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Leo N. Tolstoi - aufgeschreckt durch die kirchliche Assistenz für das militärische Morden - studiert in den Jahren 1879-1884 die offizielle Dogmatik der mit dem Staat eng verbundenen Hierarchie. Zunächst geht diese Unternehmung durchaus noch mit einer kirchlichen Gesinnung einher. Doch die Lektüre des Lehrbuchs von Metropolit Makarij I. bewirkt eine durchgreifende Desillusionierung: "Wie kann ich noch an diese Kirche glauben, ... wenn sie auf die tiefsten Fragen des Menschen ... mit plumpen Betrügereien und albernem Humbug antwortet". Erst 1904 besorgte Carl Ritter auf der Grundlage einer zuverlässigen Manuskriptfassung die vollständige Übersetzung von Tolstois "Kritik der dogmatischen Theologie" in die deutsche Sprache. Nach über 110 Jahren ist diese Gesamtausgabe mit der vorliegenden Edition (zwei Teile in einem Band) erstmals wieder in Buchsortimenten greifbar. In seinem Schlusswort formuliert der russische Christ eine scharfe Kritik der Priesterreligion: "Jetzt ist es klar, dass das Lehramt der Kirche ... zum ärgsten Feinde des Christentums geworden ist. ... Die Lehre vom Lehramt der Kirche widerstreitet dem Christentum vollkommen. Indem die Kirche von dem Geiste der Lehre abgewichen ist, hat sie ihn so verfälscht, dass sie durch ihr ganzes Dasein zur absoluten Negation der Lehre gelangt ist: statt Selbstverleugnung - übt sie Selbstüberhebung, statt der Armut - Luxus; statt niemanden zu verurteilen - verurteilt sie alle in der grausamsten Weise, statt Kränkungen zu vergeben, entfacht sie Hass und Kriege, statt das Böse zu dulden, mordet sie. Und alle verleugnen einander, nur nicht sich selbst." - Die "theologischen Streitigkeiten haben sich ... nur um Dinge gehandelt, die niemand nötig hat. ... Das Leben aber ist nie Gegenstand dieses Glaubens gewesen". Tolstoi-Friedensbibliothek Reihe A, Band 3 (Signatur TFb_A003) Bearbeitet von Peter Bürger und Ingrid von Heiseler
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Tolstoi-Friedensbibliothek
Reihe A | Band 3
Bearbeitet von
Peter Bürger und
Ingrid von Heiseler
Vorbemerkungen zu dieser Neuedition
Einführung des Übersetzers, 1904
L
EO
N. T
OLSTOI
KRITIK DER DOGMATISCHEN THEOLOGIE
[
Erster Band]
Vorwort
I.
D
OGMATISCHE
T
HEOLOGIE
I. T
EIL
Von Gott an sich selbst und von Seinem allgemeinen Verhältnis zur Welt und zum Menschen
(
θεολογία ἁπλῆ, d. h. elementare Theologie)
Einleitung zur „Dogmatischen Theologie“. Definition des Wortes „Dogma“. Die Sophismen und die falschen Mittel, mit deren Hilfe die Kirche die Wahrheit der von ihr verkündigten Dogmen zu beweisen sucht.
II.
I. Teil. „
Von Gott an sich selbst und von Seinem allgemeinen Verhältnis zur Welt und zum Menschen
.“ Verworrene Betrachtungen über „die Erkennbarkeit und Unerkennbarkeit“ Gottes. Falsche Auslegung des Evangelientextes. Zwei Meinungen von „Sektierern“. Die Unrichtigkeit und Unredlichkeit der Betrachtung: 1. des Dogmas als absoluter Wahrheit, 2. daß die Lehre der Kirche über Gott dasselbe sei, wie die Erkenntnis Gottes.
III.
„Was Gott uns in Seiner Gnade über Sich selbst geoffenbart hat.“ Die Grundlehre der Kirche über Gott besteht darin, daß Gott Einheit und Dreiheit zugleich ist. Kap. I. „
Von Gott, sofern Er Seinem Wesen nach einer ist
.“ „Anthropologische, kosmologische und ontologische Beweise; Unrichtigkeit und Unklarheit dieser Beweise.“ Besondere Beweise der Theologie gegen die Sektierer und Götzenanbeter.
IV.
Kap. II. „
Vom Wesen Gottes
.“ Verworrenheit in der Definition Gottes als eines „einfachen und zusammengesetzten“ Wesens. Reine verbale Vereinigung widersprechender Begriffe. „Von den Eigenschaften Gottes“ und wie Er sich von den anderen Wesen im „allgemeinen“ und im „besonderen“ unterscheidet. Die vollkommen heidnische Vorstellung von Gott, welche die Kirche lehrt. Widerspruch zwischen dem Begriff des allgütigen und rachsüchtigen Gottes. Die „Anwendung des Dogmas auf die Moral“ – ist eine völlig willkürliche Betrachtung.
V.
Kap. III. „
Von dem dreieinigen Gott in Seinen Personen
.“ Gott ist die Dreieinigkeit; Darstellung dieser Lehre. Mangel einer Definition des Begriffs „Person“ im allgemeinen und Verworrenheit der Definition der Personen der Dreifaltigkeit im besonderen. Streit mit den Sektierern. Mißglückter Versuch eines Beweises auf Grund des Alten und des Neuen Testamentes.
VI.
„Anwendung des Dogmas von der Dreieinigkeit auf die Moral.“ Persönliche Eigenschaften jeder der drei Gottheiten – lediglich äußerliche Beweise. II. Teil. „
Von Gott in Seinem allgemeinen Verhältnis zur Welt und dem Menschen
.“ Kap. I.
„Von Gott dem Schöpfer
.“ Die Welt ist von allen drei Personen erschaffen. Beweise aus der Schrift. Niedrige Triebfedern, die Gott, als Schöpfer, zugeschrieben werden. Von der geistigen Welt. Die Stufen der Engel – die himmlische Hierarchie. „Die Natur der bösen Geister, ihre Zahl und Stufenfolge.“ Unerwartete „Anwendung des Dogmas auf die Moral“, die hieraus gefolgert wird. Die Mosaische Erzählung von der Erschaffung der materiellen Welt. „Der Ursprung jedes einzelnen Menschen und im besonderen die Herkunft der Seele“.
VII.
„Die Gottähnlichkeit und das Abbild Gottes im Menschen.“ Fünf verschiedene Hilfeleistungen, die Gott dem Menschen zur Erreichung Seines Zweckes zuteil werden ließ. Das Gebot, das Gott Adam gegeben hat. „Die Seligkeit des erstgeschaffenen Menschen.“ „Die Art und die Ursachen des Falles.“ „Die Bedeutung der Sünde und die Folgen des Sündenfalles unserer Ureltern“. Widerspruch in der Erzählung vom Sündenfalle des Menschen zwischen der Bibel und der Theologie. Notwendigkeit für die Theologie, die Geschichte vom Sündenfall mit dem Dogma von der Erlösung in Verbindung zu setzen. Folgen dieser Lehre.
VIII.
„Der Übergang der Sünde unserer Ureltern auf das ganze Menschengeschlecht.“ Verschiedene Anschauungen der verschiedenen Kirchen. „Die Wirklichkeit der Erbsünde, ihre Allgemeinheit und die Art ihrer Verbreitung.“ Wie die Kirche den Ursprung des Bösen erklärt. Scheinbare Widerlegung der Sektierer. Übertragung der Frage von der Grundlage des Glaubens ins Gebiet der Phantasie. „Die Folgen der Ursünde.“ „Anwendung des Dogmas auf die Moral.“ Zehn Regeln. Kap. II. „
Von Gott als Vorsehung
.“ Der Sinn dieses Kapitels – ist der Versuch der Theologie, den Widerspruch zwischen dem Begriff des allgütigen Schöpfers und dem Übel in der Welt zu beseitigen.
IX.
I. Abteilung. „
Von der göttlichen Vorsehung im allgemeinen
.“ Beweis für die Wirklichkeit aller Arten der Vorsehung und die Teilnahme aller Personen der Dreieinigkeit an ihr. „Das Verhältnis der göttlichen Vorsehung zur Freiheit der sittlichen Wesen.“ Die Unwandelbarkeit Gottes. Fünf Regeln für die Anwendung des Dogmas auf die Moral. II. Abteilung. „
Von der Vorsehung Gottes im Verhältnis zur geistigen Welt
“ – Rechtfertigung grober abergläubischer Vorstellungen. Die Hilfe der guten Engel und Zulassung der Tätigkeit der bösen Engel. „Anwendung des Dogmas auf die Moral“ – Bittgebete.
[
Zweiter Band]
D
OGMATISCHE
T
HEOLOGIE
II. T
EIL
Von Gott dem Erlöser und Seinem besonderen
Verhältnis zum Menschengeschlecht
(
θεολογία οἰκονομική)
X.
I. Teil. „
Von Gott dem Erlöser an Sich selbst
.“ Der große Unterschied zwischen dem ersten und zweiten Teil der Theologie. Das Hauptdogma dieses Teils – ist die Erlösung. Die drei großen Übeltaten, die Adam begangen hat. Das Mittel, das Gott zur Wiedererneuerung des Menschen auserwählt hat und seine Bedeutung. Die Teilnahme aller Personen der Dreieinigkeit am Werk der Erlösung. Die ewige Prädestination. „Anwendung des Dogmas auf die Moral“.
XI.
Kap. II. „
Von unserem Herrn Jesus Christus im besonderen
.“ Die Lehre von der zweiten Person der Dreieinigkeit. I. Abteilung. „
Von der Person des Herrn Jesus Christus oder vom Mysterium der Fleischwerdung
.“ Kurze Geschichte des Dogmas. Was eine „Hypostase“ ist. Innerer Widerspruch in der Definition dieses Begriffs. Die Person Christi und ihre wahre Bedeutung nach der Schrift. Der falsche Sinn, der Seinen Worten durch die kirchlichen Interpreten beigelegt wird. Allgemeine metaphysische Bedeutung des Wortes „Logos“. Betrachtungen der Theologie über „das Wort“. Die Lehre Christi vom Menschensohne, als vom Sohne Gottes. Die Gleichsetzung Christi mit Gott vernichtet den Glauben an Gott. Versuche eines Beweises durch die Schrift und durch die Verordnungen der Konzile. „Die Folgen der Verbindung zweier Wesenheiten zu einer Hypostase in Christus a) in bezug auf Ihn selbst“, b) „in bezug auf die Heilige Jungfrau, die Mutter Gottes“ und c) „in bezug auf die Heilige Dreieinigkeit.“ „Anwendung des Dogmas auf die Moral.“
XII.
II. Abteilung. „
Vom Vollzug der Erlösung durch Jesus Christus oder vom Mysterium der Erlösung
.“ „Vom prophetischen Dienst Jesu Christi.“ „Vom Hohenpriesterdienste Jesu“ – d. h. von der Erlösung. Die Abrechnung der drei Personen der Gottheit untereinander wegen des Vollzugs der Erlösung des Menschen. „Der Weg, auf dem unsere Loskaufung durch Jesus Christus vollzogen ward.“ Innerer Widerspruch im Begriffe der Abzahlung einer Schuld an Gott durch den Tod und die Leiden desselben Gottes. Der wahre Sinn der Evangelientexte, auf welche die Kirche sich beruft. Die Erlösung ist das Grunddogma der Kirche. Einfluß der apokryphen Erzählungen. „Vom Dienste Christi als König.“ „Anwendung des Dogmas auf die Moral.“
XIII.
II. Teil. Von Gott
dem Erlöser in Seinem besonderen Verhältnis zum Menschengeschlecht
.“ Kap. I. „
Die Heiligung der Kirche durch Gott
.“ Die Lehre von der Kirche und ihren Sakramenten. Vertauschung des Begriffs der Kirche, als „Gemeinschaft der Gläubigen“, durch den Begriff der Kirche als Lehrerin und Priesterin. „Der Bereich der christlichen Kirche.“ „Der Zweck der Kirche und die ihr dazu verliehenen Mittel.“ „Notwendigkeit zur Erlangung des Heils, der christlichen Kirche anzugehören.“ An Stelle des Glaubens an Christus wird der Glaube an die Kirche untergeschoben. Umgekehrte Reihenfolge der Beweise: vor der Definition des Begriffs „Kirche“ wird ihre Heiligkeit bewiesen. Die Kirche ist die Hierarchie. Vier Beweise – Fälschungen des Evangelientextes. Scheinbare Beweise für die Übertragung der apostolischen Gewalt auf die nachfolgende Hierarchie. Worauf die ganze Lehre der Theologie über die Kirche hinauskommt. Die Versuche neuerer Theologen, eine neue Stütze für die Lehre von der Kirche zu finden, beruhen auf einem Sophisma. Ihr Fehler. Die zwei Hauptbedeutungen des Begriffs „Kirche“. Die wichtigste Grundlage – die Unfehlbarkeit der erblichen Hierarchie – ist ein und dieselbe. Die Bestrebungen der neueren Theologen, die Kirche vom Staate zu trennen
XIV.
II. Abteilung. „
Von der Gnade Gottes
.“ Definition der Gnade und ihre Untereinteilungen. Die Lehre von der Gnade ist 1. die Folge der falschen Voraussetzung, daß Christus die Welt durch die Erlösung umgewandelt habe und 2. die Grundlage sektiererischer Bräuche. Unsittlichkeit der Lehre von der Gnade. Streitigkeiten und die Verworrenheit des Begriffs der Gnade. Die Gnade wird durch die Sakramente vermittelt, die Sakramente aber werden der Gemeinde durch die Priester mitgeteilt. Die Gnade wird durch Geld erworben. Verdunkelung des moralischen Sinns der Lehre des Evangeliums.
XV.
Die Heiligung des Menschen durch den Glauben mittels der Sakramente, die wir durch den Priester empfangen, macht das Streben nach dem Guten überflüssig. Der Begriff vom Glauben gemäß der Theologie widerspricht dem allgemeinen Sinn dieses Begriffs und der heiligen Schrift. Zurückführung des Begriffs des Glaubens auf den des Vertrauens und des Gehorsams. Falsche Trennung des Glaubens von den Werken.
XVI.
III. Abteilung. „
Von den Sakramenten der Kirche als den Mitteln, durch die Gott uns Seine Gnade mitteilt
.“ Der Betrug, vermittels dessen die göttliche Einsetzung der Sakramente scheinbar bewiesen wird. Beschreibung der sichtbaren und unsichtbaren Seiten der sieben Sakramente. Aufdeckung des Betruges, der in jedem der sieben Sakramente steckt.
XVII.
Kap. II. „
Von Gott als Richter und Vergelter
.“ Unhaltbarkeit der Lehre von der Vergeltung. I. Abteilung. „
Das besondere Gericht über jeden Menschen
.“ Das Fegefeuer. Die Belohnung der Gerechten, ihre Verherrlichung im Himmel und auf Erden. Verehrung der Heiligen, ihrer sterblichen Überreste und anderer Reliquien. Verehrung der Heiligenbilder. Der Lohn der Sünder. Die Hölle. Gebete für Verstorbene. II. Abteilung. „
Das allgemeine Gericht, der Antichrist, die Auferstehung der Toten und das Ende der Welt.“
S
CHLUSS
Die Antworten der Theologie auf die Grundfragen des menschlichen Lebens. Bedeutung der Kirche und der Sakramente. Die Lehre der Kirche – ist eine Lästerung des Heiligen Geistes. – Was die orthodoxe Kirche ist?
_____
Bibliographische Übersicht zu Tolstois Werk „Kritik der dogmatischen Theologie“
Ausgewählte Literatur zu Tolstois religiösen Schriften
zu dieser Neuedition der Tolstoi-Friedensbibliothek
„Wenn ich als Jude oder Buddhist geboren bin oder die heiligende Einwirkung der Kirche zufällig nicht erfahren habe,“ so bin ich „bestimmt verloren und muss mich ewig mit den Teufeln herumquälen. Mehr noch, selbst wenn ich zu der Zahl der Glücklichen gehöre, aber das Unglück habe, die Forderungen meiner Vernunft für gerecht zu halten und sie nicht abschwöre, um der Lehre der Kirche Glauben zu schenken, so bin ich auch dann verloren.“
LEO N. TOLSTOI über das ‚Kirchliche Dogma‘ (→S. →)
Die entschiedene Hinwendung LEO N. TOLSTOIS zum Christentum – zunächst in einem Zeitraum von etwa zwei Jahren verbunden mit einer ausgesprochen kirchlichen Ausrichtung – begann Selbstzeugnissen zufolge im Jahr 1877. Neben seiner – autobiographischen – „Beichte“1 (1879-1882) und einer großen Arbeit zu den Evangelien2 (1881-1883) untersuchte der Dichter in den Jahren 1879-1884 eingehend die orthodoxe Dogmatik. Besonders die Lektüre des weit verbreiteten Lehrbuchs von Metropolit MAKARIJ I. (MICHAIL PETROWITSCH BULGAKOV, 1816-1882) bewirkte eine durchgreifende Desillusionierung: „Wie kann ich noch an diese Kirche glauben, … wenn sie auf die tiefsten Fragen des Menschen … mit plumpen Betrügereien und albernem Humbug antwortet“ (→S. →).
Wegen der staatlich-kirchlichen Zensur in Rußland konnten die schriftlich niedergelegten Ergebnisse des dogmatischen Selbststudiums zunächst nur im Ausland erscheinen (→S. → - → ). Auf der Grundlage einer unzuverlässigen, 1891 in Genf als Buch erschienenen Textversion des Ersten Teils veröffentlichte L. ALBERT HAUFF zeitnah eine Teilübersetzung unter dem Titel „Vernunft und Dogma“ (Berlin 1891)3. 1903 verlegte VLADIMIR GRIGORJEWITSCH ČERTKOV in England eine Gesamtedition der Untersuchung im Rahmen der „Werkausgabe der in Russland verbotenen Schriften Tolstois“. 1904 besorgte CARL RITTER4 nach der neuen Manuskriptfassung dann die vollständige Übersetzung von TOLSTOIS„Kritik der dogmatischen Theologie“ in die deutsche Sprache. Nach über 110 Jahren ist diese Gesamtausgabe des Diederichs-Verlags mit der vorliegenden Edition (zwei Teile in einem Band) erstmals wieder greifbar.5
Von RAPHAEL LÖWENFELD befragt nach dem Hintergrund der zeitweiligen Hinwendung TOLSTOIS zur Kirche, hat SOFIA ANDREJEWNA TOLSTAJA (1844-1919), die Ehefrau des Dichters, 1890 rückblickend mitgeteilt: „Das ist überhaupt sehr schwer […]. Es gibt da tiefer liegende Ursachen, die für Niemanden zu finden sind. Ich darf sie gar nicht aussprechen. Nur von den äußeren Dingen darf ich reden, die wiederum einen Umschwung in seinen Meinungen hervorgerufen haben. Es war die Zeit des türkischen Krieges. Tolstoi nahm an der Andacht teil, welche vor dem Auszuge der Truppen in allen Kirchen Russlands abgehalten wurde. Der Widerspruch, der sich daraus ergab, daß hier in christlichen Kirchen, dort in mohammedanischen Moscheen um dasselbe gebetet wurde, um die Überwindung des Feindes, regte die alte Ungläubigkeit wieder an. Der Zweifel war geweckt, und die politischen Ereignisse der nächsten Jahre machten ihn wachsen. – Der gewaltsame Tod Alexander II., die Ableistung des Eides der Treue für Alexander III., die Verurteilung der irre geführten jugendlichen Schwärmer wirkten auf Lew Nikolajewitsch in der furchtbarsten Weise ein. Sein Abfall von der Kirche, welche die mächtigste Stütze eines solchen politischen Systems war, war besiegelt; und von Allem, was im Zusammenhang mit seiner Gläubigkeit war, blieb nichts zurück als die treue Anhänglichkeit an das Evangelium. Dieses erschien ihm als das Buch der Bücher, in dem alle Weisheit der Welt ihren höchsten Ausdruck gefunden hat. Es ist Ihnen bekannt, daß Lew Nikolajewitsch selbst seine wirtschaftlichen Anschauungen auf der Lehre Christi aufbaut.“6
Die „Zeit der Strenggläubigkeit“ bzw. der bewussten Kirchenbindung TOLSTOIS fällt – wie der Russisch-Osmanische Krieg – in die Jahre 1877 und 1878. Ein Tagebucheintrag vom 22. Mai 1878 belegt bereits den entschiedenen Einspruch gegen jede Form der Kriegsliturgie: „War am Sonntag zur Messe. Ich kann für alles im Gottesdienst eine Erklärung finden, die mich befriedigt. Aber die Bitten um langes Leben und um Unterwerfung der Feinde sind Lästerei. Der Christ muß für seine Feinde beten und nicht gegen sie.“7
Im März 1882, als ein Großteil seiner „Kritik der dogmatischen Theologie“ schon abgeschlossen ist, schreibt TOLSTOI einen Brief an die ihm sehr nahestehende Großtante und Hofdame ALEXANDRA ALEXANDROWNA TOLSTAJA (1817-1904): „Zwischen mir und Ihnen kann es nichts Gemeinsames geben, denn jenen Heiligengeistglauben, zu dem Sie sich bekennen, habe ich früher von ganzem Herzen bekannt, mit all meinen Geisteskräften studiert und mich davon überzeugen müssen, daß er kein Glaube, sondern niederträchtiger Betrug ist, ersonnen zum Verderben der Menschheit. Nachdem ich mich hiervon überzeugt hatte, schrieb ich ein Buch, das die Betrüger entlarvt. Das also wäre meine Einstellung zu Ihnen. A tort ou à raison, jedenfalls halte ich Ihren Glauben für ein Werk des Teufels, das zu dem Zweck erfunden wurde, die Menschheit des von Christus gewährten Heils zu berauben. Mein Buch und ich selbst sind eine Entlarvung der Betrüger, jener Lügenpropheten, die im Schafspelz kommen und die wir an ihren Früchten erkennen sollen. – Zwischen Entlarver und Entlarvtem kann es also kein Einverständnis geben. Die Angeklagten haben nur zwei Auswege – sich zu rechtfertigen und nachzuweisen, daß alle meine Anklagen nicht zutreffen (das kann nicht mit einem Federstrich geschehen, dazu bedarf es eines Studiums des Gegenstandes, der Freiheit des Wortes und vor allem des Bewußtwerdens der eigenen Wahrheit. – Und daran fehlt es eben. Die Entlarvten haben sich hinter Zensur und Bajonetten versteckt und schreien: Herr, erbarme dich – und Sie schreien mit), oder aber ihre Schuld zu bekennen und der Lüge und dem Bösen abzusagen. – Aber was Sie und diese Leute sagen: ‚Wahrhaftig, bei Gott, wir sind unschuldig. Du solltest Gott fürchten, wahrhaftig, wir glauben an Christus‘, und dergleichen mehr, ist genau das, was Schuldige immer behaupten. / Entweder müssen sie sich rechtfertigen für Gewalttaten aller Art, für Hinrichtungen, Morde, für die Horden, die sie zum Menschenmord zusammengeholt haben und in Verhöhnung Gottes eine Christus liebende Kriegerschar nennen, müssen sich rechtfertigen für alle Greuel, die seit eh und je mit dem Segen ihres Glaubens begangen werden, oder aber sie müssen bereuen. / Und ich weiß, die Betrüger denken nicht daran, sich zu rechtfertigen oder zu bereuen. Zu Reue verspüren diese Leute wie auch Sie selbst keine Lust, denn dann ginge es nicht mehr an, dem Mammon zu dienen und sich selbst einzureden, man diene Gott. / Die Betrüger werden tun, was sie immer getan haben, sie werden schweigen. Wenn es aber nicht mehr möglich sein wird, zu schweigen, werden sie mich umbringen. – Darauf bin ich gefaßt. Und Sie leisten dabei große Unterstützung, wofür ich Ihnen eben so dankbar bin.“8
TOLSTOI hat diese harten Zeilen an eine ihm sehr liebe, kirchenfromme Verwandte nie abgeschickt. Doch das Fazit der 1884 abgeschlossenen „Kritik der dogmatischen Theologie“ fällt hinsichtlich seiner kategorischen Ablehnung des Staats- und Kriegskirchentums, das deckungsgleich ist mit der Hierarchie, nicht minder deutlich aus: „Die orthodoxe Kirche? Jetzt kann ich mit diesem Worte keine andere Vorstellung mehr verbinden, als die von einer Anzahl ungeschorener, sehr selbstbewußter, verirrter und wenig gebildeter Leute, die in Samt und Seide, mit brillantenverzierten Brustbildern von Heiligen einhergehen und Erzbischöfe oder Metropoliten genannt werden, und von tausend anderen ungeschorenen Menschen, die sich in einer schrecklichen, sklavischen Abhängigkeit von diesem Dutzend befinden und damit beschäftigt sind, unter der Maske gewisse Sakramente auszuüben, das Volk zu scheren und zu betrügen. […] Wenn sie befehlen, daß der Diakon während des Gebets die Hälfte der Zeit darauf verwendet, um zu schreien: Lang’ lebe die rechtgläubige fromme Dirne Katharina II. oder der allerfrömmste Räuber und Mörder Peter, der das Evangelium verhöhnt hat, so muß auch ich mit dafür beten. Wenn sie befehlen, daß meine Brüder verflucht, verbrannt und gehängt werden, so soll ich mit ihnen fluchen müssen. Wenn diese Menschen befehlen, ich solle meine Brüder für verflucht halten, so soll auch ich den Fluch über sie aussprechen.“ (→S. → - → ) „Und jetzt ist es klar, daß das Lehramt der Kirche, obgleich es nur aus einer kleinen Abweichung von der Lehre hervorgegangen ist, nun zum ärgsten Feinde des Christentums geworden ist. Es ist klar, daß ihre Priester jeder beliebigen Lehre dienen mögen, nur nicht der Lehre Christi, weil sie sie vollkommen aufheben. – Die Lehre vom Lehramt der Kirche widerstreitet dem Christentum vollkommen. Indem die Kirche von dem Geiste der Lehre abgewichen ist, hat sie ihn so verfälscht, daß sie durch ihr ganzes Dasein zur absoluten Negation der Lehre gelangt ist: statt Selbstverleugnung – übt sie Selbstüberhebung, statt der Armut – Luxus; statt niemanden zu verurteilen – verurteilt sie alle in der grausamsten Weise, statt Kränkungen zu vergeben, entfacht sie Haß und Kriege, statt das Böse zu dulden, mordet sie. Und alle verleugnen einander, nur nicht sich selbst.“ (→S. →)
Fragen von Suchenden oder Verzweifelten, so steht nunmehr fest, laufen ins Leere, wenn sie erwartungsvoll an die Hierarchen der Kirche gestellt werden: Die „theologischen Streitigkeiten haben sich … nur um Dinge gehandelt, die niemand nötig hat. … Das Leben aber ist nie Gegenstand dieses Glaubens gewesen“ (→S. →). Wir können uns mit Blick auf den Lebensweg nur schwer vorstellen, dass TOLSTOI unter anderen Vorzeichen zu einer wesentlich wohlwollenderen Beurteilung der kirchenamtlichen Dogmatik gekommen wäre. Dagegen ließen sich im Rückblick immerhin Spekulationen folgender Art hinsichtlich der ‚Frömmigkeitspraxis‘ anstellen: Vielleicht wäre der Dichter ab 1877 unter Fortsetzung der persönlichen Deutungen und ‚Katechismus-Versuche‘ ein treuer Besucher der Gottesdienstgemeinde geblieben, wenn nicht eben die Staatseide, militärkirchliche Liturgien bzw. Priestergebete für die Menschenschlächterei, die von Staatspopen abgesegneten Hinrichtungsmorde und ein blasphemischer klerikaler Geldapparat ihm einen solchen Weg versperrt hätten.
Vieles spricht dafür, dass die Heftigkeit der ausformulierten Dogmenkritik vor allem geschuldet ist dem Ekel vor jenem real existierenden Kirchentum, das als Handlanger des Staates die tötende Gewalt9 legitimiert. Im letzten Band seines vierteiligen religiösen Frühwerkes – er trägt den Titel „Worin besteht mein Glauben?“ (1883/84)10 – wird LEO N. TOLSTOI darlegen, dass es ohne die Bergpredigt in seinen Augen kein Christentum geben kann, sondern nur eine öffentliche, noch dazu institutionalisierte Verlästerung der Botschaft Jesu.
pb
1 Vgl. Leo N. TOLSTOI: Meine Beichte. Das Bekenntnisbuch in den Übersetzungen von H. von Samson-Himmelstjerna und Raphael Löwenfeld. Neu ediert durch Ingrid von Heiseler, mit einem Hintergrundtext von Pavel Birjukov. (= Tolstoi-Friedensbibliothek Reihe A, Band 1). Norderstedt: BoD 2023.
2 Nur ein Auszug liegt in Übersetzungen vor. Vgl. Leo N. TOLSTOI: Kurze Darlegung des Evangelium. Aus dem Russischen von Paul Lauterbach, 1892. Neu ediert von Peter Bürger & Thomas Nauerth, mit einem einleitenden Text von Käte Gaede. (= Tolstoi-Friedensbibliothek Reihe A, Band 4). Norderstedt: BoD 2023. – Die Übersetzungen von Nachmann Syrkin zu Tolstois Bibelarbeit wollen wir ebenfalls neu zugänglich machen (in Vorbereitung: Tolstoi-Friedensbibliothek Reihe A, Band 5).
3 Vgl. mit ausführlicher Einleitung unsere Neuedition | Leo N. TOLSTOI: Vernunft und Dogma. Eine Kritik der Glaubenslehre, übersetzt von L. Albert Hauff. (= Tolstoi-Friedensbibliothek Reihe A, Band 2). Norderstedt: BoD 2023.
4 Gesicherte Hinweise zur Identität dieses Übersetzers konnten wir bislang nicht finden. Vgl. aber Carl RITTER: ‚ Leo Tolstoi. Betrachtungen zur deutschen Gesamtausgabe seiner Werke‘ [= Rezension zur Werkausgabe des Diederichs-Verlags]. In: Die christliche Welt. Evangelisches Gemeindeblatt für Gebildete aller Stände. Marburg 16. Jg. (1902), Nr. 26, Spalten 606-611; Carl RITTER: ‚Tolstoi‘. In: Die christliche Welt. Evangelisches Gemeindeblatt für Gebildete aller Stände. Marburg 18. Jg. (1904), Nr. 11, Spalten 252-257.
5 Der Text der vorliegenden Edition wurde erfasst nach der zweiten Auflage der zuerst 1904 erschienenen Übersetzung | Leo N. TOLSTOJ: Kritik der dogmatischen Theologie. Zwei Bände. Übersetzt von Carl Ritter. (= Leo N. Tolstoj. Gesammelte Werke. II. Serie, Band 2-3. Von dem Verfasser genehmigte Ausgabe von Raphael Löwenfeld). Zweites und drittes Tausend. Jena: Eugen Diederichs Verlag 1911.
6 Raphael LÖWENFELD: Gespräche über und mit Tolstoj. Dritte, vermehrte Auflage. Leipzig: Eugen Diederichs 1901, S. 115-116. Vgl. ebd., S. 84 (Selbstzeugnis Tolstois bezüglich der Hinwendung zum Christentum („Ich bin seit 1877 ein ganz neuer Mensch geworden“) und S. 112 (die Jahre 1877 und 1878 als „Zeit der Strenggläubigkeit“, d. h. der Kirchenbindung Tolstois – „period prawoslawija“).
7 Lew TOLSTOI: Tagebücher. Erster Band: 1847-1884. Aus dem Russischen übersetzt von Günter Dalitz. (= Gesammelte Werke in zwanzig Bänden. Herausgegeben von Eberhard Dieckmann und Gerhard Dudek, Band 18). Berlin: Rütten & Loening 1978, S. 322.
8 Lew TOLSTOI: Briefe. Erster Band: 1844-1885. Übersetzt von Günter Dalitz aus dem Russischen. (= Gesammelte Werke in zwanzig Bänden. Herausgegeben von Eberhard Dieckmann und Gerhard Dudek, Band 16). Berlin: Rütten & Loening 1971, S. 586-587.
9 Vgl. dazu die Bände 1 – 5 der Tolstoi-Friedensbibliothek – Reihe B.
10 Unsere Neuedition soll im Sommer 2023 erscheinen: Leo N. TOLSTOI: Worin besteht mein Glaube? Übersetzungen von Sophie Behr (1885) und Raphael Löwenfeld (1902). Mit einer Einleitung von Eugen Drewermann. www.tolstoi-friedensbibliothek.de | Gedruckte Ausgabe hiervon mit dem Titel „Mein Glaube“ und der Übersetzung von R. Löwenfeld (Tolstoi-Friedensbibliothek Reihe A, Band 6).
(des Übersetzers)
Die Kritik der dogmatischen Theologie eröffnet die große Auseinandersetzung und Abrechnung Tolstojs mit der kirchlich organisierten Religion und dem Kirchen-Christentum im engeren Sinne. Sie ist nur ein kritisches Vorspiel zur eigentlichen Aktion, eine vorbereitende Arbeit, mit der sich Tolstoj methodisch den Weg zu einem freieren geistigen Lebensinhalt bahnt.*
Man hat sich gewöhnt, im zivilisierten Europa die Wirksamkeit Tolstojs mehr unter dem Sehwinkel des historisch-politischen und national-kulturellen Mediums, dem er entstammt, anzusehen und seine gesamte Bedeutung danach abzuschätzen. Das Problem Tolstoj wurde so aus dem Bereich des Sachlichen in das des Individual-Psychologischen verlegt. Dieser bequemen Verhältnisbestimmung gegenüber Tolstoj ist es gelungen, seinen Gedanken die Spitze abzubrechen; sie ist zum Vorurteil geworden, das sich dem Verständnis seiner Bücher hemmend widersetzt; auch einer richtigen Aufnahme seiner Schriften zur Theologie verbaut sie den Weg.
Das Berechtigte dieser Voraussetzung ruht auf der richtigen Einsicht, daß in der Tat das russische Kulturmilieu für Tolstoj überall den Ansatzpunkt abgibt. Aber gar bald hebt der Flug des Gedankens den Schriftsteller über die Begrenzung, in der er heimisch ist, hinaus und läßt ihn in einem umfassenden Überblick die moderne Kulturwelt umspannen. Auf solche universelle Bedeutung erhebt seine Kritik Anspruch, und auf diesen Anspruch hin näher geprüft und bewertet zu werden, ist ein unveräußerliches Recht eines Denkers von den Dimensionen Tolstojs. Seine Bücher über theologische Themen aber sollten in doppelter Rücksicht Beachtung finden. Nicht nur die psychologische Neugierde für eine fremdartige Religion darf sich auf sie richten, sondern sie haben ein objektiv-systematisches Interesse. Die griechisch-apostolische Konfession wächst mit der römisch-katholischen aus derselben Wurzel hervor. Und der Protestantismus zweigt sich wiederum von dieser ab, doch haben sich freilich Protestantismus und römischer Katholizismus weit über die Schwesterreligion hinaus entwickelt. –
In der griechischen Kirche liegt ein stationäres, stagnierendes Element; sie geriet bald in völlige Abhängigkeit von den staatlichen Gewalten, womit ihre Produktivität zur Dogmenbildung rasch erlosch. Dahingegen verstand es die römische Kirche in ihrem Ringen um die Weltmacht in Konkurrenz mit dem Staat zu treten und damit gewaltige Kräfte und Potenzen geistiger Art an sich zu ziehen und in den Dienst ihrer Idee zu zwingen. Weiterhin führte ihr der Kampf mit dem Protestantismus neues Blut zu, und so entwickelte sie in dem Ausbau ihrer Lehrverfassung ganz andre Energien als die griechische Kirche. Aber den griechischen Katholizismus und ein gutes Stück seines Geistes hat sie doch in sich aufgenommen. Das Festhalten an der Überlieferung und die Zusammenfassung ihrer Kräfte durch eine absolute Autorität, endlich die Veräußerlichung in Ritus und Zeremonie sind Züge, die beiden Konfessionen gemeinsam sind. Ja, man kann sagen, daß das Neuhinzugekommene nur die Ausbildung des gemeinsamen Grundzugs bis in die äußersten Konsequenzen ist, der geistige Lehrgehalt wird durch die weitere Entwickelung der römischen Kirche über die griechische hinaus nicht wesentlich tangiert.
Darum konnte die Dogmatik des Macarius für Tolstoj wohl das Dogmeninventar der kirchlichen Orthodoxie überhaupt in gewissem Sinne repräsentieren. Fühlen doch die Katholiken mit richtigem Instinkt diesen Zusammenhang beider Konfessionen, denn die römische Kirche nimmt jeden orthodoxen Christen ohne weiteres für sich in Anspruch, sobald er nur die Autorität des Papstes anerkennt. Selbst der Protestantismus bleibt von dieser Verwandtschaft nicht ausgeschlossen, sofern er orthodox ist. Und auch da, wo er es nicht zu sein vermeint, wird er der Kritik der dogmatischen Theologie nicht entrinnen, wenn er, sich selber untreu, sich nicht im Lichte des Quellpunkts der Kritik – im Lichte der Vernunft behaupten kann.
Denn allem schweifenden und unbestimmten Gerede tritt hier Tolstoj mit den Forderungen einer gebändigten und disziplinierten Denkkraft entgegen. In der Helligkeit der Vernunft hat sich die Religion fortan auszuweisen. Vor allem heißt es (und das gilt auch für den Protestantismus), zum Problem der Christologie klare Stellung zu nehmen. Wo der Protestantismus diesem Problem ausweicht und in katholisierender Tendenz eine geschichtliche Persönlichkeit vergöttlicht, fällt er unter das Verdikt der Kritik. Eine historische Erzählung darf nie den Wert einer abschließenden, absoluten Wahrheit gewinnen. Das kann nur durch eine falsche Fassung des Offenbarungsbegriffs gelingen, die sich wieder auf die Anmaßung eines besonderen Organs oder Erkenntnisvermögens gründet. Aber das unmittelbare Erlebnis der Gottheit, auf das sich die moderne Theologie gerne beruft, ist nur ein mythischer Aberglaube, der vor dem Lichte der Vernunft zerfließt wie Nebel vor der Sonne.
Gegen solche Überhebung schützt die kritische Ehrlichkeit Tolstojs, die er in der Behandlung des Christusproblemes bekundet. Und noch eins ist es, was alle Religion bei ihm lernen kann: Die Läuterung der Religion zur Sittlichkeit. Es geht nicht an, die Religion von dem Inhalt der Ethik zu entleeren, indem man, wie das die Theologie tut, die Rangordnung beider zu verkehren strebt. Ohne die Selbständigkeit der Sittlichkeit verliert die Religion ihren eigentlichen Sinn und Wert und veräußerlicht sich unrettbar in hohles Formel- und Zeremonienwesen, sie wird zum Kultus oder verflüchtigt sich zur leeren Superstition. Denn woher wollte die Religion ihren Gehalt nehmen, wenn nicht aus den Provinzen der Kultur, aus Wissenschaft, Sittlichkeit und Kunst, die sie nicht hervorbringen, sondern nur begleiten kann. In dieser Verweisung der Religion an die Sittlichkeit in der Frage nach einer unzweideutigen Methode zur Auffindung und Lösung der Aufgabe des Menschenlebens, die sich an die Religion richtet, liegt der Wahrheitsgehalt der Tolstojschen Kritik.
Freilich gelingt die Demonstration nicht an einem ebenbürtigen Gegner. Der Vertreter der Kirche tritt nicht gerüstet auf den Plan. Die Gelehrsamkeit, die hier aufgeboten wird, ist von des Gedankens Blässe noch nicht ernstlich angekränkelt, sie bewegt sich in einer natürlichen, urwüchsigen Dialektik, die den Bildungsstand des höheren Klerus der russischen Nation kennzeichnet. Ihr gegenüber hat Tolstoj oftmals leichtes Spiel. Die umfassende Kenntnis der deutschen und französischen theologischen Literatur gibt ihm von vornherein eine große Überlegenheit. Doch teilt er mit den Stärken auch die Schwächen der modernen Bibelausleger. Diese verleiten ihn mitunter zu ungerechten und nachweisbar unrichtigen Aufstellungen besonders gegen das Alte Testament, dessen kräftige Ansätze zu einer streng geistigen Auffassung der Religion im hebräischen Monotheismus er übersieht (vergl. dazu →[S. → - 52 ]). Das Buch „Mein Glaube“ bedeutet dagegen eine wesentliche Verbesserung (siehe [Tolstoj-Werke, Diederichs Verlag] Serie I, Bd. 2, S. 200ff., besonders S. 208, 209ff.). Aber das große geistige Übergewicht verführt Tolstoj doch nicht dazu, einen wohlfeilen Triumph über den Gegner zu feiern, indem er ihn der Lächerlichkeit preisgibt, denn mit der Loyalität der Gewissenhaftigkeit hebt er die Argumente selbst zu dem Ernst der in ihnen verborgenen Probleme empor. So bleibt dem Buche als Ganzem eine dauernde Bedeutung erhalten, nicht allein in der Abwehrung überlebter Irrtümer, sondern auch durch die Gesamtansicht des Lebens, die sich in ihm ausspricht, und den positiven Ausblick, den es schon auf die folgenden Teile gewährt.
Für die Übersetzung ergaben sich insofern Schwierigkeiten, als es erforderlich schien, die Zitate aus der Heiligen Schrift zu dem Bibeltext, der bei deutschen Lesern allgemein in Umlauf ist, in ein Verhältnis zu bringen. Dem steht aber entgegen, daß die russische Bibel in manchen Punkten anders disponiert ist als die deutsche. Während wir in der Lutherschen Übersetzung ein Werk besitzen, das im wesentlichen auf die Urtexte zurückgeht, haben wir es bei der Bibel der Russen mit einer Übertragung aus griechischen Quellen zu tun.
Der Lutherschen Übersetzung des Alten Testaments liegt der sogenannte Massoretische Text zugrunde, ein Bibeltext, der nicht die Urgestalt der Heiligen Bücher, wie sie aus den Händen ihrer Verfasser kamen, repräsentiert, sondern wie sie nach mannigfachen Veränderungen und Wandlungen in der Zeitperiode vom 7. bis zum 11. Jahrhundert von jüdischen Gelehrten gesammelt, gereinigt, zu einer endgültigen Fassung redigiert und in dieser Fassung kanonisiert worden sind. Der Übertragung des Neuen Testaments durch Luther diente die Ausgabe von Erasmus aus dem Jahre 1519 zur Unterlage. Außerdem benutzte er zur Vergleichung die sogenannte Vulgata, eine lateinische Bibelübersetzung des Hieronymus vom Ende des 4. Jahrhunderts. Die Reihenfolge und Einteilung der Schriften ist im allgemeinen nach dieser Ausgabe orientiert, doch hat sich Luther hierin einige Änderungen erlaubt, wie z. B. die Zerfällung eines Kapitels des 1. Buches der Chronik in zwei, so daß dieses Buch jetzt 30 Kapitel zählt.
Das Schicksal der russischen Bibel nahm einen andern Weg. Die erste Bibelübersetzung wird nach glaubwürdigen Berichten auf die beiden Mönche Konstantin (Kyrill) und Methodius aus Thessalonich, die von 864–85 in Mähren unter den Slaven Mission trieben, zurückgeführt. Sie sollen zuerst die slavischen Schriftzeichen (stilisierte griechische Lettern) erfunden und die ganze Bibel gemeinsam aus dem Griechischen ins Kirchenslavische übertragen haben. Das Kirchenslavische ist nach vertrauenswürdigen Annahmen der sogenannte altbulgarische Dialekt, der in Makedonien gebräuchlich war und aus dem sich weiterhin die andern südslavischen Dialekte heraus differenziert haben; er ist noch heute beim Gottesdienst in den Kirchen ausschließlich im Gebrauch. Alle weiteren Ausgaben gehen mit unwesentlichen Abweichungen auf diesen Grundtext zurück, der sich eng an die griechische Übersetzung des Alten Testaments, die sogenannte Septuaginta, anschließt. Da diese aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. stammt, so ist sie nach Handschriften gearbeitet, die vielfach von dem Massoretischen Text abweichen, besonders in den Büchern Jeremia, Hiob, Exod. vom 36. Kapitel ab und Num. Am Ende des 15. Jahrhunderts hat sodann der Erzbischof von Nowgorod, Gennadius, eine vollständige Sammlung der biblischen Bücher herausgegeben. Dieser liegen hauptsächlich altkirchenslavische Handschriften zugrunde, bis auf einige Bücher, die aus der Vulgata übersetzt sind. Es sind dies: die beiden Paralipomena (Chronik), Esra 1, 2, Neh., Tob., Jud., Weish. Salom., Makkab. 1, 2, Esth., Jer. 1-25 und 46-51. 1501 wurde die Bibel des Gennadius noch einmal nach dem griechischen Texte revidiert, Esther, Hoheslied Salom. und Weish. Salom. nach einer andern griechischen Handschrift neu übersetzt. Dies ist die unter dem Namen „Ostroger Bibel“ bekannte Redaktion, die dann weiterhin für alle Neuausgaben maßgebend wurde. Seit Peter dem Großen ist dann noch an der Nachvergleichung und Revision der Ostroger Bibel nach dem griechischen Text gearbeitet worden. Die revidierte Ausgabe erschien 1751 unter der Kaiserin Elisabeth. 1756 folgte eine zweite verbesserte Auflage, auf deren Text sich alle von der Kirche bis auf unsere Zeit anerkannten Drucke beziehen.
Aus der Geschichte der deutschen und russischen Bibelübersetzungen erklären sich die vielfachen Abweichungen in der Bezeichnung der Kapitel- und Verszahl, aber auch im Wortlaut der Lesarten. Wir haben uns für alle gleichlautenden Stellen an die Luthersche Übersetzung des Alten und Neuen Testaments gehalten. Bei differierenden Texten wurde die Vers- und Kapitelzahl der Lutherbibel [= L] in Parenthese daneben gestellt, die Abweichungen mit dem griechischen Text verglichen und mit möglichster Treue aus der kirchenslavischen Sprache selbständig ins Deutsche übertragen. Zur Orientierung wurde eine erklärende Anmerkung beigefügt. Wir hoffen, damit zur bequemeren Handhabung des Werkes für deutsche Leser beigetragen zu haben. Möge es in dieser Gestalt auch unter ihnen Freunde werben, Freunde der Aufklärung, für die es streitet.
Carl Ritter
[1904]
*Anmerkung des Herausgebers:
Im ersten Kapitel der Schrift „Mein Glaube“ (S. 13) berichtet Tolstoj selbst über das zeitliche Verhältnis seiner rein theologischen Arbeiten zu den sozial-ethischen. „Darüber, weshalb ich früher Christi Lehre nicht verstanden und wie und warum ich sie später begriffen, habe ich zwei große Werke geschrieben: eine Kritik der dogmatischen Theologie und eine neue Übersetzung nebst einer Harmonie der vier Evangelien mit Erläuterungen. In diesen Schriften bemühe ich mich, methodisch, Schritt für Schritt, alles zu untersuchen, was den Menschen die Wahrheit verhüllt, und übersetze von neuem die vier Evangelien, Vers für Vers vergleiche ich sie und suche die Übereinstimmung in den vier Evangelien. Diese Arbeit dauert bereits das sechste Jahr ...“
Da die Schrift „Mein Glaube“ am 22. Januar 1884 abgeschlossen ist, muß demnach die „Kritik“ schon in den letzten Jahren des achten Jahrzehnts begonnen sein. Damit stimmt auch überein, was Tolstoj in der Vorrede zu der Übersetzung der Evangelien vom 29. August 1891 berichtet: seine Freunde hätten ihm geraten, das Werk, das er vor zehn Jahren verfaßt habe, drucken zu lassen, und er habe sich dazu entschlossen, obgleich die Arbeit noch lange nicht fertig sei und viele Mängel habe. „Sie zu verbessern und abzuschließen, fühle ich mich nicht mehr befähigt, denn die Sammlung und die andauernd begeisterte seelische Spannung, die ich während dieser ganzen langwierigen Arbeit empfand, kann nie mehr wiederkehren.“
Diese ganze theologische Forschungsarbeit stellt sich bei dem ewig rastlosen Wahrheitssucher als die notwendige Erfüllung einer sittlichen Pflicht dar. Tolstoj hatte einige Jahre vorher – 1877 und 1878 – mit beispiellosem Ernst den Entschluß gefaßt, ganz wie das kritiklos gläubige Volk zu leben, das frei sei von dem inneren Zwiespalt, der den höher Gebildeten die Möglichkeit des Glückes raube. Er übte alle Vorschriften der orthodoxen Kirche, besuchte regelmäßig die Gotteshäuser, ja, er wallfahrtete zu Klöstern und Wunderbildern.
Das Ergebnis dieser Lebensweise, der er volle zwei Jahre und darüber mit der Energie und Ehrlichkeit ergeben war, die seiner großen und starken Persönlichkeit eigen sind, war ein furchtbares: Alles Lug und Trug! Diese ganze, kaum übersehbare Menge von Vorschriften und Zeremonien haben nichts mit dem Geiste der Lehre Christi zu tun. Die Kirche ist die Zerstörerin der erhabenen Ideen, die die Kraft hätten, die Menschheit zu beglücken.
Diese ahnungsvoll aufdämmernde Erkenntnis muß bewiesen werden.
Und Tolstoj liest unermüdlich alle Urkunden des Christentums: das Alte und das Neue Testament, die Kirchenväter, das Leben der Heiligen, die Werke der theologischen Forscher deutscher und französischer Zunge und die Bücher der Gegenwart, die dem russischen Volk die Glaubenslehre übermitteln. Und um unmittelbar zu den Quellen zu gelangen, lernt er mit dem Eifer des wissensdurstigen Jünglings in wenigen Monaten Griechisch und Hebräisch.
So ausgerüstet geht er an die Beweisführung für seine Behauptung heran und an die Reinigung der Lehre von den Zutaten und Verstümmelungen, durch die der Eigennutz herrschsüchtiger Fürsten und Priester sie bis zur Unerkennbarkeit entstellt haben. – –
Die „Kritik der dogmatischen Theologie“ durfte natürlich in Rußland nicht gedruckt werden. Sie war trotzdem in vieler Menschen Händen, in Abschriften und in hektographischer Vervielfältigung, und übte ihre Wirkung.
Erst 1891 erschien „Kritika dogmatčeskago bogosłowija“ bei Elpidine in Genf.
In deutscher Sprache erscheint das Werk hier zum erstenmal. Die Übertragung rührt von Carl Ritter her, einem Schriftsteller und Gelehrten, der mit dem Wesen der russisch-orthodoxen Kirche besonders gut vertraut ist.
R[aphael]. L[öwenfeld].
[1904]
Ikone „Sieg der Orthodoxie“ (14./15. Jahrhundert). Britisches Museum, London | commons.wikimedia.org
Issledovanie dogmatičeskogo bogoslovija 1879-1884
Ich bin mit zwingender Notwendigkeit zur Untersuchung der Glaubenslehre der orthodoxen Kirche gedrängt worden. In der Gemeinschaft mit der orthodoxen Kirche hatte ich Errettung von der Verzweiflung gefunden. Ich war fest überzeugt, daß einzig in dieser Lehre Wahrheit sei, aber viele, sehr viele Äußerungen dieser Lehre, die im Widerspruch mit den Grundbegriffen standen, die ich von Gott und seinem Gesetz hatte, trieben mich dazu, an die Untersuchung der Lehre selbst heranzugehen.
Ich nahm damals noch nicht an, daß die Lehre falsch sei, ich hatte Furcht vor dieser Annahme, denn eine Unwahrheit innerhalb dieser Lehre mußte die ganze Lehre stürzen. Und dann verlor ich jenen wichtigsten Stützpunkt, den ich an der Kirche als der Vertreterin der Wahrheit, als der Quelle des Wissens um den Sinn des Lebens hatte, nach dem ich in dem Glauben suchte. Und ich begann die Bücher zu studieren, in denen die orthodoxe Glaubenslehre dargestellt war. In all diesen Werken ist, abgesehen von einigen Unterschieden in Bezug auf Einzelheiten und die Reihenfolge der Darlegung, ein und dieselbe Lehre niedergelegt, derselbe Zusammenhang der Teile, sowie ein und dieselbe Grundlage enthalten.
Ich las und studierte diese Bücher durch und empfing von dieser Lehre das Gefühl: wenn ich nicht durch das Leben unvermeidlich zur Anerkennung der Notwendigkeit des Glaubens geführt worden wäre, wenn ich nicht eingesehen hätte, daß dieser Glaube allen Menschen zur Lebensgrundlage dient, wenn sich nicht in meinem Herzen dieses durch das Leben ins Wanken gebrachte Gefühl von neuem festgesetzt hätte, und wenn die Grundlage meines Glaubens nur mein Vertrauen gewesen wäre; wenn in mir nur eben dieser Glaube gelebt hätte, von dem in der Theologie die Rede ist („wir glauben, wie es uns gelehrt worden ist“), ich wäre, nachdem ich diese Bücher gelesen, nicht nur ein Atheist, sondern auch der bitterste Feind alles Glaubens geworden, denn ich fand in diesen Lehren nicht nur baren Unsinn, sondern auch die bewußte Lüge von Menschen, die den Glauben erwählt hatten, um ihn als Mittel zur Erreichung gewisser eigener Ziele zu benutzen. Das Lesen dieser Bücher kostete mir eine schreckliche Mühe, nicht so sehr wegen der Anstrengungen, die ich machen mußte, um den Zusammenhang zwischen den einzelnen Ausdrücken zu erfassen – den Zusammenhang, den die Autoren dieser Bücher in ihnen ausdrücken wollten, – als infolge des inneren Kampfes, den ich fortwährend mit mir selbst führen mußte, um, während ich die Bücher las, meine Empörung nieder zu halten.
Ich schrieb viele Bogen voll, indem ich Wort für Wort zunächst das Symbol des Glaubens, sodann den Katechismus des Philaret, sodann das Sendschreiben der morgenländischen Patriarchen, hierauf die Einführung in die Theologie des Macarius, dann die dogmatische Theologie desselben Macarius zu untersuchen begann. Der ernste wissenschaftliche Ton, eben der Ton, in dem diese Bücher, besonders die neueren, wie die Theologie des Macarius geschrieben sind, war bei der Untersuchung dieser Werke nicht zu ertragen. Man konnte die ausgedrückten Gedanken weder diskutieren noch widerlegen, weil es unmöglich war, auch nur einen klar ausgedrückten Gedanken einzufangen. Wenn man sich eben an einen Gedanken klammern wollte, um ihn zu untersuchen, so entglitt er einem sofort wieder und zwar deshalb, weil er absichtlich unklar ausgedrückt war, und unwillkürlich wandte ich mich zur Analyse des Ausdrucks für den Gedanken selbst zurück, und es zeigte sich, daß überhaupt kein bestimmter Gedanke dahinter steckte; die Worte haben alle nicht den Sinn, den sie im gewöhnlichen Sprachgebrauch haben, sondern einen ganz besonderen, für den keine Definition gegeben wird. Wenn es dagegen eine Definition oder Erklärung des Gedankens gab, so war sie immer verkehrt; zur Definition oder Erklärung eines weniger verständlichen Wortes bediente man sich eines Wortes oder mehrerer, die völlig unverständlich waren. Ich zweifelte lange an mir selbst, erlaubte mir nicht, das zu bestreiten, was ich nicht begriff, und strengte alle Kräfte meines Verstandes und Gemütes an, um diese Lehre so zu verstehen, wie die sie auffaßten, die versicherten, daß sie an sie glaubten und von allen den gleichen Glauben forderten. Und das war um so schwerer für mich, je ausführlicher und scheinbar wissenschaftlicher die Lehre dargestellt wurde. Bei der Lektüre des Glaubenssymbols, das nach dem unklaren griechischen Text wörtlich ins Kirchenslavische übertragen war, konnte ich meine Begriffe vom Glauben noch einigermaßen mit dem Symbol vereinigen, aber bei der Lektüre des Sendschreibens der morgenländischen Patriarchen, die dieselben Dogmen schon ausführlicher darstellten, konnte ich meine Begriffe mit diesen schon nicht mehr in Einklang bringen und ich konnte beinahe nichts davon begreifen, was unter den Worten verstanden wurde, die ich las. Mit der Lektüre des Katechismus wuchs auch mein Unverständnis und meine Opposition. Als ich zunächst die Theologie des Damascenus und hierauf die des Macarius las, erreichte mein Unverständnis und meine Opposition ihren Höhepunkt. Dafür aber begann ich hier jenen äußeren Zusammenhang, dem gemäß sich die Worte aneinanderfügten, und den Grund zu begreifen, weshalb man ihnen nicht beistimmen konnte. Ich verwandte lange Zeit viel Mühe darauf und erreichte es endlich, daß ich die „Theologie“ auswendig wußte, wie ein guter Seminarist, und daß ich dem Gedankengang, der die Autoren leitete, folgen und die Grundlage vom Ganzen: nämlich den Zusammenhang der einzelnen Dogmen und die Bedeutung eines jeden Dogmas in diesem Zusammenhang erklären konnte; was aber die Hauptsache war, ich konnte mir nun klar machen, weshalb gerade dieser so seltsam erscheinende, und nicht ein andrer Zusammenhang gewählt worden war. Und als ich das erreicht hatte, entsetzte ich mich: ich begriff, daß diese ganze Glaubenslehre ein künstlicher, aus dem Grunde von äußerlichen und ungenauen Kennzeichen aufgerichteter Bau von Ausdrücken sich widersprechender und unvereinbarer Glaubenssätze der verschiedensten Menschen ist. Ich sah ein, daß diese Zusammenstellung niemandem nötig sein kann, daß niemand je an sie glauben könne und je an das Ganze dieser Glaubenslehre geglaubt hat, und daß es daher ein äußeres Ziel geben müsse für diese unmögliche Zusammenfassung der verschiedenartigsten Dogmen zu einem Ganzen und ihre Verkündigung als die Wahrheit. Ich begriff auch, was dies Ziel sei. Und ich verstand auch, weshalb diese Lehre, da, wo sie gelehrt wird – in den Seminaren –, sicherlich Gottesleugner erzeugen muß, ich begriff auch das fürchterliche Gefühl, das ich empfunden hatte, als ich diese Bücher las.
Ich hatte auch einmal die sogenannten gottlosen Werke von Voltaire und Hume gelesen, aber nie habe ich eine so feste Überzeugung von der vollständigen Ungläubigkeit eines Menschen gehabt, wie die, welche ich in Bezug auf die Autoren der Katechismen und „Theologien“ empfand. Wenn man in diesen Büchern die aus den Aposteln und den sogenannten Kirchenvätern angeführten Aussprüche liest, aus denen die „Theologie“ zusammengestellt ist, so sieht man, daß das Aussprüche von gläubigen Menschen sind, man hört die Stimme des Herzens, trotz der Ungeschicklichkeit, Grobheit und zuweilen auch der Irrtümlichkeit des Ausdrucks; wenn man aber die Worte des Sammlers dieser Aussprüche liest, so sieht man deutlich, daß diesem gar nichts an dem Gefühlssinn der von ihm angeführten Stelle liegt; er versucht es nicht einmal, sie zu verstehen. Er braucht nur ein ihm zufällig aufstoßendes Wort, um mit Hilfe dieses Wortes den Gedanken des Apostels an einen Ausspruch des Moses oder eines neuen Kirchenvaters festzuketten. Er hat das Bedürfnis nur einen solchen Bau aufzurichten, der den Eindruck macht, als sei alles, was in den sogenannten heiligen Büchern und bei allen Kirchenvätern geschrieben steht, nur dazu geschrieben worden, um das Symbol des Glaubens zu rechtfertigen. Und ich begriff endlich, daß jene ganze Glaubenslehre, in der, wie mir damals schien, der ganze Glaube des Volkes enthalten sei, daß all das nicht nur eine Unwahrheit, sondern geradezu ein von ungläubigen Menschen verübter Betrug ist, der sich im Laufe der Jahrhunderte ausgebildet und ein bestimmtes, auf eine schlechte Sache gerichtetes Ziel hat.
Hier ist diese Lehre. Ich stelle sie nach dem Symbol des Glaubens, dem Sendschreiben der morgenländischen Patriarchen, dem Katechismus des Philaret, hauptsächlich aber nach der „Dogmatischen Theologie“ des Macarius dar, einem Buche, das von der Kirche als die beste dogmatische Theologie anerkannt ist.
Die Einleitung besteht in der Darstellung 1. des Zweckes, 2. des Gegenstandes, 3. der Entstehung der orthodox-christlichen Dogmen, 4. der Einteilung der Dogmen, 5. des Charakters des Planes und der Methode und 6. in dem Abriß einer Geschichte der Wissenschaft der dogmatischen Theologie.
Obgleich diese Einleitung nicht von dem Gegenstand selbst spricht, kann man an ihr doch nicht vorübergehen, da sie im voraus erklärt, was im ganzen Buche dargestellt werden und wie es dargestellt werden soll: die ersten Paragraphen lauten wie folgt:
„§ 1. Die orthodoxe dogmatische Theologie, wissenschaftlich aufgefaßt, soll die christlichen Dogmen in systematischer Reihenfolge, möglichst vollständig, klar und gründlich darstellen und zwar nicht anders als im Geiste der orthodoxen Kirche.
§ 2. Unter dem Namen von christlichen Dogmen verstehen wir die geoffenbarten Wahrheiten, in denen die Menschen durch die Kirche unterrichtet werden sollen, sowie die unumstößlichen und unwandelbaren Vorschriften des erlösenden Glaubens.“
Weiterhin wird ausgeführt, daß geoffenbarte Wahrheiten solche Wahrheiten heißen, die in der Überlieferung und der Heiligen Schrift enthalten sind. Überlieferung und Heilige Schrift werden als Quellen der Wahrheit anerkannt, weil die Kirche sie als solche anerkennt. Die Kirche aber gilt als die wahre, weil sie wiederum diese: die Überlieferung und die Heilige Schrift anerkennt.
„§ 3. Aus dem dargelegten Begriff der christlichen Dogmen geht hervor, daß sie alle göttlichen Ursprungs sind. Folglich hat niemand das Recht, ihre Zahl zu vergrößern oder zu verringern, sie zu verändern oder zu entstellen, auf welche Weise das auch immer geschehen möge: so viele Dogmen Gott von Anfang an geoffenbart hat, so viele müssen für alle Zeiten erhalten bleiben, so lange das Christentum existiert (S. 13).“
„Von Anfang an geoffenbart.“ Was dieses „von Anfang an“ bedeutet, wird nicht gesagt. Im Anfang der Welt oder im Anfang des Christentums? Und in beiden Fällen – wann war dieser Anfang? Es heißt, die Dogmen seien nicht eins nach dem andern, sondern alle gleichzeitig im Anfang geoffenbart, wann aber dieser Anfang gewesen ist – wird weder hier noch sonst irgendwo im ganzen Buche gesagt. Weiter:
„Aber obgleich die Glaubensdogmen nach ihrer Zahl und ihrem Wesen in der Offenbarung selbst unwandelbar sind, so müssen sie nichtsdestoweniger in der Kirche den Gläubigen aufgeschlossen werden und sie werden ihnen auch immer erschlossen.“
„Seit derselben Zeit, seit die Menschen begonnen haben, sich die Dogmen, die durch die Offenbarung gegeben sind, zu eigen zu machen und sie dem Gesichtskreis ihrer Begriffe anzupassen, begannen diese geheiligten Wahrheiten unvermeidlich in der Vorstellung der einzelnen Individuen verschiedene Gestalt anzunehmen (das geschieht mit jeder Wahrheit, wenn sie zum Besitztum der Menschen wird), es mußten unvermeidlich verschiedene Ansichten und verschiedene Mißverständnisse hinsichtlich der Dogmen aufkommen, was auch geschehen ist, sogar verschiedene Entstellungen der Dogmen oder Ketzereien, beabsichtigte wie unbeabsichtigte. Um die Gläubigen vor alledem zu schützen, um ihnen zu zeigen, woran eigentlich und wie sie auf Grund der Offenbarung zu glauben haben, pflegte ihnen die Kirche von Anfang an, nach der Überlieferung durch die heiligen Apostel selbst kurze Anleitungen zum Glauben oder Symbole zu geben.“
Die Dogmen sind nach Zahl und Wesen unveränderlich und von Anfang an geoffenbart, zugleich aber müssen sie erschlossen werden. Das ist unverständlich, und noch unverständlicher ist, daß zuerst einfach gesagt wurde „im Anfang“ und wir diesen Anfang, so, wie ihn auch die Theologie versteht, als Anfang aller Dinge verstehen mußten; jetzt jedoch wird der Anfang auf den Anfang des Christentums bezogen. Außerdem geht aus diesen Worten gerade der Sinn hervor, den der Schriftsteller zuerst bestritt. Dort hieß es, daß von Anfang an alles geoffenbart sei, hier aber wird gesagt, die Dogmen werden von der Kirche aufgeschlossen und schließlich wird behauptet, daß die Kirche von (einem unbestimmten) Anfang an nicht einmal kurze Anleitungen zum Glauben oder Symbole gegeben hat, sondern nach der Überlieferung der heiligen Kirche solche zu geben pflegte, d. h. es entsteht ein innerer Widerspruch. Offenbar werden unter dem Begriff Dogma zwei einander ausschließende Begriffe verstanden. Ein Dogma ist nach der Definition der „Theologie“ eine Wahrheit, die von der Kirche gelehrt wird. Diese Dogmen können ihrer Definition gemäß erschlossen werden, wie sich der Autor ja auch ausdrückt, d. h. sie können auftauchen, sich verändern, sich komplizieren, wie das in Wirklichkeit geschieht und geschehen ist. Aber der Autor, der das Dogma offenbar ungenau definiert hat, indem er statt Unterricht in dem, was für eine Wahrheit gilt – Unterricht in der Wahrheit selbst sagte, oder indem er sogar schlechthin behauptete, das Dogma sei die Wahrheit des Glaubens, der Autor hat dem Dogma noch eine andere Bedeutung gegeben, welche die erste ausschließt, und so verwickelte er sich unwillkürlich in Widersprüche. Aber der Verfasser braucht diese Widersprüche. Er muß unter dem Dogma die Wahrheit an sich selbst, die absolute Wahrheit und zugleich eine Wahrheit, die in bestimmten Worten ausgedrückt ist, verstehen. Der Widerspruch ist notwendig, damit man, während man lehrt, was die Kirche für die Wahrheit hält, behaupten kann, daß das, was sie überliefert, die absolute Wahrheit selbst sei. Diese falsche Betrachtungsweise ist nicht nur aus dem Grunde wichtig, weil sie unvermeidlich zu Widersprüchen führt und jede Möglichkeit einer vernünftigen Interpretation ausschließt, sie ist auch darum wichtig, weil sie unwillkürlich Zweifel an der weiteren Darstellung erweckt. Das Dogma ist ja doch nach der Definition der Kirche eine geoffenbarte, göttliche Wahrheit, die von der Kirche gelehrt wird zur Erweckung des erlösenden Glaubens. Ich bin ein Mensch Gottes. Gott hat, indem er die Wahrheit offenbarte, sie mir geoffenbart. Ich suche den erlösenden Glauben und das, was ich von mir selbst sage, sagen und haben Millionen von Menschen gesagt. So reichet mir doch auch diese von Gott geoffenbarten Wahrheiten dar (die ja doch für mich, so gut wie für euch, enthüllt wurden). Wie sollte ich denn nicht an diese Wahrheiten glauben, sie nicht annehmen können? Ich suche ja nur sie allein. Und sie sind doch göttlich. Gebt sie mir also. Ihr braucht doch nicht zu fürchten, daß ich sie ablehnen werde. Die Kirche aber scheint zu fürchten, ich könnte das ablehnen, was zu meiner Errettung nötig ist, und will mich im voraus dazu zwingen, anzuerkennen, daß alle diese Dogmen, in denen man mich unterrichten will, wahr sind. Aber daran ist ja doch kein Zweifel, daß das die Wahrheit ist, was Gott den Menschen geoffenbart hat, die Ihn suchen. So gebt mir diese Wahrheiten; hier dagegen werden, statt daß die Wahrheit aufgedeckt wird, absichtlich verkehrte Betrachtungen angestellt, die darauf angelegt sind, mich im voraus zu überzeugen, daß alles, was man mir sagen wird, Wahrheit ist. Diese Auseinandersetzung übt, statt mich für die Wahrheit zu gewinnen, gerade die entgegengesetzte Wirkung aus. Ich sehe es klar, daß diese Auseinandersetzung falsch ist, und ich sehe, daß man mich im voraus fangen will durch das Vertrauen zu dem, was man mir sagen wird. Woher aber kann ich es wissen, daß das, was man mir als Wahrheit vorsetzen wird, nicht eine Lüge ist. Ich weiß, daß in der dogmatischen Theologie, im Katechismus, bei den morgenländischen Patriarchen und selbst im Symbol des Glaubens unter der Zahl der Dogmen auch ein solches von der Heiligkeit und Unfehlbarkeit der vom heiligen Geist geleiteten Kirche, als der Wächterin der Dogmen, enthalten ist. Wenn die Dogmen nicht durch sich selbst erklärt werden können, sondern nur dadurch, daß sie sich auf das Dogma der Kirche stützen, so muß man auch mit dem Dogma der Kirche anfangen. Wenn alles darauf gegründet ist, so muß man das auch sagen und auch damit beginnen, nicht aber mit dem ersten Paragraphen, wie das hier geschieht, das Dogma der Kirche zur Grundlage von allem machen und es dann bloß im Vorbeigehen erwähnen, wie etwas Bekanntes und nicht in der Art, wie im Katechismus des Philaret, wo im dritten (III.) Kapitel davon die Rede ist, daß die Offenbarung Gottes innerhalb der Kirche durch die Überlieferung bewahrt wird, während die Überlieferung von der Kirche erhalten wird. Die Kirche aber besteht aus allen denen, die durch den Glauben an die Überlieferung geeinigt sind, und diese durch die Überlieferung Geeinigten sind gerade die Hüter den Überlieferung.
Die Überlieferung wird immer von denen gehütet, die an diese Überlieferung glauben. Das ist immer so. Aber ist sie auch wahr; ist sie nicht vielleicht eine Lüge? Und die Bemühung, mit deren Hilfe man, ohne auch nur das Geringste von den Dogmen selbst gesagt zu haben, im voraus meine Zustimmung zu jedem Dogma gewinnen will, zwingt mich auf der Hut zu sein. Ich sage nicht, daß ich nicht an die Heiligkeit und die Unfehlbarkeit der Kirche glaube. Ich glaubte sogar zur Zeit, wo ich diese Untersuchung in Angriff nahm, fest an sie und es schien mir, daß ich an sie allein glaubte. Man muß aber doch wissen, was man unter der Kirche zu verstehen hat, und in jedem Fall muß man, wenn man die ganze Lehre auf das Dogma von der Kirche gründen will, auch mit ihm anfangen, wie Chomjakow getan hat. Wenn man aber nicht mit dem Dogma von der Kirche anfängt, sondern mit der Lehre von Gott, wie das im Symbol des Glaubens, im Sendschreiben der morgenländischen Patriarchen, im Katechismus und in allen dogmatischen Theologien geschieht, so soll man auch die wichtigsten Dogmen darstellen, – das heißt, die Wahrheiten, die Gott den Menschen geoffenbart hat.
Ich bin ein Mensch. Gott hat auch mich im Auge. Ich will erlöst sein; warum sollte ich denn nicht jenes Einzige annehmen, wonach ich mit allen Kräften meiner Seele suche! Es ist unmöglich, daß ich sie (die Dogmen) nicht annehme, ich werde sie sicher anerkennen. Wenn meine Gemeinschaft mit der Kirche sie befestigt – um so besser. Nennt mir die Wahrheiten, so wie ihr sie kennt, sagt sie mir wenigstens so, wie sie in jenem Glaubenssymbol ausgesprochen sind, das wir alle auswendig gelernt haben. Wenn ihr fürchtet, daß ich sie infolge der Dunkelheit und Schwäche meiner Vernunft, der Verderbtheit meines Herzens nicht verstehen werde, so helft mir (ihr kennt diese göttlichen Wahrheiten, ihr, die Kirche, lehrt sie uns), helft meinem schwachen Verstande, aber vergeßt nicht, daß, was ihr auch immer reden möget, ihr immer doch zum Verstande reden werdet. Ihr werdet die göttlichen Wahrheiten in Worten ausdrücken und aussprechen, Worte aber kann man wiederum nur mit dem Verstande erfassen. Macht diese Wahrheiten meinem Verstande klar, weist mir die Nichtigkeit meiner Erwiderungen nach, erweicht mein hart gewordenes Herz durch ein alles besiegendes Mitleid und Streben zum Guten und zur Wahrheit, die ich in euch finden kann, aber fangt mich nicht mit Worten, durch absichtlichen Betrug, der die Heiligkeit der Sache verletzt, von der ihr redet. Mich rührt das Gebet der drei Einsiedler, von denen die Volkssage erzählt; sie beteten zu Gott: „Euer sind drei, unser sind drei, erbarmt euch unser.“ Ich weiß, daß ihr Gottesbegriff falsch ist, und doch zieht es mich zu ihnen hin, und doch möchte ich ihnen nacheifern, wie man lachen möchte, wenn man lachende Gesichter sieht, wie man gähnen muß, wenn man Menschen gähnen sieht, weil ich von ganzem Herzen fühle, daß sie Gott suchen und den Irrtum ihres Ausdruckes nicht erkennen. Aber Sophismen und absichtlicher Betrug, mit der Absicht, Unvorsichtige und Menschen von schwankendem Verstande in die Falle zu locken – das stößt mich ab.
In der Tat, es ist die Aufgabe, die geoffenbarten Wahrheiten über Gott, den Menschen, die Erlösung auszulegen. Die Menschen wissen das und anstatt nun das darzustellen, was sie wissen, stellen sie eine Reihe von unwahren Betrachtungen an, mit deren Hilfe sie uns davon überzeugen wollen, daß all das, was sie von Gott, vom Menschen, von der Erlösung sagen werden, so ausgedrückt sein wird, wie es sich gar nicht anders ausdrücken läßt, und daß es unmöglich ist, nicht an alles zu glauben, was sie sagen werden.
Es kann sein, daß ihr mir eine geoffenbarte Wahrheit mitteilen werdet; aber die Art und Weise, wie ihr an die Darstellung geht, ist dieselbe, mit der man an die Darstellung einer wissentlichen Lüge herangeht. Wir wollen also mit Fleiß die Wahrheiten selbst betrachten, worin sie bestehen und wie sie zum Ausdruck kommen.
11 Der vollständige Titel dieses Buches lautet: „Dogmatische Theologie der orthodoxen Kirche von dem Moskauer Metropoliten Macarius.“ Band I und II. In der Originalhandschrift Tolstojs ist das Jahr und die Ausgabe dieses Werkes nicht erwähnt, aber soweit wir nach den Hinweisungen auf die Seitenzahl, die vollständig mit der fünften Ausgabe vom Jahre 1895 (Petersburg) übereinstimmen und die wir zur Vergleichung der Zitate benutzt haben, urteilen können – hat sie seither keine Änderung erlitten. Anmerk. d. Übers.
Im Glaubenssymbol, im Sendschreiben der morgenländischen Patriarchen, im Katechismus des Philaret, in der dogmatischen Theologie – ist das erste Dogma – das Dogma von Gott. Die gemeinsame Überschrift des 1. Teiles lautet: „Von Gott an s ich selbst und von Seinem allgemeinen Verhältnis zur Welt und zum Menschen (θεολογία ἁπλῆ, d. h. elementare Theologie)“. Das ist die Überschrift des I. Teiles. Der II. Teil handelt „Von Gott, dem Erlöser und von Seinem besonderen Verhältnis zum Ges chlechte der Menschen (θεολογία οἰκονομική, – Die Lehre vom göttlichen Haushalt)“. Wenn ich irgend etwas von Gott weiß, wenn ich auch nur einen Begriff von Ihm hatte, so haben schon allein diese beiden Überschriften der beiden Teile mein Wissen von Gott zerstört. Ich kann meinen Gottesbegriff nicht mit einem Begriff von Gott vereinigen, für welchen zwei verschiedene Beziehungen zum Menschen bestehen: eine allgemeine und eine andre – besondere.
Der Begriff des „Besonderen“ auf Gott angewandt, zerstört meinen Begriff von Gott. Wenn Gott – der Gott ist, wie ich Ihn verstanden habe und verstehe, so kann Er kein besonderes Verhältnis zum Menschen haben. Aber vielleicht verstehe ich die Worte nicht richtig und vielleicht sind meine Begriffe falsch. Ich lese also weiter über Gott:
„1. Teil: Von Gott an sich selbst.“ Ich warte also auf einen Ausdruck für jene Wahrheit über Gott, die Gott den Menschen um ihrer Erlösung willen geoffenbart hat und die der Kirche bekannt ist. Aber bevor diese geoffenbarte Wahrheit zur Darstellung kommt, stoße ich auf den § 9, der von dem Grade unserer Erkenntnis Gottes gemäß der Lehre der Kirche handelt. Auch dieser Paragraph spricht ebensowenig wie die Einleitung von dem eigentlichen Gegenstand, sondern bereitet mich ebenso darauf vor, wie ich das zu verstehen habe, was weiter dargetan werden soll.
„Die orthodoxe Kirche eröffnet die ganze Lehre über Gott im Symbol des Glaubens mit den Worten: Ich glaube … und das erste Dogma, das sie uns einprägen will, besteht in folgendem: ‚Gott ist für die menschliche Vernunft unerreichbar; die Menschen können Ihn nur zum Teil erkennen – so weit, als Er selbst für gut hielt, Sich ihnen um des Glaubens und der Frömmigkeit willen zu offenbaren‘. Eine unwiderlegliche Wahrheit (S. 66).“
Für Menschen, die an eine solche Art der Darstellung nicht gewöhnt sind, muß ich erklären, (da ich es selber sehr lange nicht verstand), daß man unter der unwiderleglichen Wahrheit nicht verstehen müsse, daß Gott unerkennbar ist, sondern daß er erkennbar, jedoch nur zum Teil erkennbar ist. Die unwiderlegliche Wahrheit besteht darin, daß Gott unerkennbar und doch auch zugleich erkennbar ist, aber eben nur zum Teil . Das ist die Wahrheit. „Diese Wahrheit,“ heißt es weiter (S. 67), „ist in der Heiligen Schrift deutlich ausgesprochen und in den Schriften der heiligen Väter und Lehrer der Kirche ausführlich dargelegt und selbst auf Grund des gesunden Menschenverstandes einzusehen.“
„Die heiligen Bücher predigen einerseits: a) daß Gott in einem Lichte wohnet, da niemand zukommen kann, welchen kein Mensch gesehen hat, noch sehen kann“ (1.Tim. 6, 16); b) daß ferner nicht nur