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Ein dunkler Name geistert durch das Tal. Ein uraltes Verbrechen wirft seinen Schatten. Ein Dorf schweigt. Juli 2006. In der Nähe von Gröbenried wird ein junges Paar brutal enthauptet – eines der Opfer ist der Sohn eines einflussreichen Münchner Verlegers. Die Hauptkommissare Joshua Krabbe und Elva Tillström übernehmen die Ermittlungen. Doch die Spuren verlaufen im Nichts – bis ein scheinbar dementer Dorfbewohner flüstert: Der Kretin ist zurück. Für Joshua beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit – und gegen die eigene Vernunft. Was, wenn der Schlüssel zur Wahrheit nicht in der Gegenwart liegt – sondern in einem Mordfall von 1936, der nie aufgeklärt wurde? Die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart beginnen zu verschwimmen… KRETIN – Es ist Böse ist ein hochspannender, fesselnder Thriller mit düsterer Atmosphäre, psychologischem Tiefgang und historischen Bezügen.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Inhaltsverzeichnis
Über das Buch
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Epilog
Astrid Korten
Personen in Kretin:
Impressum
Ein dunkler Name geistert durch das Tal.
Ein uraltes Verbrechen wirft seinen Schatten.
Ein Dorf schweigt.
Juli 2006. In der Nähe von Gröbenried wird ein junges Paar brutal enthauptet – eines der Opfer ist der Sohn eines einflussreichen Münchner Verlegers. Die Hauptkommissare Joshua Krabbe und Elva Tillström übernehmen die Ermittlungen. Doch die Spuren verlaufen im Nichts – bis ein scheinbar dementer Dorfbewohner flüstert: Der Kretin ist zurück.
Für Joshua beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit – und gegen die eigene Vernunft.
Was, wenn der Schlüssel zur Wahrheit nicht in der Gegenwart liegt – sondern in einem Mordfall von 1936, der nie aufgeklärt wurde? Die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart beginnen zu verschwimmen…
KRETIN – Es ist Böseist ein hochspannender, fesselnder Thriller mit düsterer Atmosphäre, psychologischem Tiefgang und historischen Bezügen.
Benno saß am Küchentisch. Der schwache Lichtschein einer einsamen Kerze flackerte über das vergilbte Papier seines Schulhefts. Die Zunge leicht zwischen den Lippen, der Atem gepresst, kritzelte er mit schwerer Hand Buchstaben in die Zeilen. Gelegentlich stieß er ein glucksendes Kichern aus, dann wieder lautes, kehliges Lachen – das Lachen eines Mannes, der ganz in seiner eigenen, abgründigen Welt lebte.
Er war fünfundzwanzig Jahre alt, gedrungen, massig – ein Fleischklotz mit einem Hauch von Mensch. Ein Meter fünfundsiebzig groß, neunzig Kilo schwer, mit einem breiten Rumpf, der rohe, tierische Kraft ausstrahlte. Sein Gesicht: blass, sommersprossig, von einem struppigen roten Haarschopf gekrönt. Die winzigen Augen lagen tief in fetten Lidern, die Nase stach spitz hervor über einem feuchten, fleischigen Mund. Dort fehlte ein Schneidezahn – das machte sein Grinsen noch entstellter.
Sein Hals schien zu fehlen, der Kopf ruhte direkt auf den Schultern. Arme wie Äste, Hände wie Schaufeln. Die kurzen Beine steckten in ausgetretenen Holzschuhen. Er stank nach feuchtem Stroh und altem Schweiß. Gewaschen hatte er sich das letzte Mal vor Wochen – im Waldschwaigsee.
Benno war in Gröbenried bekannt wie ein Gespenst, das man nicht herbeirufen wollte. Sie nannten ihn „Kretin“. Die Region hatte er nie verlassen, außer für den Wehrdienst in der Benjamin-Greven-Kaserne. Dort hatte man ihn sofort zur Reinigung eingeteilt – vermutlich aus gutem Grund.
Seit dem Tod seiner Eltern vor zwei Jahren lebte er allein auf dem verfallenen Hof. Die beiden waren in einer brennenden Scheune umgekommen – beim Versuch, ihre Kühe zu retten. Benno war auf einem Dorffest in Eschenried gewesen, trunken und verkatert. Als die Polizei ihn nachts aufsuchte, hatte er nur genickt. Keine Tränen. Kein Schock. Vielleicht wusste er es schon vorher. Vielleicht war es ihm gleich.
Seitdem vegetierte er dahin – als Tagelöhner, Wilddieb, Gelegenheitsfarmer. Nachts sah man ihn mit einer Acetylenlampe und einem Knüppel durch die Hecken ziehen, auf der Jagd nach Vögeln. Für manche war er eine tragische Gestalt. Für andere: ein Mahnmal. Oder eine Warnung.
An diesem Abend tobte draußen ein Gewitter. Der Regen peitschte gegen die Fensterläden, der Wind zerrte an den alten Mauern. Doch Benno hörte nichts. Er war versunken – in Worte, die ihm niemand zugetraut hätte.
Ein letztes Lachen, krächzend und tief, entrang sich seiner Kehle. Dann legte er das Löschpapier auf das feuchte Geschriebene und wartete, bis die violette Tinte getrocknet war. Er klappte das Heft zu, verschloss die Tintenflasche und wischte sorgfältig den Federhalter ab.
Auf dem Federmäppchen stand in geschwungenen Lettern: „Benno – Gymnasium“
Er grinste, massierte sich langsam den Schritt, murmelte: „Drei Uhr… du verfickte Schlampe. Hättest mich früher ins Bett bringen sollen.“
Mit träge wirkender Präzision erhob er sich, trat zur Standuhr neben dem Kamin. Er kniete sich hin, löste vier Schrauben an der gusseisernen Bodenplatte, hob sie vorsichtig an. Dahinter: ein Versteck. Eine alte Blechdose, verziert mit Kuchenmotiven. Er tauschte sie gegen die, die er bei sich trug. Dann verschloss er das Fach wieder, schraubte alles fest – mit der Geduld eines Mannes, der das Ritual kannte.
Er seufzte tief, fast verzückt, nahm den Kerzenhalter vom Tisch und schlurfte in seinen klobigen Holzschuhen langsam die knarrende Treppe hinauf.
Das Haus atmete, ächzte, knarrte mit ihm.
Und irgendwo im Inneren – vielleicht in seinem Kopf – war noch ein Echo seines Lächelns zu hören.
Kommissarin Elva Tillström wachte schweißgebadet auf, öffnete die Augen und betrachtete das Spiel des Morgenlichts, das durch die Vorhänge drang.
Eine kurze Nacht lag hinter ihr – sie hatte von ihrem Ex-Freund geträumt. Ihr Schmerzgedächtnis meldete sich, die Synapsen spielten verrückt. Sie glaubte, das Anschwellen ihrer Wange nach der Ohrfeige zu spüren, die Rötung, die eisige Stille danach. Und die Tränen, die unweigerlich mit dieser Erinnerung kamen.
Im Traum hatte sie Mike ein Messer an die Kehle gehalten, ihm dabei direkt in die Augen geblickt, sein atemloses Flüstern gehört – und zugestochen. Sie war zur Mörderin geworden. Mike sank zu Boden, sein Blut drohte sie zu überfluten wie in einem billigen Horrorfilm. Cut!
Wie hatte sie es bloß ein Jahr mit diesem egoistischen Intellektuellen ausgehalten? War er schon immer so besitzergreifend und misstrauisch gewesen – und sie nur blind?
Gütiger Himmel, Elva. Mike ist seit drei Jahren Geschichte.
Sie war jetzt glücklich. Ohne den Bastard.
„Äußere deine Meinung laut und stark, Elva. Flieh vor den Heuchlern und ignoriere, was die Leute sagen“, hatte ihr Vater ihr in Schweden immer wieder gesagt. Und genau das hatte sie getan. Sie blickte zurück auf eine strenge, aber behütete Kindheit, die sie widerstandsfähig gemacht hatte. Nur deshalb war sie in der Lage gewesen, sich aus dieser Beziehung zu befreien. Keine Kämpfe, keine Versöhnung, kein verzweifeltes Festhalten. Nur der Rückzug in eine friedlichere Stille. Mike war Vergangenheit. Eine alte Geschichte. Die Albträume kamen zum Glück nur noch selten.
Ihr Magen knurrte, doch sie rührte sich nicht. Wollte liegen bleiben, die Nacht ein wenig verlängern. Es war ihr freier Tag. Nur
noch einen Moment das Lichtspiel genießen.
Steh auf, Elva!, knurrte ihre innere Stimme.
Sie kämpfte kurz mit sich, dann warf sie die Bettdecke zur Seite und schwang sich auf die Beine. Durch die geöffnete Balkontür drangen vertraute Geräusche. Sie zog den Bademantel über und trat auf die überdachte Terrasse.
Unten am Ufer bauten die ersten Händler ihre Marktstände auf. Der Markt war beliebt in Starnberg – berühmt für seine Delikatessen. Einmal wöchentlich gab es dort alles, was das Herz begehrte. Elvas Blick schweifte träumerisch über das bunte Treiben am Seeufer.
Schon als Kind hatte sie den Wunsch gehegt, mitten in diesem lebendigen Ort zu leben. Ihr Vater hatte ihr diesen Wunsch erfüllt. Zwar hatte er ihr bereits eine kleine Wohnung in München gekauft, doch das Haus an der Uferpromenade war eine Überraschung gewesen.
„Es ist der Rückzugsort, den du dir immer gewünscht hast, Kleines“, hatte er bei der Schlüsselübergabe gesagt. „Was soll ich auch sonst mit meinem Geld machen?“ Kurz darauf war er gestorben.
Hier hatte sie sich auf das besonnen, was sie immer sein wollte: eine gute Ermittlerin – und vielleicht eines Tages eine gute Ehefrau und Mutter.
Starnberg war nicht nur schön, sondern auch ein Ort der kulturellen Vielfalt, voller Eleganz und Tradition. Das spiegelte sich auf der Promenade wider. Dort traf sie Menschen aus aller Welt, plauderte mit ihnen und fühlte sich angekommen.
Keine Zeit, noch länger zu trödeln, dachte sie und seufzte. Heute war zwar ihr freier Tag – aber es wartete trotzdem einiges auf sie.
Jetzt eine heiße Dusche, Elva! Vielleicht konnte das Wasser die Dämonen der Nacht vertreiben. Unter dem warmen Strahl kamen ihr oft die besten Ideen – besonders für ihre ehrenamtliche Arbeit in der Kinderklinik.
Zehn Minuten später waren die Schatten der Nacht tatsächlich verschwunden.
In der Küche warteten Kaffeemaschine und iPod auf ihren Einsatz. Ihre Lieblingsmusik in voller Lautstärke war ein Muss, bevor sie ins Präsidium ging oder sich an den Laptop setzte.
Der Zufallsgenerator wählte Fields of Gold von Sting. Perfekt für diesen goldenen Herbstmorgen. Zwei Marmelade-Toasts später saß sie mit einer dampfenden Tasse Kaffee am Tisch.
7:30 Uhr. Sie schaltete den Laptop ein und sortierte ihre E-Mails.
Auf Costins Nachricht freute sie sich am meisten. Seit sie mit dem zehnjährigen Jungen schrieb, schickte er ihr jeden Morgen eine kleine Nachricht.
Costins E-Mail war die zwanzigste in der Liste, aber die erste, die sie öffnete:
„Guten Morgen, liebe Elva.“ Dazu ein Selfie aus dem Krankenhausbett. Sein breites Grinsen war ansteckend. Hab die dritte Chemo gut überstanden, Elva. Liebe Grüße und bis bald.
Was konnte es Schöneres geben als so einen Start in den Tag?
Die restlichen Mails stammten ebenfalls von Kindern der Krebsstation – der Klinik, die sie ehrenamtlich unterstützte. Was einst als Projekt während ihrer Polizeiausbildung begann, war zu ihrer Herzenstätigkeit geworden. In ihrer Freizeit besuchte sie die Station, verkleidete sich als Clown, schrieb in einem Blog über das Leben der Kinder – und sammelte Spenden. Ihre Follower liebten die Einblicke.
Der Polizeipräsident hatte ihre öffentliche Rolle zähneknirschend genehmigt, obwohl er seine Kommissarin nur ungern in einem Clownskostüm sah. Trotzdem stand er hinter ihr.
Die zweite Mail kam von Trixis Mutter:
„Ich liebe, was du tust, Elva. Du bist wirklich die Beste. Ich bin dein größter Fan. Trixi geht es schon viel besser.“
Die dritte war von Bella, einem zwölfjährigen Mädchen mit Leukämie:
„Hey Elva, meine Werte sind nicht besser geworden. Wann kommst du wieder?“
Dann kam die Zusammenfassung der Süddeutschen Zeitung – die würde sie später lesen.
8:00 Uhr. Die Nachrichten begannen. Elva stand auf und schaltete den Fernseher an.
Ihr Magen krampfte. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie bewegte den Kopf, um die Nackenschmerzen zu lösen. Die Bilder im TV rauschten an ihr vorbei – Kriege, Gewalt, Skandale. Es war egal, wo das alles geschah. Nur das Verbrechen, das sie direkt betraf, zählte für sie.
Dann erschienen große blaue Buchstaben: POLIZEIAUFRUF.
Sie drehte den Ton lauter.
„Wie heute Morgen bekannt wurde, werden seit mehreren Tagen Rob Hartl, Sohn des Zeitungsverlegers Julius Hartl, und seine Freundin Helene Ludwig vermisst“, sagte der Nachrichtensprecher. „Die Polizei geht von einer Entführung aus und bittet um Ihre Mithilfe…“
Blitzschnell richtete Elva sich auf. Das Foto der beiden jungen Menschen, die in die Kamera lächelten, ließ ihr Herz unregelmäßig schlagen. Sie knabberte an der Unterlippe, schloss die Augen. Versuchte, das lähmende Gefühl in ihrem Körper abzuschütteln – vergeblich.
Vor ihrem inneren Auge tauchte ein anderes Bild auf. Erst verschwommen, dann gestochen scharf: Gesichter, in denen der Tod triumphierte.
Sie klappte den Laptop zu – und rief Joshua Krabbe an.
Paul und Anne waren noch im Morgengrauen aufgebrochen. Ihr Quartier: ein unscheinbarer Landgasthof am Rande von Eschenried – der Kaffee dünn, aber die Betten warm. Sie liebten das Wandern, die Stille der Natur, die Gespräche, die nur im Rhythmus der Schritte entstanden.
An diesem Tag führte ihr Weg über schmale Feldpfade, vorbei an schlafenden Wiesen und hinein in den dichten Wald entlang des Gröbenbachs. Die Luft war frisch, die Sonne tastete sich vorsichtig durch das Blätterdach. Alles war ruhig. Zu ruhig.
Dann, an einer Wegkreuzung, blieben sie stehen. Etwas war anders. Zuerst kam der Geruch – süßlich, stechend, wie vergorene Erde und Eisen. Dann das Geräusch: ein tiefer, durchdringender Ton, wie aus einem Bienenstock, nur unnatürlicher. Ein massives, unaufhörliches Summen, das aus dem Dickicht drang.
Sie tauschten einen Blick, zögerten – dann trat Paul voran, Anne folgte dicht hinter ihm. Sie wedelten instinktiv mit den Armen, um die dichten Schwärme von Fliegen zu vertreiben. Und dann sahen sie es. Zwei leblose Körper. Regungslos, grotesk verdreht im Unterholz. Keine Köpfe. Die lagen, wie säuberlich abgelegt, ein Stück weiter.
Anne taumelte zurück und übergab sich ins nasse Laub. Paul schluckte schwer, rang nach Fassung und griff zitternd nach seinem Handy. Die Polizei war schnell zur Stelle.
Jetzt saßen sie auf der Rückbank eines Polizeiwagens, abgeschirmt vom Geschehen, während draußen ein Streifenbeamter mit ernster Miene das Areal absperrte. Blaulicht blitzte durch die Bäume, Stimmen knisterten aus Funkgeräten. Spurensicherung im Anmarsch.
Was als harmloser Ausflug begann, war zum Albtraum geworden. Und es war klar: Das hier war eine Botschaft.
Dunkle Schatten über Gröbenbach.
Hauptkommissar Joshua Krabbe von der Mordkommission München raste durch den peitschenden Regen, der wie flüssiges Blei vom schmutzig-grauen Himmel fiel. Der finstere Wald in Richtung Gröbenbach Park, schien das Licht zu verschlucken – er war wie ein endloser Tunnel aus dunklen Kiefern. Die Scheibenwischer seines Wagens gaben alles, aber gegen diesen Sommerregen wirkten sie hilflos.
Joshua rieb sich an seinem Dreitagebart. Neben ihm saß Elva Tillström, stumm, nachdenklich, die Stirn an die kühle Scheibe gelehnt. Tropfen zogen Spuren auf dem Glas, während ihr Blick in den grauen Windungen des Waldes verlorenging. Sie hatte kaum ein Wort gesagt, seit sie das Kommissariat in München verlassen hatten.
Als der Wagen sich dem Wald näherte, beugte sich Elva vor und wischte mit einer Hand über die beschlagene Windschutzscheibe. Joshua warf ihr einen kurzen Blick zu, dann wieder auf die Straße.
Elva Tillström war eine blonde, gut gelaunte Kollegin, mit schwedischen Eltern. Elva … die Elfe. Als er sie kennenlernte, hatte er den Namen gegoogelt, er passte zu ihr. Ihr Gang, ihre Augen, ihre Figur – alles erinnerte an eine Elfe aus einem schwedischen Märchen. Zuerst waren ihm ihre Haare aufgefallen, die ihr wie ein goldener Vorhang über die Schultern fielen. Ihr Gesicht war ein einziges Schauspiel an Klarheit. Alles darin war offen, sanft, verletzlich. Er war fasziniert von ihr.
„Unser erster gemeinsamer Fall“, sagte er, um das Schweigen zu brechen. „Zeit, den Jungs mal wieder zu zeigen, was wir draufhaben.“
Elva schenkte ihm ein schmales Lächeln. „Das klingt knackig!“
„Knackig? Meine Ex-Freundin nannte mich knackig.“
„Verstehe. Dann werde ich knackig umgehen – verbal natürlich, Joshua.“
Er lachte. „Verbal. Natürlich.“
Es folgte ein einfaches „Okay“.
Das Eis war gebrochen.
Sie bogen in einen Waldweg ein. Plötzlich, wie aus dem Nichts, tauchte vor ihnen eine Lichtung auf. Der Regen verband nun Himmel und Erde in grauen Fäden.
„Wir sind fast da“, hörte er sie sagen. „Was uns wohl erwartet, wenn München die Kavallerie aufmarschieren lässt?“
Joshua grinste. „Nichts Gutes. Aber unser erster gemeinsamer Fall macht uns zu Superstars, Elva!“
„Sie haben Ihr Ziel erreicht“, sagte die weibliche Stimme aus dem Navi.
Joshua deutete auf einen Streifenpolizisten und nutzte die Blaulichter der Einsatzfahrzeuge, um sich im strömenden Regen zu orientieren.
Eine große Gestalt mit Regenschirm eilte ihnen entgegen.
Joshua öffnete die Scheibe der Fahrertür. Die Gestalt beugte sich vor. „Hauptkommissare Joshua Krabbe und Elva Tillström?“
Joshua zeigte seinen Polizeiausweis. „Richtig.“
„Dennis Kamper, Polizei Dachau. Ein schreckliches Verbrechen. Folgen Sie mir bitte!“ Er deutete auf einen matschigen Waldweg.
Elva knurrte etwas Unverständliches und verzog das Gesicht. Sie stiegen aus. In dieser Einöde konnte man den Herbst mitten im Sommer schon fast in der Luft riechen, winzige Partikel von erstem verrottenden Laub. Der Regen hatte breite Furchen in die Erde gegraben, in denen nun trübes Wasser stand. Der schwammige Boden verschluckte ihre Schritte. Sie versuchten, den Pfützen auszuweichen, in der vergeblichen Hoffnung, ihre Hosen einigermaßen zu retten.
„Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich … ich habe so etwas noch nie in meinem Leben gesehen“, sagte Kamper. „Ein paar der Jungs haben sich vorhin übergeben.“
EIva starrte auf den großen Regentropfen, der an der Spitze der kräftigen Knollennase des Polizisten hing, als wollten ihre Elfenfinger ihn liebend gern entfernen.
„Wo ist die Leiche?“, fragte Joshua.
„Leichen! Nicht eine, wir haben zwei Tote. Kein schöner Anblick. Der Mörder hat sie zur Schau gestellt, als wären die beiden Opfer eine Jahrmarktsattraktion. Verfickte Bestie!“
Joshua musterte Dennis Kamper. Er schätzte den Polizisten auf etwa fünfzig Jahre und einhundertdreißig Kilo, sein Haar war ergraut. Das Gesicht, das von der Nase und den kräftigen Augenbrauen dominiert wurde, war leicht gelblich und aufgedunsen. Leberprobleme? Sein Blick verweilte auf den von Tabak leicht verfärbten Fingern, auf das saubere, aber zerknitterte Hemd. Er sah einen Mann, allein, gebrochen und er fragte sich, wie viel Zeit ihm wohl in diesem Leben noch blieb. Schweiß stand ihm auf der Stirn und dunkle Ränder umrandeten seine Augen. Das Herz oder die Nieren? Vielleicht beides. Zu viel Salz, dazu Stress und das Cholesterin.
Als sie sich dem Tatort näherten, nahm Joshua den Geruch von Verwesung, verbranntem Plastik und Exkrementen wahr. Er zwang sich, seinen Atem zu beruhigen und seine Übelkeit zu unterdrücken. Sie durchquerten das Dickicht und erreichten eine schmale Lichtung, die weiträumig mit Absperrbändern eingegrenzt war. Eine große Plane schützte den Tatort gegen den Regen. In der Nähe der Plane machen zwei Mitarbeiter von der Spurensicherung Fotos.
Joshua hatte eine Vorstellung davon, was ihn erwartete. Der sintflutartige Regen hatte den Geruch von Verwesung und Exkrementen nicht vertreiben können. Polizisten standen geschockt neben den Kriminaltechnikern in weißen Schutzanzügen, die Beweismaterial in Plastiktüten verpackten und sie markierten.
Sein Körper fühlte sich taub an. Er legte eine Hand auf den Mund und starrte wie hypnotisiert auf die Szene vor sich. Um ihn herum dehnten sich die Geräusche wie eine Aufnahme auf einem alten Tonbandgerät, das hängen geblieben war. Das pulsierende Summen der Fliegen war unerträglich.
Elva und er tauschten ein Lächeln aus, wie unter Komplizen, trotz der grausamen Szene, die sich ihnen bot! Dann ging Elva ein paar Schritte auf die Opfer zu, hob die Plastikfolie ein wenig an und presste die Hand auf die Lippen. „Oh, mein Gott.“
Joshua sah seine Kollegin an. Ihre Mundwinkel zuckten. Ihre Augen weiteten sich. Sie ließ ihren Unterkiefer spielen, vielleicht um die Geräusche zu bändigen, die in ihre Köpfe drangen. Vergeblich. Tränen schossen ihr in die Augen. Er griff nach einem Taschentuch und reichte es ihr.
Kamper baute sich vor Elva auf, die Augenbrauen übertrieben hochgezogen. Seine grauen Augen waren wie Scheinwerfer in dem vergilbten Gesicht.
„Geht es Ihnen nicht gut, Kollegin Tillström?“, fragte er überheblich. „Es ist ein ekelhafter Anblick. Und dann dieser Geruch. Da kann einem schon übel werden. Ihre erste entstellte Leiche bei der MK. Sie werden sich daran gewöhnen.“
Elvas Gesichtszüge wurden jetzt hart, vorwurfsvoll. Sie standen sich gegenüber wie Duellanten.
Sofort zerfiel das falsche Lächeln auf Kampers Gesicht. „Ja … dann will ich mal“, murmelte er.
Kampers feste Hand landete jetzt auf Joshuas Schulter. „Das Opfer heißt Rob Hartl, ist zweiundzwanzig Jahre alt und wohnt in der Rudliebstraße 22, München. Die Frau heißt Helene Ludwig, ist zwanzig Jahre alt und wohnt in derselben Straße, Nummer 26. Die beiden sind Nachbarn. Bevor sie den Tatort in Augenschein nehmen … der Leichenbeschauer hat seinen vorläufigen Bericht erstellt. Die Leichen müssen nur noch für den Transport in die Gerichtsmedizin eingetütet werden.“
Eintüten?
„Ach ja, dieser Zettel war an den Kopf des Mannes getackert. Den hat mir die SpuSi für Sie gegeben“, sagte Kamper und gesellte sich dann zu seinen Kollegen.
Joshua nahm den Zettel, der in einer durchsichtigen Plastiktüte eingeschweißt war. Darauf stand nur die Jahreszahl 1936. Was sagte ihm das? 1936 hatte den Nationalsozialisten gleich zwei große internationale Sportereignisse beschert, mit denen sie das Deutsche Reich nach außen hin glänzend präsentieren konnten. Die Olympischen Winterspiele in Garmisch-Partenkirchen, bei denen erstmals ein Fackellauf stattfand, und vor allem die Olympischen Sommerspiele in Berlin, die ebenfalls propagandistisch ausgeschlachtet wurden. Und weiter?, fragte er sich. Keine Ahnung.
Er steckte den Zettel in seine Jackentasche und ging zu Elva.
„Was haben wir denn hier…“
Als Elva die Plastikfolie von den Leichen zog, bot sich ihm ein grauenvoller Anblick.
„Zwei nackte Körper, ein Mann und eine Frau“, antwortete Elva. „Der Tod muss vor etwa zwei Tagen eingetreten sein. Ihre Köpfe fanden die Zeugen etwas entfernt auf zwei Baumstümpfen – die toten Augen starrten auf die leblosen Körper, sagten beide Zeugen aus. Die Kleidung der Opfer fanden die Kollegen ein paar Meter weiter im Gebüsch, ebenso die Fahrräder, Rucksäcke und ein Igluzelt. Nach ersten Erkenntnissen der Gerichtsmedizin wurden beide Opfer post mortem mit einer Axt enthauptet: Der Mann wurde vorher mit einem Stich ins Herz getötet, die Frau wurde vergewaltigt, dann ebenfalls mit einem Messerstich getötet und anschließend enthauptet.“
„Hm … Dann musste er zusehen, wie seine Partnerin vergewaltigt und abgeschlachtet wurde. Oder umgekehrt. Eine schreckliche Vorstellung.“
Er fixierte die beiden auf dem Rücken liegenden Körper, er musste mehr sehen. Die Wahrheit liegt im Detail, hatte er stets beim Anblick eines Opfers gesagt. Er war jedoch ein Polizist in der Welt der Lebenden, effektiv darin, das Böse im Menschen aufzuspüren, Widersprüche und Lügen aufzudecken, aber unfähig, dem Tod in die Augen zu sehen. Diese Rolle hatte heute Elva übernommen.
„Woher kommt dieser fürchterliche Gestank, Elva?“
„Ich kann es dir zeigen.“
„Elva, bitte …“
„Der Täter hat den beiden kleine Sprengkörper in den After gesteckt und zur Explosion gebracht.“
„Das deutet auf eine Erniedrigung als Tatmotiv hin.“
Etwas verschob sich in Joshua, etwas drang an die Oberfläche, etwas Böses. Er hielt inne, lauschte, schluckte. Dann richtete sich seine Aufmerksamkeit auf den Unterleib des Mannes. Plötzlich setzte sich das Puzzle zu einem klaren Gedanken zusammen.
„Der Täter hat seine Tat dem weiblichen Opfer gezeigt, nicht umgekehrt. Die These spricht für den abgetrennten Penis, Elva. Er wollte ihr durch die Verstümmelung hervorgerufenes Entsetzen sehen und sich daran ergötzen!“
Seine Kollegin nickte. „Sieht ganz danach aus.“
„Sag mal, Elva … Hartl? Heißt dieser Zeitungsmagnat aus München nicht so?“
„Ja. Wenn das wirklich der Sohn der Familie Hartl ist, dann sind wir…“
„Gearscht, Elva? Kaum vorstellbar. Rob Hartl hat einen Presseausweis im Portemonnaie. Der Junge ist der Chefredakteur von ‚Gossip Truth‘, einer der progressiven linken Zeitschriften der Hartl-Gruppe. Ich denke, wir sollten Erik Dumont benachrichtigen.“
Joshua entfernte sich ein paar Schritte, um Staatsanwalt Dumont anzurufen. Inzwischen hatte die Kriminaltechnik alle Spuren gesichert und der Polizeifotograf seine Aufnahmen gemacht. Ein Leichenwagen fuhr rückwärts den Feldweg entlang.
„Morgen ist die Obduktion, Joshua. Sie werden nach München in die Gerichtsmedizin gebracht.“
„Gut. Dann machen wir jetzt weiter. Gründliche Bestandsaufnahme des Rucksackinhalts und Befragung der beiden Zeugen. Übrigens … Kannst du mir etwas über 1936 erzählen, Elva, außer den Olympischen Spielen?“
„Joshua, du vergisst Max Schmelings Sieg im Boxen gegen den ungeschlagenen Joe Louis, ausgerechnet in New York. Oder Bradls ersten Skisprung über 100 Meter.“
Er lächelte. „War mir entfallen.“
„Kommt vor! Warum willst du das denn wissen?“
„Rob Hartl wurde ein Zettel mit der Jahreszahl an den Kopf getackert.“
Elva hob eine Augenbraue. „Lass mich nachdenken … Innenpolitisch wurde die Unterdrückung und Verfolgung der Juden und anderer Minderheiten konsequent fortgesetzt, außenpolitisch wurde der Zweite Weltkrieg offen vorbereitet. Hitler kündigte die Verträge von Locarno, ließ die Wehrmacht ins entmilitarisierte Rheinland einmarschieren, schloss mit dem faschistischen Italien Mussolinis die Achse Berlin-Rom und mit dem japanischen Kaiserreich den gegen die Sowjetunion gerichteten Antikominternpakt. Dann gab es den Bürgerkrieg in Spanien, die britische Monarchie wurde von einem Skandal erschüttert, König Edward VIII. dankte ab, das Märchen Peter und der Wolf wurde uraufgeführt, der Roman Vom Winde verweht erschien und…“
„Was sagt man dazu. Eine wandelnde Enzyklopädie als Kollegin. Woher weißt du das alles?“
Eine zarte Röte wanderte ihren Hals hinauf zum Kinn. „Ich habe ein bisschen Geschichte studiert und bin Single – mit Lese-Freizeit“, antwortete Elva.
„Das lässt sich ändern!“
„Mein Singledasein?“
Er räusperte sich. „Deine Freizeit. Ich werde dich mit Arbeit überschütten.“
„Oh …“ Elva deutete auf die Opfer. „Was ist dein Fazit dazu, Joshua?“
Er blickte auf die Toten. „Das ist das Werk eines schwer gestörten Täters. Komm, lass uns hier verschwinden.“
Die Durchsuchung der Taschen bestätigte: Rob Hartl war nicht nur Herausgeber der skandalträchtigen „Gossip Truth“, sondern auch der einzige Sohn von Julius Hartl, dem mächtigen Medienmogul hinter der gleichnamigen Verlagsgruppe.
In Robs Rucksack entdeckte er einen Haustürschlüssel und eine Adresse in Grünwald. Gemeinsam mit Elva machte er sich auf den Weg. Das Anwesen lag abgeschottet hinter hohen Mauern – eine Festung der Reichen. Der Hausmeister erwartete sie bereits.
„Rob und Helene sind Anfang der Woche aus einem zweiwöchigen Urlaub auf den Bahamas zurückgekommen“, erklärte er. „Vor drei Tagen sind sie von hier aus zu einer Fahrradtour aufgebrochen. Wann sie zurück sein wollten, haben sie mir nicht gesagt. Was genau ist passiert, Kommissar Krabbe?“
„Darüber können wir keine Auskunft geben“, erwiderte Joshua knapp.
„Ich mache mir Sorgen, obwohl das nicht mein Job ist. Ich soll nur das Anwesen pflegen, nicht den Familiensegen im Auge behalten. Aber Rob… der war schon speziell. Hat mich mal gebeten, sein Auto zu waschen. Eigentlich nicht mein Ding. Aber 50 Euro…“
„Joshua?“ Elvas Stimme schnitt durch den Redeschwall. Sie zeigte auf die Motorhaube eines nachtblauen Porsche Cayenne, der halb aus der Garage ragte.
„Ja, Elva. Durchsuch ihn.“
„Alles klar, Boss.“
Joshua wandte sich erneut dem Hausmeister zu. „Hat Rob seit seiner Rückkehr einen nervösen Eindruck gemacht? Anrufe bekommen? Irgendwas Ungewöhnliches?“
„Keine Ahnung. Ich werde nicht dafür bezahlt, seine Launen zu beobachten.“
„Aber vielleicht ist Ihnen trotzdem etwas aufgefallen.“
„Nein. Nichts. Und was seine Freundin angeht – die hab ich hier zum ersten Mal gesehen. Jedes Mal bringt er ein anderes Mädchen mit.“
„Hat sie Anrufe bekommen? Wirkte sie besorgt?“
„Nicht dass ich wüsste.“
„Danke. Bleiben Sie in der Nähe.“
„Ich bin hier.“
Elva kam zurück. „Im Auto nichts. Mülleimer auch leer – nur Bonbonpapier und Parkscheine.“
„Dann brauchen wir die Telefonverbindungsdaten der letzten drei Tage. Wenn Rob wirklich ein Herzensbrecher war, könnte ein eifersüchtiger Ex gefährlich geworden sein.“
„Sollen wir ins Haus?“ fragte Elva.
„Der Polizeipräsident hat bereits einen Durchsuchungsbefehl beantragt.“
Elva hob die Brauen. „Na dann …“ Sie öffnete die Haustür. Ihre schlanke Silhouette glitt beinahe lautlos über die Fliesen. Sie scannte den Raum mit Blick und Handy.
Joshua blieb in der Diele stehen. Er schloss die Augen, hielt die Luft an, horchte in das Haus hinein. Geräusche. Schwingungen. Stille.
Er atmete tief aus und öffnete die Augen. Der Dielenschrank war ein Anfang. Er öffnete die Tür. Designermäntel – Dior, Vuitton, Chanel – füllten das Innere. Zu teuer, zu erwachsen für eine Achtzehnjährige. Eine Steppjacke, vermutlich Robs. Eine Tweedjacke für Julius. Kein Foto von Colla, aber ein Bild entstand: eine junge Frau, schmal, zart, verletzlich. Er schloss die Tür.
Elva streifte an ihm vorbei, ging in die Küche, fotografierte systematisch jedes Detail.
Joshua betrat das Wohnzimmer. Er blieb in der Mitte stehen, eine Hand unters Kinn gelegt. Die Einrichtung: edel, unterkühlt, kontrolliert. Kälte. Selbstsucht. Vielleicht sogar Manie.
Er stellte sich die Szene vor: ein Holztisch, schweigende Kinder, ein abwesender Vater. Julius, allein im Ledersessel, starrt auf den Flachbildschirm, leert eine Flasche Wein, während eine Haushälterin das Geschirr wegräumt.
Er wandte sich der Küche zu.
Elva fotografierte gerade den Kühlschrank. Als sie ihn bemerkte, drehte sie sich um – das Leuchten einer richtigen Eingebung in den Augen.
„Na, Herr Hauptkommissar, was fühlst du?“
„Julius Hartl wirkt wie ein Fels, aber innerlich hohl. Der Tod seiner Frau hat ihn aus dem Gleichgewicht gebracht. Der Verlag ist seine Zwangsjacke.“
Elvas Ausdruck wurde ernst. „Du spürst, was unter der Oberfläche brodelt. Ich habe etwas anderes erwartet – kühler, analytischer.“
„Zu irrational?“ Er lächelte.
„Nein. Zu menschlich. Aber sieh dir das an – alles in diesem Haus ist akribisch geordnet. Als hätte Julius Angst vor Asymmetrie. Und dann…“ – sie zeigte auf den Notizblock auf der Kücheninsel – „…liegt da mitten im klinisch aufgeräumten Raum ein Notizblock? Das passt nicht.“
Sie hielt ihm ein Foto auf dem Handy hin: fünf Bilderrahmen auf einem Buffet.
„Siehst du das? Die Symmetrie ist gestört. Einer fehlt.“
„Jemand will uns auf eine falsche Fährte locken“, murmelte Joshua.
„Aber wer?“
Joshua schwieg. Elva fuhr fort: „Ich sehe mir oben die Schlafzimmer an.“
Ihre Schritte hallten durch das Haus. Joshua dachte: Wir sind ein Team. Sie entdeckt die Risse, ich höre das Echo der Toten.
Er öffnete eine weitere Tür. Jugendzimmer. Poster. Einzelbett. Ein iPad.
Dann – eine plötzliche Kälte. Eisig. Ein Schauder fuhr ihm über den Rücken.
Er trat ans Bett, hob die Tagesdecke, das Laken – nichts. Dann schob er die Hand ins Kissen. Ein Papier. Nur eine Zahl darauf: 1937.
Sein Handy klingelte. Cletus.
„Die Obduktion von Rob und seiner Freundin beginnt sofort nach Eintreffen der Leichen.“
„Warum so eilig?“
„Julius Hartl hat interveniert. Komm ins Präsidium, Joshua. Wir
müssen reden.“
„Wir…“ Das Gespräch war bereits beendet.
„Elva!“ rief Joshua. „Wir gehen! Deine Intuition war goldrichtig. Der Ärger geht los. Heute noch Gerichtsmedizin!“
Sie verabschiedeten sich vom Hausmeister.
„Ich will zuerst zum Verlag, Joshua.