Krähentochter - Maria Grund - E-Book
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Krähentochter E-Book

Maria Grund

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Beschreibung

Ein grausiger Fund, im Eisnebel verborgen. Ein Verbrechen, das sich wiederholt. Und eine Polizistin, die die Vergangenheit nicht ruhen lässt.

Småland, März 1986. Eisnebel hängt über den beiden spiegelglatten Seen, die wie leblose Augen in der kargen Landschaft wirken. Bei ihrem Anblick fröstelt es die frisch zur Polizistin ausgebildete Sanna, denn zwei Jahre zuvor wurden genau hier die blutigen Überreste eines verschwundenen Mädchens in zwei weißen Koffern gefunden. Der grausame Mörder sitzt seitdem hinter Gittern – zumindest glauben das die Einwohner des Dorfes Augu. Als Sanna erfährt, dass erneut ein Mädchen aus dem Ort vermisst wird, stellt sie auf eigene Faust Nachforschungen an und stößt auf Unstimmigkeiten in der damaligen Beweisführung. Auch wenn die Einwohner ihr mit Misstrauen und Ablehnung begegnen, gibt sie nicht auf. Je mehr sie sich im Dickicht aus Lügen und Geheimnissen verfängt, desto entschlossener ist sie, die Wahrheit ans Licht zu zerren und das verschwundene Mädchen zu finden, bevor es erneut zu spät ist …

»›Fuchsmädchen‹ ist zweifellos ein Thriller-Highlight des Jahres! Maria Grund liefert eine packende Geschichte ab, in der einfach alles passt und stimmig ist.« Krimi-Couch.de über »Fuchsmädchen«

Die Berling-und-Pedersen-Reihe im Überblick:

1. Fuchsmädchen
2. Rotwild
3. Krähentochter

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 360

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Maria Grund wurde in einem Vorort von Stockholm geboren. Sie arbeitete viele Jahre als Drehbuchautorin in London und New York und lebt heute auf der schwedischen Insel Gotland. Ihre beiden Thriller Fuchsmädchen und Rotwild, deren Schauplatz eine atmosphärische schwedische Insel ist, stürmten in Deutschland sofort die SPIEGEL-Bestsellerliste. Mit Krähentochter setzt sie die erfolgreiche Thrillerreihe fort und erzählt die Geschichte der Ermittlerin Sanna am Beginn ihrer Karriere in den 80er Jahren – zu einer Zeit, als ganz Schweden geschockt war über den Mord an Ministerpräsident Olof Palme.

Fuchsmädchen in der Presse:»›Fuchsmädchen‹ ist zweifellos ein Thriller-Highlight des Jahres! Maria Grund liefert eine packende Geschichte ab, in der einfach alles passt und stimmig ist.« Krimi-Couch.de

»›Fuchsmädchen‹ spielt eigensinnig mit sämtlichen Zutaten des Genres und wurde in Maria Grunds Heimat zum besten Krimi-Debüt 2021 gewählt.« stern

»Es besticht durch eine einnehmende Atmosphäre, als wäre man direkt vor Ort dabei. Wenn man bedenkt, dass dies ein Debüt ist: Chapeau!«RTL News

»Riesiges Lob für dieses geniale und hochspannende Thriller-Debüt!«Mainhattan Kurier

»Themen wie Schuld und Rache sind meisterhaft in Szene gesetzt.«Express Köln

Außerdem von Maria Grund lieferbar:

Fuchsmädchen

Rotwild

www.penguin-verlag.de

Maria Grund

KRÄHENTOCHTER

Thriller

Aus dem Schwedischen von Sabine Thiele

Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel Nattflygaren bei Polaris, Stockholm.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2023 by Maria Grund

Copyright © 2024 der deutschsprachigen Ausgabe by Penguin Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Published by arrangement with Albatros Agency, Sweden.

Redaktion: Marie-Sophie Kasten

Umschlaggestaltung und -abbildung: www.buerosued.de

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-30737-0V001

www.penguin-verlag.de

Halten wir uns daher fest an den Händen, damit, wenn die Vögel zu singen ansetzen, keiner von uns fehlt.

Emily Dickinson

KAPITEL 1

»Ich sehe, dass alles gut werden wird.«

Die Tarotkarten liegen fächerförmig ausgebreitet zwischen ihnen. Camilla deutet auf die Karte, die Jorun gerade ausgewählt hat. Das Schicksalsrad.

»Reicht das denn?«, fragt Jorun. »Müssen wir nicht noch mehr Karten ziehen?«

Camilla zuckt mit den Schultern und streckt sich nach den Netzhandschuhen auf dem Nachttisch, um sie Jorun in den Schoß zu werfen.

»Die sind für dich.«

»Ganz sicher?«

»Bald kann ich mir so viele neue Sachen kaufen, wie ich will.«

Jorun schiebt die Karten zu einem Stapel zusammen und auf Camilla zu.

»Hör auf, so zu reden.«

Camilla steht auf, zieht das rosa Kleid aus, das eigentlich zu dünn und kindlich ist. Sie streckt die Arme nach oben. Hinter ihr wirkt die vom Badezimmerlicht erleuchtete Türöffnung wie ein breiter Pfeiler.

»Du wirst schon sehen, ich werde berühmt, auf der ganzen Welt.«

Jorun beißt sich auf die Lippe.

»Hör auf, dir Sorgen zu machen, ja?« Camilla lacht. »Wir sind doch die Wonder Girls.«

»Dann erzähl schon … Was hast du gesehen?«

Camilla schüttelt den Kopf, beugt sich vor und gibt Jorun einen Kuss auf die Stirn. Riecht nach Rum und Zucker. Dann lächelt sie und verschwindet im Badezimmer.

Jorun streift die Stiefel ab und legt sich aufs Bett. Sie dreht sich von der Badezimmertür weg. Camilla betätigt die Spülung der rostigen Toilette, ein gurgelndes, erschöpftes Geräusch ertönt, als sich das Wasser durch die Rohre bewegt. Summend dreht sie die Dusche auf.

Das Zimmer ist dunkel, die Wände altrosa und fleckig. Vor den Fenstern hängen dicke Gardinen, nur durch einen Spalt fällt das Licht der blinkenden Neonreklame auf den schmutzigen Teppichboden. Auf Camillas Nachttisch steht eine Flasche Rum neben einer Dose Haarspray und einer Packung Jenka-Kaugummis. Der Motelaschenbecher ist voller Zigarettenstummel und Kaugummi. Über dem Stuhl in der Ecke hängt Camillas Unterwäsche.

Jorun zieht die Knie an den Bauch und schließt die Augen.

Camilla hat sie immer weggeschickt, wenn Jimmy oder andere Typen bei ihr auftauchten. In der Zeit hat Jorun etwas zu essen für sie organisiert, hat es aus Autos auf dem Motelparkplatz gestohlen oder von Paletten bei der Tankstelle in der Nähe, wenn neue Ware angeliefert wurde. Ein paarmal ist es ihr auch gelungen, Schnaps, Erdnüsse oder vergessene Zigarettenpackungen aus den Motelzimmern mitgehen zu lassen, bevor die Putzfrau kam. Neben der Tankstelle ist ein kleines Café, in dem sie sich etwas holen, wenn Camilla ein bisschen Extrageld verdient hat. Camilla liebt Süßes. Gestern haben sie sich Limonade leisten können. Camilla hat natürlich ihre geliebte Pink-Panther-Limo gekauft. Die Frau hinter der Kasse hat ihnen kopfschüttelnd noch eine Packung Milch und ein paar Äpfel aufgenötigt.

Die meisten Typen, die Jimmy zu Camilla mitbringt, sind Stammkunden. Bamse. Slinky. Der Pferdemann. Neulich wollte er auch für Jorun einen mitbringen, aber das hat Camilla verhindert, gesagt, sie sei zu jung. Jimmy sagt allerdings, dass er nicht ewig warten wird und dass Jorun allmählich ihre Schulden abzahlen muss. Immerhin wohnt sie schon seit einer Woche im Motel.

Jorun setzt sich auf die Bettkante. Sie raucht nur, wenn sie mal alleine ist, so wie jetzt, während Camilla duscht. Jedes Mal, wenn sie sich eine Zigarette anzündet, sieht sie ihre Mutter vor sich. Wie sie von Licht umgeben zu sein scheint, wenn sie am Dampfabzug steht und einen Rauchring bläst. Dann macht sie noch einen, den sie in den ersten schweben lässt. Das Licht wird immer heller, bis sie verschwindet. Wobei eigentlich Jorun verschwunden ist, dieses Zimmer hat sie verschluckt. Das Zimmer hinter dem Neonschild mit der Aufforderung Sleep.

Sie weiß, dass sie nicht rauchen sollte.

Das weiß sie sehr wohl.

Aber sie will nicht damit aufhören. Sie ist jetzt sechzehn, erwachsen, lebt ihr eigenes Leben.

Sie saugt den Rauch tief in die Lungen und denkt wieder an ihre Mutter. Mama ist schön, auch wenn sie zu viel raucht. Warum sieht Jorun ihr nicht ähnlicher? Sie ist hässlich und hat einen hässlichen Namen. Warum hat man ihr nicht einen normalen Namen geben können, wie Maria, Sara oder Jenny?

Noch ein Zug an der Zigarette. Ob Mama wohl gerade beim Dunstabzug steht? Bestimmt. Sie raucht und sieht aus dem Fenster, wie so oft am Abend. Der Schnee ist fast vollständig weggetaut. Vielleicht kommen bald die Schneeglöckchen durch. Mama mag Schneeglöckchen. Krokusse und die ersten Tulpen. Bestimmt steht sie am Fenster und schaut nach draußen.

Ihr leerer Magen meldet sich. Die Zimtschnecke, die sie vor ein paar Stunden gegessen hat, war klein. Die Rolle mit Karamellbonbons noch kleiner, außerdem trocken. Die Tarotkarten hat sie aus einem unverschlossenen Auto auf dem Parkplatz geklaut. Warum hatte sie nicht stattdessen etwas zu essen finden können?

Neben Camillas Kissen liegt eine Kekspackung. Als Jorun nach ihr greift, färbt Glitzer auf ihre Hand ab. Camilla mit ihrer ganzen Schminke ist wie eine Eiskunstlaufprinzessin, allerdings ohne Schlittschuhe und hübsche Kleider. Glitzer auf den Augenlidern, Glitzer auf den Wangen, Glitzer auf den Lippen. Jorun hasst Glitzer, aber wegen Camilla ist er überall. Die Kekspackung ist leer.

Stattdessen nimmt sie die Rumflasche vom Nachttisch und trinkt einen großen Schluck. Der Rum ist von Jimmy. Die Marke, die auch Musiker und Dichter trinken, sagt er.

Ein eiskalter Luftzug hüllt sie ein.

Plötzlich steht er in der Tür. Jimmy.

»Wo ist sie?«

Sein Gesicht glänzt verschwitzt, als wäre er gerannt. Das Hemd spannt über der Brust, er wirkt aufgebracht.

Mit einer hitzigen Bewegung stürzt er zum Badezimmer, den Kopf zur Seite gelegt, als lausche er Camilla, die mit weicher, samtiger Stimme unter der Dusche singt.

»Warte!«, ruft Jorun und eilt ihm nach.

Camilla schreit auf, als er den Duschvorhang zur Seite reißt. Er zerrt sie aus der Badewanne, schleift sie aus dem Bad und wirft sie aufs Bett.

»Spinnst du eigentlich total?«, keucht er.

Camilla setzt sich auf, zieht die Beine an die Brust.

»Die Typen an der Tankstelle sagen, dass du die Polizei angerufen hast«, fährt Jimmy fort. »Wegen Palme? Was glaubst du eigentlich, was du da machst? Was soll der Scheiß? Willst du uns die Bullen auf den Hals hetzen?«

Camilla schüttelt den Kopf.

»Du machst mich krank, kapierst du das?«, faucht Jimmy.

Jorun versucht unbeholfen, Camilla ein Handtuch zu geben.

Sofort verpasst Jimmy ihr eine Ohrfeige, und Jorun stolpert nach hinten gegen die Badezimmertür. Tränen brennen in ihren Augen.

Jimmys Gesichtsausdruck verändert sich. Sein Handgelenk zuckt kaum merkbar. Dann lässt er sich neben Camilla auf die Bettkante sinken, beugt sich über sie. Fährt mit zitternden Händen über ihren Körper. Über die Schenkel, die Arme.

»Wie oft habe ich dich schon gebeten«, murmelt er. »Mach nicht ständig Ärger.«

Er streicht mit den Händen über ihre Schultern, den Hals. Dann packt er sie plötzlich hart an der Kehle. Camilla versucht, seine Hände wegzuzerren, tritt wild um sich.

»Schh«, flüstert er, während er sie in die Matratze presst.

Joruns Herz verkrampft sich. Sie spürt, wie sie fällt. Die Wände kommen näher, senken sich über sie. Obwohl sie keinen Ton von sich gibt, dreht Jimmy sich zu ihr um.

»Wag es ja nicht zu schreien«, sagt er leise.

Die Tür ist zwei Meter entfernt, vielleicht drei. Nur ein paar Schritte am Bett vorbei, auf dem Camilla gerade im Laken verschwindet.

»Denk nicht mal daran.« Jimmy gibt Camilla frei.

Die hustet, reibt sich den Hals und tastet mit den Händen um sich. Unzusammenhängende Wortfetzen fallen aus ihrem Mund und ersterben in dem dunklen Teppich. Speichel rinnt über ihre Lippen.

Das Geräusch von fließendem Wasser erfüllt den Raum, die Dusche läuft immer noch. Jorun ist wie gelähmt.

Gegen Jimmy hat sie keine Chance.

Das weiß sie.

Da legt Jimmy wieder die Hände um Camillas Hals, presst die Daumen fest gegen ihren Kehlkopf. Jorun weiß nicht, wie viel Zeit vergeht, aber es fühlt sich wie eine Ewigkeit an.

Sie atmet schwer.

»Bitte …«

Doch Jimmy macht weiter. Jorun hebt die zitternden, merkwürdig kalten Hände und stürzt sich auf ihn, schlägt die Fingernägel mit aller Kraft in ihn hinein.

Er schreit gellend auf, bekommt ihr Handgelenk zu fassen und schleudert sie hart zu Boden.

Er geht neben ihr in die Hocke und mustert sie. Der Raum dreht sich um sie, sie schmeckt Blut. Sie streckt sich nach einem Stuhl, aber Jimmy tritt ihn Richtung Tür.

»Verdammte Huren …«

Jimmys Stimme ist gedämpft, bedrohlich, wie von einem wilden Tier. Jorun schließt die Augen, will ihn ausblenden. Sie denkt an ihre Mutter im Licht des Dunstabzugs. Schneeglöckchen und Wonder Girls.

Ein gedämpftes Geräusch ertönt. Und noch eins. Und noch eins. Klopft da jemand an die Tür?

Doch Jimmy reagiert nicht.

Er legt sich auf sie, presst sie schwer in den Teppich, bis sie keine Luft mehr bekommt. Er legt die Hände um ihren Hals und drückt zu, bis alles ganz still wird und sie sich nicht mehr bewegen kann.

Die Luft wird zu Eis in ihren Lungen. Alles um sie herum wird still. Sie hört nur noch das Klopfen, wie ein Herzschlag.

Bilder zucken vor ihrem inneren Auge vorbei. Koffer, die aufgeklappt und geschlossen werden. Mama, die weint und elektrische Stühle zeichnet.

Dann wird alles dunkel.

Bis sie ein Licht sieht.

Doch es ist nicht Mama.

KAPITEL 2

Sanna Berling steht in der Tür zur Polizeikantine und blickt sich um. Im Radio läuft klassische Musik. Es riecht nach Essen und Kaffee. An einem Tisch sitzen ein paar Kollegen und unterhalten sich leise. Die Teller vor ihnen sind leer. Sanna versucht, sich an ihre Namen zu erinnern. Der jüngste der Gruppe, Torbjörn Fredriksson, ein rothaariger Mann in den Dreißigern mit starkem Überbiss, blickt kurz auf, dann murmelt er den anderen etwas zu. Daraufhin stehen alle auf, nicken ihr knapp zu und verlassen die Kantine.

Sie setzt sich an einen Tisch am Fenster.

Der Kaffee ist immer noch brühend heiß. Sie nippt daran, bevor sie ein wenig in ihrer Portion Fleischbällchen mit Kartoffelbrei herumstochert, die Preiselbeeren zur Seite schiebt, dann auch die Fleischbällchen. Sie frühstückt kaum, isst auch selten etwas zu Mittag, weshalb das Abendessen normalerweise ihre Hauptmahlzeit ist. Doch nicht heute. Auch nicht in den letzten Tagen. Sie hat überhaupt keinen Appetit.

Sie weiß, dass sie nie vergessen wird, wo sie sich befand, als sie die Nachricht hörte. Wie das Autoradio knisterte und knackte, bevor die zitternde Stimme meldete, dass der schwedische Ministerpräsident tot war, erschossen an der Kreuzung Tunnelgatan und Sveavägen, mitten in Stockholm. Sie war an dem Abend auf dem Weg nach Visby. Sollte am Tag darauf die Fähre von Gotland zum Festland nehmen, um hier in Oskarshamn ihren Polizeianwärterdienst anzutreten.

Die Musik verstummt. Die Sendung zum Mord an Olof Palme wird fortgesetzt. Die Radiostimme berichtet aus der Innenstadt von Stockholm, Menschen werden interviewt. Viele sind erschüttert, finden keine Worte. Jemand weint.

Sanna stellt den Teller ab, trinkt einen Schluck Kaffee. Sieht aus dem Fenster auf den Parkplatz. Der Asphalt glänzt im Licht der Straßenlaterne. Hier und dort sind schwarze Eisflecken zu sehen. Vor nur knapp einer Woche war sie dort zum ersten Mal eingebogen, stolz, ihren Dienst antreten zu dürfen. Doch ihr Enthusiasmus wurde von einem Gefühl, nicht erwünscht zu sein, vertrieben, sobald sie das Revier betreten hatte.

Polizeimeister Jussi Rantala empfing sie in seinem Büro, einem großen Zimmer mit blau gestrichenen Wänden und Pokalen von Langlaufwettbewerben in den Regalen. Er sah Sanna durchdringend an und begrüßte sie knapp. Dann ging er mit ihr aus dem Raum und stellte sie den anderen als die neue Anwärterin vor. Ohne Namen. Nur »die Anwärterin«. Trotzdem immer noch besser als »Fuchs« oder »Scheißfuchs« genannt zu werden, dachte sie, herabwürdigende Spitznamen, die Polizeinachwuchs sonst oft zu schlucken hatte.

Nach der Vorstellung schickte Rantala sie ins Lager, um neue Notizblöcke und Stifte für alle zu holen. Dann sollte sie ihm eine Packung Zigaretten kaufen. Bisher hat sich daran nichts geändert. Sie wird herumgeschickt und macht Erledigungen für alle.

»Blondie?«, ruft eine belegte Stimme. »Rantala will, dass wir uns was anschauen.«

Blondie. So nennen sie sie seit ein paar Tagen. Sie dreht sich um. Torbjörn Fredriksson steht in der Tür.

»Jetzt«, sagt er.

Sie sieht ihn an. Die kleinen Augen liegen tief in dem sommersprossigen Gesicht.

»Worum geht’s?«

»Irgendwelche Probleme im Sleep Inn, dem Motel im Norden der Stadt.«

Sie nickt, aber nicht enthusiastisch genug für Torbjörn.

»Du weißt, dass man letzte Woche den Ministerpräsidenten erschossen hat?«, sagt er verärgert.

»Ja?«

»Die meisten hier haben also genug anderes zu tun. Jetzt mach schon, damit wir die Sache schnell abklären können.«

Die Zeit auf dem kurzen Weg zum Motel vergeht langsam. Sie lassen die Lichter der Stadt hinter sich und biegen auf die E22 ab, die an vielen Stellen vereist ist.

Es herrscht blaugraue Dunkelheit. Hier und da sind die erleuchteten Fenster von Höfen und Häusern auf dem niedrigen Bergkamm oder tief im Wald zu sehen. Dazwischen liegen weite Ackerflächen.

Die Kälte dringt ins Auto, Sannas Atem bildet weiße Wölkchen. Der Ernst der Situation überwältigt sie plötzlich. Torbjörn schweigt, und sie wagt es nicht, Fragen zu stellen. Ihr ganzes Leben hat sie sich hierauf vorbereitet. Sie hat den Polizeiberuf im Blut und ist mit der Vorstellung aufgewachsen, dass man die Arbeit mit dem Kopf und dem Herzen betreibt. Gerade fällt es ihr schwer, ihr Herz im Zaum zu halten. Ihre Gefühle sind laut und in Aufruhr, inmitten der sie umgebenden Stille.

Sie sieht zum Seitenspiegel. Ihr Blick ist fest, die Hände liegen ruhig auf den Knien. Doch ihr Rücken ist verschwitzt.

Vor ihnen taucht das Motel mit seinem Neonschild und den erleuchteten Fenstern auf. Ein längliches Gebäude mit einem schwach beleuchteten Parkplatz auf der Ostseite.

Als sie aussteigt, sind nur die vorbeifahrenden Autos auf der Straße zu hören. Sie sieht auf die Uhr, kurz nach halb sieben. Streckt sich, um die Uniform besser auszufüllen.

Die Tür mit dem Schild »Rezeption« öffnet sich, ein Mann tritt heraus. Torbjörn geht zu ihm und stellt sich vor.

Der Mann nickt knapp.

»Zimmer 1033«, sagt er und deutet auf eine Tür beim Parkplatz. »Die Putzfrau hat Sie angerufen.«

»Worum geht es?«, fragt Torbjörn.

»Die Dusche läuft, und sie haben die Tür mit irgendetwas blockiert und machen nicht auf.«

»Wer hat das Zimmer gemietet? Wie lautet der Name?«

»Da muss ich nachschauen.«

Sanna sieht zu Zimmer 1033, am anderen Ende des Gebäudes.

»Sie haben versucht, hineinzukommen?«

Der Mann nickt. »Wie gesagt, sie haben von innen irgendetwas vor die Tür gestellt. Haben wohl Angst, dass sie jetzt rausgeworfen werden. Das ist nicht die erste Verwarnung.«

Torbjörn geht zu Zimmer 1033, Sanna folgt ihm.

Das Fenster ist beschlagen, gedämpft ist laufendes Wasser zu hören. Sanna bemerkt einen Spalt zwischen den Gardinen und versucht, hindurchzuspähen. Das Zimmer ist dunkel. Auch mit der Taschenlampe sieht sie nichts.

»Soll ich zurück zum Wagen gehen und Verstärkung rufen?«, fragt sie flüsternd.

Torbjörn schüttelt den Kopf, geht zur Tür und hämmert dagegen.

»Polizei!«, ruft er. »Aufmachen! Sonst kommen wir rein.«

Er tauscht einen Blick mit Sanna und nickt ihr auffordernd zu. Sie drückt die Türklinke hinunter, spürt den kalten Schlüssel im Schloss in ihrer Hand, als sie ihn dreht. Die Tür lässt sich immerhin so weit öffnen, dass sie einen Fuß in den Spalt schieben und den Stuhl wegtreten kann, der sich im Teppich verkantet hat.

Ein schwerer Geruch nach Eisen und Magensäure schlägt ihr entgegen, als sie das Zimmer betritt. Zusammen mit den Wasserdampfschwaden aus dem Badezimmer ist es fast nicht auszuhalten. Als sie die Hand vor den Mund schlägt, fällt ihre Taschenlampe zu Boden.

Im Hintergrund hört sie, wie Torbjörn würgt und flucht. Er murmelt etwas vom Funkgerät, seine Schritte entfernen sich.

Da sieht sie den Körper. Er liegt auf dem Boden, beim Bett. Bewegungslos. Der Rücken ist mager, die Schultern und Hüften schmal. Ein Mädchen, es sieht sehr jung aus. Vermutlich ein Teenager.

Sanna wird übel, als sie sich über das Mädchen beugt und am Hals nach einem Puls sucht. Nichts. Sie packt die schmalen Schultern und ruft etwas. Lauscht, sucht nach Atemzügen. Nach mehreren verzweifelten Versuchen, das Mädchen wiederzubeleben, gibt sie notgedrungen auf. Die Tote ist schlaff, die Augen starren leblos zur Decke. Die Haare sind nass, und um den Hals sind rotbraune Würgemale zu erkennen.

Der Gestank nach Erbrochenem ist widerwärtig. Sanna wischt sich mit dem Ärmel über Nase und Mund. Als sie zu Boden blickt, sieht sie, dass sie mitten in der Lache steht.

Sie geht ins Badezimmer. Die Luft ist schwer und feucht, und als sie das Wasser abstellt, rutscht sie beinahe aus. Über der Badewanne ist ein Fenster, der Riegel ist gelöst, doch es ist zugeschlagen.

Plötzlich hört sie ein schwaches Wimmern.

Sie geht zurück ins Schlafzimmer. Panik schnürt ihr die Luft ab, als sie die Gestalt in der Ecke sieht. Zusammengekrümmt sitzt sie am Boden und blickt zu ihr auf, mit großen, blutunterlaufenen Augen.

Noch ein Mädchen. Es lebt.

KAPITEL 3

Von allen Dingen, die sie an diesem Land hasst, ist ihr die Dunkelheit am meisten zuwider. Der Winter ist so verflucht lang und anstrengend. Die ganzen Silberfuchspelze und Fuchsboas. Menschen, die Kadaver als Kleidung tragen.

Henriqueta de Jesus Oliveiras Dias’ erster Winter in Schweden war schön. Sie liebte das viele Weiß. Wenn es schneite, was oft vorkam, war sie glücklich. Doch die Tage dazwischen waren grau und nass. Die Kälte, die Unruhe, das Eingesperrtsein. Der schwedische Winter ist wie die schwedische Seele, schön, aber düster.

Wenn sie an jenen ersten Winter zurückdenkt, fällt ihr wieder die eiskalte Wohnung ein. Das Küchenfenster mit den Eisblumen an der Scheibe. Das Wachs, das von der brennenden Kerze wie weiße Lava auf den Tisch tropfte. Die Luft war schwer von Schimmel und dem Geruch nach Hasch aus der Nachbarwohnung. Es war dunkel, zugig und eng. Vor dem Haus krächzten die Krähen in der großen, alten Eiche. Mama trank Kaffee und blätterte in ihren Zeitschriften. Mama nannte sie dramatisch, wenn sie sie ermahnte, dass sie die Rechnungen bezahlen mussten, aber das war ihr egal. Mama nannte sie auch »Schnabel«, das gefiel ihr sogar. Außerdem passte es. Schließlich lernte sie Schwedisch, indem sie sich durch das Vogelkundebuch pickte, das Mama ihr geschenkt hatte. Nya fågelboken, ein abgegriffenes Scheusal aus dem Jahr 1970. Mama hatte es aus einer Mülltonne gerettet, es sorgfältig abgewischt und in rosa Seidenpapier samt Schleife eingepackt. Auf dem Umschlag war die Illustration eines Waldkauzes, gemalt von Raymond Harris Ching. Sie liebte dieses Bild, die großen schwarzen Augen des Kauzes und die rostbraunen Federn.

Als sie das Buch bekam, konnte sie es vor Freude nur stumm anstarren. Dann strich sie mit den Fingern über den Rücken des Kauzes. Großvater hatte ihr beigebracht, dass Waldkäuze überall leben. Man sieht sie fast nie, weil sie nur nachts jagen. Sie fliegen lautlos im Dunkeln, gleiten stumm nach unten zu ihrer Beute. Großvater hatte immer gesagt, dass fantastische Dinge geschehen können, wie zum Beispiel, dass man einen jagenden Waldkauz sieht, auch wenn es etwas dauern kann. Hab Geduld. Die Nacht ist lang.

Wieder sieht Harriet ihre Mutter vor sich. Die dunklen Haare, die funkelnden Augen. Das Lächeln, bei dem sich die Geborgenheit wie Sonnenwärme unter ihrer Haut ausbreitete. Die Liebe in ihrer Stimme.

»Querida Henriqueta …«

Es ist lange her, dass jemand sie so genannt hat, Henriqueta. In diesem Land sagt man Harriet zu ihr.

Harriet.

Eine Bewegung im Augenwinkel. Sie dreht sich zu Delilah. Verdammt. Warum muss es immer so sein? Warum können sich die Menschen nicht um ihre Tiere kümmern? Und warum kann sie die Dinge nicht einfach auf sich beruhen lassen?

Die Schlange liegt unter der Stehlampe. Ihre Haut glänzt im Licht, das Muster windet sich hübsch um den festen Körper. Doch die Schwellung am Bauch ist nicht zu übersehen. Das silbergraue Kaninchen darin.

Schritte. Die Tür wird geöffnet.

»Was machst du schon wieder hier? Habe ich dir nicht gesagt, dass du das Tier in Ruhe lassen sollst?«

Harriet steht schnell vom Boden auf.

»Tut mir leid, ich habe geputzt und ihr nur die Lampe angemacht, damit sie es warm hat …«

»Das reicht.«

Delilahs Besitzer arbeitet in der Nähe auf einer Baustelle. Er ist klein, hat aber Hände wie ein Milchbauer. Ein erstickender Gestank nach Schweiß, Öl und Alkohol macht sich im Zimmer breit.

»Raus jetzt.«

Als sie durch die Tür geht, schaltet er die Lampe aus und tritt Delilah. Eingeschüchtert gleitet sie unters Bett, prallt dabei gegen den Bettpfosten und zuckt zusammen.

Harriet will sich auf ihn stürzen, beißt aber die Zähne zusammen.

»Grande filho da puta«, murmelt sie leise, während sie die Tür hinter sich zuschlägt.

Sie geht zum Putzraum. Der kleine Verschlag dient auch als Personalzimmer und geht zum Parkplatz des Motels hinaus.

Das Neonschild leuchtet wie eine Diskokugel, drüben bei den Streifenwagen. Ein Sanitäter führt jemanden zum Krankenwagen, der ein Stück entfernt steht. Harriet schaudert. Das Mädchen sieht so klein aus unter der Decke.

Von oben ertönt ein kratzendes Geräusch.

Sie sieht zur Dachrinne, entdeckt eine einsame Amsel, die da oben herumplantscht. Es ist ein Männchen. Sie würde gern die Hand nach ihm heben, bleibt jedoch reglos. Denkt an die Mädchen in Zimmer 1033, versucht sich vorzustellen, was eigentlich passiert ist.

»Entschuldigung?«

Die Stimme klingt atemlos. Die Polizistin, die auf sie zu kommt, ist hellblond und hat eisblaue Augen.

»Sie waren es, die uns angerufen hat?«

Harriet nickt, zupft die hässliche Uniform zurecht, die ihr das Motel aufzwingt.

Die Polizistin nimmt Notizblock und Stift aus der Brusttasche.

»Ich heiße Sanna Berling. Können wir uns hier unterhalten, oder sollen wir woanders hingehen?«

Sie ist viel zu jung, um Polizistin zu sein. Typisch, dass sie eine Anfängerin schicken.

»Dürfte ich zuerst nach Ihrem Namen fragen?«, beginnt die Polizistin.

»Henriqueta de Jesus Oliveiras Dias …« Sie verstummt. »Aber alle nennen mich Harriet.«

Verlegen sieht sie auf ihre Hände hinunter, ist sich ihres Akzents schmerzhaft bewusst. Auf alles andere ist sie stolz, ihre Grammatik, den Wortschatz. Doch der Akzent tut ihr jedes Mal weh, wenn sie den Mund öffnet.

Die junge Polizistin macht sich eine Notiz. Harriet mustert sie. Ihre Fingernägel sind sauber und kurz geschnitten, die Haare glänzend gebürstet. Doch sie strahlt eine gewisse Einsamkeit aus.

Harriet sieht zu dem Mädchen beim Krankenwagen.

»Wie geht es ihr?«

»Jorun Larsen ist am Leben.«

»Und Camilla?«

Etwas zuckt in den eisblauen Augen auf.

»Leider war Camilla Nyman bereits verstorben, als wir eintrafen.«

Harriet legt die Hand über den Mund, weiß nicht, was sie denken, was sie sagen soll. Die Polizistin beobachtet sie.

»Bitte erzählen Sie genau, was passiert ist und warum Sie uns angerufen haben.«

»Ich sollte frische Handtücher zu Zimmer 1033 bringen. Ich habe geklopft, aber niemand hat geöffnet. Normalerweise machen sie immer auf, deshalb bin ich unruhig geworden. Das Fenster war völlig beschlagen, als ob sie sehr lange geduscht hätten.«

»Und da haben Sie versucht, die Tür zu öffnen?«

Harriet nickt.

»Aber etwas hat sie von innen versperrt, es ging nicht. Ich habe immer wieder geklopft, laut, aber nichts hat sich gerührt.«

»Und dann sind Sie zur Rezeption gegangen?«

»Ja, das bin ich, und ich habe gesagt, dass ich mir Sorgen mache.«

»Und dann ist der Mann von der Rezeption mit Ihnen zu dem Zimmer gegangen?«

Harriet schüttelt den Kopf. »Er hat mir gesagt, ich soll weiterarbeiten und nicht die Gäste stören.«

Der Stift bewegt sich schnell übers Papier.

»Und was haben Sie dann getan?«

»Ich habe mir das Telefon genommen und die Polizei angerufen.«

Die Polizistin blättert um.

»Jorun Larsen gibt an, dass ein gewisser Jimmy im Zimmer war. Sagt Ihnen der Name etwas?«

Harriet nickt. »Filho da puta …«

»Können Sie etwas über diesen Jimmy sagen? Zum Beispiel, wo er sich aufhalten könnte?«

»Schauen Sie mal bei der Tankstelle.«

Die Polizistin macht sich eine Notiz.

»Er hat sie hereingelegt, hat sie ausgenutzt.«

»Camilla Nyman?«

Harriet nickt.

»Sie und Jimmy waren zusammen, aber irgendwie auch wieder nicht. Er kam auch mit anderen Männern zu ihr.«

Die Polizistin sieht sie ernst an.

»Und Jorun?«

»Das weiß ich nicht. Sie ist vor einer Weile einfach aufgetaucht.«

Die Polizistin nickt langsam.

»Warum kam es zum Streit, was glauben Sie?«

Harriet schüttelt den Kopf und schluckt gegen das Unbehagen an, das ihr den Hals zuschnürt.

»Und wohin sind Sie dann gegangen?«, fährt die junge Frau fort.

»Wie bitte?«

»Als ich hier ankam, waren Sie nicht draußen, nicht bei der Rezeption und auch nicht bei Zimmer 1033.«

»Man wirft mich raus, wenn ich nicht arbeite. Ich muss die ganze Zeit etwas tun, sonst …«

»Haben Sie etwas gesehen, ist Ihnen bei der Arbeit etwas Besonderes aufgefallen?«

Harriet schüttelt den Kopf.

»In welchen Zimmern waren Sie?«

Die Stimme ist gefühllos, kalt, wie die Augen der jungen Frau. Dieselbe hellblaue Iris wie bei einer Dohle. Doch es scheint ihr nicht egal zu sein. Sie stellt weiter Fragen. Sie sagt die Namen der Mädchen, als ob sie Menschen für sie wären, die etwas bedeuten. Mädchen mit einem Leben, mit Träumen. Mädchen mit einem Namen.

»Ich war nur in einem Zimmer. Einer der Langzeitmieter hat eine Schlange, er behandelt sie so schlecht, ich putze immer, wenn er nicht da ist …«

»Eine Schlange?«

Es fühlt sich seltsam an, über Delilah zu reden, vor allem jetzt. Trotzdem nickt sie.

»Ich kann Ihnen eine Telefonnummer geben, wenn Sie ihn anzeigen wollen«, sagt die Polizistin mit plötzlich viel weicherer Stimme. »Fällt Ihnen zu Camilla und Jorun sonst noch etwas ein?«

Harriet denkt nach. Als sie sich wieder zur Regenrinne dreht, ist die Amsel nicht mehr da. Eine kleine Feder schwebt zu Boden. Eine kohlschwarze Schwungfeder. Ein Männchen. Die Amsel wird auch Schwarzdrossel genannt. Das erwachsene Männchen ist schwarz mit gelbem Schnabel und gelben Augenringen. Das Weibchen dagegen ist dunkelbraun mit braunem Schnabel. Wie immer dreht sich alles um das Männchen.

Das dezente Räuspern der Polizistin reißt sie aus ihren Gedanken.

»Irgendetwas?«, sagt sie. »Fällt Ihnen noch etwas ein?«

»Er wollte, dass sich Camilla still und unauffällig verhält«, sagt Harriet. »Er wollte, dass sie im Zimmer bleibt, so wenig wie möglich gesehen wird. Wenn sie gestritten haben, dann vielleicht weil Camilla wieder die Aufmerksamkeit auf sich gezogen, irgendetwas angestellt hat. Das hat sie ziemlich oft getan.«

Die junge Polizistin dreht den Stift zwischen den Fingern.

»Ich hätte die Tür eintreten oder das Fenster mit einem Feuerlöscher einschlagen sollen«, sagt Harriet leise.

»Sie haben das Richtige getan, indem Sie uns gerufen haben.«

»Ach ja? Sie ist doch tot.«

Die junge Frau sieht sie an.

»Sie haben das Richtige getan«, wiederholt sie bestimmt.

KAPITEL 4

»Hey, Blondie! Schläfst du im Stehen?«

Polizeimeister Jussi Rantala räuspert sich in der Türöffnung zum Personalraum. Wie immer trägt er eine Pilotensonnenbrille mit braunem Gestell. Sein schmales Gesicht ist ordentlich rasiert, das dichte graue Haar mit Wasser gekämmt, die Nase lang und krumm.

Sanna steht mit einer Tasse Kaffee aus dem Automaten am Fenster. Es ist schon wieder Abend. Ein Tag ist seit dem Einsatz im Motel vergangen. Ihr Körper schmerzt vor Müdigkeit. Den letzten Tag hat sie vor allem mit Papierkram und sinnlosen Erledigungen verbracht, die Rantala ihr aufgetragen hatte, damit sie nicht im Weg war.

Rantala schüttelt den Kopf.

»Du siehst müde aus«, sagt er.

»Ich denke an gestern Abend.«

Rantala nickt zu einem Stuhl.

»Willst du dich nicht setzen?«

Sie schüttelt den Kopf, trinkt noch einen Schluck Kaffee. Ihr Blick fällt auf die Akte in Rantalas Hand.

»Ein bisschen Lektüre für dich«, sagt er und legt die Mappe auf den Stuhl.

»Wie lief es?«

»Wie du ja weißt, haben wir Jimmy Gustavsson gestern ziemlich schnell festsetzen können. Und genau wie Jorun Larsen sagte, war er im Motelzimmer. Er hat sofort gestanden, Camilla Nyman erwürgt zu haben. Alles geklärt.«

»Warum? Warum hat er es getan?«

»Camilla Nyman hat geglaubt, etwas gesehen zu haben, was uns beim Palme-Mord helfen könnte. Deswegen hat sie bei der Polizei angerufen, sie war überzeugt, sie würde eine Belohnung bekommen und berühmt werden. Vermutlich war sie besoffen oder so. Laut Jimmy hat sie viel Rum getrunken. Er hat wohl Angst bekommen, als er das mit der Polizei gehört hat, und die Beherrschung verloren.«

»Wissen wir, warum Jorun Larsen überlebt hat?«

»Sie hat der Putzfrau ihr Leben zu verdanken. Weil die nicht aufgehört hat, an die Tür zu klopfen, hat Jimmy schließlich losgelassen und ist durch das Badezimmerfenster abgehauen.«

Sanna denkt an die Frau. Groß, mager, fast schon androgyn. Die tadellos gestärkte Uniform. Sie hat irgendwie abwesend gewirkt, aber freundlich alle Fragen beantwortet. Ihr Akzent war fremdartig und schwer einzuordnen gewesen.

»Jorun Larsen wurde vor sieben Tagen als vermisst gemeldet«, fährt Rantala fort. »Seither hat man nach ihr gesucht.«

»Okay«, sagt Sanna gedämpft.

Niemand hatte sie zu den Vernehmungen am gestrigen Abend oder heute im Lauf des Tages dazugerufen, alle waren zu beschäftigt, um sie miteinzubeziehen. Obwohl sie und Torbjörn als Erste am Tatort gewesen waren. Als sie sich nach Jorun Larsen erkundigt hatte, hatte man ihr nur knapp geantwortet.

Rantala räuspert sich wieder.

»Wir müssen dafür sorgen, dass sie nach Hause zu ihrer Familie kommt. Du fährst sie heim.«

Sanna strafft die Schultern, nickt zurückhaltend.

»Sie ist erst sechzehn Jahre alt«, spricht Rantala weiter. »Ihre Mutter kann heute Abend nicht herkommen und sie abholen.«

»Wo wohnt sie denn?«

»Augu.«

Erst nach einem Moment wird ihr klar, warum ihr der Ortsname so bekannt vorkommt.

»Augu wie …«

»Ja, genau.«

Der Mädchenmord in Augu. Vor zwei Jahren war ein siebzehnjähriges Mädchen in der småländischen Kleinstadt verschwunden. Ihre zerstückelte Leiche wurde in zwei Koffern hinter einem alten Schuppen an einem Waldsee gefunden. Es gab keine verwertbaren Spuren, keine Zeugenaussagen, die Polizei war ratlos. Bis der Fall einige Zeit später quasi durch Zufall gelöst wurde. Man suchte nach einer dreiunddreißigjährigen Frau aus Malmö, die ebenfalls vermisst wurde. Die Polizei konnte das Verschwinden mit einem bisher nicht vorbestraften Mann in Verbindung bringen, einem Lastwagenfahrer namens Jan Svensson. In seinem Haus fand man eine Gefriertruhe mit der zerstückelten Leiche der Frau. Schon bald war klar, dass Jan Svensson an dem Abend in Augu im Gasthaus übernachtet hatte, an dem das siebzehnjährige Mädchen verschwunden war. Schließlich gestand er auch den Mord an ihr.

»Wir benötigen alle Streifenwagen, du musst also mit deinem Auto fahren«, sagt Rantala. »Natürlich reichst du die Quittungen für Benzin und andere Ausgaben ein und bekommst die Kosten erstattet. Lass die Uniform hier, dann gibt es kein großes Aufsehen, wenn du die Kleine ablieferst.«

Er sieht auf die Armbanduhr.

»Ihr werdet erst ziemlich spät dort sein. Bleib in Augu im Gasthaus, dann kannst du dich morgen früh in Ruhe mit den Eltern unterhalten. Das Gasthaus soll die Rechnung an mich schicken.«

Rantala deutet mit einem Nicken zu der Akte auf dem Stuhl.

»Da drin stehen ein paar Sachen über Jorun Larsen, die vielleicht nützlich sein könnten.«

Sie nimmt die Mappe und klappt sie auf. Es dauert einen Augenblick, bis sie erkennt, dass sie auf die Ermittlungsunterlagen zum Mordfall in Augu blickt.

»Du sagtest doch, Informationen zu Jorun Larsen? Und was ist das hier?«

»In gewisser Weise geht es um sie. Das Mordopfer war Julia Larsen, Joruns große Schwester.«

KAPITEL 5

Das Licht der Neonröhren ist kalt und steril, leblos. Jorun sitzt an dem Tisch im Vernehmungszimmer, zum Schutz vor dem kalten Boden trägt sie dicke weiße Socken, außerdem Polohemd und Jogginganzug, die wahrscheinlich jemand aus der Kiste mit den Fundsachen oder dem Diebesgut gezogen hat. In der Hand hält sie eine Tasse mit heißem Wasser und einem Teebeutel.

Sie senkt den Blick und beißt sich auf die Lippe.

Sobald sie die Augen schließt, sieht sie die schlafende Camilla neben sich im Bett. Ihre Wangen glitzern, und ihr Mund bewegt sich leicht, während sie träumt. Dann wieder die schrecklichen Bilder. Camillas Haare sind tropfnass. Jimmy legt die Hände um ihre Kehle, und sie ertrinkt im Laken.

Sie hatte Camilla an der Bushaltestelle neben der Tankstelle kennengelernt. Der Spätwinterabend war kalt und feucht. Jorun war ausgestiegen, um auf die Toilette zu gehen, und wartete auf den nächsten Bus. Der braune Schneematsch drang in ihre Stiefel. Ein Mädchen, ein bisschen älter als sie selbst, kam ihr in hochhackigen Stiefeln, kurzem Rock und dicker Jacke entgegen. Sie hielt eine brennende Zigarette in der Hand, und in einer Wolke aus Rauch und Parfüm fragte sie, ob Jorun ein paar Kronen für was zu trinken übrig hätte. Sie kauften sich zwei Flaschen Pink-Panther-Limo an der Tankstelle, redeten, und kurz darauf hielt Camilla ihr Handgelenk, während sie zum Motel gingen, um dort Rum zu trinken und weiter über ihre Träume vom Reisen zu reden. Zum ersten Mal behandelte sie jemand als Erwachsene. Joruns Herz wurde mutiger, wenn Camillas Augen sie unter dem Glitzerlidschatten ansahen. Jetzt ist das Herz erkaltet, übrig ist nur noch ein Bluterguss.

Ihre Augen brennen. Sie wischt mit dem Ärmel darüber und sieht nach oben zu den Neonröhren. Das Licht beruhigt sie, zumindest im Moment.

Schritte hasten über den Flur. Da draußen herrscht geschäftiges Treiben. Bald wird jemand kommen und sagen, dass man sie jetzt heimfahren wird.

Sie hebt die Hand an den Hals. Ihre Kehle tut so schrecklich weh. Unter dem Polohemdkragen verbirgt sich der Bluterguss. Der Arzt, der sie untersucht hat, hat ihr Schmerztabletten und noch etwas anderes verschrieben, von dem sie müde und leicht benommen wird. Er hat gesagt, sie hätte keine ernsthaften Verletzungen, doch der Bluterguss würde erst nach einer ganzen Weile verschwinden. Wie kann sie keine ernsthaften Verletzungen haben, wenn es sich doch so anfühlt, als sei alles kaputt?

Sie weiß nicht, wie lange Jimmy sie gewürgt hat. Zuerst ging alles so schnell, dann unendlich langsam. Die Teppichfransen krochen über ihre Haut, als er sie zu Boden presste. Die Kälte in der Brust. Alles war so still. Keine Engel. Kein Gott. Nur die Einsamkeit und die höllischen Bilder. War es Julia kurz vor ihrem Tod auch so ergangen? Hatte sie dieselbe Einsamkeit durchlebt? Sie wird es nie wissen.

Wieder wischt sie sich mit dem Pulloverärmel über die Augen.

Sie hat kein Recht, sich zu bemitleiden.

Das weiß sie.

Alles, was im Sleep Inn passiert ist, ist ihre eigene Schuld. Sie war von zu Hause weggelaufen. Sie hatte sich hinausgeschlichen, nachdem ihre Mutter auf dem Sofa eingeschlafen war, und war zur Bushaltestelle gegangen, um nie wieder zurückzukommen.

Doch jetzt wird sie bald zurückkehren. Das hat der rothaarige Polizist gesagt, bevor er den Notizblock zugeklappt und sie allein im Vernehmungsraum zurückgelassen hat.

Sie trinkt einen Schluck Teewasser. Sie weiß nicht mehr, wie lange sie hier schon sitzt. Keine Ahnung, wo ihre Uhr ist. Vielleicht noch im Motel.

Dinge, Menschen, jederzeit kann man sie verlieren, überall. Julia hat sie verloren und jetzt auch Camilla. Sie hat das Gefühl, als folge ihr der Tod überallhin.

Die Tür wird geöffnet. Der rothaarige Polizist steckt den Kopf ins Zimmer, sagt, dass sie in ein paar Minuten nach Hause gefahren wird.

Sie nickt, und er lässt sie wieder allein.

Beim Gedanken an das stille rote Holzhaus wird ihr schwindelig. Die Diele mit dem Wandspiegel, der Geruch nach Mamas Zigaretten und dem Abwasch in der Spüle. Mama, die das Tuch immer fester um die Haare wickelt. Die wie besessen Zeitungsartikel über Hinrichtungen in anderen Ländern ausschneidet und diese an den Kühlschrank klebt. Ihr Kopf ist voller Gift, ihre Arme mit Zeichnungen von elektrischen Stühlen bedeckt, auf denen den ganzen Tag über Schuldige hingerichtet werden. Sie spricht wenig, doch ihre Worte sind hart und schneiden direkt ins Herz. Jorun denkt an die Badewanne, die Mama mit Tränen gefüllt hat, die auch ihre Tränen waren, bevor sie weggelaufen ist. Jetzt kann Jorun nicht mehr weinen. Es ist, als wären die Tränen in ihr versteinert.

Sie will nach dem Rothaarigen rufen, darum bitten, dass sie das Revier allein verlassen darf. Sie will von hier weg. Doch sie schweigt und sieht nur wieder nach oben zu den Leuchtröhren.

KAPITEL 6

Der Honda steht ganz hinten auf dem Revierparkplatz. Sanna öffnet vorsichtig die Tür zum Rücksitz und wünscht sich dabei, sie müsste nicht ihren ganzen Besitz dort lagern, weil das Kofferraumschloss kaputt ist.

Das Zimmer, das sie bei einer Familie in Oskarshamn gemietet hat, hat zwar Schrank und Kommode, riecht aber seltsam, weshalb sie ihre Kleidung und anderen Sachen im Auto aufbewahrt, bis sie eine neue Unterkunft gefunden hat. Auf dem Beifahrersitz liegt das Schaffell ihres Vaters. Sie rollt es zusammen und zwängt es zwischen zwei Tüten auf dem Rücksitz, damit Jorun Larsen nicht darauf sitzen muss.

Sie schaudert leicht, als ihr klar wird, dass sie immer noch die Mordakte in der Hand hält. Sie öffnet die Fahrertür und schiebt sie unter die Fußmatte.

Als sie ein paar Minuten später mit den Händen am Lenkrad dasitzt, fällt ihr Blick im Rückspiegel auf das Schaffell. Es ist das Einzige, was ihr von ihrem Vater geblieben ist. Bei der Arbeit hatte er es immer dabei.

Sie sieht ihren Vater vor sich. Ingemar Berling, Polizist in Visby. Er saß gerade am Meer in seinem Streifenwagen und aß sein Mittagessen, als auf dem Revier ein Notruf wegen eines potenziell betrunkenen Fahrers einging und die Zentrale ihn in ein Wohngebiet im Norden von Visby schickte. Ingemar sah das Auto sofort, als er in das Viertel einbog, einen blauen Opel, der auf der falschen Straßenseite dahinschlingerte, auf den Kreisverkehr und die Landstraße 149 zu. Er hatte keine Zeit, auf den Kollegen zu warten, der bereits unterwegs war. Ingemar gelang es, den Wagen am Gehsteig zum Halten zu bringen, und klopfte dann ans Fahrerfenster. Ein Mann kurbelte es herunter. Ingemar bat ihn auszusteigen, doch der Fahrer weigerte sich. Auf dem Rücksitz saßen zwei Kinder, ein fünfjähriges Mädchen und der zweijährige Bruder, nicht angeschnallt und ohne Jacken. Ingemar half den Kindern aus dem Auto und befahl ihnen, auf dem Gehsteig zu warten. Währenddessen schloss der betrunkene Mann sich in dem Opel ein und wollte nicht herauskommen. Ingemar ging zu seinem Streifenwagen zurück, funkte den Kollegen, der immer noch unterwegs war, an und wollte dann eine Decke für die Kinder aus dem Kofferraum holen. Die Zeugen schilderten, wie ein Motor aufheulte und Kinder schrien. Der Opel fuhr direkt auf Ingemar zu und tötete ihn beinahe auf der Stelle.

Sanna kam danach erst bei Verwandten unter und schließlich in einer Pflegefamilie. Eine zehnjährige Vollwaise, deren Mutter gestorben war, als Sanna gerade mal ein Jahr alt gewesen war. Aus reiner Sturheit erzielte sie so gute Leistungen in der Schule in Visby, dass sie zwei Schuljahre überspringen konnte, und bewarb sich danach als eine der Jüngsten aller Zeiten an der Polizeihochschule. Ihr einziger Wunsch war, Polizistin zu werden, wie ihr Vater.

Als sie vor dem Revier vorfährt, sieht sie Jorun Larsen sofort, die hinter den Glastüren am erleuchteten Empfang wartet. Jemand hat ihr eine große Daunenjacke und eine Mütze gegeben, und sie trägt Winterstiefel.

Sanna steigt aus und bedeutet dem Mädchen zu kommen. Öffnet die Beifahrertür. Jorun starrt in den Innenraum, als ob es dort spuken würde.

»Ich kann auch hinten sitzen, falls …«, beginnt sie, verstummt aber beim Anblick der vielen Tüten auf dem Rücksitz.

»Tut mir leid, dass es so eng und unordentlich ist«, sagt Sanna. »Aber ich habe hier vorne für dich Platz gemacht.«

Jorun setzt sich, lehnt den Kopf zurück und schließt die Augen. Sanna besteht darauf, dass sie sich anschnallt, bevor sie den Motor wieder anlässt. Das Radio schaltet sich ein, es wird immer noch über den Palme-Mord berichtet.

»Wäre es möglich, dass wir beim Motel vorbeifahren?«, fragt Jorun.

»Was im Zimmer war, hat man als Beweismaterial sichergestellt, aber du bekommst deine Sachen sicher später zurück. Wenn alles untersucht ist, schickt man sie dir nach Hause.«

»Nein, ich wollte nur sehen, ob die Putzfrau da ist, die …«

»Ich verstehe, aber ich habe die Anweisung, dich auf direktem Weg nach Hause zu fahren. Deine Mutter wartet auf dich. Die Fahrt dauert ein paar Stunden, je nachdem, wie die Straßen sind, mein Auto ist ziemlich alt …«

Jorun nickt schweigend und zupft an einem Nagelhäutchen. Die Haare fallen ihr über die Wangen.

Sanna zögert, wirft dem schlaksigen Teenager einen Blick zu. Sieht auf den Polohemdkragen, unter dem sich das schreckliche Trauma verbirgt, das sie durchgemacht hat. Die grauen Augen voller Trauer.

Sanna weiß nicht genau, warum, vielleicht aus Mitleid, aber sie wendet und fährt in die entgegengesetzte Richtung, zum Sleep Inn.

KAPITEL 7

Der Schlüsselbund klirrt an Harriets Hüfte. Ständig muss sie daran denken, was am Abend zuvor passiert ist. Die Polizeiautos, dicht an dicht auf dem Parkplatz. Wie es dem überlebenden Mädchen wohl geht?

Harriet bleibt vor Delilahs Zimmer stehen. Alles ist still. Vielleicht ist der Schlangenbesitzer vor dem Porno eingeschlafen, dessen Stöhnen vorhin zu hören gewesen war. Sie geht zum nächsten Zimmer. Flüchtet sich in andere Bilder, um den Ekel zu verdrängen.

Die Kindheit in der Serra de Estrela. Die Berge und die Hitze. Der Eisvogel, der im Bach an der steilen Böschung fischt. Großvater im Schatten unter den Olivenbäumen. Die Gassen und der blühende Friedhof von Seixo Amarelo.

Die Teenagerjahre mit ihrer Mutter in Schweden. Mamas Stolz, als sie dank der Hilfe einer Verwandten die kleine Wäscherei im Zentrum von Stockholm kaufen konnte. Ihre Kastanienaugen waren schwer vor Tränen und Glück gewesen. Das Vertrauen in den schwedischen Traum unendlich.

Die Tulpen. Manchmal kaufte Mama Tulpen auf dem Marktplatz, die in braunes Papier eingeschlagen waren. Zu Hause legte sie sie in den Kühlschrank und hob sie auf, bis jemand zu Besuch kam. Pfirsichfarbene Tulpen.

»Hey, du!«

Delilahs Besitzer steht in seiner Zimmertür und winkt sie herrisch zu sich. Als sie sich nähert, stößt er die Tür weit auf. Es stinkt nach Schnaps und Schweiß. Im Fernseher in der Ecke läuft immer noch der Porno, ist jedoch auf lautlos gestellt. Auf dem Boden unter dem Kunststoffsessel liegt ein Handtuch.