrationen von Walter Grieder
Saga Egmont
Krach im Ferienlager
Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof Forlag A/S
Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de)
represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)
Originally published 1958 by E. Schmidt, Germany
All rights reserved
ISBN: 9788711719435
1. Ebook-Auflage, 2017
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com
Es begann an einem Tag, der genauso sonnig, so strahlend und so heiter war wie jeder andere, seit die Kinder – fünfundvierzig Jungen und fünfzehn Mädchen – ihr Zeltlager am Rande des Waldes aufgebaut und bezogen hatten. Niemand von ihnen ahnte, daß ausgerechnet an diesem ganz gewöhnlichen Dienstag in den großen Ferien – es war der 9. August – irgend etwas Bedeutungsvolles geschehen würde, obwohl nachher natürlich alle sagten, daß es einfach passieren mußte.
Es war gegen elf Uhr vormittags. Das Lagerleben rollte wie an allen Tagen, seit Hans Helbig die Führung an sich gerissen hatte, reibungslos ab. Das Frühstück war längst vorbei, die Zelte aufgeräumt und kontrolliert, jeder war mit irgendeiner ihm aufgetragenen Arbeit beschäftigt. Die Jungen, die von Hans dazu abgeordnet worden waren, sammelten zwischen den Tannen Reisig für das Feuer, andere schleppten auf einem Leiterwagen Lebensmittel aus dem Dorf herbei, im Bach wurde Wasser für die Suppe geschöpft, der Lagerplatz nach Abfällen und Papierschnitzeln durchforscht, die vergraben oder verbrannt werden sollten, Zeltschnüre wurden angezogen und gelockerte Häringe neu befestigt.
Die Mädchen saßen in Gruppen vor ihren Zelten und schälten die Kartoffeln für das Mittagessen, und während die Messer von geschickten und unbeholfenen Händen rundum geführt wurden und eine nackte Kartoffel nach der anderen in die Töpfe plumpste, standen auch die Münder keinen Augenblick still. Eifrig, aber halblaut, fast gedämpft wurde die Unterhaltung geführt, als müßte man sich vor unbefugten Lauschern hüten, und sonderbarerweise beteiligte sich die dünne, langbeinige Hertha mit dem brennend roten Schopf, die sonst gerne das große Wort führte, heute morgen überhaupt nicht an dem Gespräch; sie war ganz mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt, und ihre Augen glitten immer wieder von der Arbeit fort und streiften über das Lager.
Hertha bewohnte zusammen mit der molligen, gutmütigen Anja, der wibbeligen blonden Hilde, der blassen schüchternen Resi und der kleinen Carola, genannt Rölchen, das Zelt am äußersten linken Flügel des Lagers. Von hier aus hatte man einen herrlichen Blick. Die Fünferzelte – zwölf an der Zahl – leuchteten weiß und rot und grau und grün gegen den dunklen Tannenwald, der das Lager nach Norden abschirmte. Die bunten Wimpel flatterten im lauen Wind, und drunten im Tal schimmerte lockend der klare See. Hübsch ordentlich standen die Zelte da, in gleichmäßigem Abstand bildeten sie einen leichten Bogen auf der Höhe des Hügels.
Alles in allem war es ein Bild fröhlichen Ferienfriedens, das sich Hertha bot; nur etwas wirkte bedrohlich – die merkwürdige Ruhe, die über dem ganzen Lager herrschte. Man hätte meinen sollen, daß sechzig Jungen und Mädchen die Luft mit Lärm und Geschrei, Lachen, Singen und Pfeifen erfüllt hätten, tatsächlich aber war fast nichts zu hören außer leisem Stimmengemurmel, einem kurzen Befehl hie und da oder einem unterdrückten Fluch.
Hans Helbig saß vor seinem Hauptquartier, dem mittelsten der fünfzehn Zelte, und besprach sich mit Liebknecht Müller, dem Lagerkoch, während er unentwegt an einem kräftigen Holzstab herumschnitzte – er konnte seine Hände nie unbeschäftigt lassen. Das Gespräch, das sich wahrscheinlich um den Speisezettel drehte, wurde immer wieder von einem von Hansens Trabanten unterbrochen, von Klaus oder Karl, den beiden K’s, wie sie im Lager genannt wurden, von Günther Furnickel oder Eberhard Brecht. Die Jungen erstatteten Hans Meldungen über ausgeführte Anordnungen oder beobachtete Mißstände und wurden stets gleich wieder mit neuen Befehlen losgeschickt.
Jetzt kam Theo Hoehmann an Hansens Zelt vorbeimarschiert, den Kopf, um den er einen recht übertriebenen Verband gewickelt hatte, hoch erhoben und mit einem Gesicht, als wenn Hans und seine Trabanten Luft für ihn wären. Auch Hans seinerseits schaute nicht auf, sondern beschäftigte sich nur noch intensiver mit seiner Schnitzerei. Theo Hoehmann war ein drahtiger kleiner Bursche mit hellem Schopf und lustigen Sommersprossen auf der Nase, der erklärte Gegner von Hans und seiner Lagerleitung. Er stand bei den anderen im Ruf, ein ziemlicher Angeber zu sein, obwohl niemand an seinem persönlichen Mut zweifeln konnte.
Während Hertha dies alles beobachtete und sich überlegte, was wohl Theos mächtiger Verband zu bedeuten hatte, lauschte sie gleichzeitig mit halbem Ohr auf die Unterhaltung der anderen.
Man sprach, wie schon allzuoft, über die plötzliche Erkrankung von Dr. Kirst, dem Lehrer der Jungen, der das Lager in allen Einzelheiten geplant und vorbereitet hatte, und von Fräulein Widemann, der Turnlehrerin, die sich am Tage vor der Abreise unglücklicherweise den Fuß gebrochen hatte. Wie immer wurde heftig darüber diskutiert, ob es richtig gewesen war, diese Tatsache den Eltern zu verschweigen und auf eigene Faust loszufahren, oder ob man doch besser und vernünftiger zu Hause geblieben wäre.
Die erste Zeit im Lager war schlimm gewesen, schlimmer als selbst die Ängstlichsten unter ihnen befürchtet hatten; jeder hatte geglaubt, nun seien die Tage der goldenen Freiheit fern von Eltern und Erziehern angebrochen, jeder hatte getan und gelassen, was ihm eben einfiel, tagsüber hatte es Zank, Streit und Unordnung und nachts Lärm und Unruhe gegeben.
Gott sei Dank, dies war nun vorbei, seit Hans Helbig mit starker Hand die Geschicke und die Leitung des Lagers an sich gerissen hatte – aber war dieser Zustand nun wirklich besser? War er wirklich gut? Das konnte keines der Mädchen aus ehrlichem Herzen behaupten.
»Wenn bloß dieser schreckliche Hans und seine Flegel sich ein bißchen besser aufführen würden!« seufzte Hilde und stach ihrer Kartoffel ein Auge aus.
»Es ist einfach ekelhaft«, stimmte ihr selbst die gutmütige Anja zu, »ewig rumkommandiert zu werden und das alles!«
»Was ist eigentlich mit Theo los?« mischte sich Hertha plötzlich in das Gespräch. »Er trägt einen dicken Verband um den Kopf.«
»Ja, hast du denn den Krach heute nacht nicht gehört?« piepste Rölchen erstaunt.
»Keinen Ton. Ich hab’ geschlafen!«
»Bei so einem Lärm kannst du schlafen?« wunderte sich Hilde. »Ich war sofort hellwach!«
»Was war denn los? Nun sagt doch schon!« drängte Hertha ungeduldig.
»Ich kann’s dir sagen«, piepste Rölchen eifrig, »ich hab’ vorhin gehört, wie die Jungens darüber geredet haben!«
»In Theos Zelt haben sie gestern nacht Karten gespielt«, erzählte Hilde, »noch nach elf Uhr … und da hat Hans die beiden K’s losgeschickt, und die haben Theo und die anderen furchtbar verprügelt! Das war der Krach!«
»Ist Kartenspielen denn verboten?« wunderte sich Resi.
»Keine Ahnung! Jedenfalls, ab neun muß geschlafen werden … das solltest du doch wissen!«
»Aber deshalb die anderen gleich verprügeln!«
»Das sind eben die Methoden von Hans … macht was dran!« erklärte Anja achselzuckend.
»Was mich am meisten ärgert … daß Hans immer dabeisteht, wenn wir ein Paket von zu Hause kriegen!« empörte sich Hilde. »Daß wir es vor seinen Augen aufmachen müssen … eine Affenschande ist das!«
»Ja, das ist wirklich ’ne Gemeinheit«, piepste Rölchen, »und dann nehmen sie uns alles Eßbare raus!«
»Gestern habe ich ein Paket von meiner Tante bekommen, da war Schokolade drin und was nicht alles … und was meint ihr, was ich davon behalten durfte? Nicht so viel!« Hilde schnippte wütend mit den Fingern.
»Hans ißt die Sachen ja nicht selber, er will sie doch nur gleichmäßig an alle verteilen«, erklärte Anja, »und damit hat er eigentlich recht, muß ich sagen. Stellt euch vor, wie das wäre, wenn einer den ganzen Tag Äpfel und Schokolade und Bonbons knabbern würde, und wir anderen könnten zuschauen!«
»Aber er darf das gar nicht!« protestierte Hilde. »Nicht ohne unsere Zustimmung! Wer hat ihm das überhaupt erlaubt?«
»Frag ihn das mal!« Anja grinste.
Aber Hilde war in Fahrt und ließ sich nicht so schnell bremsen. »Und dann das ekelhafte Kartoffelschälen«, schimpfte sie, »jeder Vormittag ist uns dadurch verkorkst!«
»Wenn jeder jeden Tag seine Kartoffeln schälen würde, dann wäre dies alles in einer Viertelstunde erledigt«, stimmte Resi ihr zu, und ihre blassen Wangen röteten sich, »und statt dessen …«
»Pst!« mahnte Anja, »da kommt wer!«
Hertha hatte schon seit einiger Zeit beobachtet, daß Günther Furnickel von einer Gruppe der kartoffelschälenden Mädchen zur anderen gegangen war und jetzt zu ihnen kam. Die Freundinnen sahen rasch auf, um sich sogleich mit verdoppeltem Eifer über ihre Arbeit zu machen.
»Hallo!« sagte Günther, aber niemand antwortete ihm.
Etwas verlegen trat er von dem einen Fuß auf den anderen, dann gab er sich einen Ruck und sagte beiläufig:
»Wollte nur mal sehen, wie weit ihr seid!«
Anja hob den Kopf und lächelte ihn freundlich an. »Ach … du willst uns wohl helfen?«
»Nein«, antwortete Günther noch verlegener, »ich … ich wollte nur … eben schaun!«
»Macht Spaß zuzugucken, wenn andere arbeiten, nicht wahr?« fragte Anja sehr süß.
»Hans hat mich geschickt!« erwiderte Günther patzig.
»Ach ja, der liebe Hans … wenn wir den nicht hätten!« sagte Hertha angriffslustig. »Wenn Hans was sagt, dann muß es natürlich geschehen!«
»Sicher!« entgegnete Günther wütend. »Er ist ja schließlich der Lagerleiter!«
»Hast ganz recht, Günther, sei immer hübsch brav und gehorsam, sonst setzt’s am Ende Prügel vom lieben Hans!«
»Er ist der Lagerleiter, deshalb gehorche ich ihm! Du glaubst doch nicht im Ernst, ich hätte Angst vor Prügel? Ich? Pah!«
»Und wer hat ihn dazu gemacht, zum Lagerleiter, wenn ich fragen darf?«
»Halt den Mund, Hertha … ich sag’s dir im Guten!«
»Warum? Darf man nicht mal fragen? Oder weißt du etwa keine Antwort drauf?«
»Ich finde, du hast allen Grund, Hans dankbar zu sein … du und die anderen auch! Wenn Hans nicht wäre …«
»… brauchten wir am Ende nicht jeden Tag Kartoffeln zu schälen, was?« fiel Hertha ihm ins Wort.
»Die Kartoffeln müssen geschält werden … das weißt du so gut wie ich!«
»Aber warum von uns? Warum immer von uns?«
Günther hatte eine Antwort schon auf den Lippen, aber was er eigentlich sagen wollte, wird nie ein Mensch erfahren, denn er schluckte heftig und erklärte dann: »Ich habe keine Lust, mich mit euch rumzuzanken! Befehl ist Befehl!«
»Aber ich lasse mir nichts mehr befehlen!« rief Hertha zornig und sprang auf. »Von niemandem, und schon gar nicht von deinem blöden Hans!«
Günther stand mit offenem Munde und starrte sie an. Herthas Benehmen erschien ihm so ungeheuerlich, daß er einfach keine Worte dazu fand.
Hertha warf die Kartoffel, die sie noch in der Hand hielt, mit energischem Schwung in den Topf, so daß das Wasser aufspritzte. »Und dies hier war die letzte Kartoffel, die ich geschält habe … die allerletzte, verstanden! Sag das deinem Hans … und einen schönen Gruß von mir!«
Günther hatte sich wieder gefaßt. Langsam und drohend trat er auf Hertha zu. Er war bei weitem nicht so groß wie die beiden bärenstarken K’s, aber ein sehniger, kräftiger Junge. »Was hast du gesagt?« fragte er, und seine Stimme klang gefährlich.
»Hertha, das kannst du doch nicht machen!« rief Anja erschrocken.
»Das ist einfach gemein!« schrie Hilde. »Sollen wir die Kartoffeln jetzt etwa alleine schälen?«
»Braucht ihr doch gar nicht! Wer zwingt euch denn dazu? Warum laßt ihr euch denn alles von diesen Flegeln gefallen?«
»Sag das noch mal!« – Günther stand jetzt ganz dicht vor Hertha, die unwillkürlich einen Schritt zurückwich und die Fäuste zur Abwehr ballte.
»Flegel seid ihr … alle!« wiederholte sie mit zitternder Stimme, rot vor Wut.
Da hatte Günther auch schon ihr Handgelenk mit schmerzhaftem Griff umfaßt.
»Au! Laß mich los!« Hertha versuchte sich loszureißen, aber Günthers Griff war eisern.
Verzweifelt zielte Hertha nach Günthers Schienbein, aber er wich ihr geschickt aus und drehte ihr das Handgelenk auf den Rücken, so daß sie völlig hilflos war.
»Willst du nun weiter Kartoffeln schälen oder …?« Günthers Stimme war rauh vor Empörung.
»Nein! Aua! Nein, ich will nicht!«
»Was ist denn hier los?« – Wie aus dem Boden gestampft tauchten die beiden K’s auf.
»Hertha weigert sich, Kartoffeln zu schälen«, erstattete Günther Bericht.
»Du bist wohl wahnsinnig geworden, was?« brüllte Klaus.
»Lange nicht mehr dein eigenes Geschrei gehört, wie?« trompetete Karl, das andere K.
»Ich glaube, wir sollten sie zu Hans bringen«, schlug Günther vor.
»Besser, wir verprügeln sie gleich!« meinte Klaus.
»Dazu brauchen wir Hans doch nicht!« erklärte Karl.
»Mädchen verprügeln?! Nee, ohne mich!« widersprach Günther. »Los, wir bringen sie zu Hans runter!«
»Na ja, von mir aus!«
»Einfacher wär’s anders!«
»Los, Hertha, Trab! Dalli ein bißchen!« trieb Günther seine Gefangene an.
Hertha machte einen letzten energischen Versuch, sich loszureißen. »Ihr braucht mich nicht festzuhalten!« schrie sie. »Ich komme schon allein mit!«
»Lieber nicht! Besser ist besser!« Und unbarmherzig wurde Hertha voran dirigiert.
Die anderen Mädchen ließen Kartoffeln Kartoffeln sein und folgten in einiger Entfernung dem Aufzug, und auch die Jungen von den anderen Zelten liefen herbei, um zu sehen, was es gäbe. Es war ein ganzer Schwarm Jungen und Mädchen, fast das ganze Lager, das interessiert zuschaute, als Hertha endlich vor Hans stand.
Hans erhob sich langsam, als er Hertha, gezerrt und gestoßen von Günther Furnickel und den beiden K’s, auf sich zukommen sah. Er klappte sein Taschenmesser zu, steckte es in die Hosentasche und stützte sich auf den Holzstab. Er trug nichts als Turnschuhe und eine kurze Leinenhose, sein braungebrannter Oberkörper glänzte.
»Ruhe!« sagte er, als die drei Jungen durcheinander berichteten. »Die Tatsachen, bitte, Günther!«
Günther erstattete Bericht, während sich die Schar der Neugierigen immer enger herandrängte. Und jetzt unterlief Hans, wie so manchem Diktator vor ihm, ein entscheidender Fehler. Er hätte besser alle, die nicht direkt mit dem Fall zu tun hatten, zurück an die Arbeit schicken sollen, aber das unterließ er. Vielleicht vergaß er es ganz einfach oder auch er hielt die Gelegenheit für günstig, seine Macht endgültig und ein für allemal zu festigen.
»Du willst also nicht arbeiten?« fragte er Hertha, und seine Stimme war betont ruhig. »Du willst also deine Pflichten der Gemeinschaft gegenüber nicht erfüllen?«
Hertha schwieg, aber sie erwiderte unerschrocken den Blick seiner scharfen blauen Augen.
»Los, raus mit der Sprache!« sagte Hans, immer noch sehr ruhig.
»Ich rede nicht, solange man mich festhält!« erwiderte Hertha trotzig.
»Laßt sie los!« befahl Hans.
Hertha rieb sich ihr gerötetes Handgelenk und warf Günther einen verächtlichen Blick zu.
»Also … wirďs bald?«
Hertha wandte sich Hans zu, ihr rotes Haar flammte. »Natürlich will ich arbeiten, aber freiwillig! Ich will mich nicht von früh bis spät kommandieren lassen … nicht von dir, Hans, und nicht von deinen Trabanten! Verstanden? Ich möchte gerne wissen, wer dir die Leitung des Lagers anvertraut hat! Dr. Kirst etwa oder Fräulein Widemann? Oder unsere Eltern? Von uns war es nämlich keiner, das weiß ich genau!«
Hertha hatte sehr schnell gesprochen, um nicht unterbrochen zu werden, und jetzt ertönte aus dem Kreis ringsum unmißverständliches Beifallsgemurmel. »Sie hat ganz recht!« rief Thomas, ein schwarzhaariger, glutäugiger Junge, hitzig. »Das möchten wir alle gern wissen!« Das Beifallsgemurmel verstärkte sich.
Hans wandte seinen Blick in die Richtung, aus der die respektlose Bemerkung gekommen war, aber Thomas, der ziemlich weit hinten stand, duckte sich rasch, weil er Angst vor seinem eigenen Mut bekommen hatte.
»Sonst noch was?« fragte Hans, so gelassen wie zuvor, und sah sich herausfordernd im Kreise um.
»Weiter nichts!« antwortete Hertha. »Wenn du uns das erklären kannst, dann will ich gerne acht Stunden am Tag Kartoffeln schälen, wenn es sein muß!«
»Nun hört mal zu«, begann Hans, »ihr wißt alle, wie es hier zuging, bevor ich …«
»Das hat nichts damit zu tun«, rief Hertha dazwischen, »überhaupt nichts! Lieber das größte Tohuwabohu als sich von einem Flegel wie dir und zwei Sitzenbleibern …« Hertha stockte mitten im Satz und sprang schnell zur Seite, denn Karls kräftige Faust kam auf sie zugeschossen.
Jeder im Lager wußte, daß Klaus und Karl sitzengeblieben waren, und jeder wußte auch, daß das ihre empfindliche Seite war.
Für Hertha kam dieser Angriff ganz und gar nicht überraschend. Es gelang ihr sogar, Karl schmerzhaft gegen das Schienbein zu treten.
Er schrie auf und wollte sich auf Hertha stürzen, aber da griff Theo, dessen Kopf immer noch von einem imponierenden weißen Verband geschmückt war, mit einem Sprung in den Kampf ein, Klaus kam Karl zu Hilfe, Thomas drängte sich mit plötzlichem Entschluß nach vorn, die Unzufriedenen im Lager warfen sich mit Karacho in das Gewühl. Hans hieb mit beiden Fäusten um sich, und seine Getreuen halfen ihm nach Kräften.
Die allgemeine Prügelei nahm ungeahnte Ausmaße an, es war schwer, Freund und Feind zu unterscheiden. Der trockene Sand wirbelte auf und tat das Seine dazu, die Verwirrung und die Wut zu vergrößern. Eine Gruppe von Jungen wurde gegen Hansens Zelt, das Hauptquartier, geworfen, und krachend stürzte es zusammen.
Der Kampf endete unentschieden. Es gab weder Sieger noch Besiegte, sondern nur Erschöpfte. Dennoch wußten alle, auch Hans, daß seine Macht endgültig gebrochen war.
Diesen Mittag gab es nur eine sehr dünne Suppe, da erst die Hälfte der Kartoffeln geschält worden war, und daß es überhaupt etwas zu essen gab, war nur dem uneigennützigen Pflichteifer Liebknecht Müllers zu verdanken. Die Stimmung im Lager war gedrückt, wenn möglich noch gedrückter als am Morgen, denn selbst die Freiheitsdurstigsten waren sich darüber klar, daß dieser unverhoffte Sieg keineswegs ein Schritt voran bedeutete, sondern daß man nur eben wieder dahin gekommen war, wo man vor gut einer Woche angefangen hatte.
Hans und seine vier Trabanten nahmen am Mittagessen nicht teil. Sie hatten fast eine Stunde damit zu tun, ihr Zelt zu flicken und wieder aufzurichten, dann begaben sie sich ins Dorf und besorgten sich Kuchen beim Bäcker, und anschließend gingen sie an den See.
Hans war sehr schweigsam. Er grollte. Seine Trabanten respektierten diesen Gemütszustand und belästigten ihn weder mit Fragen noch mit unerwünschten Ratschlägen. Bis es kühl wurde, aalten sie sich in der Sonne, dann trabten sie ins Lager zurück.
Ohne links und rechts zu schauen, erreichten sie ihr Zelt. Hans holte die Stahlkassette aus ihrem Versteck und begann, die Lagerkasse zu zählen.
Bei dieser Beschäftigung war er noch, als Helmuth mit einem munteren ›Guten Abend zusammen!« ins Zelt geschlüpft kam.
Niemand antwortete ihm.
»Ich störe doch nicht?« fragte er, scheinbar arglos.
Wieder bekam er keine Antwort.
»Ich wollte dir nur einen Vorschlag machen, Hans!«
Hans brummte etwas Unverständliches, und Helmuth nahm es als eine Aufforderung, Platz zu nehmen.
»Na, wie stehen die Finanzen?« fragte er. »Reicht’s noch für die nächsten fünf Wochen?«
Hans warf das weiche braune Haar aus der Stirn und sah Helmuth an. »Ich bin dabei, die Kasse aufzuteilen«, sagte er.
»Wieso!«
»Jeder bekommt seinen Anteil ausbezahlt, und damit hat sich’s!«
»Hm«, meinte Helmuth, »gar nicht so dumm, nur …«
»S-s-soll ich d-d-dies-s-ses B-leichgesicht«, stotterte Eberhard Brecht, der zu seinem Leidwesen mit einem Sprachfehler behaftet war und aus diesem Grunde niemals dazu kam, einen Satz zu Ende zu sprechen.
»… rauswerfen?« ergänzte auch diesmal Günther Furnickel.
»Laßt nur!« wehrte Hans ab.
Helmuth hatte sich mit untergeschlagenen Beinen niedergehockt. Jetzt nahm er seine Brille von der Nase und begann sie umständlich zu putzen. Er war ein schmächtiger, unsportlicher Junge, Klassenbester zudem, und weit mehr an wissenschaftlichen Dingen als an Fußballwettkämpfen und Raufereien interessiert. Aus diesem Grunde war er den anderen Jungen oft eine willkommene Zielscheibe für Spott und Hänseleien, was er sich mit leicht überheblicher Gutmütigkeit gefallen ließ. Daß er in Wahrheit aber durchaus nicht unbeliebt war, lag daran, daß er kein wirklicher Streber war, sich nie bei den Lehrern Liebkind zu machen suchte, jedem half und erklärte, der es wollte, und auch seine Arbeiten ohne weiteres zum Abschreiben hergab, falls es sich einrichten ließ.
»Was wolltest du sagen, Helmuth?«
»Och, nichts Besonderes … ich wollte dich nur dran erinnern, daß Sonntag in einer Woche die Eltern zu Besuch kommen!«
»Von mir aus!« Hansens blaue Augen verfinsterten sich.
»So? Was glaubst du, was passiert, wenn sie hier einen Sauhaufen vorfinden?! Wir sind bis auf die Knochen blamiert! Mit Schimpf und Schande müssen wir nach Hause, das ist sicher!«
»Na, wenn schon«, erklärte Hans trotzig.
»Möchtest du das?«
»Ich werde nicht mehr dabeisein. Meine Freunde und ich werden uns einen anderen Lagerplatz suchen … wo die Luft reiner ist!«
»Und deine Mutter?«
»Ich werde ihr schreiben … alles! Und ich glaube, sie wird’s schon verstehen!«
Helmuth hatte seine Brille wieder aufgesetzt und schaute Hans nachdenklich durch die funkelnden Gläser an. »Ich kann’s dir nicht verdenken, Hans … aber meinst du nicht, daß du auch einen Fehler gemacht hast?«
»Ich?« Hans fuhr auf. »Ich habe nur das Beste gewollt … für alle!«
»Undankbare Bande!« knurrte Klaus.
»Ihr seht das so, und ich kann’s schon verstehen«, erwiderte Helmuth, »aber … wenn du’s dir richtig überlegst, Hans … würdest du denn so einfach irgend jemandem gehorchen … nur weil er stärker ist und bereit, die Verantwortung auf sich zu nehmen?«
»In der Schule und zu Hause müssen alle gehorchen!«
»Das ist was ganz anderes, Hans! Die Erwachsenen sind uns eben … na, übergeordnet, möchte ich sagen! Ich könnte dir jetzt lang und breit erklären, wieso und warum …«
»Kannst du dir sparen!«
»Danke. Aber du bist den anderen gleichgestellt, das mußt du doch einsehen! Du hast dich von dir aus über die anderen gesetzt, und das konnten sie eben nicht ertragen!«
»I-d-d-dio-t-t-ten!« stotterte Eberhard.
»Jetzt will ich dir mal was sagen!« Hans warf den Kopf zurück. »Wenn du mir hier im Lager einen sagen kannst, der alles besser kann … besser organisieren, und so weiter …«
»Kann ich nicht, Hans, ist doch klar! Und grade deshalb will ich dir ja einen Vorschlag machen!«
Hans ging nicht darauf ein, er starrte Helmuth mißtrauisch an.
»Wir müssen eine Demokratie gründen«, erklärte Helmuth, als wäre das das Selbstverständlichste und Naheliegendste auf der Welt.
»Eine … was?« Karl blieb fast der Mund offen.
»Erklär das bitte näher!« forderte Hans argwöhnisch.
»Ganz einfach … eine Demokratie! Bitte, fragt mich jetzt nicht, was das ist … sonst seid ihr wahrhaftig dümmer, als die Polizei erlaubt! Demos ist griechisch und heißt Volk, und Demokratie ist die Staatsform, in der das Volk regiert!«
»Mensch, meinst du, wir sind blöd!« schrie Günther Furnickel beleidigt.
»Das wissen wir doch auch!« behauptete Klaus.
»Entschuldigt, bitte … ich dachte nur, ihr hättet es im Augenblick vergessen.«
»Du meinst also … alle sollen mitzureden haben?« fragte Hans, nicht gerade begeistert.
»Die Mehrheit soll entscheiden!«
»Mensch, hör mir auf mit der Mehrheit, die ist doch meistens dämlich! Guck dir doch bloß mal unsere Klasse an, Helmuth … das solltest du doch am besten wissen!«
»Trotzdem, Hans! Die Klügeren müssen den anderen eben immer wieder und ganz genau erklären, was geschehen muß und was geschehen kann … was sie wollen, und was ihrer Meinung nach jetzt richtig ist! Und weil sie sich immer wieder vor dem Volk rechtfertigen müssen, weil sie einfach nicht wiedergewählt werden, wenn das Volk ihnen nicht mehr traut, deshalb können sie ihre Macht in einer Demokratie auch nicht mißbrauchen. Darin liegt der Witz! In einer Demokratie kann ja auch nicht einfach eine Gruppe von Leuten oder ein einzelner Mann die Macht an sich reißen … wie du es getan hast, Hans … sondern die Macht muß ihnen von der Mehrheit des Volkes gegeben werden.«
»Na schön«, sagte Hans, »aber ich sehe nicht ein …«
»Jetzt hör aber auf! Über den Wert einer Demokratie brauchen wir uns doch wirklich nicht zu streiten! Nicht nur in Deutschland haben wir eine Demokratie … in allen freien Ländern der Erde überhaupt! Glaubst du, was für die gut ist, sollte für unser lachhaftes Zeltlager nicht richtig sein?«