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„Für die Welt bist du irgendjemand, aber für irgendjemand bist du die Welt.“ (Erich Fried) Minou Blancart erhält kurz vor ihrer Abreise nach Süd-Frankreich ein Bündel Briefe ihrer verstorbenen Schwester Lilly und eine Eintrittskarte zur Gemäldeausstellung Les Aimants im Pariser Musée dʼOrsay. Lillys Zeilen führen Minou in die schicksalsreiche Vergangenheit ihrer Schwester und zu einem flirrenden Sommer mit Monsieur Inconnu… Nachdem Minou die Briefe gelesen hat, ist für sie nichts mehr wie vorher. Sie steht vor einer schwierigen Entscheidung. Nun ist sie es, die einen Brief schreibt und ihn unter einem Stein auf Lillys Grab legt. Zwei Tage später antwortet ihr eine gewisse Jane Avril. Minou wundert sich, denn Jane ist seit 40 Jahren tot… Ein unwiderstehlicher Roman über den Duft der Kindheit, den Zauber der Leichtigkeit, die Magie der Liebe und die Farbe im Leben… Poetisch, gefühlvoll, zauberhaft, und ein Roman, dessen Ende überrascht. Erste Stimmen: „Das Buch ist eine Poesie, wie es, mit seiner Sprache, die man wohl, wie die Geister der Vergangenheit, von denen es erzählt, betörend nennen muss, das Leser geradezu süchtig macht, ihn verführt und ihm fast den Willen raubt. Der Roman lässt den Leser nicht mehr los, und wenn er glaubt zu wissen, wohin das alles führen wird, dann wird er getäuscht. Korten zeigt die vielen Facetten einer verletzten, traumatisierten Seele und deshalb ist dieser Roman so besonders und wird zu Recht mit geballter Sympathie überschüttet.“ Westdeutsche Allgemeine Zeitung „Danke für dieses wunderbare Buch, dessen Ende total verblüffend war!. Unbedingt empfehlenswert!“ Jeanette Lube „Der Roman hallt lange nach, bleibt im Gedächtnis und hinterlässt einen bittersüßen Geschmack. Eine Perle der Literatur.“ Manfred Bülow „Von mir als bekennenden Liebesromanverächter, volle 5 Sterne. Von dieser Sorte Bücher würde ich sogar noch mehr lesen. TOLLES WERK.“ Mein Lesezauber „Emotion pur, auch zwischen den Zeilen – einfach wunderschön.“ S. Wagner „Ein schriftstellerisches Kleinod zu schaffen, welches man zu lesen beginnt und erst nach der letzten Zeile wieder aus der Hand legen möchte.“ Sarah
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Inhaltsverzeichnis
WHISPERING LOVE
Lilly
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Zwei Jahre zuvor
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Und Lilly …?
Weitere Romane der Autorin
MONDTEUFEL
DIE VERDAMMTEN
TAL DER SEHNSUCHT
Über die Autorin
Impressum
Astrid Korten
Roman
„Für die Welt bist du irgendjemand, aber für irgendjemand bist du die Welt.“
(Erich Fried)
Minou Blancart erhält kurz vor ihrer Abreise nach Süd-Frankreich ein Bündel Briefe ihrer verstorbenen Schwester Lilly und eine Eintrittskarte zur Gemäldeausstellung Les Aimants im Pariser Musée dʼOrsay.
Lillys Zeilen führen Minou in die schicksalsreiche Vergangenheit ihrer Schwester und zu einem flirrenden Sommer mit Monsieur Inconnu…
Nachdem Minou die Briefe gelesen hat, ist für sie nichts mehr wie vorher. Sie steht vor einer schwierigen Entscheidung. Nun ist sie es, die einen Brief schreibt und ihn unter einem Stein auf Lillys Grab legt.
Zwei Tage später antwortet ihr eine gewisse Jane Avril. Minou wundert sich, denn Jane ist seit 40 Jahren tot…
Ein unwiderstehlicher Roman über den Duft der Kindheit, den Zauber der Leichtigkeit, die Magie der Liebe und die Farbe im Leben…
Poetisch, gefühlvoll, zauberhaft, und ein Roman, dessen Ende überrascht.
Erste Stimmen:
„Das Buch ist eine Poesie, wie es, mit seiner Sprache, die man wohl, wie die Geister der Vergangenheit, von denen es erzählt, betörend nennen muss, das Leser geradezu süchtig macht, ihn verführt und ihm fast den Willen raubt. Der Roman lässt den Leser nicht mehr los, und wenn er glaubt zu wissen, wohin das alles führen wird, dann wird er getäuscht. Korten zeigt die vielen Facetten einer verletzten, traumatisierten Seele und deshalb ist dieser Roman so besonders und wird zu Recht mit geballter Sympathie überschüttet.“ Westdeutsche Allgemeine Zeitung
„Danke für dieses wunderbare Buch, dessen Ende total verblüffend war!. Unbedingt empfehlenswert!“ Jeanette Lube
„Der Roman hallt lange nach, bleibt im Gedächtnis und hinterlässt einen bittersüßen Geschmack. Eine Perle der Literatur.“ Manfred Bülow
„Von mir als bekennenden Liebesromanverächter, volle 5 Sterne. Von dieser Sorte Bücher würde ich sogar noch mehr lesen. TOLLES WERK.“ Mein Lesezauber
„Emotion pur, auch zwischen den Zeilen – einfach wunderschön.“ S. Wagner
„Ein schriftstellerisches Kleinod zu schaffen, welches man zu lesen beginnt und erst nach der letzten Zeile wieder aus der Hand legen möchte.“ Sarah
Überarbeitete Neuerscheinung des Romans ‚Die verlorenen Zeilen der Liebe‘.
„Manchmal muss man den Boden unter den Füßen verlieren und die wichtigen Dinge des Lebens klären, um im siebten Himmel die Magie der Liebe zu erfahren …“
An einem Tag, der nicht so zufällig war, wie es den Anschein hatte, führte das Schicksal Clement Rozier, Polizeibeamter im 8. Arrondissement, ins Musée d'Orsay. Es war eine Schnapsidee, so kurz vor dem Ende seiner Mittagspause ins Museum zu gehen, zumal im Polizeipräsidium eine wichtige Besprechung anstand. Aber Clement wollte seine Frau heute Abend mit zwei Eintrittskarten für eine Führung durch die aktuelle Ausstellung Les Aimants– die Liebenden – überraschen, und bei der Gelegenheit auch Jacques kurz Hallo zu sagen. Sein ehemaliger Kollege arbeitete dort seit seiner Pensionierung als Wachmann und hatte immer über ein kleines Kontingent an Eintrittskarten.
Das Museum am Quai Anatole France machte seit Tagen mit seiner Themenausstellung Les Aimants Schlagzeilen. Hauptattraktion waren die Werke von Gustav Klimt wie Der Kuss oder Danaë, aber auch weitere Gemälde zum Thema Liebe. Aber nicht nur sie interessierten ihn. Es war seine Sehnsucht nach Marc Chagalls Liebenden von Vence, die Clement ins Museum trieb. Als hoffnungsloser Romantiker schwärmte er für Chagall. Seine Bilder waren für ihn der Inbegriff der Liebe.
Am Eingang begrüßte ihn eine wohlklingende Stimme. „Clement! Was für eine angenehme Überraschung, mein Freund.“
Sein ehemaliger Kollege musterte ihn erfreut durch seine rot umrandete Brille, legte den Kopf leicht schief und schaute ihn erwartungsvoll an.
Clement verstand den Wink sofort. „Hallo Jacques. Du hast ja eine neue Brille! Die steht dir wirklich gut, Jacques.“
„Danke. Aber bisher ist sie noch niemandem aufgefallen.“ Jacques grinste. „Meine Frau meinte, ein wenig Farbe könnte selbst in meinem Alter nicht schaden.“
„Farbe ist Leben, Jacques. Deine Frau hat jedenfalls einen guten Geschmack.“
„Was führt dich ins Museum, mein Freund? Der Chagall? Es ist eine Leihgabe aus dem MOMA in New York.“
„Ich möchte Marlene mit einer Führung durch die neue Ausstellung überraschen, Jacques. Hast du noch zwei Karten für mich?“
„Natürlich, Clement. Willst du vorher noch einen Blick auf die Bilder werfen? Sie sind großartig.“
„Sehr gerne, Jacques“, antwortete er.
Gemeinsam schlenderten die Männer durch die Gemäldegalerie des Museums, die noch immer den alten Bahnhof dʼ Orsay erkennen ließ. Dabei fiel Clement auf, dass es in dem sonst perfekt ausgeleuchteten Seitenflügel der Galerie überraschend dunkel war. Statt des gleichmäßig von oben einfallenden Lichts breitete sich in gewissen Abständen ein gedämpfter blauer Schimmer von den Sockelleisten nach oben aus. Er schmunzelte. Blau förderte die Wachsamkeit. Als ehemaliger Dieb wusste er alles über diese Dinge und darüber, wachsam zu sein.
Vielleicht war es einmal anders gewesen, vor vielen Jahren, als er noch ein Teenager war, aber jetzt, als Polizist, war er es sogar gewohnt, auf seinen nächtlichen Streifzügen entlang der Seine von den vielen kleinen Lichtern der Pariser Wahrzeichen oder den Laternen angestrahlt zu werden und wachsam zu bleiben.
Als pubertierender Teenager war ihm das allerdings oft misslungen. In den belebten Läden oder am Strand von Étretat glitten ihm die Dinge, die er heimlich von den Touristen erbeutet hatte, leicht aus den Fingern. Sie fühlten sich an wie Fremdkörper, die nicht in seine Hand passen wollten. Dann rannte er zum Strand, denn die Gegenstände schienen leicht zu zittern, als ob sie sich selbstständig machten. Und sobald er das spürte, fielen sie zu Boden oder in den Sand. Dann blickte er traurig auf und erblickte in der Ferne seinen Leuchtturm. Nur eine Silhouette, im Atlantiknebel schwebend wie ein Tagtraum.
Aber das passierte ihm heute nicht mehr. Aus dem Dieb von einst war ein Hüter des Gesetzes geworden. Und natürlich sah er auch den Leuchtturm nicht mehr, denn er wohnte in Paris und nicht in seinem Geburtsort Étretat, hoch über der Alabasterküste der Normandie mit den steilen Klippen und bizarren Felsformationen, die den malerischen Ort zu beiden Seiten umrahmten.
Clement deutete auf den Seitenflügel. „Was ist das, Jacques?“
„Die Sicherheitseinrichtungen wurden optimiert. Blau ist der letzte Schrei. Hält uns bei Laune, behaupten die verantwortlichen Sesselfurzer der Verwaltung. Als ob wir den ganzen Tag schlafen würden. Egal. Komm, da drüben beginnt die Ausstellung Les Aimants. Sie wird dir gefallen.“
Er zögerte keine Sekunde, Jacques zu folgen.
„Die Besucher stürzen sich sofort auf Klimt“, sagte Jacques, als sie den Raum betraten, „aber ich habe nur Augen für L' Amour Perdu.“ Er seufzte. „Schau dir dieses Bild an, Clement! Es heißt L' Amour perdu. Ein sehr treffender Name. In dem Gemälde liegt die ganze Sehnsucht nach einer verlorenen Liebe.“
Seine Augen blickten in die Richtung, auf die Clement gedeutet hatte. Auf den ersten Blick zeigte das Bild ein Lavendelfeld in der Provence. Aber je länger Clement es betrachtete, desto intensiver wurden die Farben. Auch das Licht veränderte sich, und nach einer Weile nahm er die zarten Farben des Mittelmeers zwischen Violett und Blau wahr. Nur eine einzige violettblaue Welle sprenkelte das Geschehen mit ihren zarten Schaumkronen. Sie war es auch, die violette Pastelltöne in die ansonsten bläulich dunstige Umgebung warf. Alles fügte sich zu einer zarten, pastellfarbenen Komposition aus Lavendel und Meer zusammen.
Der Zauber des Gemäldes zog Clement sofort in seinen Bann. Aber … Verdammt! Plötzlich schlug sein Herz ein wenig schneller.
„Sag mal, Jacques, heißt die Künstlerin Lilly Blancart?“, fragte er.
„Ja“, antwortete Jacques. „Einer der Kuratoren hat das Bild vor zwei Jahren in einer kleinen Galerie entdeckt und sofort gekauft. Frau Blancart hat es kurz vor ihrem Tod gemalt. Je länger man es betrachtet … Monet hat ähnliche Werke in Weiß geschaffen. Aber das hier … Wunderschön, nicht wahr?“, schwärmte Jacques.
Clement nickte. „Wie ein Tagtraum…“
Jacques zog die Augenbrauen hoch. „Was ist los, Clement? Du bist plötzlich so blass um die Nase.“
Ich habe alles verdrängt. Wie konnte ich Lilly nur vergessen?
Er sah Jacques an. „Tut mir leid, Jacques, ich muss los. Wir haben gleich eine Besprechung und ich muss vorher noch etwas erledigen, was keinen Aufschub duldet. Bitte sei mir nicht böse.“
Jacques verzog keine Miene, schien aber wenig Verständnis für seinen plötzlichen Aufbruch zu haben. Er blickte ihn mit einem Das-kann-doch-nicht-dein-Ernst-sein-Blick an, den Clement schon seit Ewigkeiten kannte.
„Du musst tun, was du tun musst, mein Freund. Ich begleite dich zum Ausgang.“ Jacques sah ihn an, als wäre seine Sympathie für ihn in Gefahr. „Willst du die Eintrittskarten mitnehmen?“
„Ja, bitte. Danke, Jacques. Wären drei auch möglich?“
„Sicher.“ Jacques holte die Eintrittskarten aus der Tasche seiner Uniformjacke und reichte sie Clement. „Ein Geschenk von mir. Ich wünsche dir einen schönen Tag. Bis morgen, Clement. Und mach's gut. Was immer du noch vorhast ...“
„Bis morgen, Jacques“, antwortete er und verließ das Museum.
Wie konnte ich nur ihre Briefe vergessen, dachte er. Wie konnte ich Lilly vergessen?
Im Auto stellte sein Gehirn in fünf Sekunden einen Weltrekord im Treffen möglichst vieler Entscheidungen auf, und Ich-komme-heute-nicht-zu-spät-zum-Abendessen, war seine erste Entscheidung. In Momenten emotionaler Erregung neigte er dazu, seine Gedanken sehr ausführlich zu sortieren. Insofern war ihm klar, dass er seine zweite Überlegung jetzt sofort in die Tat umsetzen musste.
Er griff nach seinem Handy und wählte die Nummer seines Kollegen im Polizeiarchiv.
„Wann haben Sie heute Feierabend, Pierre?“ Er hörte einen Moment zu. „Gut, ich bin in vierzig Minuten bei Ihnen.“
Sofort löste sich die leichte Anspannung in seiner Magengegend.
Nach einer kurzen Besprechung im Kommissariat ging er ins Archiv seiner Dienststelle. Der Karton mit der Aufschrift Blancart stand neben vielen anderen Akten, achtlos abgelegt, vergessen und verdrängt. Clement öffnete ihn und fand darin die Akte von Lilly Blancart, einer geheimnisumwitterten Künstlerin, die zu Lebzeiten Paris mit ihren Gemälden der Provence und des Mittelmeers verzaubert hatte. Als er die Akte an einer vertrauten Stelle aufschlug, fielen ihre blassblauen Briefe zu Boden. Er schloss kurz die Augen. Eine Geschichte tauchte auf.
Der Gedanke, sich noch einmal der Sinnlichkeit ihrer Briefe und ihrer Geschichte hinzugeben, war verlockend, aber wozu? Er kannte Lillys Geschichte. Die meisten Menschen erlebten selten eine so starke und so frühe Leidenschaft wie diese junge Frau. Und wenn doch, dann erinnerten sie sich lächelnd daran und taten es als Schwärmerei ab, die mit der Zeit erlosch. Man wusste nie, wen die Liebe traf, wann sie zuschlug und ob sie von Dauer war. Lilly hatte gewusst, dass man sich dem Anblick der Liebe nur aussetzen musste, dass sie kein Ende hatte, nur einen Anfang.
Clement bündelte die Briefe, nahm ein Taxi in die Rue Velvet und warf sie in den Briefkasten von Lillys Schwester Minou Blancart.
Auf dem Heimweg bewunderte er den blassblauen Winterhimmel. Je länger er hinaufschaute, desto mehr glaubte er, Lillys Lächeln zu sehen. Mit der Liebe muss man behutsam umgehen, dachte er, wie mit einem kleinen Mädchen, dem man verspricht, es auf den Schultern festzuhalten, wenn es die Äpfel vom obersten Ast stehlen will. Er dachte auch an Marlene, die er über alles liebte, und an das Glück, das wie ein Vogel hoch oben in der Baumkrone saß, seine Flügel ausbreitete und sich von der Sonne wärmen ließ. Wie das Musée d‘Orsay selbst hatte jedes Bild seine eigene Geschichte.
Heute würde er seiner Frau Lillys Geschichte erzählen. Sein letzter Gedanke war ein perfekter Abschluss für diesen Tag.
Minou drehte sich wieder um und ging ins Wohnzimmer. Jeder einzelne Augenblick in diesem Raum war wichtig gewesen, Minute für Minute. Es schien ihr immer noch bedeutsam, sich alle Einzelheiten einzuprägen, um nicht Stück für Stück die Erinnerung auszulöschen. Doch die Zersetzung der Erinnerung hatte bereits begonnen. Bildete sie sich ein, dass Lillys Duft noch immer in diesem Raum hing? An der langen weißen Theke standen zwei Barhocker, mit weißem Leder bezogen. Eine Ledercouch und zwei Stoffsessel schimmerten in dezentem Violettblau. An den Wänden hingen zarte Aquarelle. Lilly hatte den einmaligen Zauber und das besondere Licht der Provence und das Mittelmeer mit Pinsel und Farbe auf ihren Bildern eingefangen. Sie bestachen nicht nur durch idyllische Motive. Vielmehr entführten die Bilder den Betrachter in Lillys Welt: Sie machten Lust auf einen Spaziergang durch die sonnenverwöhnten Weinberge oder entlang der schönen Strände der Côte d’Azur.
Beim Betrachten kamen die Erinnerungen an die gemeinsame Kindheit auf. Sobald Minou die Augen schloss, konnte sie für einige Minuten dem Alltag entfliehen und Hand in Hand mit Lilly über die Lavendelfelder gehen, die lichtdurchflutet waren, wie dieses Zimmer. Grün-, Blau- und Violett-Töne dominierten auch den Wohnraum, weshalb das Appartement den Namen „Das Traubenzimmer“ erhalten hatte. Die Zimmerpflanzen sahen heute jedoch trostlos aus und ließen ihre Blätter hängen. Auf dem Couchtisch standen verwelkte Rosen und beleidigten Minous Augen. Entsetzt hielt sie den Atem an. So weit ist es mit mir gekommen. Die welken Rosenblätter erinnerten sie an all das, was sie vor zwei Jahren verloren hatte – Lilly, ihre Schwester, ihre Freundin, ihre Vertraute.
Einen verrückten Augenblick lang wollte sie Lilly anrufen. „Du ahnst nicht, wie leer mir das Traubenzimmer ohne dich vorkommt.“
Warum wollte sie Lilly dauernd erzählen, was sie komisch, traurig oder schrecklich fand? In welcher Stimmung sie war, wusste sie im Moment selbst nicht genau. Wahrscheinlich erweckte der Abschied von Lillys Wohnung alle drei Impressionen zugleich. Und dann diese Briefe, deren Inhalt sich in ihr Hirn gebrannt hatte.
Sie griff nicht zum Telefon, sondern stand einfach nur da, fühlte sich ausgelaugt und versuchte, die Leere ringsum zu ignorieren. Sie schloss einen Moment die Augen, verzweifelt bemüht, ihren Schmerz über Lillys Briefe zu verdrängen.
Nach einer Weile betrat Minou das Badezimmer. Im Spiegel blickte ihr eine sechsundzwanzigjährige Frau mit langen blonden Haaren entgegen. Das ovale Gesicht noch schmaler als sonst, die pfirsichzarte Haut blass, die blauen Augen voller Trauer. Mittelmeeraugen hatte Lilly sie genannt.
Sie warf ihr Nachthemd achtlos auf den Boden, drehte den Hahn auf und stellte sich unter die Dusche. Während das Wasser auf ihren Körper prasselte, gingen ihr die Zeilen durch den Kopf, die sie gestern an Lilly geschrieben hatte und heute auf ihr Grab legen wollte.
Liebste Lilly,
zwei Jahre war ich nicht dort. Ich wollte dir nah sein und bin nach deinem Tod einfach in Paris geblieben.
Familie … „Du kannst sie nicht ausstehen, oder?“, meldet sich meine innere Stimme stets, sobald ich deswegen Gewissensbisse bekomme. Sie war schon immer eine miese Verräterin und darauf bedacht, mir ein schlechtes Gewissen einzuflößen.
Nein, ich liebe meine Familie.
Es kommt vor, dass man mit Leuten verwandt ist und nicht fühlt, dass sie einem nah stehen, und man sie verlässt. Freiwillig, zwei Jahre lang. Und nun die Idee, zurückzukehren und ihnen deine Briefe zu zeigen, um die verlorene Zeit wieder aufzuholen, um zu sagen, wie viel Zeit noch bleibt. Um der Wahrheit Willen. Und seitdem …? Nichts.
Mit Papa, ja, manchmal telefonieren wir miteinander oder ich schreibe ihm. Er bedeutet mir viel. Und Großmutter. Sie weiß nicht mehr, dass sie meine Großmutter ist. Ihr Gedächtnis hat mich verloren und spielt ihr auch in anderen Dingen viele Streiche. Und Mama. Seit meiner Kindheit habe ich Angst vor ihr. Warum das so ist, weiß ich nicht genau. Ich erahne den Grund. Auch deshalb muss ich zurückkehren.
Es könnte so schön werden, wie in einem Roman, wo alles gut ausgeht. Wir würden uns am Ende mögen. Wir würden über dumme Sachen lachen. Die Augen verschließen vor Fehlern. Oder sie würden mir Vorwürfe machen, mir nichts verzeihen. Nur, was das sein könnte, entzieht sich meiner Kenntnis. Aber gewiss würden sie weinen und schreien wie in sinnlosen Fernsehserien. Sie waren schon immer so.
Geheimnisse, Tränen, Vorwürfe. Damit kennen sie sich aus, Lilly. Aber was werden sie tun, wenn ich ihnen deine Briefe zeige, ihnen sage, dass ich danach nicht mehr wiederkomme? Dass ich ihr Geheimnis kenne und ihnen deswegen nicht verzeihen kann? Endgültig. Zerstöre ich damit nicht unsere Erinnerungen? Was wird passieren? Es ist nicht vorhersehbar. Und dennoch …
Ich muss ihnen sagen, was im Traubenzimmer geschehen ist, und warum ich in Paris geblieben bin. Ich habe nach zwei Jahren Abwesenheit beschlossen, trotz meiner Angst zurückzukehren und Mama und Papa wiederzusehen.
Es gibt im Leben viele Motivationen, die niemanden etwas angehen, als einen selbst. Die einen drängen wegzugehen und nicht zurückzublicken. Gleichzeitig gibt es genauso viele Motivationen, die einen dazu drängen, wiederzukommen.
Ich habe beschlossen, zurückzukehren, diese Reise zu machen und ihnen die Wahrheit ins Gesicht zu schleudern, sie persönlich anzukündigen. Um mir und den anderen ein letztes Mal die Illusion geben zu können, bis zu diesem absoluten Moment, mein eigener Herr zu sein. Sie werden mich dafür hassen. Wir werden sehen, was geschehen wird.
Ich habe Angst. Angst haben bedeutet, den Tod täglich in Schlückchen zu trinken, die Träume und Wünsche zunichtezumachen, die Zeit selbst zu löschen, hoffnungslos im Strudel des Nichts. Du weißt, wovon ich spreche.
In Liebe
Deine Minou
Der Friedhof Père-Lachaise wirkte auf Clément Rozier so friedlich, als kündigte er nach dem Tod ein erfülltes, glückliches Leben an. Vielleicht, weil die Tombes der großen Dichter und Denker, Schauspieler und Künstler dort lagen, umgeben von Bäumen, die tänzelnde Schatten auf die Gräber warfen. Er kannte ihre Biografien und die Geschichten von ihren Sorgen und Nöten am Tag und von ihren Erlebnissen in der Nacht. Sobald Clément den Friedhof betrat, kam es ihm deshalb vor, als würde er seine Freunde besuchen: Molière, Honoré de Balzac, Appolinaire, Chabrol, Delacroix, Édith Piaf, Maria Callas oder die Tänzerin, Jane Avril. Und unter all den Ruhestätten lag auch Lillys Grab. Sie hatte er persönlich gekannt.
Es war Vormittag. Noch war der Himmel über Clément weiß und matt wie schimmerndes Seidenpapier, aber die ersten Sonnenstrahlen durchbrachen bereits die Wolkenschicht. In der vergangenen Nacht hatte es geschneit und die Waldpfade waren mit einer pudrigen Schneeschicht überzogen.
Clément trat durch das Tor und wollte sich zu dem Teil des Friedhofs begeben, in dem Lilly begraben lag, als eine junge Frau in einem braunen Wollmantel an ihm vorbeieilte. Die Art und Weise, wie sie über die geschwungenen Waldpfade des Friedhofs ging, hatte etwas Entschlossenes, so als wollte sie sich von ihrem alten Leben verabschieden. Endgültig. So kam es Clément vor.
Kurz darauf stand sie mit den Händen in den Taschen da und starrte auf Lillys Grab, das kleiner war als die umliegenden Tombes der berühmten Persönlichkeiten. Sie nahm etwas aus ihrer Manteltasche und steckte es zwischen die Blumen. Was es genau war, konnte Clément aus der Entfernung nicht erkennen. Dann warf sie dem Grabstein eine Kusshand zu, drehte sich um und verließ den Friedhof, als hätte sie soeben eine Entscheidung getroffen.
Clément holte tief Luft, wartete, bis die junge Frau außer Sichtweite war. Dann trat er auf den Weg hinaus, um ihren Spuren im Schnee zu dem Grab zu folgen.
Gefrorene Blumen und ein flackerndes Windlicht standen auf der dünnen Schneeschicht, die die Grabfläche bedeckte. Zwischen den Blumen lugte ein Umschlag hervor. Er kämpfte sichtlich gegen den Widerstand an, den es zwischen seiner Hand und dem Brief zu geben schien, bis er ihn schließlich nahm und in seine Jackentasche steckte.
Clément stand noch eine Weile reglos vor dem Grab, dann drehte er sich um, knöpfte seine Jacke zu und verließ den Friedhof. Hinter den Bäumen schimmerte mit einem Mal die Wintersonne und es erhob sich ein strahlend blauer Himmel. Ein gutes Omen, dachte er und lächelte.
Erst viel später setzte er sich in seinem Arbeitszimmer an den Schreibtisch, öffnete den Umschlag und las Minous Zeilen an Lilly. Danach dachte er einen Moment über die Liebe und das Glück nach. Wie groß sie sein konnten, und wie schwer einzufangen, wie ein Schmetterling, der aus dem Himmel geflohen war. Wie fand eine Frau wie Minou in schweren Zeiten einen Ausweg? Was könnte er Minou Tröstliches sagen? Sie war eine junge Frau, die mitten im Leben stand, während ihre Schwester in der kalten Erde lag. Fühlte sie sich vielleicht schuldig? Sie hatte zwei Jahre in Lillys Wohnung verbracht. Das Licht oder die Dunkelheit zu teilen, das war pure Liebe. Minou hatte ihre Schwester geliebt. Aber auch Versöhnung und das Verzeihen gehörten zur Liebe. Er fühlte sich verpflichtet, Minou einen Ausweg zu zeigen, ihr zu helfen. Das was er Lilly schuldig. Und er wusste auch wie. Nicht umsonst hatte er die Geschichten über die Toten vom Friedhof Père-Lachaise gelesen.
Clément nahm Briefpapier und seinen Montblanc aus der obersten Schublade des Schreibtisches.
„Liebe widerstrebt listig der Frage nach dem Warum. Wer beschreiben will, warum man jemanden liebt, gerät ins Stammeln.“
Sten Nadolny
Lilly war zwar fest entschlossen, an der Universität Sorbonne einige Semester Kunstgeschichte und Literatur zu studieren, doch noch mehr freute sie sich darauf, die quirlige Lebendigkeit der Stadt der Liebe kennenzulernen. Die Sorbonne bot unter dem Titel „Gründungsmythen Europas in Literatur und Malerei“ eine Seminarreihe an und ihr Vater hatte eines Tages den Entschluss gefasst, seiner jüngsten Tochter das Studium zu ermöglichen. Wo ihre Mutter an diesem Tag war, wusste sie nicht, auch nicht, was sie tat. Sie hatten nie darüber gesprochen.
An alles andere erinnerte sich Lilly: Ihr Vater hatte stolz in seiner Stammkneipe von den Plänen seiner Tochter erzählt und schließlich auch ihre Mutter überzeugt. Er war der Meinung, dass die Sonne in Lillys Bildern die Seele wärmte und an unbeschwerte Stunden denken ließ. „In Paris wird man Lillys Talent fördern, denn unsere Tochter hat die Gabe, dem Licht des Augenblicks und der Farbe eine besondere Bedeutung zu geben“, hatte er seine Entscheidung begründet. „Sie ist eine begabte Schriftstellerin und eine fantastische Malerin. Erkennst du das denn nicht, Magda?“
Ihre Mutter hatte sie daraufhin bis vor ihrer Abreise abweisend und streng behandelt wie in den Jahren zuvor. Vielleicht hätte sie selbst gern einige Semester in Paris studiert. Vielleicht war sie eifersüchtig und fand es ungerecht, dass ihr in der Jugend der Wunsch verwehrt geblieben war, in Paris zu studieren oder dort die Liebe zu kosten. Vielleicht hatte ihre Mutter mal mit dem Teufel paktiert und Gott hatte ihr deshalb einiges vorenthalten.
„Mama, die Liebe ist doch die schönste Sache der Welt. Man bleibt die ganze Nacht wach oder steht früh um vier auf, um entlang der Seine zu spazieren“, hatte Lilly eines Tages in der Küche gesagt, während sie ihrer Mutter beim Abwaschen half.
Ihre Mutter hielt ihre Hände ins heiße Wasser, den Rücken bequem über das Becken gebeugt. Ihre Blicke begegneten sich zuerst im Glas des Küchenfensters. Lilly wandte sich nicht verlegen ab, sondern hielt den Blick fest, als hätte sich über dem Kopf ihrer Mutter eine Art Sprechblase gebildet, in der sie ihre Gedanken lesen konnte.
Lilly zog die Stirn ein wenig in Falten, und ihre Mutter, der es nicht behagte, dass Lilly ihr mit ihren dunklen Augen so ungeschützt ins Gehirn schauen konnte, schenkte ihrer Tochter ein kurzes Lächeln.
„Wenn Gott nicht bereit ist“, fuhr Lilly fort, „mich in dieser Stadt auch mit der Liebe bekanntzumachen, soll er mich eben sterben lassen, auf welche Weise auch immer.“
Ihre Mutter tippte sich an die Stirn. „Du weißt nicht, was du da sagst, Kind.“
Kind? Verdammt, sie war erwachsen. Sie grinste. „Doch. Aber …“
Ihre Mutter runzelte die Stirn. „Aber was, Lilly?“
„Papa hat immer gesagt, dass deine Maschine, in der dein Gott es sich gemütlich gemacht hat, manchmal zu altmodisch tickt.“
Eisige Stille.
Lilly sah ihrer Mutter in die Augen, die einen eigenartigen Glanz bekamen. Auch ihr Lächeln war erloschen. Sie tauchte ihre Hand in das Spülbecken. Unversehens klatschte sie ihr den nassen Lappen an den Kopf. Sekunden später traf Lilly die flache Hand und sie spürte den Schmerz auf ihrem Gesicht. „Wie kannst du es wagen! Geh mir aus den Augen! Verschwinde.“
Das Wasser tropfte über ihre Schultern und in den Ausschnitt ihrer Bluse.