Krammers Faktum - Ray Mohra - E-Book

Krammers Faktum E-Book

Ray Mohra

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Beschreibung

Spätsommer 2024. Vierzig Jahre ist es nun her, dass Andi Krammers Vater ermordet wurde, als in dessen ehemaliger Wohnung plötzlich seltsame Dinge geschehen. Ein herbeigerufener Geisterbeschwörer findet dort schließlich ein "Faktum" und verkündet, dass der Geist des ermordeten Krammer den Kontakt zu seinem Sohn Andi sucht, der inzwischen in Bayern lebt und keine Ahnung davon hat, dass in seiner unmittelbaren Nähe ein gefährlicher Frauenkiller sein Unwesen treibt. Eine äußerst turbulente und spannende Geschichte nimmt ihren Lauf, doch zunächst ist die Frage zu klären, wie man einen Geist nach Bayern schafft.

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Ein Wort vorab

Diese Geschichte und die darin beschriebenen Personen sind größtenteils frei erfunden. Ähnlichkeiten mit tatsächlich existierenden Personen sind entweder zufällig oder wurden mit den betreffenden Leuten abgesprochen. Bei den vorkommenden Städtenamen ist es so: Manche Orte gibt es wirklich, manche nicht. Bei einigen Beschreibungen war ich so frei, auch schon mal von der Realität abzuweichen.

Auf die Verwendung von Gendersprache oder entsprechenden Zeichen wie Sternchen oder Doppelpunkte habe ich bewusst verzichtet, weil mir ein gut lesbarer und verständlicher Text wichtiger war als falsch verstandene politische Korrektheit.

Da es sich bei der Geschichte auch um einen Krimi handelt, kommen an manchen Stellen Beschreibungen von Gewalt vor. Wer so etwas nicht lesen mag, nimmt lieber ein anderes Buch zur Hand. Mir persönlich liegt die Auseinandersetzung mit dem Thema Gewalt sehr am Herzen, und ich finde es wichtig, hinzuschauen, wenn sie passiert.

Krammers Faktum ist die Fortsetzung meines Romans Krammers Turntable. Wer wissen möchte, was vorher geschehen ist, ist herzlich eingeladen, zuerst die spannende Vorgeschichte zu lesen. Dieser Roman funktioniert aber auch unabhängig von seinem Vorgänger für sich allein – und umgekehrt.

Und weil wir uns in dieser teils sehr persönlichen Story schon ein bisschen näherkommen werden, sagen wir einfach du zueinander, ok?

Und jetzt wünsch ich dir viel Spaß beim Lesen!

PROLOG

»Krass, oder?«

Lisa Fechtner sah Karola ungläubig an. Redepausen wie diese gab es in ihrer langen Freundschaft nicht sehr oft. Und wenn, dann wurden sie ganz sicher irgendwann durch ein prustendes Lachen der beiden unterbrochen. Aber diesmal war es anders, denn die sich ausbreitende Stille war bedrückend und unheimlich zugleich. Karolas ernster Gesichtsausdruck gab Lisa klar zu erkennen, dass sie weder etwas ausgelassen noch hinzugedichtet hatte, und dass alle Details ihres Berichtes der Wahrheit entsprachen. Wenn sie sich auf eines verlassen konnte, dann auf Karolas Ehrlichkeit. Doch gerade das machte ihre Geschichte so ungeheuerlich …

Ach, weißt du was? Ich habe eine Idee. Bevor wir in diese Geschichte einsteigen, würde ich dir gerne etwas zeigen, wenn du erlaubst. Ich denke, es macht Sinn, wenn du dies mit eigenen Augen siehst, denn es ist – und ich übertreibe nicht – komplett abgefahren!

Aber keine Angst, das Ganze ist ungefährlich … nun ja, ich sag mal so: Es ist relativ ungefährlich. Aber ich verspreche dir eins: Es wird dir den Atem rauben und … na ja, danach wirst du bestimmt einige Dinge mit anderen Augen sehen.

Bereit? Gut, dann los!

Hier geht’s rein … Vorsicht, Stufe! Moment, ich mache nur grad die Haustür auf.

Woher ich den Schlüssel habe? Na, hör mal! Als Erzähler dieser Geschichte habe ich die Schlüssel zu jedem Haus und zu jeder Wohnung hier … hahaha, ich mach nur Spaß!

Ach, übrigens, du hast Glück. Heute Nacht ist ein perfekter Zeitpunkt, denn es ist Neumond und unser kleines Experiment funktioniert am besten bei völliger Dunkelheit.

Jetzt muss ich dich nur bitten, leise zu sein. Hier im Hausflur schallt es sehr laut.

Was ist? Du wirkst auf einmal so erschrocken. Ja, gut, ok, ich hätte vielleicht erwähnen sollen, dass unser kleiner Ausflug nicht 100 % legal ist. Und natürlich darf niemand davon erfahren, was wir hier tun.

Was? Nein, das ist kein Einbruch in dem Sinne. Wir besuchen nur jemanden – ok, zugegeben – ohne sein Wissen. Aber wenn du nicht möchtest, können wir das Ganze hier auch gerne abbrechen. Nicht abbrechen? Sehr gut, dachte ich mir’s doch. Also gut, dann los! Hier ist es schon.

Übrigens: Die beiden, die hier wohnen, heißen Thomas und Ferenc Brandstätter. Vor etwa anderthalb Jahren sind sie hier eingezogen. Nein, die sind im Moment ganz bestimmt nicht zu Hause.

Pssst! Nicht, dass uns jemand hört!

So, hier ist es. Ich mach schnell die Wohnungstür auf, Sekunde … so, komm rein … und bitte die Tür wieder zumachen!

So, da wären wir.

Wie bitte? Nein, hier drin müssen wir nicht mehr flüstern. Ich führe dich kurz durch, ok?

Das hier ist die kleine Eingangsdiele. Sehr hübsch geworden, finde ich. Früher war diese Wohnung hier in einem sehr schlechten Zustand. Man kann sagen, sie war regelrecht heruntergekommen.

Aber die Brandstätters haben hier viel Arbeit und Liebe reingesteckt. Außerdem haben sie einen guten Geschmack; das muss man den beiden lassen.

Hier schau mal! Auf dem Foto. Das sind sie. Da waren sie gerade auf Mykonos. Süß, oder?

Und das hier ist das Wohn-/Esszimmer. Warte, ich mach grad das Licht an. Wow! Ich muss jedes Mal selbst staunen, wenn ich hier bin. Das hier ist absolut kein Vergleich zu früher. Die reinste Drecksbude war das … das kannst du dir sicher nicht vorstellen.

Aber jetzt ist es das genaue Gegenteil. Zum Beispiel hier die kleine Bar neben der Anrichte, und da der schöne massive Esstisch mit den modernen Stühlen und dort die Couch. Und immer picobello aufgeräumt ist es hier. Immer! Die beiden sind – unter uns gesagt – ein kleines bisschen putzverrückt, aber was soll´s? Sie fühlen sich wohl dabei, und das ist die Hauptsache.

Was das hier ist? Das ist ein traditioneller ungarischer Weinkrug1, ein Erbstück von Ferenc´ Großmutter. Aber bitte stell ihn wieder hin, Ferri hängt sehr an diesem Objekt.

Dort auf der linken Seite hat früher eine monströse dunkelbraune Eichenschrankwand gestanden. Der ganze Raum hat allein dadurch viel kleiner und dunkler gewirkt. Gegenüber stand ein verlaustes altes Sofa mit farbigem Streifenmuster. Auf dem Boden war ein ausgefranster grüner Teppich mit unzähligen Brandspuren von Zigarettenkippen. Und dort vorne auf dem Balkon und im Garten – ok, das kannst du jetzt im Dunklen nicht sehen – da hat es früher ausgesehen wie im Hinterhof einer insolventen Kneipe. Überall lagen Bierflaschen rum und Abfall … absolut kein Vergleich zu heute. Die Brandstätters haben da draußen mit viel Geld und viel Liebe ein kleines Gartenparadies geschaffen, das es hier in Bröhlheim bestimmt kein zweites Mal gibt.

Die Tür dort? Das ist das Schlafzimmer. Aber da schauen wir jetzt lieber nicht hinein. Ein bisschen Privatsphäre wollen wir den beiden schon noch lassen, oder?

Nein nein, die sind wirklich nicht zu Hause, glaub mir! Ich sag nur: Kölner Nachtleben. Kennst du das Moonshine? Vor morgen früh tauchen die hier bestimmt nicht auf.

Jetzt schau dich mal um. Fällt dir irgendwas auf? Nein? Eben! Man sieht es dieser Wohnung kein bisschen an.

Was? Ach so, du kennst die Vorgeschichte nicht? Nun ja, genau hier an diesem Ort hat vor vielen Jahren ein brutaler Mord stattgefunden. Gleich da vorne war das. Die Tat hat seinerzeit ganz Bröhlheim aufgeschreckt. Der damalige Bewohner – Matthias Krammer hieß er – ist kaltblütig mit einem Kissen erstickt worden. Ja, genau dort, wo du grad stehst. Der alte Krammer war Alkoholiker und … ok, sagen wir mal so: Er war schon ein ziemlicher Stinkstiefel, aber wie auch immer; solch ein Ende wünscht man niemandem. Sein Todeskampf hat sich über fast sechs Minuten hingezogen!

Wann das war? Hmm, lass mich überlegen, im Spätsommer 1984 ist das passiert. Und dabei hatte dieser Tag für Matthias Krammer so gut begonnen, denn sein Sohn hatte sich überraschend zu einem Besuch angemeldet. Der heißt übrigens Andi und war damals siebzehn, also, einen Tag vor seinem achtzehnten Geburtstag war das, um genau zu sein.

Na ja, anfangs verlief das Zusammentreffen der beiden eher frostig; sie hatten sich nach der Trennung der Eltern nur noch selten gesehen.

Abends sind sie noch zusammen runter in die Stadt gegangen, ins Laternchen. Erinnerst du dich noch ans Laternchen? Die legendäre Eckkneipe mit FC Köln-Fanclub-Faktor. Ja, genau – da, wo jetzt der McDonald´s drin ist … äh, bitte nichts anfassen, danke!

Jedenfalls … an diesem Abend im Laternchen hat der alte Krammer wieder mal zu tief ins Glas geschaut, und ein paar Stunden später ist es hier in der Wohnung zu einem furchtbaren Streit zwischen ihm und seinem Sohn Andi gekommen. Krammer hatte seine Exfrau mit den schlimmsten Ausdrücken beschimpft und sich regelrecht in Rage geschrien. Andi hat es dann irgendwann nicht mehr ausgehalten und ist raus aus der Wohnung; der wollte nur noch weg von hier.

Ja, und nur kurz danach ist schließlich Matthias Krammers Mörder hier reingekommen. So, wie es aussieht, hatte der draußen nur auf eine passende Gelegenheit gewartet.

Schlimme Geschichte … aber immerhin: Der Täter ist wenig später gefunden und eingesperrt worden. Bemerkenswert an der ganzen Geschichte ist, dass Andi Krammer den Mörder seines Vaters fast im Alleingang aufgespürt hat. Und dabei wäre er um ein Haar selbst noch umgekommen. Der Junge hatte mehr als ein Schutzengelchen, das kannst du mir glauben!

Was aus dem Killer geworden ist? Soweit mir bekannt ist, ist er nach einer langen Haft in ein Seniorenheim irgendwo in Norddeutschland gezogen. Der lebt sogar noch, hab ich gehört.

Nein, keine Sorge, von dem geht keine Gefahr mehr aus – der ist völlig blind, sein eigener Sohn hatte ihm nämlich im Kampf …

Ah, ich merk schon, du wirst langsam ungeduldig. Gut, dann will ich dich nicht länger auf die Folter spannen. Bleib jetzt bitte mal genau dort stehen und mach die Augen zu! Ja, genau so. Ich mach jetzt das Licht aus und zähl bis drei, ok?

Also: eins … zwei … drei.

Augen jetzt bitte auf! Es dauert ein bisschen, aber so langsam müsste es ...

Und? Siehst du es? Siehst du es? Krass, oder?

1 Ungarischer Miskakancsó

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

KAPITEL 28

KAPITEL 29

KAPITEL 30

KAPITEL 31

KAPITEL 32

KAPITEL 33

KAPITEL 34

KAPITEL 35

KAPITEL 36

KAPITEL 37

KAPITEL 38

KAPITEL 39

KAPITEL 40

KAPITEL 41

KAPITEL 42

KAPITEL 43

KAPITEL 44

KAPITEL 45

KAPITEL 46

KAPITEL 47

KAPITEL 48

KAPITEL 49

KAPITEL 50

KAPITEL 51

KAPITEL 52

KAPITEL 53

KAPITEL 54

KAPITEL 55

KAPITEL 56

KAPITEL 57

KAPITEL 58

KAPITEL 59

KAPITEL 60

KAPITEL 61

KAPITEL 62

KAPITEL 63

KAPITEL 64

KAPITEL 65

KAPITEL 66

KAPITEL 67

KAPITEL 68

KAPITEL 69

KAPITEL 70

EPILOG

DANKE

KAPITEL 1

»Krass, oder?«

Lisa Fechtner sah Karola ungläubig an. Redepausen wie diese gab es in ihrer langen Freundschaft nicht sehr oft. Und wenn, dann wurden sie ganz sicher irgendwann durch ein prustendes Lachen der beiden unterbrochen. Aber diesmal war es anders, denn die sich ausbreitende Stille war bedrückend und unheimlich zugleich. Karolas ernster Gesichtsausdruck gab Lisa klar zu erkennen, dass sie weder etwas ausgelassen noch hinzugedichtet hatte, und dass alle Details ihres Berichtes der Wahrheit entsprachen. Wenn sie sich auf eines verlassen konnte, dann auf Karolas Ehrlichkeit. Doch gerade das machte ihre Geschichte so ungeheuerlich …

»Warum hast du nicht bei der Polizei angerufen?«, wollte Lisa wissen.

»Na, du bist gut, Süße!«, konterte Karola ein bisschen lauter als gewollt.

Lisa sah ein, dass der aktuelle Stand der Erkenntnisse wohl kaum einen Anruf bei der Polizei rechtfertigte. Selbst Karolas akribisch geführte Notizen in ihrem kleinen Paperblank konnten daran nichts ändern. Im Gegenteil, man hätte sie sicher für eine hysterische Irre gehalten.

»Ich mach mir wirklich langsam Sorgen, weißt du? Am Anfang hab ich noch geglaubt, es wäre ein Witz oder so. Das Ganze fing nämlich schon letztes Jahr mit meinem Ex-Mieter an … Klaus Gollert!«

Die Frauen verdrehten die Augen. Karolas Ex-Mieter war schon sehr speziell.

»Ich hab dir das noch gar nicht erzählt, weil das einfach so lächerlich war. Gollert hat mich damals mitten in der Nacht angerufen, Lisa. Mitten in der Nacht! Der war völlig aus dem Häuschen und hat mich angebrüllt, ich hätte ihm irgendwas verschwiegen, und dass das auf jeden Fall ein Nachspiel hätte. Der war kaum zu verstehen, so in Rage war der.«

»Verschwiegen? Was hat der damit gemeint?«

»Keine Ahnung. Hab ihn das auch ein paarmal gefragt, aber der sagte immer nur, dass ich das selbst ganz genau wüsste, und dann hat er sich auf keine weitere Diskussion eingelassen. Stattdessen hat er mir immer mit diesem beschissenen Nachspiel gedroht, ich weiß gar nicht mehr, wie oft der das wiederholt hat. Aber gehört hab ich seitdem nix mehr von dem. Der hat die Wohnung nur holterdiepolter verlassen und sich dann nie mehr gemeldet. Wie auch immer – mir soll’s recht sein.«

Karola schaute in ihr Rotweinglas, während sie es schwenkte. Dann schüttelte sie den Kopf und trank einen großen Schluck.

»Und was ist jetzt mit den Brandstätters?«

»Ach, Süße, du weißt doch, ich liebe die beiden! Solche Mieter kannst du dir nur wünschen. Und dass die gleich nach dem Gollert eingezogen sind, war ein absoluter Glücksfall! Die haben die Wohnung so schön und liebevoll eingerichtet, Lisa, die würdest du nicht mehr wiedererkennen.« Karola ließ ihre Schultern hängen. »Aber seit ungefähr drei Monaten ist immer irgendwas anderes. Mal läuft das Wasser nicht, mal geht das Licht nicht mehr aus. Oder sie hören irgendwelche seltsamen Geräusche … in einer Reihe geht das so. Du glaubst ja nicht, wie viele Klempner, Elektriker, Maler und was weiß ich noch alles dort in letzter Zeit auf der Suche nach irgendwelchen technischen Fehlern waren. Aber dann heißt es anschließend immer wieder nur …«

Sie verzog ihr Gesicht und sprach nun ganz im Duktus eines rheinischen Handwerkers weiter:

»Alles jood, Frau Wollef, mir han nix jefungge. Datt sin dann mit demm Anfahrtswääsch sechsonfuffzisch Euro2. Oh Mann, ich könnte kotzen!«

Lisa zog eine Schnute, während Karola weiterredete:

»Aber wenn die Brandstätters jetzt auch noch ausziehen, dann hab ich keine Lust mehr auf die Scheißwohnung, glaub mir!«

»Na ja, ich hab dich gewarnt. In dieser Wohnung ist ein Mord passiert, das ist einfach kein gutes Karma!«

»Jahaa, ich weiß es! Wie oft willst du mir das noch unter die Nase reiben, hmm?«

Karola ließ sich mit dem Rücken ins Sofapolster fallen und schnaubte genervt.

»Aber die war so günstig zu haben damals. Genau das, was ich gesucht hab. Mehr Geld hätt´ ich zu der Zeit eh nicht aufbringen können. Und: Ich hab nie ein Geheimnis daraus gemacht, was da passiert ist. Außerdem ist der Mord schon mehr als vierzig Jahre her …«

Eine Mischung aus Murmeln und Rascheln drang vom Hausflur ins Wohnzimmer. Die Glastür zum Wohnzimmer ging auf.

»Mama! Warst du jetzt etwa doch noch einkaufen?«

»Hi, Kleines«, keuchte Lisas Mutter und rang nach Luft. »Ach, du hast Besuch. Hallo Karola.«

»Hallo Frau Wallmann.«

»Ich hab dir doch gesagt, ich mach das!«

»Ach, das bisschen Einkauf, das war kein Problem.«

»Aber der Doc hat doch gesagt, du sollst dich nicht mehr so anstrengen!«

»Ach der … der hat ja immer was zu meckern. Damit verdient der sein Geld. Hui, mir ist ganz schwindelig, ich muss mich kurz setzen.«

Frau Wallmann ließ sich in einen Sessel plumpsen und schnaufte. Lisa sah Karola an und ihr Gesichtsausdruck sagte:

Irgendwann dreh ich noch durch!

»Wie geht’s dir, Karola?«, erkundigte sich Lisas Mutter. »Lang nicht mehr gesehen.«

»Danke, gut, Frau Wallmann. Na ja, ich bin immer ziemlich beschäftigt, aber ich will mich nicht beklagen. Und wie geht es Ihnen?«

»Ach, danke, Kind, es geht schon. Ist halt alles nicht mehr so wie früher.«

Frau Wallmann lag mehr auf dem Sessel, als dass sie saß, und ihr Blick ging zur Zimmerdecke. Ihre Augen stellten sich auf unendlich und für einen Moment schien sie in alte Erinnerungen abzutauchen.

Ingrid und Theo Wallmann hatten damals eine Frühstückspension in Bröhlheim besessen. Außerdem hatte Theo damals noch eine kleine Wachdienstfirma. Der unerwartete Tod von Wallmann vor etwas mehr als zehn Jahren hatte sie alle wie ein Blitz aus heiterem Himmel getroffen. Die bis dahin noch erstaunlich fitte Ingrid Wallmann fand in der Folgezeit nicht mehr die Kraft, sich um die Pension zu kümmern, weswegen sie schließlich alles verkauft hatte und bei ihrer frisch geschiedenen Tochter eingezogen war.

»Ähm – hat vielleicht jemand Hunger?«, fragte Lisa in die Redepause hinein. »Ich könnte uns eine TKP in den Backofen schmeißen.«

»Tiefkühlpizza! Ja, genau, sowas brauch ich jetzt unbedingt!«

»Du auch, Mama?«

»Nein danke, Schatz, ich hab keinen Hunger. Aber esst ruhig was. Ich geh jetzt sowieso lieber ins Bett, fühl mich ein bisschen schlapp.«

Frau Wallmann erhob sich mühsam, wobei sie die helfende Hand ihrer Tochter wegschob. Lisa verzog genervt das Gesicht.

»Hat mich sehr gefreut, dich mal wiederzusehen, Karola! Lass dich doch öfter mal hier blicken!«

»Hab mich auch gefreut, Frau Wallmann. Ja, mach ich.«

Die alte Dame lächelte nun ihre Tochter an. Allerdings schwang in diesem Lächeln eine gewisse Tiefgründigkeit mit. Und dann sagte sie mit fester Stimme etwas, das weder Lisa noch Karola in diesem Moment verstehen oder einordnen konnten.

»Mach die Augen zu und öffne dein Herz. Dann wirst du sehen, mein Kind.«

Mit diesem Satz verließ sie das Wohnzimmer.

Hä? gestikulierte Lisa wortlos.

Karola reagierte mit gerunzelten Brauen und zog ihre Achseln hoch.

Nach ein paar Sekunden des Schweigens fragte Lisa:

»Ok, wo waren wir?«

»TKP!«

Lisa schnippte mit dem Finger und zeigte auf ihre beste Freundin:

»Janz jenau, Schätzelein!«

Lisa hüpfte beschwingt in die Küche und zog zwei Tiefkühlpizzen aus dem Eisfach. Dann machte sie den Backofen an und legte die gefrorenen Teigscheiben auf zwei Bleche. Sie freute sich darüber, dass Karola bei ihr war. In den letzten Jahren hatten sie sich ein wenig aus den Augen verloren; das wollten sie unbedingt ändern.

In diesem Moment erschien Karola mit leerem Blick in der Küchentür und hielt ihr Handy hoch.

»Was ist?«, fragte Lisa erschrocken.

»Keine Ahnung. Aber auf jeden Fall nix Gutes. Die Brandstätters fragen, ob ich jetzt sofort mal zu ihnen kommen könnte.«

2 Alles in Ordnung, Frau Wolf, wir haben nichts gefunden. Das sind dann mit Anfahrt sechsundfünfzig Euro.

KAPITEL 2

»Nein nein nein, stopp stopp stopp! Der C-Teil ist sechzehn Takte lang, verdammt!«

Zum zweiten Mal wurde der Song abgebrochen und Bandleader Karlheinz »Quincy« Reinhardt schaute angepisst über den Rand seines Crashbeckens. Andi Krammer schreckte auf. Sein Gesicht war unwillkürlich rot angelaufen, weil drei Augenpaare auf ihm ruhten. Wieder einmal.

»Tut mir leid, mit den Diamonds hatten wir den C-Teil immer abgekürzt, weil der den ganzen Drive rausnimmt. Wie wär´s mit acht Takten statt sechzehn?«

Quincy Reinhardt kniff die Augen zusammen. Der Bandname Fluffy Diamonds oder einfach nur Diamonds war für ihn ein absolutes Reizwort und er schien kurz davor zu explodieren.

Er atmete tief ein und antwortete mit aufgesetzt ruhigem Tonfall, was ihm sichtlich Mühe bereitete:

»Wir sind hier aber nicht bei den Diamonds.«

Bassmann Konny Moser zog es für gewöhnlich vor, seinem Freund und Bandkollegen am Schlagzeug nicht zu widersprechen, denn das war sicherer. Vor allem, wenn Quincy in Rage war, konnte es zu unangenehmen Wortgefechten mit ihm kommen. Doch hinter seinem riesigen Kontrabass fühlte er sich geschützt und warf deshalb mutig ein:

»Der C-Teil ist w…w…wirklich scheiße.«

Quincy Reinhardt warf seine Sticks entnervt auf die Snare.

»Leute, der Gig ist in vier Wochen. Wir können doch jetzt nicht plötzlich alle Songs umarrangieren.«

»Na ja, umarrangieren ist vielleicht bissl übertrieben. Außerdem freuen sich die Leute doch, wenn der Refrain früher kommt. Dann ballert´s wieder schön und alle sind happy. Von mir aus machen wir’s gerne so, wie Andi sagt«, meinte Saxophonistin Sonja Pollinger.

Quincy Reinhardt ließ seinen verächtlichen Blick langsam über die Bandmitglieder schweifen. Leutnant William Bligh wird seine Crew auf der sagenumwobenen Bounty im Jahre 1789 mit einem vergleichbaren Bick angeschaut haben, als deren Sprecher ihre Meuterei offiziell verkündet hatte.

Dass ihm gerade die schöne Sonja in den Rücken gefallen war, versetzte ihm einen kleinen Stich. Auf sie hatte er nämlich schon seit der Bandgründung vor vier Jahren ein heimliches Auge geworfen, doch nicht im Traum hätte er es gewagt, sie tatsächlich anzubaggern.

Sonja Pollinger war 29 und – wie schon erwähnt – bildhübsch. Sie arbeitete als rechte Hand im Laden ihres Vaters Joseph Pollinger, der als Chef und Gründer des gleichnamigen Musikhauses die Band seiner Tochter immer wieder mal mit preisgünstigem Equipment versorgte. Ein dummer Fehltritt hätte nicht nur unkalkulierbare Konsequenzen für den Fortbestand der Band gehabt, sondern auch für Quincys Traum vom großen Durchbruch. Aus diesem Grund vermied er tunlichst jegliche Anzüglichkeiten Sonja gegenüber, obwohl er sich selbst für einen Mann im besten Alter hielt, der sich die Frauen nur aussuchen musste.

Die Wahrheit war weniger sexy: Karlheinz »Quincy« Reinhardt war Ende fünfzig, und Jahrzehnte voller Rock’n’Roll und Weißbier hatten seinen Körper geformt. Er gab das beinah lächerliche Bild eines semiprofessionellen Altrockers ab, dessen Hoffnung auf den großen Erfolg immer noch lebendig war.

Quincy ließ die Schultern hängen und lenkte ein. Zumindest für den Moment.

»Gut. Dann also acht Takte C-Teil … dann Solo, Refrain und Schluss.«

Viermal schlug er die Drumsticks zusammen und der Song startete von neuem.

Andi Krammer war erst seit einem Monat dabei. Davor war er mehr als zehn Jahre Keyboarder bei den Fluffy Diamonds gewesen, einer Showband, die überwiegend auf geschlossenen Veranstaltungen wie Hochzeiten, Geburtstagen oder Firmenfeiern gebucht wurde. Die Konzertgagen und die Einnahmen als Klavierlehrer in einer Musikschule reichten gerade so für die Miete und das bisschen, was er sonst im Leben brauchte.

Kurz nachdem Horst Tuppek, der Gitarrist und Bandleader der Diamonds, wegen Steuerhinterziehung eine dreieinhalbjährige Haftstrafe antreten musste, hatte sich die Band aufgelöst, und Andi war gezwungen gewesen, sich einen neuen Job als Keyboarder zu suchen.

Im Musikhaus Pollinger war er dann zufällig auf die Suchanzeige der Band The Pinpricks gestoßen. Der Ansatz und das Motto der Pinpricks war, bekannte Rock- und Popklassiker mit einem neuen, frischen Gewand zu versehen und diese Lieder wahlweise im Jazz-, Tango- oder Reggae-Stil neu zu erfinden, was ihm auf Anhieb gefiel.

„Andi?“

Trotz seiner langjährigen Mitgliedschaft bei den Fluffy Diamonds war er – wie auch die anderen Bandkollegen – von Horst Tuppek wie ein Gastmusiker behandelt beziehungsweise bezahlt worden. Darüber hatte sich Andi zwar oft geärgert, doch rückblickend hatte dieser Umstand ein paar entscheidende Vorteile gehabt: Erstens bekam er feste Gagen pro Abend bezahlt und zweitens saß er jetzt nicht im Gefängnis.

„Andi?“

Apropos Gefängnis, dachte er in diesem Moment. Er fragte sich, was wohl aus diesem Gerald Kugler geworden war, der seinen Vater vor mehr als vierzig Jahren ermordet hatte. Um ein Haar hätte dieser Kugler ihn ebenfalls gekillt. Außerdem quälte es ihn bis heute, dass die Beziehung mit Lisa Wallmann nur ein paar Monate später in die Brüche gegangen war, wofür er sich selbst die Schuld gab. Nie wieder danach hatte er sich einer Frau so verbunden gefühlt.

„Andi?“

Nach seinem Musikstudium hatte er vorgehabt, die Welt zu erobern, doch sein Eroberungsfeldzug hatte nicht allzu lang angedauert. Er hatte sich hauptsächlich mit Kurzzeit-Engagements in Musicals und diversen Studiojobs über Wasser gehalten, und sein Traum von der großen Musikkarriere war schnell ausgeträumt gewesen.

Zwar hatte er sich in der Szene einen gewissen Namen gemacht, aber das bisweilen erbarmungslose Business hatte ihm alle Illusionen genommen. So hatte er sich irgendwann damit abgefunden, es nur bis in die zweite Reihe geschafft zu haben, und betäubte seinen Lebensfrust mit Bier und Zigaretten.

Er war hier in Bayern gestrandet und musste sich eingestehen, dass sein Leben sich letzten Endes als die gleiche beschissene Luftnummer entpuppt hatte wie das seines Vaters. Und das war von allen Erkenntnissen mit Abstand die schmerzhafteste.

»Andi!«

Der Angesprochene zuckte vor Schreck zusammen und hörte auf zu spielen.

»Äh, ja?«

»Bist du noch bei uns?«

Quincy Reinhardts Tonfall war nicht mehr angepisst, sondern besorgt.

»Hä? Oh, sorry – ich war wohl ein bisschen in Gedanken.«

»Ein b…bisschen in Gedanken, hahaha, du b…bist gut!«

Andi begriff nicht und sah Konny fragend an.

»Nachdem du den … C-Teil ungefähr drei…ei…eißig M…Mal wiederholt hast, wollten w…wir schon einen Kr… einen Kr… einen Krankenwagen rufen«, kam es aufgeregt von Konny, der sich bereits in eine veritable Panik hineingesteigert hatte.

»Oh …«

Auch Sonja Pollingers Gesichtsausdruck sah sorgenvoll aus.

»Geht’s dir gut, Andi?«, fragte sie nur.

»Jaja, geht schon. Sorry, Leute, ich bin heut Abend ein bisschen durch den Wind. Wahrscheinlich einfach zu wenig Schlaf in letzter Zeit.«

»Dann lass uns lieber aufhören für heute«, befand Quincy und erntete allgemeine Zustimmung.

»Gehen wir n…noch rüber ins K…k…kommod?«, schlug Konny vor, aber Sonja schüttelte den Kopf. »Nee, ich fahr dann lieber jetzt heim, morgen muss ich früh in den Laden, Monatsabschluss.«

Konny zuckte mit den Achseln und sah zu Andi, der aber ebenfalls abwehrend die Hände hob.

»Nee, tut mir leid. Ein anderes Mal gerne. Muss in die Kiste.«

Wortlos schalteten die Musiker ihre Instrumente und die Anlage aus und zogen sich die Jacken an. Der Proberaum befand sich im Keller einer ehemaligen Gummibärchenfabrik und lag etwas außerhalb der Stadt.

Quincy knipste das Licht aus, verriegelte die Eisentür des Kellers und gesellte sich schließlich zur Verabschiedungsrunde oben auf dem Parkplatz.

Es war noch hell zu dieser Zeit, aber die Sonne war schon hinter den Hausdächern verschwunden. Im Gegensatz zum kühlen Proberaum unten im Keller war es hier draußen noch sehr warm, weswegen Sonja ihre Jeansjacke wieder auszog und in den Korb ihres Fahrrads legte.

»Äh, glaubst du, dass es im Moment eine gute Idee ist, mit dem Radl allein hier rumzufahren?«, fragte Quincy.

»Wieso das?«

»Na ja, w…wegen dieser Lara Sch…sch…schuster. Es ist immer noch nicht raus, w…w…was mit der passiert ist«, gab Konny zu bedenken.

»Ja, ich weiß schon. Aber sollen wir jetzt deshalb alle unsere Gewohnheiten ändern? Außerdem ist es noch hell.«

»Ich kann dich auch gern nach Hause bringen. Dein Fahrrad passt locker in meinen Kombi«, schlug Andi vor.

»Ach, Quatsch, das wär ja ein Umweg für dich. Nee, wirklich, ganz lieb von euch, aber das passt schon. Also nächste Woche Dienstag wieder ganz normal um sieben?«, fragte sie mit einem Haargummi zwischen den Zähnen, während sie sich einen Zopf band.

»Okidoki«, antwortete Quincy. »Und guckt euch bitte alle nochmal die Standards an! Wär peinlich, wenn wir die vergeigen.«

Allgemeines Kopfnicken.

»Alles klar, dann bis nächste Woche!«, verabschiedete sich Sonja und stieg in die Pedale.

Während sie lautlos davonglitt, schauten die anderen ihr nach, und nachdem sie um die Ecke gebogen war, seufzte Quincy verträumt.

Andi schüttelte den Kopf und Konny grinste.

»Sag mal, was war das eben, Andi? Ich meine … hast du öfters solche Aussetzer? Also, falls ja, wär’s gut, wenn wir davon wüssten. Bei einem Gig möcht ich sowas lieber nicht erleben.«

»Nein, ich …«, begann Andi und es war ihm sichtlich unangenehm.

Quincy und Konny sahen ihn an, als erwarteten sie eine Erklärung von ihm. Doch er konnte ihnen doch unmöglich die Wahrheit sagen, nämlich, dass er in letzter Zeit immer wieder mit regelrechten Angstzuständen zu kämpfen hatte? Nein, auf keinen Fall! Sie würden ihn für einen Psycho halten und umgehend nach einem anderen Keyboarder suchen. Dabei wusste Andi ja selbst nicht, wo diese Scheißangst plötzlich herkam.

»Nein, wirklich, alles gut, Leute. Ich hab in der letzten Zeit nur ein bisschen viel um die Ohren. Aber ich krieg das schon auf die Reihe, versprochen!«

»Haupt…sache, es geht dir gut … ansonsten«, Konny klopfte ihm kumpelhaft auf die Schulter.

»Jaja, wirklich. Passt schon alles.«

»Ok, dann bis nächsten Dienstag.«

»Japp, bis dann. Ciao!«

Nach der obligatorischen Mucker-Umarmung startete Andi den Motor seines Opel Astra, während Quincy und Konny in Richtung der Bistro-Bar Kommod aufbrachen.

Dass sie dabei die ganze Zeit beobachtet worden waren, hatte keiner von ihnen bemerkt.

KAPITEL 3

Juli 2015

Elom Kouassi Prince Charles blickte aus dem Zugfenster und genoss die Aussicht auf die weiten Felder, die in der Abenddämmerung an ihm vorbeiflogen. Er war zwar völlig übernächtigt, aber dennoch gut gelaunt – ja, beinahe enthusiastisch, denn er war nun kurz davor, sein endgültiges Ziel zu erreichen: den Hauptbahnhof in Köln.

Dass der dreißigjährige Bauingenieur aus Togo sich überhaupt in Deutschland befand, war einer ganzen Reihe von Zufällen, Irrtümern und Planänderungen zu verdanken, denn ursprünglich hatte er vorgehabt, sein Glück in Paris zu suchen.

Auf seiner mehrwöchigen Irrfahrt durch Italien und Österreich saß Elom Kouassi Prince Charles also nun in der Regionalbahn nach Köln, was seinem Optimismus und der Vorfreude auf eine bessere Zukunft jedoch keinen Abbruch tat. Im Gegenteil.

Elom strich sich sein rotweiß kariertes Hemd glatt, lehnte sich in seinen Sitz und schloss die Augen. Im nächsten Moment wurde die Schiebetür hinter ihm geöffnet und der scheppernde Lärm aus dem Wagenübergang dröhnte ins Abteil.

»Fahrscheinkontrolle, die Fahrscheine bitte!«

Eloms Herz begann zu rasen. Mit einer Fahrscheinkontrolle hatte er so kurz vor dem Ziel nicht mehr gerechnet. Er besaß zwar ein Ticket, aber das war höchstwahrscheinlich in diesem Zug nicht gültig. Wie auch in den anderen Zügen davor. Außerdem verstand er kein Wort Deutsch, und so hoffte er, dass der Kontrolleur wenigstens ein paar Brocken Französisch oder wenigstens Englisch sprach, so dass er seine Situation erklären konnte.

Elom kramte das verknitterte und kaum lesbare Ticket aus der Gesäßtasche seiner Jeans und übergab es dem Schaffner mit einem freundlichen Lächeln.

Der Zugbegleiter nahm den Fahrschein entgegen und runzelte die Stirn. Dann schob er seine Schaffnermütze nach hinten. Er schien sich zu fragen, ob ihm in seinen vierzig Dienstjahren jemals ein vergleichbares Dokument überreicht worden war. Wohl eher nicht.

»Was ist das?«, wollte er von dem Fahrgast wissen und hielt ihm den Zettel hin.

Elom versuchte es mit Englisch:

»This is a ticket to Cologne. Please have a look here, it says Cologne.«

Natürlich wusste Elom, dass auf seinem Fahrschein nicht Cologne stand, sondern Colombes, die Industriestadt im Großraum von Paris. Aber diese Verwirrtaktik in Verbindung mit einem herzerweichenden Welpenblick hatte ihm schon ein paarmal die Weiterreise ermöglicht.

»Du hier falsch!«, hob der Schaffner an und hoffte, dass der Schwarzfahrer ihn verstand. Doch Elom schaute ihn nur an und zuckte mit den Schultern.

»Je voudrais aller à Cologne. Il est très important.«3, versuchte es Elom jetzt mit Französisch.

»Säts not se train tu Colombes. Sis is se train tu Köln«, belehrte ihn der Schaffner, der weder Französisch noch wirklich Englisch konnte.

»Oui … yes, I know. But it’s a big misunderstanding. Please let me ride the few stops to Cologne. I don't know where else to go.«4

Der Schaffner verstand nur Bahnhof und änderte seinen Tonfall.

»You hier rong! Se Ticket is not gilty!«

Die Worte des Uniformierten ergaben für Elom keinen Sinn, aber er spürte, dass er hier unerwünscht war. Deshalb stand er auf und nahm seine Sporttasche aus der Gepäckablage.

»Next stop you out, hörst du?«

Elom nickte unsicher und begab sich in Richtung der Ausgänge. Dann würde er halt den nächsten Zug nehmen, dachte er bei sich. Irgendwann würde er schon in Köln ankommen.

Es gab einen kleinen Ruck unter seinen Beinen und der Klang des Fahrgeräusches änderte sich. Der nächste Halt kündigte sich an, doch draußen war es bereits dunkel geworden und Elom konnte nichts durch die kleinen Türfenster erkennen.

Als der Zug endlich stoppte und die Türen sich öffnen ließen, bemerkte er, dass außer ihm kein anderer Fahrgast an dieser Haltestelle ausstieg, was ihm merkwürdig vorkam.

Nachdem der Regionalexpress seine Fahrt nach Köln ohne ihn fortgesetzt und sein schrilles Rauschen sich schließlich in der Stille des Abends verloren hatte, setzte sich Elom auf eine Wartebank. Er sah sich auf dem Bahnsteig um und realisierte, dass er hier völlig allein war. Aber wo war er überhaupt, fragte er sich?

BRÖHLHEIM stand auf dem Haltestellenschild über ihm.

Nun gut, ich kann warten, dachte er. Er verschränkte die Arme und ließ sein Kinn auf die Brust sinken. Die Ruhe tat ihm gut. Inzwischen war er schon seit fast drei Wochen unterwegs und diese Tatsache spürte er in jeder Faser seines Köpers.

Zwei Tauben, die auf einer Quertraverse direkt über ihm hockten, gurrten unablässig. Worüber sie sich wohl gerade unterhielten? Vielleicht hatten sie noch nie in ihrem Leben einen Menschen mit dunkler Hautfarbe gesehen und machten sich über ihn lustig. Elom musste über seinen Quatsch selbst lächeln und schloss die Augen.

Doch schon eine gefühlte Sekunde später wurde er aus einem tiefen Traum gerissen.

»Hallo Sie!«

Elom Kouassi Prince Charles schaute desorientiert auf die große Bahnhofsuhr auf dem Bahnsteig gegenüber. Die Zeiger standen auf 01:07 Uhr und trugen so zu seiner Verwirrung bei.

»Hallo Sie! Hören Sie?«

Elom drehte seinen Kopf zur Seite und wurde schlagartig wach. Zwei Polizisten näherten sich ihm mit ernsten Blicken.

»Meinst du, dass der das ist, Frank?«

»Schwer zu sagen, die sehen doch alle gleich aus.«

»Wir müssen auf jeden Fall vorsichtig sein!«

Die Beamten zogen ihre Dienstwaffen und hielten sie zunächst schräg nach unten.

Elom bekam augenblicklich Todesangst. Wenn Polizisten in seiner Heimat ihre Waffen vor einem zückten, dann war man in den meisten Fällen kurz danach nicht mehr am Leben. Panisch griff er nach seiner Sporttasche und sprang mit einem gewagten Satz auf die Gleise.

»Halt! Stehenbleiben, Freundchen!«

»Verdammt! Was machen wir denn jetzt, Jürgen?«

»Ich bleib hier, du hältst ihn auf der anderen Seite auf!«

»Oh Scheiße, das ist er wirklich!«

»Jetzt mach schon, sonst ist der weg!«

Polizeimeister Frank Mauelshagen rannte zur Treppe und stolperte hastig die Stufen zur Unterführung hinunter. Als er unter den Gleisen herlief, hörte er einen Güterzug direkt über ihm hinwegrumpeln. Mit seiner Dienstwaffe nach vorne gerichtet schlich er die Treppen des gegenüberliegenden Bahnsteigs wieder hinauf. Dabei hielt er sich an der linken Seite in Deckung, denn er rechnete mit einem Feuergefecht. Der Lärm des Güterzuges war ohrenbetäubend laut und er zitterte vor Angst.

Oben angekommen sah er sich hektisch nach allen Seiten um, doch der Fremde war nirgends zu sehen. Schließlich durchfuhr der letzte Güterwaggon den kleinen Bahnhof und das Rauschen wurde schnell leiser.

»Wo ist der?«, rief er zu seinem Kollegen auf dem Bahnsteig hinüber.

»Keine Ahnung, hab ihn aus den Augen verloren.«

»So eine Scheiße! Und jetzt?«

Elom Kouassi Prince Charles stöhnte vor Schmerzen und rieb sich das linke Bein. Bei seiner harten Landung im Gestrüpp unten an der Straße musste er sich den Fuß verstaucht haben. Er angelte seine Sporttasche aus dem Geäst und tastete sich vorsichtig nach draußen auf den Bürgersteig. Dort war niemand zu sehen.

Er klopfte sich Äste und Blätter von seiner Hose und der Jacke, schulterte seine Tasche und humpelte ein Stück die Straße entlang. Wo könnte er jetzt hin? Er musste unbedingt irgendwo eine Bleibe für die Nacht finden. In der Früh würde er schon irgendwie weiterkommen.

»Halt! Stehenbleiben! Hände hoch!«

Elom stockte der Atem. Er verstand zwar kein Wort, aber er blieb unwillkürlich stehen und streckte seine Hände nach oben.

»Und jetzt … langsam umdrehen!«

Elom verstand wieder nichts und drehte sich langsam um.

»Du gehst jetzt zu ihm, Frank. Ich halte ihn in Schach.«

»Wieso ich? Du kannst das doch auch … ach, Mann.«

»Du bewegst dich keinen Millimeter, hörst du?«

Elom wünschte sich so sehr, dass er wenigstens ein paar Brocken verstehen könnte. Instinktiv bewegte er sich keinen Millimeter.

»So ist es gut«, rief Polizeiobermeister Jürgen Schenker. Und zu seinem Kollegen: »Guck mal nach, ob der bewaffnet ist!«

Sein Kollege tat, wie ihm aufgetragen wurde, und klopfte Elom von oben bis unten ab. Als er damit fertig war, rief er:

»Nein, der ist sauber.«

Schenker hielt seine Pistole immer noch auf den Fremden gerichtet, entspannte sich aber jetzt etwas.

»Ok, du kannst die Arme jetzt wieder runternehmen. Aber langsam!«

Während Elom seine Arme langsam senkte, dachte er bei sich:

Wenn ich hier überleben will, dann muss ich diese verdammte Sprache lernen!

»Wie ist dein Name?«

Elom machte eine beschwichtigende Geste mit der Hand, griff langsam in seine Jackentasche und zog seinen Pass heraus. Frank Mauelshagen nahm das grüne Heftchen entgegen und las laut.

»Prince Charles steht da. Er kommt aus Togolaise«.

»Togolaise? Nie gehört. Wie auch immer, der kommt jetzt erst mal mit auf die Wache. Man kann schließlich nie wissen.«

Polizeiobermeister Jürgen Schenker und sein Kollege Frank Mauelshagen nahmen Prince Charles mit auf die Polizeiwache.

Nun, zumindest hatte sich das Problem mit der fehlenden Übernachtungsmöglichkeit gelöst, dachte Elom.

3 Ich möchte nach Köln. Es ist sehr wichtig.

4 Das ist ein Missverständnis. Bitte lassen Sie mich die paar Haltestellen bis nach Köln fahren! Ich weiß nicht, wohin ich sonst gehen soll.

KAPITEL 4

»Muss der wirklich sain? Mi a jó eget csinál ez itt?5», fragte Ferenc Brandstätter verzweifelt und näherte sich mit großen Schritten einem Nervenzusammenbruch.

»Datt is janz normales afrikanisches Brauchtum, Ferri. Der Mann ist ein Seher, datt is sozusagen ein Schamane Deluxe!«

Der Seher fühlte sich geschmeichelt und grinste breit. ‚Chamane Deluxe‘, das klang in seinen Ohren sehr noble. Er erinnerte sich an seine Ankunft in Bröhlheim vor mehr als acht Jahren …

Eloms Start in dieser Stadt war zugegebenermaßen etwas holprig gewesen und hatte ihn zunächst auf die hiesige Polizeiwache geführt. Die Übernachtung dort war aber weitaus weniger schlimm gewesen, als er befürchtet hatte; jemand hatte ihm sogar Kaffee und Brot mit etwas Wurst und Käse gegeben. Ungeachtet dessen hatte die Polizei ihn immer noch für einen gefährlichen Terroristen gehalten.

Erst die beherzte Intervention von Polizeihauptkommissar Martin Offergeld am nächsten Tag und die Hinzunahme einer französischen Dolmetscherin hatten bei den Ermittlern schließlich zu der Überzeugung geführt, dass von Prince Charles keine Gefahr ausging.

Seine Papiere waren in Ordnung und eine Ähnlichkeit mit dem Fahndungsfoto eines gesuchten Al-Kaida-Kämpfers hatte sich ebenfalls nicht feststellen lassen.

Elom hatte sogar etwas Geld als Entschädigung bekommen sowie eine offizielle Entschuldigung des Bürgermeisters, der mitten im Wahlkampf nichts so sehr fürchtete wie schlechte Publicity wegen eines zu Unrecht verhafteten Afrikaners. Aufgrund dessen hatte Elom Kouassi Prince Charles von der hiesigen Ausländerbehörde auch vergleichsweise zügig eine vorläufige Aufenthaltserlaubnis erhalten.

In der Anfangszeit hatte er als Kellner im Laternchen ausgeholfen und ein gutes Jahr später einen Aushilfsjob bei einer Baufirma gefunden.

Eine Werbetafel für ein Mittel gegen Nagelpilz, auf dem eine Voodoo- Zeremonie thematisiert wurde, brachte ihn dann auf die Idee, sich als togolesischer Schamane ein paar Euro hinzuzuverdienen.

Das Schamanenschauspiel brachte ihm sogar einen gewissen Be-kanntheitsgrad in der Stadt ein. Niemand hätte geahnt, dass Elom sich seine auffällig bunte Verkleidung in der Kölner Kostümkiste zusammengekauft hatte, denn mit seiner weißen Kopfbedeckung, dem blau-weiß gemusterten Oberteil und der knalligen Hose sah er aus der Sicht eines Rheinländers tatsächlich sehr schamanisch aus. Doch was ihn selbst am meisten wunderte, war der Umstand, dass auch seine Beschwörungszeremonien von seinen Kunden für authentisch gehalten wurden. Vermutlich sogar auch von den zu verjagenden Geistern, denn die blieben nach seinen »Hausreinigungen« im Regelfall verschwunden.

Der ironische Umstand, dass ihm einmal nachgesagt wurde, einem Gemeindepfarrer von dessen hartnäckigem Fußpilz geheilt zu haben, brachte ihm prompt einen halbseitigen Bericht in der Bröhlheimer Wochenzeitung ein, in dem er wörtlich als anerkannte Autorität auf seinem Gebiet bezeichnet wurde. Doch ganz unabhängig davon, wie schnell seine Reputation als Geisterjäger auch wuchs: Seine Schamanendienste waren in Wirklichkeit doch nur Placebos; davon war er fest überzeugt.

Der aktuelle Geist stellte sich indes als unerwartet hartnäckig heraus, denn Elom war bereits zum dritten Mal in die Bröhlheimer Innenstadt gerufen worden. Seine Tänze in tranceähnlichem Zustand hatten zwar das dort wohnende Schwulenpärchen, nicht aber diesen Geist beeindruckt, denn die paranormalen Vorfälle in der Dreizimmerwohnung im Parterre eines Mehrfamilienhauses hörten einfach nicht auf. Im Gegenteil, sie häuften sich sogar. Elom Kouassi Prince Charles musste sich also etwas überlegen. Hier waren offenbar andere Mittel beziehungsweise schwere Geschütze vonnöten.

Im Vorfeld hatte er sich im Internet informiert, was ein Schamane im Falle wiederholten Misslingens noch so alles ausrichten kann, doch keines der einschlägigen Foren hatte konkrete Tipps geben können.

Schließlich beschloss er, sich einer kruden Mischung verschiedenster Geisterbeschwörungsrituale aller Kontinente der Erde zu bedienen in der Hoffnung, dass wenigstens irgendeines davon Wirkung zeigte.

Gleich nach seiner Ankunft bei den Brandstätters hatte er in allen Räumen der Wohnung an strategischen Stellen Steine platziert, die er auf einer Baustelle gefunden hatte. Steine kamen nach seiner Erfahrung immer gut an und konnten ja grundsätzlich nicht schaden. Acht größere Brocken bildeten dann in der Mitte des Wohnzimmers ein regelmäßiges Achteck, in dessen Zentrum er wiederum einen Metallteller mit Blättern und feuchtem Moos gelegt hatte.

Ferenc Brandstätters ausgeprägter Ordnungssinn trieb ihm kleine Schweißperlen auf die Stirn, als Elom Kouassi ein Streichholz anzündete. Der schmal gebaute Ungar mit Scheitelfrisur rückte nervös seine Vollrandbrille zurecht. In diesem Moment klingelte es an der Haustür.

»Ah, das müssän sie sain. Ainän Momänt bittä!«, kam es erleichtert von Ferenc, für den diese ganze Prozedur schon jetzt die reinste Qual war. So viel Unordnung in ihrer schönen Wohnung war er einfach nicht gewohnt, und wenn jetzt auch noch Rauch zum Einsatz kommen sollte, ging das für seinen Geschmack entschieden zu weit.

»…n‘ Abend, zusammen. Hallo Tom, hallo Ferenc!«, begrüßte Karola ihre Mieter und fügte hinzu: »Das ist meine Freundin Lisa Fechtner. Sie kennt die Wohnung sogar noch länger als ich und hat ihre Hilfe angeboten.«

»Hallo allerseits!«, rief Lisa in die Runde.

»Hi Lisa!«

»Na ja, kennen … ich war schon ein paarmal hier. Damals, als …«

Lisa geriet ins Stocken. Die Erinnerungen an die Erlebnisse genau an diesem Ort waren urplötzlich wieder präsent, womit sie selbst nicht gerechnet hatte. Hier in dieser Wohnung zu stehen, brachte jedenfalls lang unterdrückte Gefühle ans Tageslicht. Karola streichelte ihr beruhigend über den Rücken.

»Na ja, der Vater von einem … Bekannten von mir ist damals hier ermordet worden.«

Tom Brandstätter war das optische Gegenteil seines Lebensgefährten. Mit Nachsicht konnte man ihn als vollschlank bezeichnen, aber die Bezeichnung übergewichtig war ehrlicherweise zutreffender. Seine nicht vorhandene Frisur war wie immer mit einer Beanie-Mütze bedeckt, und seine meist deftige Ausdrucksweise wurde von einem obstinaten kölschen Dialekt verstärkt. Er arbeitete als Biersommelier in einer großen Kölner Brauerei, wodurch er Hobby und Beruf in Vollendung verband.

»Datt mit demm Verbräsche, datt wisse mer. Et Frau Wollef hät uns datt alt lang bei d'r Wunnungsbesischtijung jesaat.«, berichtete Thomas Brandstätter in seinem derben Dialekt. »Evver datt wor uns ejal. Mir han datt janze Potenziaal tirek jeroche. Tschuldijung, darf isch vürstelle - datt is dä Prinz Charles, der sull endlich ens beij d'r Sach' up de Jrund jonn.« 6

Der Seher grinste übers ganze Gesicht.

»Oh. Guten Abend, Herr … äh … eure Hoheit … Prinz … Charles«, schüttelte Karola unsicher die Hand des Sehers, weil sie nicht wusste, ob sie seinen Namen richtig aussprach. Schließlich war sie noch nie einem Prinzen begegnet. Sicherheitshalber machte sie schnell noch einen Knicks.

»Nee nee, Prince Charles, das nur meine Nackname. Elom Kouassi, das meine Vorname. Sake eifack Elom su mir.«

Ach so, kein Prinz. Och, schade, dachte sie enttäuscht.

Angesichts Eloms prachtvollen Schamanenmantels, seines seltsamen Kopfschmucks und der vielen exotischen Accessoires, die an seinem Mantel baumelten, hätte sie ihm alles geglaubt. Sie lächelte ihn an.

»Freut mich, Elom. Ich bin die Karola.«

Strahlendes Lächeln, langes Händeschütteln.

»Elom war schon zwaimal hier und äs hat nichts gänützt.«, beklagte sich Ferenc.

»Pass op Ferri, waat, datt hät noch immer jood jejange.7«

»Ja aufpasse, Ferri, datt immer jood jange.«, bestätigte Elom und sprach sich damit insgeheim selbst etwas Zuversicht zu.

»Vielleicht erzählen Sie … erzählt ihr … einfach noch mal kurz der Reihe nach?«, bat Lisa die Brandstätters in der Hoffnung auf ein paar neue Details.

»Allso, summa, sareme sorum …«8, räusperte sich Thomas und schwenkte dann auf ein rheinisch gefärbtes Hochdeutsch um, was bei ihm immer etwas mühsam und beamtenhaft klang.

»Im Februar woor datt, glaub ich, da sind wir nachts von Köln nach Hause jekommen, und et hat övverall nach Zigarettenrauch jemüffelt. Außerdem woor datt Licht im Wohnzimmer an, aber datt verjessen wir normalerweise nie auszumachen. Wir haben stundenlang jelüftet, bis dä furchtbare Jestank endlich ens fott woor.

Dann, am nächsten Abend, war der Zigarettenmief aber widder do. Wir haben alles abjesucht, aber beim besten Willen nit rausjefunden, wo der Rauch herkam. Außerdem ist Ferri nachts immer wach jeworden, weil er irjendwat jehört hat.

Danach isset ein bisschen besser jeworden, aber seit unjefähr sechs oder sieben Wochen ist dieser ekelhafte Jeruch jeden Tag von neuem da. Nachts hören wir Jetrampel in der Wohnung und datt Licht spinnt seitdemm auch immer widder. Glauben Sie uns, wir sind mit den Nerven am Ende!«

»Das Licht spinnt?«, fragte Lisa nach.

»Na ja, et jeit immer widder von selbst an und lässt sich nicht mehr ausmachen. Und zwar alle Lichtschalter in der Wohnung. Irjendwann mitten in der Nacht jeit es dann mit einem Schlag övverall von selbst widder uss.«

»Seltsam.«

»Datt hätt dä Elektriker och jesaat. Nohdemm hä die janze Sicherunge uss- un widder injeschaltet hätt, woor och widder alles jood. Äwwer et hätt nit lang jeduurt do jing dä janze Dress widder vun fürre loss.«9

Karola zog eine Schnute und schüttelte den Kopf.

»So ‘n Scheiß, aber echt!«

»Ja, wir können uns absolut keinen Reim darauf machen. In unserer Verzweiflung haben wir schließlich beschlossen, Hilfe von einem Schamanen zu holen, also von jemanden, der sich mit so Jeistern un demm janze Zeug usskennt. Ene Bekannter von uns hätt uns dä Prince Charles empfohle, der woor och schon zweimol hee. Bei Elom hatten wir zumindest immer für e paar Daach dat Jeföhl, et hätt sich watt verbessert.«

Der Seher war in diesem Moment froh, dass niemand sah, wie rot er wurde.

»Ja, wir findän hoffäntlich, wo der Problem ist.«

»Was denken Sie denn, was der Grund für das alles sein könnte, Herr Elom?«, fragte Lisa.

Der Afrikaner, der im besten Fall ahnen konnte, was Tom da alles erzählt hatte, stand für ein paar Sekunden nur da mit offenem Mund und legte sich seine Worte zurecht, denn eine ehrliche Antwort wie Hey, Leute, ich hab doch auch keine Ahnung, was der Grund für den ganzen Scheiß hier ist, kapiert das doch mal! wäre strategisch wohl eher unklug gewesen. Deshalb versuchte er es mit einer vagen Problemanalyse.

»Ja … also, hier wohne Geist, ganz bestimmt. Musse nur suche, wo verstecke.«

»Ja, datt wöör joot.«

»Oh ja! Und übrigäns … gästern Nacht,« schaltete sich Ferenc nun aufgeregt ein, »da war äs ganz schlimm! Ganz ganz schlimm!«

»Wieso, was war denn gestern Nacht?«

»Aigentlich wolltän wir ins Moonshine nach Köln, da sind wir fraitags immär. Abär der Moonshine war gästärn zu und da sind wir zu Hausä gäbliebän.« 10

»Esu jejen elf Uhr sinn mir in die Lappekess jejange11«, fuhr Tom fort.

»Jo, un dann … hann mir naachs op einmol Stimmen jehüürt. Im Wohnzimmer.«12

»Stimmen?«, hakte Karola nach.

»Eja, als ob sich zwei Lück de Schnüss schwaade. Uns ging der Aasch op Grundies.«13

Ferenc streichelte über Toms Schulter.

»Irgändwann war es dann ändlich vorbai und wir habän nachgäschaut. Das Licht war übärall an und da hab ich gesehän, dass där schöne Miskakancsó14 ganz värdreht war 15. Normalärwaise guckt er immär zum Fenster raus, zu mainer liebän Oma im Himmäl.«

Ein kurzes zischendes Geräusch erklang. Elom hockte auf dem Boden und hatte ein Streichholz angezündet. Vorsichtig führte er es zum Teller mit dem Laub. Ferenc´ Gesicht verzog sich. Der Schamane beugte sich seitlich neben den Teller und pustete behutsam in die Glut, wobei er eine exotische Melodie summte. Die Blätter und das Moos fingen schließlich Feuer und erzeugten einen dicken Qualm. Ferenc und Tom hielten sich die Hände vors Gesicht und husteten um die Wette.

Lisa sah sich um. Obwohl die Wohnung völlig anders und viel schöner eingerichtet war als damals, erzeugte sie dennoch ein beklemmendes Gefühl in ihr. In ihrer Erinnerung sah sie sich und Andi, wie sie gemeinsam dort auf dem Fußboden hockten und …

Das Licht ging aus und sie standen im Dunklen.

»Uups, bin versehentlich an den Schalter gekommen«, hörten sie Karola sagen. »Sekunde, wo ist denn der … ah, hier ist er ja.«

Es war wieder hell im Wohnzimmer. Thomas, Ferenc, Elom und Lisa schauten Karola schockiert an.

»Äh … sorry? Ich bin nur aus Versehen drangekommen«, sagte Karola irritiert, denn die anderen sahen sie nach wie vor an und sagten nichts, was Karola sehr befremdlich fand.

»Machst du das Licht bitte noch mal aus?«, fragte Lisa schließlich.

»Äh, wieso?«

»Mach es bitte!«

»Ok … cool. Dann … wie ihr wollt.«

Karola hatte keine Ahnung, was plötzlich los war, schaltete aber das Licht wunschgemäß wieder aus.

Klick 16

In der Dunkelheit wurden jetzt Strukturen sichtbar, die dem Auge bei Licht verborgen geblieben waren. Auf der linken Seite des Raumes prangte nun eine alte Schrankwand und auf der rechten Seite stand eine Wohnzimmercouch mit Streifenmuster im Stil der Achtzigerjahre. Davor stand ein nierenförmiger Couchtisch, auf dem sich mehrere Bierflaschen und ein massiger Glasaschenbecher mit einer glimmenden Zigarette befanden. Ein schmutziger grüner Teppich komplettierte das unheimliche Bild.

Keiner der Anwesenden war in diesem Moment in der Lage, irgendetwas zu sagen. Selbst das Husten von Ferenc und Tom hatte schlagartig aufgehört.

Das Zimmer wirkte wie das Siegerfoto eines Wettbewerbs für Lost-Places-Fotografie. Es war eine perfekte Mischung aus heimeliger Vertrautheit inmitten vorangeschrittenen Verfalls. Eine Symbiose aus Faszination und Entsetzen.

Lisas Blick ging nach links, wo ihr an der Wand ein rechteckiger dunkelgrauer Fleck auf der rauchvergilbten Tapete auffiel.

Nach einer kleinen Unendlichkeit meldete sich Karola als Erste wieder zu Wort.

»Äh, ich mach jetzt das Licht wieder an, ok?«

Klick

Das Licht ging an, Tom stürmte sofort zum Fenster und riss beide Flügel weit auf. Ferenc schnappte sich den brennenden Teller, warf ihn ins Spülbecken und löschte die Flammen mit Leitungswasser.

Nachdem der Rauch sich allmählich wieder verzogen hatte, sah alles wieder so normal und makellos aus wie vorher.

»Wow!«, stieß Elom Kouassi aus und nahm sich vor, seine Meinung zur Existenz von paranormalen Phänomenen grundsätzlich noch einmal zu überdenken.

»Was war denn das? Ein Blick in die Hölle?«, fragte Karola, ohne jedoch eine schlüssige Antwort zu erwarten.

»Nicht unbedingt«, antwortete Lisa, die sich an die Wand hockte und mit dem Zeigefinger die Tapete abklopfte.

»Was machän Sie da?«, wollte Ferenc wissen.

»Irgendwas hab ich dort eben gesehen, ich bin mir nicht sicher«, sagte Lisa, während sie weiter gegen die Wand tippte. »Ah, hier! Hier ist was!«, rief sie aufgeregt.

Sie lehnte sich mit dem linken Ohr an die Wand und sah, dass sich die Tapete an dieser Stelle leicht auswölbte. Dann tippte sie mit ihrem Zeigefinger an die Stelle, die sich weich anfühlte.

»Können wir hier die Tapete aufschneiden?«, fragte Lisa.

»Oh main Gott!«, rief Ferenc, »Das ist ain Designertapetä. Den bekommän wir nie wieder!«

»Muss datt wirklisch sinn?«, fragte Tom.

»Schauen Sie selbst!«, sagte Lisa und machte Platz, damit Ferenc die fragliche Stelle selbst inspizieren konnte.

»Ja, irgändwas ist da«, bestätigte er und stand wieder auf.

Er straffte seinen Rücken und sagte:

»Wir brauchän den Teppichmässer.«

Ein paar Minuten später klaffte ein rechteckiges Loch in der Tapete und Ferenc hielt einen Briefumschlag in der Hand.

»Ein Umschlag?«, fragte er. »Wie ist der möglich?«

Lisa sah den Umschlag und wurde blass.

»Darf ich bitte mal?«

»Klar. Hier, bittä!«

»Den kenn ich. Ich weiß, was da drin ist.«, murmelte Lisa und öffnete das Kuvert.

Im Umschlag steckte ein gefalteter Zettel, in dessen Mitte eine kleine blonde Haarsträhne lag.

»Was ist denn das?«

»Babyhaare.«

»Wie bitte?«

»Babyhaare… von … Andi.«