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Astrid Korten

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Beschreibung

Nach der Beerdigung ihrer Eltern wird die sechsjährige Charis von der Familie Burgess adoptiert und wächst behütet auf dem schottischen Torrisdale Castle unter der Obhut von Nathan Burgess auf. In Nathans Söhnen Calum und Gordon findet sie liebevolle Freunde. Als Heranwachsende fühlt sie sich besonders zu Calum hingezogen. Je älter sie wird, desto intensiver werden ihre Gefühle für den attraktiven Schotten. Sie beginnen eine leidenschaftliche Affäre. Calum und Nathan führen jedoch Böses im Schilde. Charis wird Opfer eines perfiden Spiels... Währenddessen hat Pharma Faber in Hongkong eine revolutionäre Entdeckung gemacht: ein neuer Wirkstoff stoppt den Alterungsprozess! Das Milliardengeschäft mit der ewigen Jugend ist zum Greifen nah. Doch, Robert Faber ahnt nicht, dass die Information trotz höchster Geheimhaltung schon in falsche Hände geraten ist… Robert geht dem nach. Die Spur führt nach Schottland... Fesselnd, dramatisch, eiskalt: Der Thriller über die Schattenseiten der Schönheit und die Abgründe der menschlichen Seele.

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Inhaltsverzeichnis

Über dieses Buch:

TÖDLICHE PERFEKTION

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Epilog

Nachwort der Autorin

Danksagung

Quellen

Über die Autorin:

Impressum

Über dieses Buch:

Nach der Beerdigung ihrer Eltern wird die sechsjährige Charis von der Familie Burgess adoptiert und wächst behütet auf Torrisdale Castle in Schottland unter der Obhut von Nathan Burgess auf. In Nathans Söhnen Calum und Gordon findet sie Freunde. Als Heranwachsende fühlt sie sich besonders zu Calum hingezogen. Je älter sie wird, desto intensiver werden ihre Gefühle für den attraktiven Schotten. Sie beginnen eine leidenschaftliche Affäre. Doch Calum und sein Vater Nathan führen Böses im Schilde. Charis wird Opfer ihres perfiden Spiels...

Unterdessen hat Pharma Faber in Hongkong eine revolutionäre Entdeckung gemacht: Ein neuer Wirkstoff stoppt den Alterungsprozess! Das Milliardengeschäft mit der ewigen Jugend ist in greifbare Nähe gerückt. Doch Robert Faber ahnt nicht, dass die Information trotz höchster Geheimhaltung bereits in falsche Hände geraten ist. Er geht der Sache nach.

Die Spur führt nach Schottland...

Fesselnd, dramatisch, eiskalt: Der Thriller über die Schattenseiten der Schönheit und die Abgründe der menschlichen Seele.

TÖDLICHE PERFEKTION

Eine verhängnisvolle Affäre

Thriller

Prolog

Torrisdale Castle, Sommer 1990

Von Drogen umnebelt, raste Gordon mit dem Geländewagen seines Vaters durch die dunkle Nacht. Vage war ihm bewusst, dass er zu schnell fuhr, aber es machte ihm keine Angst, es überraschte ihn nicht einmal. Die unübersichtlichen Kurven waren ihm vertraut, denn er fuhr nachts häufiger über die Single Track Road in Richtung Kinlochbervie.

Er hatte in dem schottischen Dorf mit den von der salzhaltigen Luft angegriffenen graubraunen Bruchsteinfassaden seine Kindheit verbracht und kannte die dunkelsten Ecken. Als Kind hatten er und sein Bruder Calum in Kinlochbervie immer wieder gehört, wie schwer, hässlich und oft schmerzlich das Sterben sei. In dieser Gegend erzählten die Angehörigen dem Sterbenden eine Geschichte, um ihn von seinem Schmerz abzulenken. Gordon kannte viele dieser Geschichten von gläsernen Bergen und blauen Drachen, von Lebensbäumen und Mondblumen, von Talismanen und Tarnkappen, von Zauberern und Geistern, vom Feuervogel und der Regenbogenschlange, von weissagenden Träumen und dem Weg ins Himmelreich. Sein Vater hatte sie ihm auf Torrisdale Castle an kalten Winterabenden erzählt, als er neun Jahre alt war und im Fieberwahn den Tod herbeisehnte.

Gordon Burgess fragte sich nicht, ob das Gesetz es ihm erlaubte, die Tierkadaver von Torrisdale Castle am Loch Meadhonach zu begraben. Er tat es einfach, und kein Mensch hätte ihn davon abhalten können, nicht einmal sein Bruder Calum oder die kleine Charis.

Er glaubte, dass die aufgewühlte Moorlandschaft beseelt war und einen eigenen Geist besaß. Er liebte das Moor mit seinen verschlungenen Pfaden und den zahlreichen Vogelarten und hatte sich schon als Kind nach einem solchen Ort gesehnt. Wie Calum war auch er der Meinung, dass hier eine Welt existierte, in der die Begebenheiten des täglichen Lebens noch geheimnisvoll und wundersam erschienen. Die Natur stand in vertrautem Dialog mit den inneren Landschaften seiner Seele. Jenseits und Diesseits waren hier eng miteinander verwoben. Die verstreuten Gräber mit den steinernen Kruzifixen veranschaulichten, dass der Tod an Loch Meadhonach nur die Heimkehr an einen vertrauten Ort bedeutete, den die Toten nie mehr verlassen sollten.

An der Telefonzelle am Ende der Ortschaft hielt er für einen Moment an und suchte im Handschuhfach nach einem Beutel Riopan. Seine Magensäure hatte mal wieder einen Höchstpegel erreicht, und der Schmerz war unerträglich. Er riss den Beutel auf, nahm die weißliche Flüssigkeit ein und wartete auf die Wirkung, indem er einfach dasaß und langsam ein- und ausatmete. Als das Feuer in seinem Magen nachließ, drehte er den Zündschlüssel um, sah in den Rückspiegel und fuhr wieder los. Hinter sich hörte er ein anderes Auto starten und anfahren. Er war also nicht der Einzige, der in dieser Nacht unterwegs war. Die Scheinwerfer eines Wagens hinter sich zu haben behagte ihm nicht. Sie tanzten im Takt der Schlaglöcher.

Er versuchte, den Fahrer im Rückspiegel zu erkennen, aber die Fenster waren dunkel getönt. Ein Schaudern wanderte seine Wirbelsäule entlang. Auf dem letzten ebenen Stück, bevor die Straße anstieg, kam der Wagen hinter ihm näher und überholte ihn zügig. Jemand hatte ihn verfolgt. Oder unterlag er einer Sinnestäuschung und hatte sich das nur eingebildet? Diese verdammten Drogen! Seit seinem vierzehnten Lebensjahr konnte er einfach nicht die Finger davon lassen. Er fröstelte und drehte die Heizung auf. Der Wind heulte und drückte den Motorengeruch ins Wageninnere. Obwohl seine Füße heiß waren, zitterte sein Körper vor Kälte.

Er folgte dem Hinweisschild nach Loch Meadhonach, bog in einen Feldweg ein und lenkte den Wagen geschickt durch das unebene Gelände. Dann schaute er noch einmal in den Rückspiegel. Nichts. Hinter ihm blieb alles dunkel. Sein Ziel war die Sandwood-Ruine, nicht weit entfernt vom Loch Meadhonach. Dort brachte er das Fahrzeug zum Stehen, schaltete den Motor aus und starrte in die Dunkelheit. Aber nur das unablässige Hämmern seines Herzschlags störte die Stille.

Gordon holte tief Luft, stieg aus und öffnete die Heckklappe. Vorsichtig hob er den toten Schwan aus dem Wagen und legte ihn sanft auf den feuchten Moorboden, dessen Duft ihm in die Nase stieg. Vom Meer her glaubte er die Stimmen von Sirenen zu hören, die sich zu einem kraftvollen Gesang vereinten. Sie redeten ihm ein, das Mondlicht wäre ein Zeichen des Schicksals, das sein Tun guthieß. Ein eisiger Wind fegte über das Moor. Er packte den Kadaver und trug ihn über einen mit Steinen markierten Pfad, der sich durch die vom Mond beschienene Landschaft schlängelte.

Seine Gedanken kreisten um das tote Tier, das an den Folgen einer Injektion gestorben war. Dabei war er felsenfest davon überzeugt gewesen, im Labor die richtige Dosis gefunden zu haben, aber der Schwan hatte nach der Injektion nur gekreischt und war innerhalb weniger Minuten verendet.

Dabei hatte er gerade heute seinen Vater und die ehrwürdigen Männer des Kuratoriums mit den Tierexperimenten beeindrucken wollen.

Das Kuratorium war eine kleine erlesene Gruppe steinreicher Männer aus der Oberschicht Großbritanniens: alter Adel und mächtige Unternehmer. Sie waren die Rockefellers und die „Peerage“ – der höchste Adel – des britischen Königreiches und spendeten ein Vermögen, um ihr Ziel zu erreichen: die Entschlüsselung des Unsterblichkeitsenzyms, das einen ewigen Jungbrunnen bedeutete. Schon ihre Väter hatten Lux Humana angehört. Die Elite des Geheimbunds vermischte sich nicht mit dem Pöbel, denn sie gab die Macht untereinander weiter. 

Gestern hatte sein Vater ihm in seinem Büro den Arm um die Schultern gelegt und ihn zunächst freundlich angesehen.

„Das Kuratorium von Lux Humana wird am Abend hier eintreffen. Wir haben Wichtiges zu besprechen, denn die traditionellen Strukturen sind ins Wanken geraten“, hatte Nathan gepredigt. „Politik, Religion, die Institution von Familie und Gemeinschaft sind plötzlich ungewiss geworden. Es ist an der Zeit, die Schönheit zu beschwören und sie neu zu beleben. Die Menschen haben sie vernachlässigt, deshalb befinden sie sich in einer katastrophalen Krise. Zu gegebener Zeit wird die Welt erfahren, was Lux Humana leistet. Wir werden eine Gegenwelt zu dieser mit Makeln behafteten Welt erschaffen, um sie zu verändern. Wir, die Burgess-Familie und das Kuratorium. Wir werden gemeinsam Großes leisten, Gordon. Du wirst uns dabei mit deinen Fähigkeiten unterstützen. Die Herren möchten den zukünftigen Biogenetiker von Lux Humana kennenlernen, denn schließlich finanzieren sie seit Jahren unsere Forschung. Ich werde dich ihnen morgen vorstellen.“

Doch plötzlich war das Lächeln auf seinem Gesicht erloschen und beißendem Spott gewichen, fast im Einklang mit der flachen Hand, die er ihm mit Wucht ins Gesicht geschlagen hatte. Gordon war taumelnd aus dem Büro geflohen, während die Stimme seines Vaters in seinen Ohren nachhallte.

„Also reiß dich gefälligst zusammen und lass die Finger von den Drogen!“

Vielleicht konnte er eines Tages tatsächlich die Jungbrunnenfrage lösen. Dann wäre sein Vater stolz auf ihn. Ganz bestimmt! Aber bislang war er mit seinen Versuchen kläglich gescheitert.

Loch Meadhonach schien unendlich weit weg. Noch immer lag Frost in der Luft, doch Gordons Körper glühte, als er mit seiner schweren Last endlich dort ankam. Einmal strich etwas über seine Wange. Vielleicht der Geist eines toten Tieres, das ihn ewig verfolgen, anklagen und verfluchen würde? Er konnte erst aufatmen und den kommenden Tag stark und rein beginnen, wenn der Schwan in seinem Grab lag.

Am Seeufer bemerkte er im Schein einer brennenden Fackel eine ausgebreitete Plane, auf der ein Spaten und zwei Wolldecken lagen. Auf einem Steinhaufen daneben lag eine karminrote Rose. Calum! Sein Zwillingsbruder überließ nichts dem Zufall. Gordon legte den toten Schwan auf die Plane und betrachtete ihn still. Bei seinem Anblick wurde ihm kalt und heiß, sein Gaumen wurde trocken, und seine Kehle war wie zugeschnürt.

Das Mondlicht hing blass und geisterhaft über ihm. Der böige Märzwind wirbelte die feinen Sandkörner des Seeufers durch die Luft und ließ tote Zweige rascheln. Gordons langes braunes Haar wurde vom Wind gepeitscht, und seine weite weiße Hose flatterte wie ein Segel um seine Beine. Er legte eine Decke über das Tier. Zähneklappernd warf er sich die andere über die Schultern und sah sich um, bis er die Stelle entdeckte, nah am Wasser.

Er warf die Decke ab und griff nach dem Spaten. Vom knirschenden Klirren des ersten Stoßes ins Erdreich wurde ihm fast schwindlig. Er spürte die harten Muskeln seiner Arme, seine Füße in den Stiefeln, sah auf seine schlanken Hände, zwängte seine Kraft in ein Geschirr wachgerufener Bewegungen – einstechen, nachtreten, heben und schwingen, einstechen, nachtreten, heben und schwingen. So hatte es ihm sein Vater beigebracht. Schließlich verfiel er in einen von jeglichem Denken losgelösten Rhythmus, einen vertrauten Takt, der ihn aber nicht beruhigte.

Er weinte, als er den Körper des Tieres in das ausgehobene Loch bettete. Als das Grab zur Hälfte gefüllt war, gab er Steine hinein, um Aasfresser abzuhalten, schaufelte ein wenig Erde darüber und schichtete dann weitere Steine zu einem runden Hügel auf.

„Wer weiß denn, ob das Leben nicht Totsein ist und Totsein Leben?“, flüsterte er, legte die Rose auf das Grab und beschwerte den langen Stiel mit einem Stein.

Bildete er sich nur ein, dass sich der Himmel plötzlich in Schleier hüllte und violett färbte? Das Blut rauschte in seinen Ohren, ihm wurde übel. Die Sterne am Himmel begannen sich zu drehen, zunächst langsam, dann schneller und schneller, bis ihn eine tiefe Schwärze erfasste.

Als er wieder zu sich kam, lag er auf dem Rücken. Er öffnete die Augen. Der Mond schien heller, Wolken eilten an seinem Licht vorbei, der Himmel wurde sternenklar. Hoch über ihm zog eine Möwe ihre Kreise, als habe sie das Spiel des Todes mit Interesse verfolgt. Er stand benommen auf, ging zum Ufer des Loch Meadhonach und klatschte sich Wasser ins Gesicht. Danach warf er eine kleine blaue Pille ein, die ihm eine farbenfrohe Nacht bescheren sollte – ohne alptraumhafte Visionen von toten Schwänen.

Plötzlich zuckte er am Seeufer zusammen. Nein!, dachte er. Das kann nicht sein. Er rieb sich die Augen, schaute noch einmal hin und stolperte. Er glaubte plötzlich vor einem Abgrund zu stehen, wo sich feine Risse auftaten, Risse, die sich allmählich zu größeren Klüften verbreiterten, um sich dann zu vereinigen zu einem gähnenden schwarzen Loch, das ihn verschlucken wollte. Das Mondlicht schimmerte in dem klaren kalten Wasser und drang bis auf den Boden des Loch Meadhonach.

Tief unten im Wasser lag die Leiche einer jungen Frau. Ihr vor Kälte erstarrter Körper schimmerte in gespenstischer Blässe, und das Wasser spielte mit ihrem langen braunen Haar. Die Erinnerung an ein Mädchen blitzte auf, die Verabredung vor ein paar Tagen, die sie nicht eingehalten hatte …

„Darf ich dich mal stören?“, fragte eine weibliche Stimme.

Gordon blickte auf. Vor ihm stand eine junge Frau, die ihn schelmisch musterte.

„Du störst mich bereits“, antwortete er.

„Ich stecke gerade in einem kleinen Chemieexperiment und wollte fragen, ob du mir kurz dabei hilfst.“

Er runzelte die Stirn. „Du verarscht mich, oder?“

„Ich kann mit einem Blick erkennen, dass du sehr gut in Chemie sein musst.“

„Mag sein, aber das hier ist eine Bibliothek und kein Labor“, entgegnete er genervt. Er wollte sie loswerden, aber sie ließ nicht locker.

„Ich habe in letzter Zeit nur Idioten gefragt und bin daher voreingenommen, aber von dir habe ich nur Gutes gehört. Ich nehme deine biochemische Aura deutlich wahr.“

Gordon grinste. „Und wen fragst du sonst noch?“

Sie schaute sich in der Bibliothek um. „Ich weiß nicht. Hier erfüllt sonst keiner die Kriterien: attraktiv, achtzehn, männlich, sexy.“

„Siebzehn!“, konterte Gordon.

Sie überlegte kurz. „Hm … Ich mach mal eine Ausnahme.“

„Für gewöhnlich bekomme ich etwas dafür, wenn ich jemandem in Chemie unter die Arme greife.“ Er sah das Mädchen mit den haselnussbraunen Haaren erwartungsvoll an.

„Verstehe, aber mir sind leider vorhin die Fanmützen ausgegangen. Kann ich dich stattdessen am kommenden Samstag zum Essen einladen? Wir können einfach nur reden, und wenn wir Glück haben, sagt einer vielleicht etwas Interessantes.“

„Ich mag aber keine Mädchen, die Chemie als Hauptfach haben.“

Sie lächelte geheimnisvoll. „Da hast du aber ein Glück, ich bin nämlich noch unentschlossen.“

„In welcher Hinsicht?“, fragte er.

„In jeder.“

Er reichte ihr die Hand. „Ich heiße Gordon.“

„Aileen. Wirst du mich Samstagabend versetzen, Gordon?“

„Nein, das werde ich nicht, Aileen.“

„Gegen acht, in der Pizzeria Stromboli?“

„Ich werde pünktlich sein, Aileen“, antwortete er und lächelte. „Was gibt’s dort als Nachspeise?“

„Mango-Eis mit Nüssen und Rosinen“, antwortete sie. „Warum fragst du?“

„Ich esse die Nachspeise immer zuerst.“

Sie hob die Augenbrauen. „Ist das ein politisches Statement oder medizinisch begründet?“

„Ich habe einfach keine Lust zu warten. Ich könnte beim Hauptgericht sterben.“

„Ist das denn zu erwarten?“

Gordon rieb sich das Kinn. „Vielleicht sterbe ich an einer Lungenembolie, oder ein Asteroid stürzt auf die Pizzeria. Ich würde sterben, ohne das gegessen zu haben, was ich am meisten mag: den Nachtisch.“

„Aber die Wahrscheinlichkeit …“

„Weißt du was?“, unterbrach er. „Garantiere mir, nein, schwöre mir, und zwar bei deiner unsterblichen Seele, dass ich die Hauptspeise überleben werde. Dann warte ich.“

Aileen schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. „Hm …“

„Stopp. Sag nichts. Denn wenn ich doch sterbe, würde dich für den ganzen Rest deines Lebens nicht nur die Gewissheit quälen, dass du gelogen hast, sondern dann hast du mir auch noch den letzten Genuss verwehrt, den allerletzten Wunsch. Bist du bereit, so viel Verantwortung auf dich zu nehmen, nur damit du mal recht hast, schöne Aileen?“

„Du siehst mich sprachlos vor dir stehen, Gordon.“

Schmetterlinge flatterten wie wild in seinem Bauch. „Keine Angst, ich teile den Nachtisch mit dir!“

„Würdest du mich hier und jetzt küssen, Gordon?“

„Nein.“

„Du isst den Nachtisch zuerst, weil Asteroiden in eine Pizzeria einschlagen könnten, aber das Mädchen, das du offenbar nett findest, küsst du nicht. Du ziehst es stattdessen vor, bis Samstagabend zu warten.“

Seine Augen verengten sich, und mit einem selbstgefälligen Grinsen packte er ihr Kinn und sah sie eindringlich an. „Ich habe es mir anders überlegt“, sagte er und küsste sie doch.

Gordon schaute noch einmal in die Tiefe und begriff, warum Aileen ihn zwei Stunden vergeblich vor der Pizzeria hatte warten lassen. Sie war tot!

„Tot!“

Er schrie es in die Nacht hinaus. Seine merkwürdig krächzende Stimme, die vom gegenüberliegenden Ufer herüberdrang, konnte man bis zur Sandwood-Ruine hören. Im Schatten der Ruine stand ein dunkler Bentley.

Zuerst war es ein Spiel gewesen. Calum war dem Geländewagen auf die Landstraße gefolgt. Dann bemerkte er, dass Gordon im Rückspiegel genauer auf den Fahrer hinter sich achtete, und vergrößerte den Abstand. Als sein Bruder nach einem kurzen Stopp an der Telefonzelle wieder losfuhr, zog Calum mit Vollgas an ihm vorbei und sah im Rückspiegel, dass Gordon in den Feldweg einbog, der zum Loch Meadhonach führte. Calum bremste, wendete den Bentley und fuhr zurück. Langsam näherte er sich dem Geländewagen, dessen Lichter in der Ferne durch die Dunkelheit tanzten. Er seufzte und hielt im Schatten der Ruine an.

Das arme Tier, armer Schwan ...

Calum hatte Gordons Gejammer vom Abend noch in den Ohren. Er war ihm beim Abendessen schon redselig, fahrig und nervös vorgekommen, hatte sich immer wieder an die Nase gefasst. Als er feuchte, undeutliche Worte artikuliert und ständig gekichert hatte, hatten die geröteten Augen mit den erweiterten Pupillen verwundbar nach innen geschaut. Untrügliche Zeichen des Kokainkonsums, der seinen einst so erfinderischen Verstand längst verwirrt und seinen athletischen Körper ausgemergelt hatte.

Irgendwann werden dich deine Drogen umbringen, Bruderherz!

Er hatte ihn schon oft gebeten, die Finger von Kokain und Ecstasy zu lassen, aber sein Bruder hatte noch nie auf ihn gehört. Calum glaubte, den Grund zu kennen. Ihr Vater war großartig darin gewesen, seine Söhne auf Leistung zu trimmen, dabei aber ihre Anstrengungen zu ignorieren oder gar abzuwerten. Calum hatte das nicht gestört, aber Gordon war daran fast zugrunde gegangen.

Die kleine Charis konnte Nathan allerdings um den Finger wickeln und hatte im Laufe der Jahre eine ganz eigene, kindliche Taktik im Umgang mit ihm entwickelt, die Calum bewunderte. Das neunjährige Mädchen bot seinem Vater die Stirn wie sonst niemand. Allein deshalb wird Nathan die Kleine mit Sicherheit früh in die Geheimnisse von Lux Humana einweisen, dachte er.

Er hatte sich seinem Vater niemals untergeordnet. Nathan hatte seinen Söhnen weder genug Aufmerksamkeit noch Fürsorge entgegengebracht, um diesen Vertrauensbeweis möglich zu machen. Die Erziehung hatte aus ihm einen starken Mann gemacht, der einen festen Platz in der Gesellschaft und im inneren Kreis von Lux Humana gefunden hatte. Gordon dagegen war schwach und seit seinem dreizehnten Lebensjahr ein Junkie.

Calum hätte jetzt gerne seine lustvoll kreischende Freundin Kate im Pool hinter sich hergezogen, ihr auf das Hinterteil geklatscht, wäre mit ihr getaucht und hätte sie umarmt und kühles Salz von ihren warmen Lippen geküsst. Stattdessen gab er den Aufpasser und beobachtete Gordon dabei, wie er einen Schwan in ein Crain-Grab bettete. Er kräuselte verächtlich die Lippen. Ein Blick auf seine Armbanduhr zeigte, dass schon zwei Stunden vergangen waren. Es wird Zeit, nach Torrisdale Castle zurückzukehren, dachte er.

Plötzlich hörte er den Schrei. Er runzelte die Stirn. Was war denn jetzt schon wieder los?

Als Gordons Schreie lauter wurden, rannte Calum zu ihm, streckte seine Arme aus und drückte seinen schluchzenden Bruder an sich. Noch immer stand er unter dem Einfluss von Drogen, die ihn stöhnend im wirbelnden Strom der Eindrücke versinken und in seine Innenwelt eintauchen ließen.

„Ich habe sie gesehen, und jetzt bin ich eine Gefahr, eine Bedrohung für sie, Calum. Aber sie dürfen mich nicht töten“, wimmerte Gordon. „Bitte …“ Gordon schluckte. „Bitte, Calum. Sag ihnen, dass sie es nicht … Lux Humana darf mich nicht töten. Diese Männer dürfen mich nicht umbringen. Ich will nicht sterben, Calum. Bitte. Hört mich denn niemand?“

Diesen Klang hatte Calum bei ihm noch nie vernommen, nicht einmal in Ekstase. Sein Blick glitt über den ausgemergelten Körper. Der Wind und das Morgenlicht liebkosten das junge Gesicht, das unter dem Dreitagebart zartviolett schimmerte.

Gordons Lippen formten seltsame Worte, die Augen, trübe und verwundbar, sahen nach innen oder rollten unkontrolliert hin und her. Calum wurde von Zorn ergriffen. Er beugte sich vor und hielt seine Lippen ganz nah an Gordons Ohr.

„Niemand will dich töten. Aber wenn du dich nicht auf der Stelle zusammenreißt, bringe ich dich tatsächlich um. Dann kannst du deinem Schwan dort unten Gesellschaft leisten. Hast du mich verstanden?“, flüsterte er.

„Aber … Aber ich kenne sie. Ich kenne das Mädchen dort unten im Wasser. Es ist Aileen aus dem Internat.“

„Gordon, da liegt kein Mädchen. Und Aileen ist auf Torrisdale Castle und hat Besuch von einer Freundin. Du hattest eine Halluzination, verdammt noch mal! Reiß dich zusammen und lass endlich die Finger von den Drogen!“

Plötzlich sprang Gordon auf, reckte die Arme dem Himmel entgegen und schrie: „Erbarme dich meiner Qualen!“

Calum ballte die Fäuste, dann schlug er zu. Sein Bruder stürzte zu Boden. Er packte ihn an beiden Armen und zog den bewusstlosen Körper zum Bentley.

Kapitel 1

Hongkong-Kowloon, 3. Oktober 2011

Um ein Uhr früh wurde Robert Faber in seiner Hotelsuite durch ein Gewitter aus dem Schlaf gerissen. Ein Windstoß packte die Jalousien und zerrte an ihnen. Der Tag in Hongkong war windig gewesen. Bei Einbruch der Dunkelheit hatte es eine Sturmwarnung gegeben, und schon brachen Böen mit fünfzig Knoten und mehr aus der Front hervor, die sich bis weit nach Süden erstreckte. Das Peninsula Hotel bot üblicherweise Ruhe in Fünf-Sterne-Qualität mit britischem Gütesiegel, doch jetzt zuckten die Blitze, und Regen peitschte gegen die Fenster.

Robert Faber, der Vorstandsvorsitzende und Hauptaktionär der Faber-Pharma-AG, rieb sich erstaunt die Augen. Er konnte sich nicht erinnern, in Deutschland jemals ein so heftiges Gewitter erlebt zu haben. Sein Herz klopfte in angenehmer Erregung, denn er liebte den Teufelswind, wie die Hongkong-Chinesen ihre kleineren Taifune nannten. Er stand auf, trat ans Fenster und schob die Jalousie nach oben, um sich das Schauspiel anzusehen.

Der wütende Donner über Victoria Harbour weckte Erinnerungen an seinen ersten Tag in Hongkong. Bei der Ankunft vor zwei Wochen war es heiß gewesen, die Luft feucht und voll von fremden Gerüchen, dann plötzlich war ein Wind aufgekommen – und mit ihm ein Gewitter.

Der Regen hatte ihn völlig durchnässt, und als er das Foyer der Hongkonger Niederlassung der Faber Pharma Ltd. betrat, hielt ihn die Empfangsdame für einen Schutzsuchenden. Als er jedoch seinen Namen nannte, kam die junge Frau lächelnd auf ihn zu und führte ihn zum Fahrstuhl. Ihr schwarzes Haar, ihre Mandelaugen und ihre golden schimmernde Haut hatte er längst bemerkt, nun nahm er auch Notiz von ihren makellosen Beinen. Flüchtig fragte er sich, wie sie wohl im Bett sein mochte.

Faber lächelte. Heute wusste er es. Zwei Tage nach seiner Ankunft war die Kantonesin Dr. Yàn Meí seine Geliebte geworden. Sie war seine Sonne am Tag und seine Entspannung in der Nacht, zudem keine Empfangsdame, sondern die Assistentin von Dr. Hún Xìnrèn, dem Leiter der Abteilung Forschung und Entwicklung, den jeder im Unternehmen nur Dr. Hún nannte. Sie hatte sich zufällig am Empfang aufgehalten.

Lächelnd blickte er zum Bett hinüber, wo Yàn Meí friedlich schlief.

Er war nach Hongkong gereist, um mit Dr. Hún Xìnrèn die Verlegung der Forschungslaboratorien von Hongkong nach Deutschland zu diskutieren. Sein Vater hatte bereits kurz vor seinem Tod ähnliche Pläne geäußert. Nach der Entdeckung des Herzmedikaments CorPlus, das den innovativen Wirkstoff „Rebu 11“ enthielt, war Faber-Pharma mehrmals mit Betriebsspionage konfrontiert worden. Jemand hatte versucht, Unterlagen zu stehlen und den Wirkstoff zu kopieren. Hongkong galt als Hochburg der Produktpiraterie, und wenn man nicht alles unter Verschluss hielt, wurde ein Geheimnis sehr schnell gelüftet.

Mit ihrem Engagement im Bereich Forschung und Entwicklung zählte Faber-Pharma heute zu den Besten der Branche. Sie hatten durch Hún Xìnrèn und seinen hochqualifizierten, aus Massachusetts stammenden Kollegen Dr. Jonathan Hastings ihre Pharmaexpertise ständig weiter ausgebaut und das Wissen über Krankheiten, die den Medizinern noch immer Rätsel aufgaben, erweitert. Für diesen Bereich der Forschung war die Biotechnologie heutzutage unverzichtbar. Sie half, Wirkorte und Wirkmechanismen von Arzneimitteln besser zu verstehen und die Entwicklung vielversprechender Therapien zu beschleunigen.

In den letzten Jahren hatte Faber-Pharma mehrere neuartige Medikamente eingeführt, darunter Präparate zur Behandlung von Schizophrenie, Osteoporose, Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Die Forschungsabteilung in Hongkong war Robert Fabers ganzer Stolz, besonders nachdem Hún Xìnrèn im vergangenen Jahr mit dem Inventor of the Year Award ausgezeichnet worden war. Diese Ehre war ihm für die Entdeckung des Herztherapeutikums Rebu 11 zuteilgeworden.

Deutschland investierte wieder mehr in Forschung und Entwicklung, und auch in den Bereich Gesundheit flossen Milliarden an Forschungsgeldern. Auch deshalb hatte Faber Hún Xìnrèn und Jonathan Hastings überreden wollen, mit ihren Familien nach Deutschland umzusiedeln, zumal Faber-Pharma mit ihrer Hilfe die Erforschung von genetisch bedingten Defekten ausbauen wollte.

Jonathan Hastings hatte sofort zugestimmt. Er war genau vor drei Monaten und drei Tagen von seiner Ehefrau Samantha geschieden worden. Hinter ihm lag eine kinderlose zwölfjährige Ehe, die am Ende aussichtslos geworden war. Kein Wunder, dass er sich sofort mit einer Übersiedlung nach Deutschland einverstanden erklärt hatte.

Hún Xìnrèn hatte um Bedenkzeit gebeten, und Robert gewährte sie ihm. Der Name passte zu dem fünfzigjährigen Forscher und seiner Arbeit, fand er. Hún Xìnrèn bedeutete so viel wie „Mann des Herzens“ oder „guter Mann der Familie Hún“. Hún Xìnrèn war ein freundlicher und liebenswerter Mensch.

Seit zwei Wochen wartete Robert nun auf eine Antwort. Er hatte diese Zeit genutzt, um Vorbereitungen zur Umstrukturierung der Niederlassung zu treffen, die eines Tages als reine Vertriebsgesellschaft fungieren sollte. Das bedeutete aber, dass die Niederlassung über keine Research & Development-Abteilung mehr verfügen würde und Hún Xìnrèn und sein Team ihre Arbeit in den Laboratorien der Forschungsabteilung von Faber-Deutschland fortführen mussten. Robert wusste, dass er das Risiko einging, seinen Mitarbeiter zu verlieren. Hún Xìnrèns tiefe Verwurzelung mit seiner Heimat könnte zum Problem werden. Außerdem durfte er die asiatischen Konkurrenten nicht unterschätzen. Hún Xìnrèn und Hastings erhielten immer wieder lukrative Angebote.

Er hatte die beiden Männer bei ihrer Arbeit beobachtet. Sie waren sehr beliebt, besonders Jonathan Hastings, den jeder beim Vornamen nannte. Seit der Trennung von seiner Frau trank er mehr als vorher und brauchte morgens länger, um in Gang zu kommen. Geschäftliche Besprechungen vor zehn Uhr blieben somit eine Ausnahme. Doch sobald Hastings sein Büro betrat, war er hochkonzentriert und brillant in seinen wissenschaftlichen Schlussfolgerungen. Er trug meist Jeans und Baumwollhemden mit weißen T-Shirts, Lederslipper, ein ausgebeultes Jackett und nie eine Krawatte: das typisch lockere Harvard-Outfit.

Den sechsundvierzigjährigen Jonathan mit seinem dunkelblonden, gelockten Haar, das er seit seiner Trennung etwas länger trug, schätzte jeder auf Ende dreißig, was er insgeheim sehr genoss. Es war bekannt, dass er seit seiner Scheidung eine Menge Affären hatte, doch niemand in der Firma redete darüber, aus Respekt. Er galt wie Hún Xìnrèn in der eingeschworenen Gemeinde der Gentechniker als überragender und unbestechlicher Wissenschaftler und überschaute wie sein Kollege die weltweite Szene. Mit seiner Brillanz und seinem unkonventionellen Auftreten gelang es ihm regelmäßig, selbst die komplizierteste Materie um die DNA und ihre Proteingebilde für Laien anschaulich und begreifbar zu machen. Das beherrschte in der Welt der Genforscher kaum jemand.

Hastings und Hún Xìnrèn wollten schon deshalb lieber unter sich bleiben, glaubte Robert zu wissen. Immer dann, wenn die Medien über eine neue Entwicklung aus den Faber-Laboratorien berichteten, drängten sie darauf, Hún Xìnrèns und Jonathan Hastings’ Meinung zu erfahren, obwohl Hún in letzter Zeit auf Anfragen zumeist gereizt reagierte. Mehr denn je verschanzte er sich in seinem Labor hinter der Versuchsreihe Rebu 12 und fand in der Nacht kein Ende.

Der Regen warf inzwischen eine geschlossene Wasserfläche an die Scheibe, und Roberts Erinnerung glitt zurück zu einem der letzten Gespräche mit Hastings. Auch an jenem Tag hatte es in Strömen geregnet.

„In den letzten Jahren haben wir die Erkenntnis gewonnen, dass der Mensch hundertzwanzig Jahre und älter werden kann.“ Der Amerikaner lächelte. „Schon jetzt steigt ja die Lebenserwartung jährlich um mehrere Wochen, und bei hundert Jahren soll noch lange nicht Schluss sein.“

„Fit und kräftig noch als Greis?“, fragte Robert.

„Die Lösung hätte ein kleines Wesen bringen können, das millionenfach in der Erde vorkommt, der Wurm C. Elegans. Das ideale Forschungsobjekt ist zwar nur einen Millimeter lang, aber für die Wissenschaft ist er der Wurm der Würmer. Seine Zellen sind genau bekannt, sein Erbgut entschlüsselt. Man hat herausgefunden, dass – obwohl er nur ein Wurm ist – rund zwei Drittel seines Erbguts identisch mit dem des Menschen sind.“

„Sie sagten‚ hätte die Lösung bringen können, Dr. Hastings?“

„Ja. Um das Geheimnis des Alterns zu lüften, haben meine Kollegen sein Erbgut manipuliert. Sie veränderten seine DNA so gezielt, dass der Wurm nicht nur sechsmal älter wurde, er blieb auch gesund und kräftig.“

„Wie viel älter könnten wir werden, wenn wir das auf uns Menschen übertragen?“

„Es gäbe fünfhundert Jahre alte Menschen unter uns“, antwortete Hastings lächelnd. „Aber ein Wurm ist eben kein Mensch. Was wir beim Altern beobachten, ist äußerlich. Wenn die Haut altert, wird sie faltig und runzlig. Altersflecken entstehen. Die Zellen der Haut können sich nicht mehr so gut erneuern. Die Zahl der gesunden Zellen wird reduziert. Dies liegt im Erbgut begründet, das sich im Laufe des Lebens verschlechtert. Schäden an der DNA sind daran schuld.“

Hastings ging zur schwarzen Wandtafel, nahm ein Stück Kreide und zeichnete ein spiralförmiges Gebilde. „Wir haben uns die Form, den Aufbau und das Alter der DNA junger und alter Zellen angesehen und sie miteinander verglichen.“

Robert betrachtete die seltsamen chemischen Formeln hinter dem DNA-Strang. „Das sieht furchtbar kompliziert aus“, stellte er fest und fuhr sich mit der Hand über das gewellte braune, nach hinten gekämmte Haar.

„Es ist gar nicht so schwer, Herr Faber. Wir verwandeln die DNA in einen Kristall. Das Molekül des Lebens ist darin fest gefangen und bereit für die Untersuchung. Es reflektiert die Strahlen und bildet ein Muster. Daraus können wir den Rückschluss ziehen, wie sich im Zellkern die DNA beim Altern verändert, das Erbgut Schaden nimmt und die Zelle schließlich stirbt. Der Körper hat aber auch die Fähigkeit, Schäden zu reparieren und dadurch das Altern zu verzögern.“

Robert verstand.

„Aus Bestandteilen der Nahrung und aus dem Sauerstoff, den wir einatmen, produzieren die Mitochondrien – das sind unsere Kraftzellen – Energie, die die Zelle zum Leben braucht“, fuhr Hastings fort. „Allerdings werden dabei auch aggressive Sauerstoffteilchen freigesetzt, sogenannte freie Radikale. Wenn sie auf die DNA treffen, dann wird sie beschädigt. Und diese allmähliche Zerstörung bewirkt, dass unser Körper altert. Es klingt paradox, aber tatsächlich zerlöchert der Sauerstoff unser Erbgut.“

Robert lachte laut auf. „Habe ich schon mal gehört. Wir atmen uns zu Tode.“

„Ja, und … wir essen uns zu Tode!“

Robert hob fragend die Augenbrauen. „Das ist mir neu.“

Hastings grinste. „Und bedauerlich. Ich erkläre es Ihnen.“

Ruhig und gelassen veranschaulichte er seine Ausführungen, und Robert stellte fest, dass er mehr und mehr von den biochemischen Abläufen in den Bann geschlagen wurde.

Dr. Hastings kritzelte ein chemisches Zeichen neben den DNA-Strang, dann nahm er einen Apfel aus seiner Aktentasche. „Wie aggressiv Sauerstoff ist, zeigt ein Biss in diesen Apfel. Schon nach wenigen Sekunden greift er die Zellen des Fruchtfleischs an. Der Apfel wird braun. Genau das passiert auch mit der DNA. Ganz ähnlich lässt der Sauerstoff auch die Körperzellen altern. Doch ohne Sauerstoff können wir nicht existieren. Entsprechend verhält es sich mit der Nahrung, die die Grundlage für die Bildung des schädlichen Sauerstoffs ist. Mit seiner Hilfe wird in der Zelle die Nahrung in Energie umgewandelt. Im Labor haben wir Mäuse genetisch so manipuliert, dass sie extrem dick wurden, auch dann, wenn wir ihnen nicht viel zu fressen gaben. Sie blieben dann nur kleiner.“ Hastings zeigte auf zwei Mäuse, die sich im Laborkäfig träge bewegten. „Diese genmanipulierten Mäuse wandeln ihre Nahrung – aus welchem Futter auch immer – bevorzugt in Fettgewebe um und besitzen kaum Muskeln.“

Robert grinste. „Fast Food für Mäuse?“

Jonathan Hastings lächelte. „So kann man das sagen. Dicke Mäuse werden nicht nur schneller krank als ihre dünneren Artgenossen, sondern sie altern auch schneller. Aus diesen Beobachtungen können wir folgenden Rückschluss ziehen: Zu viel Nahrung macht nicht nur dick, sondern sie verkürzt auch das Leben.“

„Okay. Atmen und Essen schädigen also meine Genstärke.“

„Ich stelle fest, Herr Faber, wir verstehen uns! Durch Verzicht erzwingen wir ein langes Leben.“

Robert zwinkerte. „Und erkaufen uns ein langes Leben mit einer Nahrungsergänzungspille. Ein Milliardenmarkt!“

Hastings’ Gesicht verfinsterte sich. „Aber ein Leben ohne den Gaumengenuss? Ohne mich! Es ist eben leider so, dass das, was uns am Leben hält, uns auch sterben lässt.“

Robert lächelte. „Wie wär’s mit einem gemeinsamen Abendessen, Dr. Hastings?“

Jeder kannte Jonathan Hastings’ Vorliebe für gutes Essen. Er warf den angebissenen Apfel in den Papierkorb und sagte: „Sehr gut!“

Der Regen hatte ein wenig nachgelassen, und Robert betrat die Terrasse. Sein Blick streifte die Skyline des Central District, den die Chinesen Choong Wan nannten und der Hongkongs Finanzwelt repräsentierte.

Er fragte sich, warum Hastings ihn so detailliert über Stammzellen und DNA-Strukturen aufgeklärt und den nicht vollständig geklärten Mechanismus asymmetrischer Zellteilung veranschaulicht hatte. Das unentwegt von den Blättern tropfende Regenwasser klang wie Musik, und die Heftigkeit des langsam abziehenden Sturms zitterte schimmernd in der Luft nach. Nebel krochen über den Boden, dampfende Finger, die Lichterketten und Wolkenkratzer in geheimnisvolle Schemen verwandelten. Plötzlich erinnerte ihn das Geräusch des prasselnden Regens an die brodelnden Flüssigkeiten in den Reagenzgläsern, die säuberlich aufgereiht die Stahltische von Hún Xìnrèns Labor zierten.

Robert ging wieder hinein, legte sich zu Yàn Meí ins Bett und döste mit dem Gefühl einer Beklemmung ein.

Als er am Nachmittag des darauffolgenden Tages in sein Büro kam, lag auf dem Schreibtisch ein an ihn adressierter, versiegelter Umschlag mit dem Aufdruck Vertraulich.

Er riss ihn auf und fand einen Laborbericht der Sicherheitsstufe III, der höchsten Stufe im Unternehmen, unterschrieben von Hún Xìnrèn. An dem Bericht haftete ein gelber Notizzettel mit der Nachricht, dass der Wissenschaftler ihn gegen Abend im Labor erwarten würde.

Robert las das mit pharmakologischen Fachausdrücken gespickte Papier und schlug einige Wörter im Kuschinsky, dem Handbuch der Pharmakologie, nach. Danach las er den Bericht noch einmal, dann ein weiteres Mal, jedes Mal langsamer und gründlicher, bis er begriff, dass die Versuchsreihe namens Rebu 12 mit einer unglaublichen Entdeckung abgeschlossen worden war.

Am Vorgänger Rebu 11 hatten Träume und persönlicher Ehrgeiz gehangen. Die Träume waren in Erfüllung gegangen, der Ehrgeiz belohnt worden. Rebu 11 hatte nach seiner weltweiten Einführung innerhalb von drei Jahren den Umsatz von 946 Millionen auf 2,3 Milliarden Euro schnellen lassen. Rebu 12, so glaubte Robert dem Bericht entnehmen zu können, hätte die gleiche Aussicht auf Erfolg. Mittlerweile hatten die Laborversuche einen Etat von 105 Millionen Euro verschlungen, und er fühlte sich, als sei er ins Auge eines Hurrikans geraten. Alles auf seinem Tisch verschwamm, Formeln und Zahlen flimmerten vor seinen Augen. Er nahm die Mappe mit dem Bericht und machte sich auf den Weg zu Hún Xìnrèn.

Kapitel 2

Faber Pharma Ltd. Hongkong, 3. Oktober 2011

Den Eingang des Forschungstrakts schützte ein Zutrittskontrollsystem. Hún Xìnrèn führte seine Identkarte über den Leser und wartete, bis die Kamera sein Gesicht eingescannt hatte. Die automatische Identitätsprüfung arbeitete nach den Prinzipien der Biometrie. Das System erkannte zu jeder Zutrittskarte oder anderen Identträgern das Gesicht des Besitzers. Er hatte vor einigen Monaten aus fachlicher Neugierde versucht, das System zu umgehen. Die biometrischen Daten seiner Gesichtszüge waren gespeichert. Er änderte sein Äußeres, doch selbst durch einen nachgewachsenen Bart und eine Brille hatte sich das System nicht irritieren lassen. Wenige Sekunden später öffnete sich die Tür.

„Herr Faber wird in wenigen Minuten eintreffen, Dr. Hún“, informierte ihn der Wachmann am Empfang.

Hún Xìnrèn war froh, den Abend in angenehmerer Gesellschaft als der seiner zänkischen Ehefrau Xingqiú verbringen zu können. Sie war alles andere als ein „Himmelskörper“, sie war ein Ungeheuer, das sich in der gemeinsamen Villa in Hongkong austobte, so auch vor zwei Stunden.

„Was machst du da, Hún?“, begann sie misstrauisch das abendliche Gespräch.

„Nichts“, antwortete er.

Xingqiú hob die Augenbrauen. „Nichts? Wieso nichts? Du ziehst deine Jacke an.“

Er seufzte. „Ich habe einen Termin mit Robert Faber.“

„Um diese Zeit? Mach mir nichts vor. Du gehst zu deinen Huren!“, keifte sie.

Hún Xìnrèn sah das Flackern in ihren Augen. „Bitte, Xingqiú. Fang nicht wieder davon an. Du weißt, dass das nicht stimmt.“

„Du beleidigst meine Nase, wenn du von ihnen kommst. Ich kann die Huren an dir riechen.“ Xingqiú schnaubte und holte tief Luft. „Es könnte ja nicht schaden, wenn du deinen alten, erschlafften Körper mit Sport auf Vordermann bringen würdest statt mit einem Bordellfick. Dann könnte ich deinen Anblick besser ertragen. Was sagen denn die Huren, wenn sie dich nackt sehen? Ekeln sie sich auch so vor dir wie deine Familie?“

Hún Xìnrèn spürte, wie die Wut ihn übermannte.

„Unsere Kinder haben die Striemen auf deinem Rücken auch schon bemerkt und reden hinter vorgehaltener Hand über dich. Glaubst du, dass wir blind sind?“, zischte seine Frau.

„Rede nicht einen solchen Unfug. Ich habe alles für dich und die Familie getan. Aber du bist niemals zufrieden. Willst immer mehr. Wir sind vermögend, haben ein schönes Haus, zwei wunderbare Kinder. Warum willst du das alles zerstören, du undankbares Weib?“

Xingqiús Augen verengten sich zu Schlitzen. „Macht es dir Spaß, dich verprügeln zu lassen, du kleines, armseliges Männlein?“, stieß sie hervor. „Ich werde den Kindern erzählen, dass du ein sadistischer Freak bist.“ Sie nickte heftig. „Ja, das werde ich ihnen erzählen! Und von den Huren. Dann werden wir über dich lachen …“

Mit einem Sprung war er bei ihr, packte mit beiden Händen ihre Schultern und schüttelte sie heftig.

„Sei still, sonst vergesse ich mich. Du widerst mich an, du zänkisches Ding. Wundert es dich, dass ich mich nach anderen Frauen sehne, so hässlich, wie du bist? Ich verabscheue dich!“

Plötzlich ließ er sie wieder los. Sie ohrfeigte ihn so stark, so ungebremst, so präzise, als hätte ihr Körper den Spielraum dieser Geste berechnet, damit sie sicher und heftig traf. Beide starrten einander an. Stille.

„Ich bringe dir deinen Mantel“, sagte Xingqiú leise.

„Nein, danke.“

„Aber es ist zu kühl ohne Mantel.“

„Ich gehe ja nicht spazieren.“

„Stimmt. Du gehst ja zu deinen Huren!“

„Richtig, ich mache, was mir Spaß macht.“

„Sei doch nicht immer so aggressiv!“

„Das bin ich nicht!“, schrie er sie an.

„Doch! Warum würdest du mich sonst so anschreien?“

Er japste vor Aufregung. „Ich schreie dich nicht an!“, brüllte er und verließ fluchtartig das Haus.

Hún hatte sich in den letzten Jahren mit der Abkühlung seiner Ehe abgefunden. Er hatte Xingqiú einmal vor Jahren in einer schwachen Minute aufgefordert, ihn mit dem Gürtel auszupeitschen. Sie hatte ihn daraufhin mit weit aufgerissenen Augen angesehen, ihn wütend von sich gestoßen und „Fass mich nie wieder an!“ gefaucht. Seitdem schliefen sie in getrennten Schlafzimmern.

Die Schwierigkeiten mit Xingqiú verheimlichte er seinem Vorgesetzten. Auch seine Mitarbeiter wähnten ihn in einer harmonischen Beziehung. Niemand wunderte sich darüber, dass er seine Abende lieber im Labor zwischen den Reagenzgläsern, seinen Mäusen und seinen Herzen verbrachte. Auch ahnte niemand etwas von seinen geheimen Treffen mit Charis Burgess, die ihm jeden Donnerstagabend auf ihrer Dschunke den Himmel auf Erden bereitete. Diese Obsession war vor fünf Monaten wie eine riesige Welle in seine Welt hineingeschwappt. Das Zufügen und Erleben von Schmerz, Macht oder Demütigung bereitete ihm einen qualvollen Genuss, den er brauchte, um sexuelle Befriedigung zu erlangen. Und Charis Burgess war eine Meisterin auf dem Gebiet. Aus Dankbarkeit hatte er ihr mehrmals Rebu 12 in kleinen Dosen verabreicht. Die Wirkung der Injektionen übertraf seine kühnsten Erwartungen und schmeichelte seinem Ego, weil seine Vermutung bestätigt wurde, dass Rebu 12 viel mehr konnte als sein Vorgänger. Charis’ Äußeres veränderte sich: Ihre Haut wurde prall und feinporig, ihr Körper geschmeidig. Sie wurde immer schöner, weicher und weiblicher. Ihr Anblick entfachte seine Begierde immer wieder aufs Neue, ihr Spiel wurde ihm zur Sucht. Er würde sie vermissen, sehr sogar. Ihr Praktikum bei Geno Laboratories Ltd. in Kowloon war zu Ende. Ob sie mich nach Deutschland begleiten wird, wenn ich sie darum bitte?, fragte er sich.

Die Aussicht, seine Forschungen in Deutschland fortsetzen zu können, war ein willkommener Fluchthelfer aus seiner Ehe. Xingqiú würde der Kinder wegen in Hongkong bleiben, da war er sich sicher. Robert Faber beizubringen, dass seine Ehefrau ihn nicht begleiten würde, dürfte kein Problem sein. Sein Vorgesetzter war, soweit er das beurteilen konnte, ein attraktiver, humorvoller Mann. Er zeichnete sich durch Stärke und Intelligenz, oftmals auch durch Verständnis und Toleranz aus und bevorzugte es, in Harmonie mit anderen zu leben. Damit entsprach er einer Mischung der chinesischen Sternzeichen Drache und Pferd.

Er besaß ein äußeres Erscheinungsbild, das Hún sich oft gewünscht hatte, besonders wenn er die Nacht mit Charis verbrachte. Faber hatte einen durchtrainierten Körper, muskulös und geschmeidig, den er mit Joggen in Form hielt. Er selbst war nur ein kleiner, mickriger Gnom in der Welt der Gutaussehenden, mit Nickelbrille und einem Schopf ungebändigter, unnatürlich schwarzer Haare. Gerade wieselte er im Labor zwischen den Labortischen herum, begutachtete die brodelnden Substanzen in den Reagenzgläsern und entsorgte zwei tote Mäuse.

„Guten Abend, Dr. Hún Xìnrèn.“

Hún drehte sich um und ging lächelnd auf seinen Chef zu.

„Herr Faber! Das müssen Sie sich ansehen! Es ist überwältigend. Wir können es nicht glauben ...“

„Ich habe Ihren Bericht gelesen“, sagte Faber. „Wie sonst auch gibt es vieles, was ich noch nicht verstehe.“

Hún bot Robert Faber einen Stuhl an und setzte sich ebenfalls. Er beugte sich vor und sprach schnell und voller Selbstsicherheit.

„Die In-vitro-Versuchsreihe mit Rebu 12 ist abgeschlossen. Mit dieser Substanz können wir den Zerfall von Herzmuskelzellen, die während eines Herzinfarkts zugrunde gehen, aufhalten.“

Faber runzelte die Stirn. „Das konnte ich dem Bericht entnehmen. Es ist kaum zu glauben. Selbst die koronare Bypass-Chirurgie kann das nicht leisten.“

Er hatte Fabers Neugierde geweckt, doch er erkannte, dass sein Gegenüber gar nicht erst versuchen würde, den unweigerlich folgenden pharmakologischen Wortschwall zu verstehen.

„Wie ich sehe, können Sie mir nur bedingt folgen“, sagte Hún deshalb und atmete tief ein. „Ich werde es Ihnen zeigen. Kommen Sie bitte!“

Er deutete auf den durch eine Schleuse geschützten Sicherheitstrakt. Nachdem er sich angemeldet hatte, öffnete sich eine Tür zu einem hell erleuchteten Vorraum. Geblendet vom grellen Neonlicht, hielten die Männer einen Moment lang inne. Faber legte seine Hand schützend vor die Augen. Durch die Sprechanlage forderte eine Stimme sie auf, sich umzuziehen. Sie tauschten ihre Kleidung gegen sterile, weiße Anzüge, streiften Einweghandschuhe über, legten einen Mundschutz an und stülpten Einweghüllen über ihre Schuhe. Hún drückte auf einen Schalter an der Wand, daraufhin öffnete sich eine zweite Glastür. Sie schritten an einer großen Fensterfront vorbei, hinter der die abgedunkelten Räume der Versuchslaboratorien lagen.

Hún tippte einen achtstelligen Code ein und legte seinen rechten Daumen auf den an der Wand angebrachten Fingerprintscanner. Nach einer kurzen Überprüfung öffnete sich die Tür mit der Aufschrift Rebu 12, und sie betraten das Labor.

Im Raum hing ein undefinierbarer Geruch, ein Gemisch aus Äther und Formalin. Auf den großen Labortischen standen drei Langendorff-Herzapparaturen für sechs Herzpräparate, in denen mehrere kleine Herzen kräftig vor sich hin schlugen. Es schien, als schwebten sie zwischen zwei Drähten, über die sie elektrische Impulse erhielten.

Hún kam die enorm hohe Laborkostenrechnung in den Sinn, die ihm Fabers Schwester Elisabeth, das neue Finanzgenie der Faber-AG, vor einigen Monaten zugeschickt hatte. Doch sein Vorgesetzter hatte die Rechnung nicht hinterfragt. Faber würde jede Investition dieser Größenordnung tätigen, wenn sie erforderlich wäre.

„Sie sehen in dieser Anlage mehrere Herzen von Mäusen, Ratten und Kaninchen, Herr Faber“, erklärte Hún. „Bei der Entfernung des Organs müssen wir sehr behutsam vorgehen. Der Schnitt mit dem Skalpell wird seitlich zwischen der zweiten und dritten Rippe des Tieres angesetzt und verläuft quer über das Brustbein bis auf die andere Seite. Der Knochen wird in Schrägrichtung durch einen kurzen, heftigen Schlag mit einem Meißel gespalten. Während das Herz noch schlägt, greife ich in den Brustkorb und durchtrenne die Arterien und Venen. Dann nehme ich den immer noch pulsierenden Muskel, hebe ihn aus dem blutigen Bett und schließe das Herz an das Organ-Care-System an.“

Faber schluckte, doch Hún Xìnrèn ließ sich davon nicht irritieren und fuhr fort.

„Im Mittelfeld befindet sich die beheizte, feuchte Kammer, in der das Herz von einer Nähr- und Elektrolytlösung umspült wird. Heizelemente halten die Temperatur auf siebenunddreißig Grad, eine simulierte Körperwärme.“ Er zeigte auf eine kleine Kammer in der Apparatur. „Kanülen und Elektroden wurden in das Herz eingeführt und erlauben Messungen der Herzströme oder des Blutdrucks.“

Faber nickte.

„In den hier aufgebauten Versuchsreihen wurden den isolierten Herzen Substanzen injiziert, die einen Infarkt auslösten. Gleichzeitig aber benetzten wir sie mit Rebu 12. Bei keinem der Herzen, die Sie hier sehen, liegt eine Schädigung vor“, sagte Hún stolz.

„Bei keinem? Wie wird denn die Messung vorgenommen?“

„Durch Elektroden. Ich habe sie wahlweise an einen EKG-Verstärker oder einen Herzschrittmacher angeschlossen. Die Messdaten werden an den Computer übertragen und mit unserer Rebugen-Software ausgewertet.“ Hún zeigte Faber einige EKG-Aufzeichnungen. „Keine ST-Streckensenkung im EKG und auch keine anderen Zeichen, die auf eine Schädigung hinweisen.“

Faber starrte fasziniert auf die isolierten Herzen, dann auf den EKG-Schreiber, der die kräftigen Schläge aufzeichnete. „Das ist ja unglaublich.“

„Keine Anzeichen einer Mangeldurchblutung, Herr Faber“, bestätigte Hún. „Das ist besonders wichtig, denn eine möglichst frühzeitige Wiederherstellung der Durchblutung ist das Ziel bei Patienten mit akutem Koronarsyndrom. Gleiches gilt für Patienten, die sich einem herzchirurgischen Eingriff unterziehen müssen.“

Faber krauste die Stirn. „Die Substanz erfüllt somit nicht nur einen therapeutischen, sondern auch einen präventiven Zweck?“

„Ja, mit Rebu 12 kann auch vorbeugend behandelt werden“, antwortete Hún.

Faber ließ seinen Blick über die isolierten Herzen schweifen. „Woher kommen diese Herzen?“

Hún war nicht ganz wohl bei dieser Frage, und er spürte eine leichte Röte in seine Wangen aufsteigen. „Sie stammen von den üblichen Lieferanten, Tierheime, Züchter und … von der Straße. Sie wissen schon.“

„Glauben Sie, dass das menschliche Herz auf Rebu 12 genauso reagieren wird?“

Hún nickte. „Die Benetzung ist für das Überleben der Gewebe und Organe wesentlich. Der durch die Mangeldurchblutung verursachte Zellschaden würde sonst noch vergrößert. Dieses Phänomen beruht nicht nur auf einem Sauerstoffmangel. Hierfür sind weitere Mechanismen verantwortlich, die während der Versuche mit Rebu 12 entdeckt wurden.“

Faber lächelte, und Hún glaubte ein Aufflackern in seinen Augen zu erkennen.

„Ich fasse zusammen. Sie haben mit dem Molekül Rebu 11 Experimente durchgeführt, weil Sie den Wirkstoff verbessern wollten. Aus Rebu 11 entstand das neue Molekül Rebu 12, von dem Sie behaupten, dass die Substanz tatsächlich auch Krankheiten verhindern und eindämmen kann, die durch oxidativen Stress entstehen. Ist das so?“

Wieder nickte Hún.

„Das ist also die besondere Wirkung von Rebu 12. Eine phänomenale Entdeckung, Dr. Hún. Gibt es schon erste Erkenntnisse über unerwünschte Nebenwirkungen?“

„Ja, aber sie sind vergleichbar mit den Nebenwirkungen von Rebu 11. Und ich glaube mit Stolz behaupten zu können, dass ich auf eine erwünschte Nebenwirkung gestoßen bin.“

Faber hob die rechte Augenbraue. Eine dunkle Locke fiel ihm in die Stirn, die er rasch mit der Hand nach hinten schob. „Welche Nebenwirkung, Dr. Hún?“

Statt zu antworten, ging Hún auf den Labortisch zu und zeigte auf ein Herz, das links neben der Versuchsreihe seinen eigenen Rhythmus gefunden hatte. Der Herzmuskel kontrahierte kräftig im Takt von sechzig Schlägen pro Minute. Dann begann Hún Xìnrèn mit seinen Ausführungen.

Robert Faber saß still da und hörte zu, als Hún erläuterte, in welchem Ausmaß seine Entdeckung das Leben von Menschen in der ganzen Welt revolutionieren würde. Er erklärte seinem Vorgesetzten, warum er zwei Wochen lang keinen einzigen Gedanken an eine Entscheidung für oder gegen Deutschland verschwendet hatte, warum er ihm über Jonathan Hastings ein so breites Wissen über die DNA und über die Zellteilung hatte vermitteln lassen und warum er sich nun bereit erklärte, mit seiner Familie und seinem Forschungsteam nach Deutschland umzusiedeln. Sein ganzes Interesse galt Rebu 12. Er hatte in den Laboratorien Testreihen durchgeführt, von denen niemand erfahren sollte. Er wollte Gewissheit haben, dass kein Fehler vorlag.

Er hatte eine bahnbrechende Entdeckung gemacht, die der absoluten Geheimhaltung unterliegen musste. Hongkong eignete sich nicht, wenn man ein Geheimnis bewahren wollte. Hier boomten die Plagiate, und es wimmelte nur so von Spionen. Das Szenario, das er vor Faber ausbreitete, bedeutete eine unermessliche Bandbreite therapeutischer Möglichkeiten und eine gewaltige medizinische Revolution, einen „Blockbuster“ für Faber-Pharma.

Hún Xìnrèn bemerkte, dass Faber nur mit Mühe seine Erregung verbergen konnte.

„Wo bewahren Sie die Aufzeichnungen auf, Dr. Hún?“

Er fühlte plötzlich ein kaltes Prickeln im Nacken. „In meinem Haus, Herr Faber.“

Sobald er die Worte ausgesprochen hatte, wurde ihm siedend heiß klar, dass er einen Fehler begangen hatte. Den leitenden Angestellten der Firma war es untersagt, geschäftliche Unterlagen in privaten Räumen aufzubewahren. Faber schwieg einen Moment, seine grauen Augen wurden hart.

„Von nun an möchte ich, dass Sie und Dr. Hastings mir allein Ihre Aufzeichnungen zeigen, ausschließlich mir. Und die Unterlagen werden noch heute im Safe der Firma deponiert. Nur wir beide werden Zugang dazu haben.“

Eine Weile herrschte Stille.

„Sie dürfen ab sofort mit niemandem darüber sprechen, Dr. Hún“, wiederholte Faber in versöhnlichem Tonfall. „Mit niemandem! Ich wiederhole, Sie und Dr. Hastings berichten nur mir über Ihre Fortschritte. Ab sofort führen wir die Versuche mit Rebu 12 in Deutschland fort. Ich lasse in Düsseldorf alles für Ihre Ankunft vorbereiten. Wir müssen sehr vorsichtig sein.“

Hún nickte und atmete erleichtert auf.

Faber dachte kurz nach. „Wen außer Dr. Hastings möchten Sie in Deutschland noch in Ihrem Team, Dr. Hún?“

Er lächelte verschwörerisch. „Ich hätte gerne Dr. Yàn Meí dabei. Sie ist die beste Assistentin, die ich jemals hatte.“

Faber errötete. „Sie vertrauen ihr?“

„Bedingungslos.“

„Was weiß sie?“

„Nur, dass wir eine Entdeckung gemacht haben … Nichts Genaues“, antwortete er zögerlich. Eine Notlüge. Yàn Meí wusste viel mehr, als er bereit war zuzugeben.

„Meinetwegen“, murmelte Faber. „Sagen Sie mir noch eins, Dr. Hún. Wie sind Sie auf Rebu 12 und seinen Wirkmechanismus gekommen?“

„Rebu 12 ist seinem Vorgänger vom chemischen Aufbau sehr ähnlich“, erklärte er. „Ursprünglich haben Dr. Hastings und ich überlegt, wie wir die Nebenwirkungen von Rebu 11 minimieren könnten. Ich habe mich an einen Kollegen aus Cambridge erinnert, der einmal bei einem von ihm entdeckten Säureblocker ein Randmolekül ausgetauscht und eine neue Substanz entdeckt hat. Er revolutionierte damit die Therapie der Magen-Darm-Ulzera. Genau das haben wir auch gemacht: Die chemische Struktur von Rebu 11 wurde geringfügig verändert, indem wir ein Randmolekül austauschten.“

Faber nickte. „Geringfügige Veränderung, große Wirkung! Unglaublich. Ich freue mich über Ihre Entscheidung, Dr. Hún Xìnrèn. Ihnen wird es in Deutschland an nichts fehlen.“

Plötzlich schrillte das Telefon, und Hún griff zum Hörer. Als er wenig später auflegte und sich Faber zuwandte, war er sichtlich erfreut. Er griff zur Fernbedienung und schaltete den Fernseher an.

„Das wird Sie interessieren, Herr Faber.“

Eine attraktive CNN-Reporterin kommentierte gerade eine Meldung aus Stockholm. „In diesem Jahr teilen sich die US-Forscher Elizabeth Blackburn, Carol Greider und Jack Szostak den Nobelpreis für Medizin und Physiologie zu gleichen Teilen. Die Arbeit der drei Forscher habe dem Verständnis der Zelle eine neue Dimension hinzugefügt, Licht auf Krankheitsmechanismen geworfen und die Entwicklung potenzieller neuer Therapien stimuliert, begründet das Nobelkomitee seine Entscheidung. Der Preis ist mit zehn Millionen schwedischen Kronen dotiert und wird traditionsgemäß am zehnten Dezember, dem Todestag Alfred Nobels, in Stockholm verliehen.“

Hún Xìnrèn drückte die Off-Taste der Fernbedienung und lächelte geheimnisvoll. „Wir sind auf dem richtigen Weg, Herr Faber.“

Der nickte zustimmend.

In der Nacht wirbelten seltsame Traumbilder hinter Húns Lidern. Er glaubte das Wimmern eines Mannes zu hören. Barfuß und mit nacktem Oberkörper ging er die Treppe hinunter in den Wohnbereich. Er rechnete damit, in Panik zu verfallen, wartete auf den eisernen Griff in der Magengrube, die Atemnot, das Herzklopfen. Kalter Schweiß trat auf seine Stirn, und jede Faser seines Körpers war angespannt, alles in ihm war in Alarmbereitschaft. Er versuchte auszumachen, was in dem Zimmer vor sich ging. Im gläsernen Kamin glühte schwach ein Feuer, an den Fenstern hingen zartrosa Seidenvorhänge, mit denen der Wind spielte. Dann sah er sie. Seine Ehefrau Xingqiú saß auf dem Boden und streckte hilfesuchend die Arme nach ihm aus, während er im Hintergrund ein leises, böses Lachen vernahm. Neben ihr lag ein Blatt Papier. Er nahm das Blatt in die Hand und erkannte seine eigene Handschrift: Dieses Mal wird die alberne Xingqiú, diese Dummguckerin, dran glauben müssen, aber nur, wenn niemand mich dabei beobachtet. Xingqiú soll fallen.

Schweißgebadet wachte er auf, sein Herz raste. Auf dem Rücken liegend starrte er in die Dunkelheit und lauschte dem Regen, der gegen die Fenster peitschte, und der Stille, die ihn auf der Schlafcouch in seinem Büro neben dem Labortrakt umgab.

Kapitel 3

Hongkong-Aberdeen, 3. Oktober 2011

Charis-Blue Burgess wachte schweißgebadet auf. Sie öffnete die Augen und betrachtete das Spiel der Morgensonne, die durch die seidenen Vorhänge in ihre Dschunke drang und den grasgrünen Teppich in eine gesprenkelte schottische Frühlingswiese verwandelte. Eine kurze Nacht lag hinter ihr, in der sie wieder einmal von Torrisdale Castle geträumt hatte. Im Traum hielt Calum Burgess dort ein Mädchen an der Hand und schlenderte mit ihm durch die lichtdurchflutete Halle des Hauptgebäudes, an deren Wände wertvolle Gemälde hingen. Das Mädchen betrachtete aber nur das Ophelia-Bildnis von John Everett Millais und wünschte sich, so schön zu sein wie die Frau auf dem Bild. Plötzlich drang das Flüstern des Meeres von unten über die Rasenflächen zu ihnen herauf: Count your little fingers, my unhappy, oh, little girl, little girl blue.

Das Mädchen lief hinaus ins gleißende Licht des Himmels, das sich vermischte mit den höllischen Farben von Feuer. Es rannte an den sommerlichen Rosengärten vorbei, über die Rasenflächen zu den Klippen und stürzte sich hinunter. Daraufhin wurde die silbrige Weite des Meeres schwarz, und Wolken verfinsterten den violettroten Himmel wie in einer dunklen Nacht. Nathan Burgess eilte hinter dem Mädchen her und rief seinen Namen, bis ihr eigener Schrei sie aufwachen ließ.

Sie fragte sich, was der Traum wohl bedeuten konnte und warum die See das Lieblingslied ihrer verstorbenen Mutter gesungen hatte: Little Girl Blue von Janis Joplin. Vielleicht konnte eine heiße Dusche die Dämonen der Nacht vertreiben. Charis kämpfte eine Weile mit sich, bis sie schließlich das Laken zur Seite warf und die Beine aus dem chinesischen Bett schwang. Ihre aufwendig gearbeitete und mit vielen Verzierungen versehene Schlafstatt war das Herzstück des Raums. In Kombination mit einigen Stühlen und niedrigen Tischen bildete es einen traditionellen chinesischen Wohnbereich.

Sie stand auf und öffnete die Tür zum Hinterdeck ihres Hausbootes Chuán-osh-zuò, Boot des kleinen Löwen. Ein vertrauter Geruch lag in der Luft. Die Frauen von Aberdeen kochten den besten Reis der Welt, fand sie. Ihr Blick schweifte fast träumerisch über die unzähligen Dschunken, die an den Molen und in den Taifunschutzhäfen vertäut lagen. Inmitten der barfüßigen Kinder, die auf den Decks umhertollten, der Frauen, die die Wäsche aufhängten oder Mah-Jongg spielten, und der Alten, die die Nachmittagssonne genossen, während Hunde und Katzen zu ihren Füßen schliefen und Singvögel in den Bambuskäfigen zwitscherten, war sie eine von vielen.

Seit über zehn Jahren genoss sie die Anonymität im Treibhaus des Kapitals: Hongkong, wo man vom sicheren Hafen der Luxushotels aus direkt in die geheimnisvolle Welt der Dschunken und Sampans, Rikschas, Pagoden und Räucherstäbchen hineinspazieren konnte. Im dichtbesiedelten Hongkong war für Aberdeen, den belebten Fischerhafen, das Wasser die Erde. Viele Chinesen lebten wegen der Wohnungsknappheit in einem Hausboot. Hongkong war Charis’ zweite Heimat und Aberdeen ihr Refugium, um sich auf das Wesentliche zu besinnen, ihre Arbeit für Lux Humana.

Außerdem brauchte sie von hier aus nur zwanzig Minuten bis zur Universität im Stadtteil Mid-level.

Wie die schottischen Familienclans, zu denen die Burgess gehörten, spielte auch die Familie bei den Hongkong-Chinesen eine entscheidende Rolle, denn sie genoss innerhalb der Gesellschaft einen sehr hohen, wenn nicht sogar den höchsten Stellenwert. Die Familie schützte die uralten Bräuche und bewahrte ihre Lebensart. Vielleicht war das der wahre Grund, warum Charis sich für ein Studium in dieser quirligen Stadt entschieden hatte.

Sie liebte ihre Dschunke. Sobald sie ihr Reich betreten hatte, folgte sie jedes Mal dem gleichen Ritual. Sie warf ihre Kleidung ab und schlüpfte in einen schwarzen Seidenpyjama. Das dunkle Haar verbarg sie unter einem flachen Strohhut mit langen Volants an der Krempe. Keiner ihrer ehemaligen Kommilitonen würde diese Kleidung an ihr erwarten. Sie passte sich den Frauen von Aberdeen an und fühlte sich wohl, wenn sie mit ihnen Karten spielte oder ihnen half, den Touristen die Zukunft vorauszusagen oder ihnen Geschichten zu erzählen, die die Chinesen im Laufe der Jahre verbreitet hatten: Geschichten über Glücksgefühle, Naturgewalten, die chinesische Art zu fragen, über kleinere Erdbeben, Laternenfeste und die Mäusejagd, aber auch über die Biànxiàng – die fremden Gestalten, die täglich in den Hafen von Aberdeen strömten. Sie gehörte dazu und wurde deshalb Mèimèi genannt, eine zwanglose Bezeichnung für eine junge Frau. Nur eine Mèimèi kannte die Identität einer anderen Mèimèi, doch keine sprach die andere mit ihrem wahren Namen an.

Charis betrat das winzige Bad und warf ihre Kleidung achtlos auf den Schiffsboden. Dann schaute sie in den Spiegel. Was sie sah, gefiel ihr. Ein atemberaubender Körper, eine Sanduhrfigur mit langen, schlanken Beinen, perfekt geformten Brüsten, einer zierlichen Taille und einer pfirsichzarten Haut, die stark mit dem glatten, rabenschwarzen Haar kontrastierte. Ihr Gesicht war oval, sie besaß hohe Wangenknochen, eine hohe Stirn, eine kleine Nase, ein schmales Kinn, strahlend violettblaue Augen und sinnlich volle Lippen.

Calum Burgess hatte einmal behauptet, dass sie schlichtweg die Wiedergeburt der Schönheit sei, stark, mit einer erotischen Ausstrahlung, eine Göttin, von ihm erschaffen, eine junge Liz Taylor des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Aber warum hatte er dann all die Jahre auf sie verzichtet und sich lediglich mit den täglichen Telefonaten begnügt?

Sie drehte den Hahn auf und stellte sich unter die Dusche. Das Wasser prasselte auf ihren makellosen Körper, und sie hing ihren Erinnerungen nach. Vor zehn Jahren hatte sie Torrisdale Castle und Schottland verlassen, um sich in Hongkong auf ihre Aufgaben für die Gemeinschaft Lux Humana vorzubereiten. Ein Studium der Biogenetik und ein einjähriges Praktikum in der Forschungsabteilung von Geno Laboratories Ltd. Kowloon lagen hinter ihr, aber auch zehn lange Jahre voller Sehnsucht nach Calum.

Ein atemloses Flüstern, eine Erinnerung. Ihre Haut prickelte sinnlich beim Gedanken an seine Berührungen, die ihr Verlangen nach Sex gesteigert und sie als junge Frau auf seinem Schoß hatten stöhnen lassen. Seine dunklen Augen hatten sie dabei immer aufmerksam gemustert. Er war der einzige Mann, der ihren Herzschlag durch eine Berührung auf hundert Schläge pro Minute beschleunigen konnte und ihren Unterleib erbeben ließ. Sie vermisste ihn, seine Stimme, seinen Atem, die schimmernden Wellen seiner Gedanken. Sein Herz barg finstere Tiefen, die nur sie allein ausloten konnte. Sie spürte noch immer das Zittern, das allein die Erwähnung seines Namens auslöste und von dem sie gehofft hatte, dass es nach all den Jahren endlich nachlassen würde. Tagtäglich während des Telefonats seine eins neunzig große, schlanke Gestalt zu sehen, mit den langen, muskulösen Armen und dem breiten Oberkörper, wenn er in seinem Büro auf und ab ging … Ihn nicht berühren zu können, ließ sie oft verzweifeln. Ihr Leben hatte erst mit Calum begonnen. An die Zeit davor erinnerte sie sich kaum noch.

Wie immer blieb sie still und tränenlos. Sie hatte ihren Verzicht auf diese Liebe und den damit verbundenen Kummer so lange in sich verschlossen, dass nichts ihre Starre aufzubrechen vermocht hatte. Aber plötzlich entwich ihrer Kehle ein klagender Laut, ein dünner, kaum hörbarer Ton. Sie schnappte nach Luft, und ein Schrei brach aus ihr hervor, in dem sich der ganze aufgestaute Schmerz Luft machte. Die Heftigkeit ihres Gefühlsausbruchs erschreckte sie. Dennoch weinte sie und schrie, bis ihre Lungen schmerzten und die zahllosen Gefühlsregungen der Vergangenheit sich auf ihren Zügen abzeichneten.

Aber irgendwann beruhigte sie sich wieder.

Nach der Dusche und einer Tasse Reistee fühlte sie sich besser und halbwegs frisch. Sie lauschte durch die offene Tür den sanften Klängen der unterschiedlich großen Mobiles, deren Bambusstäbchen durch den warmen Luftzug ständig in Bewegung waren, Klänge, die ihr sagten, dass sie Hongkong und besonders die treue Seele Mèimèi Dai vermissen würde. Dai hatte ihr in den vergangenen Jahren gute Dienste geleistet. Sie hielt nicht nur das Hausboot sauber und kochte, sie besaß auch ihr Vertrauen. Zudem unterrichtete Dai sie im Auftrag von Lux Humana mit dem Khagda-Schwert und dem Phurbu-Dolch in der chinesischen Kampfkunst. Charis besaß besonders schöne Exemplare aus einem daoistischen Kloster im Wudang-Gebirge. Dort galt das Khagda-Schwert als Schwert des Wissens, das Gefahren abhielt. Und die Dreikantklinge des Phurbu-Dolches diente zur spirituellen Tötung des Ego-Dämons Narzissmus. Charis verdankte Dai ihre Geschicklichkeit, Stärke und Schnelligkeit im Umgang mit dem Schwert, aber auch ihre gute Körperwahrnehmung und den hohen Grad der Entspannung nach dem Kampf.

Sie beschloss, ihren antiken chinesischen Altarschrank aufzuräumen, der ein Geschenk von Calum und Gordon zum fünfundzwanzigsten Geburtstag gewesen war und den nun Dai bekommen sollte. Der aus Ulmenholz gefertigte Schrank stammte aus dem frühen 20. Jahrhundert, war schwarz lackiert und aufwendig mit Blattgold belegt. Singvögel auf feingliedrigen Pflanzen beherrschten die reich verzierte Oberfläche. Für diese Meisterarbeit der chinesischen Lackkunst hatten die Zwillinge mehrere tausend Hongkong-Dollar bezahlen müssen. Sie blickte auf das Foto, das in einem Rahmen aus Bambus auf dem Schrank stand und eine stolze zwanzigjährige Charis, einen energiegeladenen Calum und einen selbstbewussten Gordon im Kaminzimmer auf Torrisdale Castle zeigte.