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Mitte des 19. Jahrhunderts schuf sich die allgemeine Gier nach technischen Neuheiten und Nachrichten aus entferntesten Weltgegenden ein neues, eigenes Medium: Weltausstellungen. Ohne sie wäre der phänomenale Aufstieg des Krupp-Konzerns kaum denkbar gewesen. In dem hier vorliegenden Band wird zum ersten Mal umfassend dieser weitgehend unbekannte Teil der Wirtschaftsgeschichte reportagehaft erzählt. Damit öffnet sich zugleich ein Blick auf die Anfänge einer konsequenten Nutzung von PR- und Marketing-Instrumenten in Deutschland, lange bevor die heutigen Begriffe dafür zur Verfügung standen. Im 20. Jahrhundert nutzte das Unternehmen dann seine opulenten Jubiläumsfeiern konsequent für sein Reputationsmanagement. Und natürlich geht es auch um Schuld, Verstrickung und Untergang und Krupps gloriose Wiederauferstehung in der jungen Bundesrepublik. Dabei liefert der vorliegende Band nicht nur lebendige Reportagen, sondern auch ein detailliertes Quellen- und Literaturverzeichnis.
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Die im täglichen Leben selbstverständlichen Dinge werden doch kaum hinterfragt. Das war schon immer so, und umso mehr faszinieren die Konfrontationen mit den Geschichten, wenn sie haptisch präsentiert werden und nachhaltig innere Bilder malen.
Im heutigen Leben ist der Stahl überall präsent und es ist verblüffend, dass er erst vor etwas mehr als 150 Jahren, auf der ersten Weltausstellung 1851 in London in so einem Rahmen vorgestellt wurde. Die Weltausstellung, damit wird ein 2. Begriff positioniert, der sofort Präsenz aufruft, ohne dass allgemein die Geschichte bekannt ist.
Die ›Great Exhibition‹ 1851 in London war die erste internationale ›Publikumsmesse‹ und ein Pionier der medialen Kommunikation und Präsentation. Und der deutsche Unternehmer Alfred Krupp hatte das Gespür für die Werbewirksamkeit dieser neuen riesigen Publikumsplattform zur Präsentation seiner Stahlproduktionen. Die Ausstellung des 4.325- Pfund-Gussstahlblocks, dem damals schwersten der Welt, verschaffte dem Unternehmen nachhaltigen Weltruf und bis heute assoziiert man die Qualität von Kruppstahl auch für lange Zeit als Imageträger für die deutsche Industrie. Während der ›Great Exhibition‹ in London avancierte Krupp zum König der Stahlhersteller, als er das britische Unternehmen Turton & Sons in die Schranken verwies und damit das Mutterland der Industriellen Revolution. Die Briten waren davon überzeugt, dass sie mit ihrem ›Monsterpiece‹ von 2.400 Pfund den schwersten Gussstahlblock der Welt produziert hatten. Das änderte sich als Krupps Block, aufgrund logistischer Schwierigkeiten, erst nach der Eröffnung der Weltausstellung eintraf.
Und Krupp war bei genauer geschichtlicher Betrachtung nicht nur der Stahlproduzent, sondern er hatte die Werbeplattform ›Weltausstellung – Expo‹ erkannt und in der Folge 1855 in Paris, 1862 wieder London, 1867 wieder Paris und 1873 in Wien strategisch genutzt. Zur 10. Weltausstellung 1889 wurde in Paris der Eiffelturm – die ›Alte Eisendame‹ erbaut.
Die Krupp-Stahlblöcke wurden nach 1851 immer größer und die Kanonen aus Kruppstahl präsentierten beispielhaft auch die operativen Anwendungen, auf denen der Erfolg des Konzerns sicherlich bedeutsam gewachsen ist.
Die beispielhafte Historie dieser Event- und Produkterfolgsgeschichte hat Axel Schnell entdeckt und in diesem Buch facettenreich tiefgreifend erzählt. Seine Analysen und umfassenden Erzählungen rufen sofort innere Bilder beim Leser auf. Und als ich dieses Buch gelesen habe, wurde ich sofort daran erinnert, wie intensiv mich seine journalistischen und intensiven öffentlich medialen Aktivitäten auch zu Zeiten der Weltausstellung 2000 in Hannover erreicht und begleitet haben.
Der Brückenschlag – ›natürlich auch aus Stahl‹ – seiner Analysen kann sicherlich als ein strategischer Impfkristall für die modernen Marketing- und PR-Bausteine betrachtet werden.
Und hier greift Axel Schnell in seiner Betrachtung auch analytisch die hocheffektiven Arbeiten von Carl Hundhausen, dem legendären Chefkommunikator des Krupp-Konzerns auf. Und der einmalige Brückenschlag vom Stahl zur Weltausstellung zur modernen professionellen Marketingstrategie – natürlich als strategische Führung einer Unternehmung vom Markt her – hinterlässt beim Leser tiefe innere Bilder und macht Lust auf mehr.
Dr. Thomas Borcholte, Marketing- und Vermarktungschef der Expo 2000 in Hannover
Die erste Expo aller Zeiten im Jahr 1851 in London soll vor allem eins: Von Britanniens Ruhm und seiner industriellen Größe künden. Der Welt soll vor Augen geführt werden, wer die wahre Nummer eins ist.
Von knapp 80.000 Quadratmetern Ausstellungsfläche im Kristallpalast belegen Großbritannien und Irland mehr als 46.000 Quadratmeter und fast 4.000 noch einmal die britischen Kolonien. Von rund 17.000 Ausstellern kommen 7.200 aus Großbritannien und Irland, rund 1.300 zusätzlich aus den Kolonien. Der Zollverein und die norddeutschen Staaten stellen dagegen gerade 1.720 Aussteller auf knapp 7.600 Quadratmetern.
Doch der deutsche Fabrikant Alfred Krupp (1812-1887) stiehlt den Briten auf seinem Gebiet die Show. Während der ›Great Exhibition‹ avanciert Krupp zum König der Stahlhersteller, als er Turton & Sons abhängt. Das Unternehmen hatte stolz sein ›Monsterpiece‹ präsentiert, den mit 2.400 Pfund schwersten Gussstahlblock der Welt. Krupp vermutet, dass er selbst Turton auf diese Idee gebracht hat ›denn ich habe in Berlin davon gesprochen, als er da war.‹1
Turton liefert rechtzeitig. Krupps Block ist aufgrund logistischer Probleme nicht zu Beginn der Weltausstellung eingetroffen, was ihn aber nicht wesentlich bremsen kann. ›Ich habe gesagt, so Stückchen machen wir alle Tage‹, erklärt er selbstbewusst. Er wolle den ›Großpapa‹ der Gussstahlblöcke schicken. Nicht alle nehmen das ernst.
Das ändert sich, als der ›Großpapa‹ dann tatsächlich eintrifft – er wiegt 4.325 Pfund. An dem extrem aufwendigen Fertigungsprozess waren mehrere hundert Arbeiter beteiligt gewesen. Der Stahl für den Block musste in 84 Tiegeln geschmolzen und zusammengegossen werden. Krupp belohnt Adalbert Ascherfeld, der die Produktion möglich machte, außerordentlich großzügig. Krupps Teilhaber und Jugendfreund Fritz Sölling darf davon besser nichts wissen.2 Aber der Einsatz lohnt sich. ›Alle Techniker sind darüber einig, dass der kruppsche Gussstahl jetzt der erste der Welt ist‹, schreibt die ›Allgemeine Zeitung‹ aus Augsburg am 18. Juni. Krupp erhält dafür die höchste Auszeichnung, die Council Medal. Ganze 170-mal wird der begehrte Preis verliehen – bei 17.000 Ausstellern. Solche Auszeichnungen sind zur Anbahnung weiterer Kundenbeziehungen außerordentlich hilfreich, weil sie die Qualität eines Produkts bestätigen. Zudem sieht Krupp früh die Chance, die Weltausstellung als Fenster zur Welt, als Werbung für seine Erzeugnisse und zur Anbahnung von Kundenkontakten zu nutzen. Überhaupt hält Krupp viel von direktem Kontakt, auch wenn dafür aufwendige Reisen nötig sind. Dies sei trotz ›Anerkennung des Fabrikats‹ notwendig, denn ›die Leute wollen heutzutage angesprochen sein, was die Engländer, die immer auf der Achse sind, wohlweislich beherzigen.‹3
Andere sehen das Engagement des 39-Jährigen bei der ›Great Exhibition‹ skeptischer, wie Krupps Teilhaber und Jugendfreund Fritz Sölling: ›Von der Bewunderung der allerhöchsten Potentaten und wenn selbst der Kaiser des himmlischen Reiches dabei wäre, werden wir nicht fett, wohl aber sehr mager (im Beutel), wenn wir darauf warten müssten, bis uns die Bewunderung was einbringt.‹4 Erfolg schlägt sich für Sölling in Zahlen und Einnahmen nieder, nicht in Reputation. Kenner vermuten daher auch, dass Sölling vorab nicht wirklich alles über Krupps Pläne zum Gussstahlblock in London wusste. Andere Unternehmer scheuen diese Veranstaltungen nicht nur aus Kostengründen, sondern weil sie den direkten Vergleich mit der Konkurrenz fürchten. Krupp hingegen betreibt ein intensives Messewesen. Dabei beweist er ein gutes Gefühl für spektakuläre Blickfänger und Ereignisse, mit denen er die Präsentation seiner Walzen und anderer Produkte aufpeppt. Zur ›Great Exhibition‹ bringt er neben dem Gussstahlblock noch eine weitere Sensation mit: einen Sechspfünder aus Stahl, ausgestellt in einer Szenerie mit Militärzelt und Brustharnischen. Zuvor wurden alle Kanonen aus Bronze gegossen.
Dieser kruppsche Beitrag dürfte die Jury aber auch noch aus einem anderen Grund überrascht haben, denn eigentlich soll die Weltausstellung Produkte präsentieren »(which) add to the comforts and enjoyments of life‹5 und keineswegs Kanonen. Zudem ist die Kanone ein nicht geprüfter Prototyp und erst die zweite, die Krupp hergestellt hat. Trotzdem erregt sie unter anderem die Aufmerksamkeit des preußischen Militärs und seines Artilleriegenerals.
Krupps Rechnung ist – wieder einmal – aufgegangen. Aber nicht nur die Preußen, sondern ›alle anwesenden Fürsten mit Einschluss der Königin von England und Don Miguel von Portugal haben sich an unserer Krämerbude ergötzt‹, freut sich Krupp. ›Unsere Ausstellung wird fast am meisten bewundert.‹6 Der mehrsprachige ›Morning Chronicle‹ berichtet am 3. Juli 1851, Prinz Albert habe ›mit sichtlichem Interesse‹ an Krupps Stand geweilt und sich mit dem Unternehmer unterhalten, dessen ›Gussstahl im rohen und verarbeiteten Zustande auf der Ausstellung eine so hervorragende Stellung einnimmt.‹7
Krupp bedankt sich bei dem Prinzen. Dieser habe es – als ein wichtiger Urheber der Weltausstellung – ermöglicht, dass Krupps Unternehmen auch in England ›Anerkennung‹ gefunden habe, die von direktem Nutzen für seine Firma gewesen sei. Er gehöre ›zudenjenigen Ausstellern, die großen Erfolg erzielt hätten.‹ Die Attraktionen lenken auch die Aufmerksamkeit auf die anderen Produkte. So berichtet der ›Morning Chronicle‹ am 14. Oktober 1851 über die ›rolling machinery of M. Krupp‹, ›with some cast steel rollers shown in the main avenue, which attracted great attention from their perfect soundness and excellent finish.‹8
Höchstes Lob bekommt Krupp auch von der Ausstellungsjury für seine Kanone, die sie als ›remarkable beauty of the workmanship of the piece of ordnance‹9 würdigt. Und der Londoner ›Observer‹ schreibt über das Geschütz, es sei ›a piece of workmanship he may well be proud of, and shows to what perfection of hardening and density the metal can be brought.‹ Die ›Illustrated London News‹ würdigt die Ästhetik der Kanone, die sie als ›beautiful steel canon‹ bezeichnet. Auch für die deutsche Ausstellungskommission ist die Kanone eher ein ästhetisches als ein artilleristisches Ereignis, daher wird sie in den Rang eines ›wahren Kunstwerks‹10 erhoben.
Der ›Belfast News-Letter‹ vom 11. Juni 1851 feiert das Geschütz mit ›every part of it is as brilliant as silver‹ und schreibt zum Gussstahlblock, dieser sei ›a rare speciman of the fine quality of the Prussian metal and of a superior manufacture.‹11
Der 39-jährige Industrielle ist an große Herausforderungen gewohnt. Mit 14 hat er von seinem Vater Friedrich Krupp die ›Großstahlfabrik Krupp‹ geerbt – inklusive der sieben Angestellten und 10.000 Taler Schulden. 1824 stirbt Friedrich Krupp mit nur 39 Jahren an Tuberkulose. Sein ältester Sohn Alfred bricht daraufhin die Schule ab und übernimmt ohne Lehre den väterlichen Betrieb.12 1850 beträgt der Umsatz mehr als 140.000 Taler. 1849 beschäftigte Alfred Krupp 109 Menschen, 1850 sind es 241.13
Den Durchbruch bringt das Eisenbahngeschäft, in dem Krupp früh den Markt der Zukunft entdeckt. Um 1850 bestellen Bahngesellschaften die ersten Achsen bei ihm. Aber er ist nicht nur ein großer Unternehmer, sondern auch ein bedeutender Erfinder. Im Jahr der ersten Weltausstellung entwickelt er neuartige Radreifen für Eisenbahnen, die den herkömmlichen an Qualität deutlich überlegen sind.
Für Krupp läuft alles gut. Aber diese Expo scheint zunächst unter keinem guten Stern zu stehen – zumindest, was das Wetter betrifft. Es regnet in Strömen. Ununterbrochen, acht Tage lang. ›It’s raining cats and dogs‹ heißt das lakonisch, was in England für Dauerregen steht. Keinen Hund mag man in diesen Apriltagen des Jahres 1851 vor die Tür jagen. Kein gutes Zeichen für die ›Great Exhibition‹, die am 1. Mai 1851 beginnen soll. Noch am Vorabend scheint keine Besserung des Wetters in Sicht zu sein. Der Auftakt zur ersten Weltausstellung aller Zeiten droht ins Wasser zu fallen. Die letzte Hoffnung besteht darin, dass auch der 1. Mai ein ›Queensday‹ werden würde, denn wenn die Queen öffentlich auftritt, bessert sich das Wetter.
Die Hoffnung trügt nicht: Schon am Morgen heitert es so auf, dass blauer Himmel zwischen dem tagelangen Wolkeneinheitsgrau zu sehen ist. Nach einem letzten Schauer bricht sich die Sonne gegen elf Uhr endgültig Bahn und bescheint die ›World’s fair‹ mit ihren Strahlen. Urplötzlich ist es warm, heiter und trocken. Die Menschen machen sich auf den Weg. Mehr als 2,3 Millionen Einwohner hat London. Die Hälfte davon scheint an diesem Tag auf den Beinen zu sein. Omnibusse mit dem Ziel ›Great Exhibition‹ sind hoffnungslos überfüllt. Viele gehen zu Fuß.
Ein Strom aus Menschen und Wagen ergießt sich über die Straßen in Richtung des Ausstellungsgeländes im Hyde Park. Zeit haben sie genug, denn am 1. Mai 1851 – dem traditionellen Frühlingsfeiertag – ruht die Arbeit aus Anlass der Weltausstellung ganztägig. Und die Bevölkerung macht sich auf den Weg ins Grüne, den Hyde Park.
Die Eröffnungszeremonie im Crystal Palace beginnt mit dem von Trompetenfanfaren angekündigten Einzug der Königin und ihrer Familie. Sie und der engere Hofstaat nehmen Platz unter einem Baldachin in der Mitte des Kristallpalastes. Nach dem Absingen der Nationalhymne liest Prinz Albert den Rechenschaftsbericht der Royal Commission der Royal Society of Arts vor, einem Zusammenschluss von Bankern und Industriellen, der die treibende Kraft hinter der Weltausstellung ist. Prinz Albert hat sich für das Projekt stark gemacht. Ziel ist es, die ›Industrie-Erzeugnisse aller gebildeten Völker der Erde zu einer vergleichenden Zusammenstellung zu vereinigen‹14, um dort die künstlerische und industrielle Entwicklung ›der ganzen Menschheit durch Proben ihrer Erzeugnisse‹ zu präsentieren.
Die Queen spricht anschließend nur kurz. Es folgt eine beeindruckende religiöse Zeremonie. Aus allen Ecken der Halle erklingt Orgelmusik und ein Chor mit 600 Sängern singt das ›Halleluja‹ aus Händels Messias. Freiherr von Bunsen, preußischer Diplomat und Gelehrter, berichtet seinem König Friedrich Wilhelm, dass ›wenige Augen trocken geblieben seien, als die Worte erklangen: King of Kings! Lord of the Lords And now the Kingdoms of the Earth are the Lords‹.
Von Bunsen weiter zu der Eröffnungsveranstaltung: ›Eine hörbare Stille schwebte über dem Ganzen: jeder fühlte, dass er einen einzigen Moment der Weltgeschichte erlebte, viele, dass diese Weihe der Pracht der Erde ein Weltopfer war.‹15 25.000 Zuschauer im Kristallpalast erleben diese Zeremonie. Queen Victoria erinnert sich später in ihrem Tagebuch:
›The tremendous cheering, the joy expressed in every face, the vastness of the building, with all its decorations and exhibits, the sound of the organ ... and my beloved husband, the creator of this peace festival ‘uniting the industry and art of all nations of the earth’, all this was indeed moving, and a day to live for ever.‹16
Wer nicht in den Kristallpalast kommt, macht es sich im Hyde Park bei einem Picknick bequem, klettert auf Bäume oder umliegende Hausdächer. Schier unübersehbar sind die Menschenmassen auf dem grünen Rasen. Schon am Vortag haben die Massen den Kristallpalast belagert und massiv die letzten Phasen des Aufbaus behindert. Die ›Great Exhibition‹ ist schon lange Gesprächsthema Nummer eins in London, die Zeitungen sind voll davon, es gibt Exhibition-Hüte, Weltausstellungszigarren, entsprechenden Tee, Puddings und Streichhölzer. Souvenirs mit Abbildungen des Kristallpalastes auf Schnupftüchern, Dosen, Briefpapier und anderen Gegenständen werden gehandelt – so viel Rummel gab es noch nie.
Der Kristallpalast selbst repräsentiert auf seine Weise diese ›Pracht der Erde‹. Die ›Times‹ schreibt am 2. Mai begeistert:
›Über den Besuchern erhob sich eine glitzernde Wölbung, höher und weiter als die Gewölbe selbst unserer edelsten Kathedralen. Nach jeder Richtung hin schien der Ausblick fast unbegrenzt zu sein.‹17
Wände und Dächer des 563 Meter langen und 124 Meter breiten Palastes sind aus Glas. Für die rund 83.000 Quadratmeter Glasfläche wurden 270.655 Scheiben benötigt – 30 Prozent der englischen Jahresproduktion. Aufgrund der neuartigen Bauweise aus vorgefertigten Eisengittern und Glassegmenten dauerte der Bau, der viermal größer ist als der Petersdom, nur sechs Monate. Das Gebäude besteht aus drei Langschiffen, die in der Mitte von einem Querschiff (Transept) geteilt werden.
Errichtet hat es Joseph Paxton, eigentlich ein Spezialist für Gewächshäuser. 1840 errichtete er mit dem Riesengewächshaus ›Great Conservatory‹ mit 85 Metern Länge, 40 Metern Breite und 20 Metern Höhe das bis zur Errichtung des Kristallpalastes größte Glasgebäude der Welt.
Paxton war erst nach Abschluss eines internationalen Wettbewerbs zum Zug gekommen: 233 Entwürfen, die allesamt das Budget überschritten hatten. Der Kristallpalast markiert einen neuen Abschnitt der Architekturgeschichte, und es ist nicht viel prophetische Gabe nötig, um zu sagen, dass damit eine neue Ära von Bauten aus Eisen und Glas beginnen wird. So sieht es auch Charles Dickens, der von einer neuen ›Ära der Baukunst‹ spricht. (›From it will at least be dated a new era in building.‹) Der preußische Journalist und Politiker Lothar Bucher beschreibt die fast impressionistische Anmutung, die ihn an die Malerei Turners erinnert:
›Wir sehen ein feines Netzwerk symmetrischer Linien, aber ohne irgendeinen Anhalt, um ein Urteil über die Entfernung desselben von dem Auge und über die wirkliche Größe seiner Maschen zu gewinnen. Die Seitenwände stehen zu weit ab, um sie mit demselben Blick erfassen zu können, und anstatt über eine gegenüberstehende Wand streift das Auge an einer unendlichen Perspektive hinauf, deren Ende in einem blauen Duft verschwimmt. Wir wissen nicht, ob das Gewebe hundert oder tausend Fuß über uns schwebt, ob die Decke flach oder durch eine Menge kleiner paralleler Dächer gebildet ist; denn es fehlt ganz an dem Schattenwurf, der sonst der Seele den Eindruck des Sehnervs verstehen hilft.
Lassen wir den Blick langsamer wieder hinabgleiten, so begegnet er den durchbrochenen blau gemalten Trägern, anfangs in weiten Zwischenräumen, dann immer näher rückend, dann sich deckend, dann unterbrochen durch einen glänzenden Lichtstreif, endlich in einen fernen Hintergrund verfließend, in dem alles Körperhafte, selbst die Linie verschwindet und nur noch die Farbe übrig bleibt (...). Der Lichtstreif, der die perspektivische Reihe der Träger unterbricht, ist das Querschiff. Es ist nüchterne Ökonomie der Sprache, wenn ich den Anblick desselben unvergleichlich, feenhaft nenne. Es ist ein Stück Sommernachtstraum in der Mittagssonne.‹18
Im Innern des Palastes verleihen Ulmen, Palmen, tropische Gewächse und Springbrunnen dem Ganzen zusätzlich eine märchenhafte Atmosphäre. Die Ulmen wuchsen schon im Hyde Park, der Architekt hat sie einfach mit dem teilweise 30 Meter hohen Palast überdacht. Queen Victoria zeigt sich angesichts des Gebäudes als von ›Ehrfurcht‹ erfüllt und spricht von einer ›Fairy Scene‹. Auch Lothar Bucher kann sich dem Zauber nicht entziehen:
›Umher ein Garten von Allem, was die Sonne an Duft und Farben schafft, Zedern vom Libanon, (...) Palmen aus der Südsee, Orchideen vom Amazonenstrom, die prahlerische Aloe vom Atlas und die schweigsame Kamelie von Japan. Und darüber ausgegossen ein Meer grünlichen Lichtes, von dem Zittern des durchsichtigen Laubes gekräuselt.‹19