Kunsthändler der Mafia - Ben Raave - E-Book

Kunsthändler der Mafia E-Book

Ben Raave

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Beschreibung

Kunstkrimi Tilo Parker beendigt sein künstlerisches Studium mittendrin, um sich an einer Journalistenschule zum Kunstjournalisten ausbilden zu lassen. Danach avanciert er blitzschnell zum Medienstar, und er wird Teamleiter bei einer Organisation, die sich auf Geldwäsche mit Kunstwerken spezialisiert hat.

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„Der Glaube an Unsinn ist der Preis, den wir für Kreativität zahlen müssen.“ (Brugger; SZ 24.05.2011; „Wissen/Grenzen der Erkenntnis.“).

Die weltweiten Geschäfte der ‚Organisierten Kriminalität‘ belaufen sich derzeit auf etwa 1,5 Billionen Dollar pro Jahr, Tendenz steigend.

Laut einer Studie der Kunstmesse TEFAF wurden im Jahr 2014 rund 51 Milliarden Euro für Kunstwerke umgesetzt. Allein das Ölgemälde „Les femmes d’Alger“ (Picasso) erzielte bei einer Auktion – am 12.05.2015 in New York – den Kaufpreis von knapp 80 Millionen Dollar.

Liberalisierungen im Welthandel machen es straff organisierten Undercover-Gruppen oft sehr leicht, ihre wahren Absichten zu verschleiern.

Übereinstimmungen mit Personen, Handlungen oder Ereignissen wären rein zufällig. Zufälle gehören jedoch zur Wirklichkeit.

Inhaltsverzeichnis

Teil I

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Teil II

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Teil III

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Teil IV

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

I

1

Der Schreck fuhr ihm in die Knochen.

„Scheißklingel!!! …“, fluchte Tilo Parker. Legte den Roman beiseite. Zog das neue Tweedsakko an. Öffnete missgelaunt die Wohnungstür. Löschte das Licht. Fußballerte die gepackte Reisetasche in den Flur. Ging dann selbst hinaus. Grapschte nach dem Tragegriff der Tasche. Hob sie widerwillig hoch. Schloss die Wohnung ab; draußen auch die Haustür noch. Sah den Taxifahrer an. Grüßte bärbeißig. Ließ neben ihm die Tasche auf den Boden plumpsen. Und setzte sich, während sie im Kofferraum verstaut wurde, auf den Beifahrersitz.

Kurz danach stieg auch der Taxifahrer ein.

„Na? Wohin darf’s gehen?“

„Hauptbahnhof!!!“

„Schlecht gelaunt?“

Tilo Parker guckte fragend.

„Entschuldigung! Aber Sie wirken irgendwie … gereizt. So war’s!

Tilo Parker hatte miese Laune: der bevorstehenden Bahnfahrt wegen. Lieber wäre er mit seinem Pkw gefahren. Das aber hatte den Taxifahrer nicht zu interessieren. Sodass Stille zwischen beiden herrschte, bis sie vor dem Bahnhof angekommen waren.

„Behalten Sie den Rest“ und „Tschüss“ waren die wenigen Worte, zu denen Tilo Parker sich bequemte. Kurz darauf, als er das Bahnabteil betrat, war er wie ausgewechselt. Und für gut hielt er es nunmehr, zu dieser späten Stunde nicht hinter dem Steuer seines Wagens sitzen zu müssen. Er drückte seine Reisetasche in die Gepäckablage. Setzte sich. Schlug die Beine überquer. Schaute durch das Fenster und betrachtete das triste Bahnhofsambiente.

Etwas Außergewöhnliches entdeckte er aber nicht. Nur das weiße Zifferblatt der Bahnsteiguhr erregte sein Interesse. „Die Uhr ist wichtig! Nicht die Zeit!“, flüsterte er, während der Sekundenzeiger gerade auf die Zwölf zulief und, wider Erwarten, auf diesem Index stehen blieb; und zwar so lange, bis der Minutenzeiger seinen Zentralimpuls erhielt und der mutmaßliche Zeitstillstand beendet wurde.

Punkt 23 Uhr 30 ruckte es. Der Zug – er stand zu diesem Zeitpunkt im Hamburger Hauptbahnhof – fuhr pünktlich ab.

Wenn alles so perfekt zusammenpasst, dachte Parker, dann sitze ich, zweifelsfrei, nicht im falschen Zug! Zufrieden machte er die Beine lang. Entnahm der Sakkoinnentasche die abgerissene und zusammengelegte Feuilletonseite, faltete sie auseinander und las den Bericht, für den er bislang noch keine Zeit gehabt hatte. Er überflog die Zeilen aber nur, weil das Wesentliche …: die VIA'MODERNA macht den traditionellen Kunst-Großausstellungen den Rang streitig! … seit Langem durchgesickert war. Knüllte danach die Seite zusammen. Stopfte sie in den kleinen Abfallbehälter. Und betrachtete die Dinge, die im schnellen Wechsel an seinem Fenster vorbeiflogen. Stahlfachwerke. Leitungsdrähte. Graffitikünste. Lichte Flächen. Überwege. Hinterhöfe. Schienenstränge. Und kleine helle Punkte in der Ferne, die auf Ausfallstraßen schließen ließen. Manche waren gekrümmt. Andere kerzengerade wie Lineale!

Tilo Parker, ansonsten vorausschauend und ideenreich, hätte es nicht für möglich gehalten, solche vorbeihuschenden Bilder – Gattungsbegriff Snapshots – vier Jahre später in kunstgeschichtlich relevanten Publikationen wiederzufinden.

Unversehens wurde das Dahinter schwarz, und das Fenster verwandelte sich in einen Spiegel. Parker betrachtete sein Portrait auf diesem; dann auch noch das reflektierte Interieur und kämpfte gegen die Langeweile an. Er hasste es, ohne Beschäftigung zu sein. „Dann befass dich mit dem Text und denk über die Bedeutung dieser Wortmixturen nach! Es ist die beste Zeit dafür“, sagte er. Und dringlich war’s zudem! Weil in anderthalb Stunden, in Hannover, Joe Nesto zusteigen würde, dem er die Ergebnisse der gedanklichen Vorarbeit zu unterbreiten hätte. So jedenfalls war es zwischen ihnen telefonisch vereinbart worden. Tilo Parker wusste, dass seine bisherigen Einschätzungen auf tönernen Füßen standen. Oberflächliche Sinndeutungen waren es, die von Unwägbarkeiten nur so strotzten. Nichts davon wäre zu verwenden! Und das, was von Joe hierzu bereits angedeutet, aber nicht bestätigt worden war, hatte die Verwirrung nur noch größer gemacht. Material, das auf Fakten beruhte und für geeignete Vorwegmaßnahmen tauglich wäre, war demnach noch immer nicht vorhanden. Alles war rätselhaft geblieben. Und nirgends waren Kausalzusammenhänge zu erkennen. Nur die Neugier brannte, nach wie vor. Außerdem ging Tilo Parker davon aus, Joe habe es nicht wirklich so gemeint, als er während des letzten Telefonats von zweckdienlichen Vorschlägen gesprochen hatte. Vornehmlich von solchen, „die“, wie er betonte, „verwertbar für die Tagung sind.“ Ausgerechnet ich, der nicht den leisesten Schimmer von der Chose hat. Beisteuern könnte ich nichts. Anekdoten und Gerüchte allenfalls. Gerede also, das Joe sicher nicht für bare Münze nehmen würde. „Unglaubwürdig“, wäre wohl sein Kommentar dazu. Mehr nicht. Zu Recht! Obwohl das Negative überwog, blieb Tilo Parker optimistisch; und er machte seiner Zuversicht Avancen. Sein momentaner Aufenthaltsort begünstigte diesen Flirt, brachte ihn sogar zum Lachen. Denn ein Zugabteil für konspirative Besprechungen zu nutzen, um die Resultate dieser Gespräche für die anstehende Tagung dispositionsfähig zu machen, kam ihm wie ein Akt in einem Krimi vor. Je länger er darüber nachdachte, desto mehr trübte sich jedoch alles wieder ein. Und zu guter Letzt glaubte er sogar, dass dieser emotionale Abwärtstrend ein schlechtes Vorzeichen für den Verlauf der Tagung wäre: Das Schlimmste, was er zu befürchten hätte.

Um diese Sorge zu übertünchen, hielt er es für angebracht, sich nochmals mit jenem Einladungsschreiben zu befassen. Zudem hoffte er, die darin vermuteten Geheimcodes nun endlich zu enträtseln. Und hierdurch Anhaltspunkte zu bekommen, die zufriedenstellender wären als die letzten. Daraufhin erhob er sich. Blickte zur Reisetasche. Überlegte kurz. Öffnete den Reißverschluss des Seitenfachs. Zog den DIN-A4-Umschlag heraus. Entnahm diesem das vierseitige Einladungsschreiben. Und setzte sich wieder.

Anstatt die erste Seite aufzuschlagen und sich mit der rätselhaften Formulierung zu befassen, blickte er zuerst das Deckblatt an: Der typografischen Gestaltung wegen, die ihn nach wie vor über alle Maßen faszinierte. Schriftzeichen waren es zwar nur, die sich hier zu Zeilen reihten, aber so verlockend kombiniert, dass sie sexy wirkten.

Nun schon wieder derart heftig darauf zu reagieren, konnte er kaum fassen. Aber es kribbelte, genauso wie beim Küssen. Sich von Buchstaben erregen lassen? Warum nicht? Nur werde ich’s für mich behalten müssen! Denn keiner Menschenseele möchte ich je anvertrauen, dass eine zehn Millimeter hohe Schrift mit dem Namen ‚Futura fett‘ erotisch auf mich wirkt; und niemand wird je von mir erfahren, dass ihr mageres Gegenstück in Großbuchstaben, aber ums Doppelte größer und nach rechts geneigt, ebensolche Sinnenfreuden in mir weckt. Sogar die haarfeinen Linien, die lediglich ein leeres Feld umranden, schießen mir wie Liebespfeile durch das Herz. Zudem sind sie – was speziell den Druckfachmann oder die Druckfachfrau erfreuen würde – ohne Schmitz gedruckt.

Ganz unten, fast an der Kante und rechts von der Mittelachse angeordnet, wies ein ausgestanzter Pfeil mit seiner Spitze auf die nächste Seite hin. Tilo Parker folgte dieser Weisung. Er blätterte um. Und las danach die Wörter, deren hintergründigen Sinn er noch immer nicht enträtselt hatte:

SCHWANENJAGD IN BUDAPEST EINBERUFUNG ZUM FORUM FÜR ARTISPRUDENZ DER MUSAGET

Vermutlich – so ging’s ihm nunmehr durch den Kopf – ist das eigentlich Gemeinte mit Vorbedacht so schräg verklauselt worden, auf dass es unverständlich bleibe; vielleicht, um die Neugier auf das Bevorstehende anzustacheln oder um besonders hohe Erwartungen daran zu knüpfen. Egal …, was auch dahintersteckte. Nichts war geklärt; alles noch offen! Vor allem für ein Denkergebnis, das später nicht angezweifelt werden müsste! Allein deshalb dachte er aufs Neue über die Bedeutung dieser Wörter nach. Nicht von Anfang an, wie ehemals. Er suchte sich nunmehr, nur so aus Spaß, das achte Wort von vorn dafür heraus. Unterteilte es – speziell das hatte er bislang noch nie getan – in Art und Prudenz. Und übersetzte beide Substantive ins vertraute Deutsche. Art gleich Kunst, wiederholte er im Stillen; und Prudenz gleich Erfahrung, Einsicht, Wissen. Legte beides zu seinen Gunsten aus … und stellte danach selbstzufrieden fest: Schließlich bin ich Kunstjournalist! Meinen Kolumnen fehlt es nie an feinem Witz, obzwar das Sachliche stets den Vorrang dabei hat! Affären, durch die mein Renommee gelitten hätte, die gibt es bei mir nicht! Auch meine Kompetenzen werden, anerkanntermaßen, weit und breit geschätzt. Und deshalb hat man nun, wohl dieser Gesichtspunkte wegen, an mich gedacht! Ebenso an Joe. Sowie an all die anderen, die auch noch eingeladen worden sind. Ach was! Einberufen! … wie es hier in diesem Schreiben heißt. Genau! Einberufen werden wir, wie die Mitglieder eines Parlaments. Ein Parlament für die Kunst? Weshalb denn nicht!? Jawohl: eine Volksvertretung für die Kunst! Und ich bin Angehöriger dieses Parlaments!

Eigentlich hasste Tilo Parker Selbstgefälligkeit. Doch dieses Mal nahm er die stille Wertschätzung, die ihm sein Alter Ego zugestand, an.

Der Musaget – der Freund der schönen Künste also – blieb aber, nach wie vor, ein Rätselwesen. Nichts – absolut nichts! – wies auf irgendwelche Initiatoren hin. Parker überlegte, urteilte, glaubte. Meinte, grübelte, bildete sich ein. Sah das eine oder andere als gegeben an. Doch alles war und blieb: Spekulation! Auch der erhoffte Geistesblitz schlug nicht bei ihm ein. Und Budapest? Als Reiseziel? Vermutlich nur ein Scherz! Oder bloß ein Zufallswort, das auf keinen ernst gemeinten Angelpunkt verweist; gegebenenfalls nach Brisantem dürsten lässt, das erst am Bestimmungsort bekannt gegeben wird. Und zwar in München!, dem wahren Ziel der Reise.

Noch größeres Kopfzerbrechen bereitete ihm der Ausdruck Schwanenjagd. „Ein blödes, ein saublödes Kompositum“, nuschelte er. Vom Ehrgeiz gepackt, versuchte er es noch einmal: reinigte den Begriff von der Bedeutungsschlacke; blieb unvoreingenommen; dachte messerscharf. Aber wieder blieb ihm ein annehmbares Resultat versagt. Dieses Wort verweigerte sich dem Reim, den Parker darauf finden wollte. Sodass es töricht wäre, länger nach einem Nebensinn zu suchen. Vernünftig schien es ihm vielmehr, jenes mutmaßliche Zauberwort lediglich als simplen Anreiz zu betrachten. Einen, der die Neugier der Angeschriebenen weckt und sie, in möglichst großer Zahl, hin zu diesem Forum lockt; aber deren Wissensdrang so lange zeitlich dehnt, bis der, am Reiseziel, befriedigt werden wird: indem dann endlich Klarheit in das Nebulöse kommt. Diese Möglichkeit hatte er noch nie erwogen, erst recht nicht über die Gründe dafür nachgedacht. Einfältig wäre es jedoch, die tatsächlichen Absichten durch überspannte Hypothesen zu ersetzen und, kraft spinniger Eventualitäten, vorweg Urteile zu fällen oder falsche Entscheidungen zu treffen.

„Nun ja“, flüsterte Tilo Parker, „gerade wegen dieser ungeklärten Fragen musste ich mich ja für diesen Zug entscheiden! Um später, unter Mitwirkung von Joe, alles nochmals neu zu überdenken. Und zwar unter Einbeziehung seines Wissens, das nunmehr auf den neuesten Stand gebracht sein wird, sodass endlich Klarheit in die Sache kommt. Und hätte Joe das Ganze erst einmal erhellt“, so Parkers leiser Monolog, „wäre auch unsere Position gestärkt. Schließlich will sich keiner von uns beiden später bei den Fachgesprächen als Einfaltspinsel zu erkennen geben!“

Tilo Parker steckte das Glanzstück grafischer Gestaltungskunst wieder in den DIN-A4-Umschlag. Legte ihn auf die Oberschenkel. Faltete auf dem Großkuvert die Hände. Grübelte, womit er sich im Weiteren die Zeit vertreiben könnte. Und blickte dabei auf die Fensterscheibe. Schon wieder sich und auch das Interieur auf dieser Spiegelfläche zu betrachten, langweilte ihn wie bereits zuvor. Nach anderen visuellen Reizen suchend, schaute er hierhin, dorthin und zuletzt auch tief in sich hinein: … Wäre ich Kapitän in der Binnenschifffahrt, Geflügelzüchter oder Bankkaufmann geworden, dann könnte ich nun in der Falle liegen! Aber nein! Kunstjournalist musste es damals sein! Welcher Pferdefuß hatte mich da bloß getreten? Sich mit Selbstanklagen zu belasten, kam ihm albern vor. Bloß das nicht, dachte er. Aber endlich einmal Rückblick in die Jahre zu halten und nach den Triebfedern zu suchen, die einst seine Liebe zu den bildenden Künsten und zu seinem jetzigen Job maßgeblich begünstigt hatten, reizte ihn doch sehr. Daraufhin versetzte er sich gedanklich so weit zurück, bis der erste Beweggrund, der mutmaßliche, in die Erinnerung einschwenkte. Und sich all das cineastisch zu entfalten begann, was dazugehörte; vor allem aber der Realität entsprach …

Er, damals zwölf, war der Hauptakteuer in dieser Szenenfolge. Und als Nebendarsteller tauchte Fjodor Amselstein auf: der Forstingenieur. Jener, ein Zweimetertyp mit dunkelblondem Bürstenschnitt und immer freundlich, brachte gelegentlich ein im Wald entsorgtes Fahrrad mit. Aber nicht allein der Wald-Ästhetik war diese Tat geschuldet; er befriedigte damit eine Leidenschaft. Amselstein, der auch ein hervorragender Illustrator oder Grafiker geworden wäre, verwendete diese Räder als Vorlagen für zeichnerische und malerische Wiedergaben, denen er auf den Zeichenblättern stets eine Stofflichkeit verlieh, die wie glattes oder geknittertes Stanniol aussah. Protokollieren nannte er sein Hobby. Es übte auf Tilo Parker – er war mit den Amselsteins um mehrere Ecken verwandt und ein zweites Zuhause hatte er bei ihnen auch – den Reiz aus, sich auch einmal an solch ein Protokoll heranzuwagen. Es blieb jedoch bei den Versuchen; und sie waren unendlich weit von der Stofflichkeit Stanniol entfernt. Doch er hatte Blut geleckt und instinktiv erfasst, dass er von dieser und von artverwandten Tätigkeiten verzaubert worden war.

Als ihn diese Szenenfolge dann als etwas älteren Knaben zeigte, war das die Phase, die aus späterer Sicht wie die logische Fortsetzung des Vorausgegangenen wirkte und für sein künftiges Leben tatsächlich als berufliche Zielvorgabe diente.

Nun, um zig Jahre zeitversetzt, bezeichnete er diesen Zeitabschnitt als ‚Ära Carlos Vorsth‘. Benannt nach dem kunstsinnigen Architekten, der überregionalen Rang und Namen hatte. Dass Hanna, seine Frau, woanders wohnte, ohne mit ihm verkracht zu sein, daran hatte sich die Nachbarschaft gewöhnt. Hanna Vorsth lebte mit den gemeinsamen Kindern – Hannes, Andreas und Marc – am nah gelegenen Liboldsee; und zwar am nördlichen schmal zulaufenden Uferabschnitt, wo sie ein Hotel betrieb: das weithin bekannte See-Hotel. Hannes und Andreas waren Zwillingsbrüder. Sie hatten gerade die Reifeprüfung abgelegt. Marc, der Nachzügler, war ein Klassenkamerad von Tilo Parker. Jeweils montags und mittwochs fuhr Marc wegen des Unterrichts am Nachmittag mit dem letzten Bus zum See-Hotel zurück. Die zwei Stunden dazwischen verbrachte er oftmals bei den Parkers. Hier war er gern gesehen, weil er bei ihnen häusliche Arbeiten verrichtete, die Knaben dieses Alters für gewöhnlich hassten. Tilo wusste, was in Wahrheit hinter dieser Hilfsbereitschaft seines Klassenkameraden steckte. Es waren die Kuchenreste. Tilos Großvater, der im selben Haus eine Bäckerei betrieb, nahm – es war immer kurz vor Ladenschluss – die nicht verkauften Stücke aus dem Büfett. Legte sie ins Restefach. Und verschenkte sie am nächsten Tag. Marc verdrückte pro Besuch fünf bis sechs Portionen des alten Kuchens. Als Gegenleistung durfte Tilo Parker in das Arbeitszimmer von Marcs Vater gucken. Von draußen aber nur, indem er sich im Hinterhof vors Fenster stellte.

Carlos Vorsth besaß ein Haus im Bauhaus-Stil. Vollständig sah man es aber nicht. Eine Umfriedung aus dicht und hoch gewachsenen Hecken wehrte neugierige Blicke auf das Grundstück ab. An der Vorderseite, zur Straße hin, wurde das Buschwerk in einer Breite von vier Metern durch ein mächtiges Eisentor ersetzt: ein gewaltiges Schiebetor mit senkrechter Quadratrohrfüllung und einer in der Mitte eingebauten Pforte, die ein Schnappschloss hatte. Das Schiebetor war stets verschlossen. Hinein oder heraus gelangten Bewohner oder Besucher nur durch diese Pforte. Drückte man von innen oder von außen dagegen, so gab sie nach und ließ sich öffnen. Wer von der Straße kam und den Weg durch diese Pforte nahm, wurde dahinter auf einen schmalen Weg gezwungen. Er gabelte sich kurz vor dem Haus, führte, jeweils links und rechts, daran vorbei und umgrenzte dahinter noch ein rechteckiges Rasenstück; es hatte die dreifache Länge des Gebäudes. Inmitten dieses Rasens stand ein Gartenhäuschen. Merkwürdig war, dass es dafür keine eindeutige Bezeichnung gab. Carlos Vorsth sprach stets von einer Laube. Bäckermeister Parker äußerte sich eher abfällig, indem er Bretterbude dazu sagte. Marc Vorsth dachte mehr an den praktischen Nutzen; er bezeichnete dieses Häuschen als Geräteschuppen.

Isabella Biasini hingegen … fiel mit der Benennung aus dem Rahmen! Seitdem sie von diesem Gartenhaus Besitz ergriffen, es gereinigt, gestrichen und eingerichtet hatte, war ihrerseits von einem Teepavillon die Rede.

Ja, ja. Die Biasini! Nach ihr drehten sich die Ortsbewohner um! Die Frauen schauten mit verhohlenem Neid; die Männer, weil sie eine Hoffnung hegten. Tilo Parker urteilte hier, entsprechend seines Alters, wertneutral. Er begnügte sich mit ihrer Anwesenheit. Täglich, von acht bis zirka sechzehn Uhr, arbeitete sie in Carlos’ Architekturbüro.

Carlos Vorsth ging hier mit seiner Arbeitszeit flexibler um. Als Chef und Arbeitgeber kam und ging er, wie es ihm beliebte.

Die Verrichtungen, die täglich in diesem Büro anfielen, hatte Frau Biasini ritualisiert. Um acht Uhr morgens zog sie zuerst die Jalousetten hoch. Und machte, um den Raum zu lüften, das mittlere der fünf Fenster auf. Nach dem Lüften knipste sie die Neonröhren an. Das Tageslicht erhellte nämlich nur den vorderen fensternahen Teil des Raums.

Wenn Tilo von draußen durch eines dieser Fenster schaute, bekam er immer sehr gut mit, was im Inneren vor sich ging. Doch nur den Darstellungen auf den Zeichenbögen galt sein Interesse. Zumal sie gut zu sehen waren; entweder an den Wänden hängend oder abgelegt auf einem der fünf Tische. Hin und wieder waren es so viele, zudem in unterschiedlich zugeschnittenen Größen, dass Tilo die Übersicht verlor. Einige dieser Blätter waren gar aus braunem Packpapier, hatten grob gerissene Kanten und besaßen keine rechten Winkel. In der Überzahl waren aber DIN-Formate; exakt zugeschnittene sowie verschieden große.

Manchmal hingen A1-Bögen aus Transparentpapier dazwischen: darauf virtuos gezeichnete sepiabraune Linien: entweder kühn geschwungene, die Bewegung suggerierten, oder kerzengerade, die dem Statischen Ausdruck gaben. Entwürfe allesamt, die des Zeichners Passion erkennen ließen. Was die Möglichkeit(!) verspricht, muss verführerischer sein als die Wirklichkeit, lautete Vorsths Leitmotiv.

Jedes Mal, wenn Tilo Parker durch eines der besagten Fenster auf das zeichnerisch Dargestellte schaute, war die Quintessenz dieses Leitmotivs jedem dieser Arbeitsresultate immer deutlich zu entnehmen. Seitdem ließ auch er sich von manch einer Möglichkeit, in der ihm jeweils vorgegebenen Wirklichkeit, verführen; was sich positiv auf die Erweiterung seiner Vorstellungskraft auswirkte.

All dies beeindruckte Marc in keiner Weise.

Modernismus verabscheute Carlos Vorsth! Aufgeschlossen für die Gegenwart zu sein, hielt er allerdings für seine Pflicht.

Vorsth war Nonkonformist, auch als Architekt. Er hasste Standardisierungen. Ebenso Traditionen, denen echte Werte fehlten. Wohl deshalb führte mitunter sein feuriges Temperament die Zeichenfeder. Dreieck und Lineal schob er dann beiseite und verließ sich, um Ideen zu entwickeln, auf seinen zeichnerischen Schwung. Folgenschwer für das Vorhaben war das aber nie. Denn die technischen Zeichnungen für die jeweiligen Bauausführungen führte Isabella Biasini aus. Als Frau vom Fach besaß sie all die Fähigkeiten, mit denen sie es immerfort verstand, manch eine dieser locker hingehauenen Skizzen, die ihr Carlos unaufhörlich auf den Schreibtisch legte, in verständliche Zeichen umzusetzen. Ihr allein war es zu verdanken, dass aus linearen Turbulenzen jedes Mal ein tadelloser Bauplan wurde. Außerdem sorgte sie dafür, dass vereinbarte Termine nicht verschoben und die Kunden nicht vertröstet werden mussten.

Zurück zum Teepavillon.

In den Sommermonaten wurde er mitunter als Frühstücksraum benutzt. Der runde Tisch, den Frau Biasini in die Mitte hatte stellen lassen, lud ja dazu ein. Überdies wertete er den Raum sehr auf; allein schon wegen des eisernen Untergestells, das, gemäß seiner Form, aufs Alter schließen ließ. Hundert Jahre, schätzungsweise. Später Jugendstil. Alle Eisenteile waren einst in Schwarz gestrichen worden. Nun fehlte viel vom alten Lack. Rost hatte sich an manchen Stellen angesetzt. Makellos indes, wie neu, war die runde Tischplatte. Naturstein! Ein wunderschöner Marmor aus der Gruppe Pinta Verde; mit einer Struktur, die an eine gefrostete Nachspeise – zubereitet aus grießigem Gletschereis und geschredderten Schneeglöckchen – erinnerte.

Inmitten dieser Platte stand eine Vase. Wie ein Zylinder war sie geformt. Wuchtig. Hoch. Grau glasiert. Und stets mit einem Trockenblumenstrauß. Rings um den Tisch hatte Frau Biasini sechs Gartenstühle gestellt. Vielleicht, um ein Damenkränzchen abzuhalten. Oder für Klienten, die über die Finanzierung eines Hauses sprechen wollten. Auch Marc und Tilo saßen oft an diesem Tisch. Ein jeder lehnte sich auf seinem Stuhl dann weit zurück. Streckte die Beine aus. Und legte die Füße, die immer in verdreckten Schuhen steckten, randseitig auf die Marmorplatte. Auf diese Weise hingeflegelt, besprachen sie Probleme, die an Belanglosigkeit nicht zu unterbieten waren.

Eines Tages brachte Marc fünfzehn Bauentwürfe mit; baukünstlerische Zeichnungen von beeindruckender Qualität. Um unliebsame Fragen auszuschließen, sagte er als Erstes: „Mein Vater hat sie aussortiert! Er benötigt dieses alte Zeug nicht mehr!“ Dann schob er die Vase zur Seite, sodass es auf dem edlen Marmor grässlich knirschte. Und schleuderte die Bögen auf die grünweiße Platte. Tilo entdeckte einige der Bauentwürfe, die er an besagter Rückwand schon einmal gesehen und bewundert hatte. Marc zog das obere Blatt vom Stapel. Ließ es, ohne einen Blick für das Motiv zu haben, hinunter auf den Boden segeln. Kniete daneben nieder. Guckte, als ob das Gespenst der Dummheit aus seinen Augen glotzen würde. Und fing an, das Blatt einmal mittig quer und einmal mittig längs zu falten. Anschließend glättete er den Bogen wieder und riss ihn, entlang den Faltlinien, in vier gleich große Stücke. Tilo Parker war entsetzt. Ihn peinigte jeder Riss; schmerzte wie ein Lanzenstich. Wieso zerreißt der Depp all das, was ein wacher Geist ersonnen und mit Leidenschaft zeichnerisch verewigt hat?

„Hör auf damit!“, befahl er nach dem zweiten Blatt.

Sein Machtwort wurde überhört. Nichts schien Marc von den Versündigungen gegen die zeichnerisch verfestigten Gedanken abzuhalten. Und so knickte er und riss! Ergriff ein weiteres Blatt. Knickte. Riss. Und zerstörte auf diese Weise all das, was Frau Biasini auf jedem dieser Blätter anschaulich verdichtet hatte. Nachdem ein halbes Dutzend zerrissen worden war, unterbrach Marc diesen frevelhaften Akt. Er blickte Tilo an. Sagte: „’s reicht!“ Und zeigte aufs Zerteilte. Dann nahm er das zuoberst liegende Blatt. Richtete es vor sich aus. Korrigierte diese Lage noch einmal. Dachte nach. Guckte dabei aber wieder dumm. Und knickte es ungelenk zu einer sogenannten Schwalbe. Dann baute er noch eine zweite. Dritte. Vierte. Insgesamt vierundzwanzig. Die er dann in eine große Einkaufstüte packte und zu Tilo Parker sagte: „Los! Hinauf zur Fliederkuppe! Von dort oben aus kann man sie ins Tal hinunter fliegen lassen!“

Tilo lehnte ab. Er gönnte Marc allein den Spaß. Jene Zeichnung, die als nächste zerrissen worden wäre, lag nun obenauf. Tilo Parker fand sie wunderschön. Immer wieder sah er zu ihr hin. Nach dem letzten Blick merkte er, dass ihn eine heftige Gier nach diesem Blatt befiel. Seine sittliche Haltung, noch nicht gefestigt und daher sehr labil, vermochte keinen Einfluss auf das Weitere auszuüben. Er machte es dem Freunde nach. Und kniffte diesen Bogen auch. Allerdings sehr sanft und nur so oft, bis daraus ein Malerhut entstand. Den setzte er auf seinen Kopf und latschte, treuherzig guckend, an der Fensterfront des Architekturbüros vorbei.

Zu Hause nahm er diese Kopfbedeckung wieder ab. Machte das Papier notdürftig glatt. Und bediente sich eines altbewährten Tricks. Er befeuchtete die Rückseite dieses Bogens, wodurch er weich, vor allem aber größer wurde. Legte ihn danach auf eine Spanplatte. Befestigte ihn auf dieser mit Nassklebeband. Ließ das Papier trocknen und dadurch auf die ehemalige Größe schrumpfen, wodurch sich die Falten autodynamisch aus dem Bogen zogen.

Anschließend entfernte er Vincent van Goghs ‚Le café de nuit‘ von der Wand. Und ersetzte diese Reproduktion durch das geglättete originale Exponat.

So oft es danach möglich war, sah er zu dieser Zeichnung hin und war innerlich bewegt; wie ein Philatelist, der unverhofft Besitzer einer Roten oder Blauen Mauritius geworden war.

Tilo Parker hatte ja, was die Einschätzung solcher Kreationen anbetraf, einen völlig anderen Wertbegriff als Kamerad Marc Vorsth. Der vermochte sich nur schwer in diese Art von Schwärmerei hineinzudenken. Wenn Tilo, in der Sprache seines Alters, ästhetische Phänomene zum Inhalt seiner Äußerungen machte, kehrte Marc seinen brachliegenden Intellekt nach außen: indem er schwieg und unverständig schaute.

Als dieser einige Zeit später im Zimmer seines Kuchenfreundes weilte und dort die entwendete Zeichnung hängen sah, setzte er sich, wider Erwarten, auf das hohe Ross. Guckte dünkelhaft. Und sagte – mit einer Stimme, die seinen Hochmut auch akustisch deutlich machte: „Wenn du sehen könntest, was in unserer Lagerhalle steht, Mensch! Da fielen dir bestimmt die Augen raus!“

Tilo Parker dachte nach. Zog das eine oder andere in Betracht. Doch den Rang des Staunenswerten erreichte davon nichts. Deshalb hielt er das Gehörte für Geschwätz.

Erst als Marc von Plänen und von Konstruktionszeichnungen sprach, von Maßpfeilen, von umgerechneten Größen und dann – als wirklich interessanten Sachverhalt – auch von einem Flugzeug noch, da horchte Tilo auf. Lachte. Und fragte mit zweifelndem Unterton: „Ein Flugzeug? Bei euch? In der Lagerhalle?“

„Aber ja! Bestimmt! Bei uns am Liboldsee! In der Nähe des Hotels!“

2

Dass Marc sich hin und wieder wichtigmachte, wusste Tilo Parker seit langer Zeit. Deshalb nahm er an, der Hinweis auf das Flugzeug sei nichts weiter als Sprücheklopferei. Ein kleines Modellflugzeug wird’s sein. Aus Balsaholz vielleicht. Mehr nicht!

Weil ihn Marcs Schilderungen aber amüsierten, ließ er ihn weiter-, weiter-, weiterreden, ohne die Prahlereien ernst zu nehmen: bis Marc das Wort Prototyp aussprach.

„Prototyp?“, fragte Tilo. Noch nie hatte er dieses Wort gehört.

„Ja, ja! Ein Prototyp“, wiederholte Marc und erklärte den Begriff in aller Breite. Dabei erwähnte und beschrieb er auch die Werkstelle in der Lagerhalle, wo an dem Flugzeug, wegen technischer Mängel, noch gearbeitet wurde. Tilo filterte aus Marcs Schilderungen das Spannendste heraus. Ihm kam es vor, als ob er den besagten Werkstattraum gerade selbst betreten hätte.

Jene visionär erschauten Bilder waren leider nur von kurzer Dauer. Marc verwischte sie durch seinen Redefluss. „Ich glaube aber“, sprudelte es aus ihm heraus, „dass die Ruderboote schon wieder in der Lagerhalle sind. Und das Flugzeug? Keine Ahnung, wo es hingekommen ist. Denn für beides, haben meine Brüder gesagt, ist in der Lagerhalle nicht genügend Platz!“

Speziell diesen Fall schloss Tilo Parker aus. Er verdrängte ihn, weil er darauf brannte, dieses Flugzeug zu sehen. Unter allen Umständen! Weiterhin entflammt von diesem Wunsch, aber noch immer skeptisch, fragte er: „Wer hat denn dieses Ding dorthin gebracht?“

„Gebracht?! … Gebaut wurde es dort!“

„Von wem?“

„Von meinen Brüdern“, sagte Marc. Schaute zur Wanduhr und erschrak. Denn die Zeit war knapp. Beinahe hätte er den letzten Bus zum See-Hotel verpasst!

Tilo Parker wusste zwar, dass Marc Vorsth zwei ältere Brüder hatte, die, wie auch ihr Vater, gestalterisch Begabte waren. Doch ein Flugzeug bauen? Die beiden? Nie! Weil er aber neugierig war, nahm er sich vor, dieser Sache selbst mal auf den Grund zu gehen. Und zwar umgehend.

Besagte Lagerhalle befand sich – wie auch der Komplex des See-Hotels – auf dem ländlichen Anwesen der Familie Vorsth. Beide Gebäude standen in dem Landschaftsteil, durch den der Bach zum Stausee floss. Von Süden aus gesehen lag das Hotel westlich, der Hallentrakt östlich dieses Bachs. Als das Landgut seinerzeit vom alten Vorsth erworben worden war, hatte sich ein kleines Lokal für Wanderer dort befunden; Seehof war in jener Zeit dafür der Name. Weil der Betrieb von Anfang an sehr gut gelaufen war, hatte Senior Vorsth in den folgenden acht Jahren mehrmals angebaut. Nachdem er hochbetagt gestorben war, hatte Hanna die Leitung des Betriebs übernommen.

Zur Freude der Stammgäste war an den Traditionen festgehalten worden. Nur an dem bisherigen Namen nicht. Der wurde von ihr durch die Bezeichnung See-Hotel ersetzt.

Weshalb Senior Vorsth unweit des Hotelkomplexes ein weiteres Gebäude hatte errichten lassen, war damals allen schleierhaft gewesen. Zumal es ein Gebäude von kolossaler Größe war. Zwei Einfamilienhäuser hätten in den Bau hineingepasst. Die eine Hälfte war eine Konstruktion aus Glas; so groß, dass darin fünfzehn Meter hohe Palmen hätten wachsen können. Die andere Hälfte war aus Stein gebaut. Rötliche Quarzsandsteine, an denen sich inzwischen Wilder Wein nach oben rankte.

Herumerzählt wurde, der alte Vorsth habe das Gewächshaus für wissenschaftliche Versuche bauen lassen: um darin – unter wärmeregulierten Versuchsbedingungen und auf der Basis von Komponenten aus aerober und anaerober Behandlung – fruchtbare Nährböden für Baumschulkulturen zu entwickeln. Mit dieser Erprobung wäre er damals seiner Zeit voraus gewesen. Aus unbekannten Gründen war aber aus diesem Vorhaben nichts geworden.

Hanna Vorsth liebäugelte mit dem Gedanken, aus dem transparenten Bau ein Wellness-Bad zu machen. Speziell für Wintergäste. Doch war es ungewiss, ob sich das rentieren würde. Wohl deshalb diente jene Hälfte wie bisher als Werkstatt und als Allzweckhalle. In der – immer von Anfang Oktober bis Ende April – für die Vorsth’schen Ruderboote Platz bereitgehalten werden musste.

Um vom Wohnort der Parkers zum See-Hotel zu kommen, boten sich zwei Möglichkeiten an: die Gemeindestraße und der als Wanderweg bekannte Köhlerpfad, der über einen Bergrücken führte.

Auf der Gemeindestraße betrug die Entfernung bis zum Hotel vierzehn Kilometer. Der Köhlerpfad war halb so lang. Dafür musste man für einen Teil der Strecke einen an Kraftaufwand nicht zu unterschätzenden Anstieg auf sich nehmen. Dieser Pfad begann an der westlichen Ortsgrenze; verlief zwei Kilometer durch eine Weidefläche; bog vor dem Ackerland rechts ab und stieg danach steil an. Auf dem Bergrücken führte er an der Köhlerhütte vorbei und wand sich auf der anderen Seite der Anhöhe in eng gelegten Spazierwegserpentinen wieder nach unten bis ins Tal. Die Köhlerhütte, ein Unterstand aus Holz, war als Wetterschutz gedacht. Hier legten Ausflügler und Urlauber gerne eine Ruhepause ein. Oder sie blickten durch einen von Bäumen freigehaltenen Streifen hinunter auf das See-Hotel.

Tilo Parker entschied sich für die kurze Strecke …

Eine Zugbegleiterin – sie stand plötzlich neben ihm – ließ die Bilder seiner Rückbesinnung jäh verblassen. Ihre Frage nach dem Fahrschein, das Zwicken mit der Stempelzange und ihr anschließend freundlich ausgesprochenes „Danke! Weiterhin noch eine gute Reise“, konnten das erinnerlich Gebliebene aber nicht beenden. Es belebte sich und überblendete erneut das Jetzt. Sodass er von der Köhlerhütte hinunter zur Hotelanlage blicken und sich über deren Formung wundern konnte. Wie ein Doppelkreuz sah sie aus. Dies war zwar gut beobachtet, aber ohne Belang. Sein Interesse erregten hier die Ruderboote, die türkis lackierten. Beileibe nicht des Farbtons oder gar der Sportart wegen! Nur wissen wollte er, ob sie in der Lagerhalle waren und dem Prototyp den Platz dort streitig machten.

Nein! Zum Glück! Drinnen waren sie nicht. Sie dümpelten auf dem Wasser; waren links und rechts am Steg vertäut. Ungewöhnlich war die Länge dieses Steges; auch seine Breite war bemerkenswert.

Wenn ich die augenblickliche Lage richtig deute, dann befindet sich der Prototyp noch in der Lagerhalle, dachte er. Das Herz hüpfte ihm vor Freude. Und weil er keine Zeit verlieren wollte, querte er die Serpentinen, die von der Köhlerhütte zum See-Hotel hinunterführten. Schnurgerade lief er seinem Ziel entgegen. Die Ungeduld verlieh ihm Flügel; und seine Erwartung, die gespannte, beseitigte die letzten Zweifel. Nachdem er unten angekommen war und das besagte Gebäude in nicht allzu weiter Ferne sah, stieß er auf ein Hindernis. Der Bach, der den Stausee speiste, machte einen Halt erforderlich. Die schmale Brücke, etwa hundert Meter weiter vorn, versuchte Tilo Parker erst gar nicht zu erreichen. Er zog die Schuhe aus. Ebenso die Socken. Krempelte die Hosenbeine auf. Und watete durchs Wasser. Indem er den Zufluss an dieser Stelle querte, verkürzte er die Strecke um vier bis fünf Minuten.

Jenes Vorsth’sche Funktionsgebäude war von kolossaler Größe. Zuvor, als er von der Köhlerhütte hinuntergeschaut hatte, war es ihm kleiner als ein Puppenhaus erschienen. Vor allem die Dimension des Glastraktes setzte ihn nunmehr in Erstaunen. Wie viele Scheiben, überlegte er, mochte die Glaserei wohl einstmals dafür zugeschnitten haben? (Gemäß der alten Lieferscheine waren es 12.654 Stück in der Größe von 40 x 60 cm; ohne Bruch).

Bedauerlicherweise ermöglichten diese Scheiben keine Transparenz. Einerseits des Waldes wegen, der auf dem Glas als Spiegelbild erschien. Und andererseits aufgrund der Sonne, die auf den Scheiben glitzerte und blendete. Alles war opak; sah aus, als wären Feld, Wald und Sonnenschein von hinten auf das Glas gemalt. Deshalb trat er an die gläserne Konstruktion heran. So dicht, dass sein Schatten auf die Scheiben fiel und das naturalistisch anmutende Scheingemälde innerhalb der abschattenden Silhouette durchsichtig wurde. Er blinzelte hindurch, … ohne das Erhoffte zu entdecken. Nur Bretter. Die – wie eine zweite Schale – dahinter eingezogen worden waren. Darin befanden sich drei Luken: so groß wie Kuchenbleche; alle in waagerechter Linie und ungefähr in Augenhöhe, mit je einem Zwischenraum von zirka einem halben Meter. Doch auch die Luken gaben nichts vom Inneren preis. Eine jede schirmte all das ab, was Tilo Parker hier zu sehen hoffte. Und zwar durch Schwarz, das wie eine geteerte Fläche scheinbar an der Bretterschale klebte. Sodass er, um sich einen Eindruck vom Inneren der Halle zu verschaffen, hineinzugehen hätte. Um den Eingang zu finden, ging er an der ganzen Glasfront entlang. Umsonst! An der Giebelseite des steinernen Gebäudeteils – das war die Seite, die zum Bootssteg zeigte – stieß er schließlich auf das Eingangstor. Es war ein Tor von mächtiger Beschaffenheit. So breit wie die ganze Vorderfront, abzüglich der Mauerstärke. Wenigstens drei Meter hoch. Und unterteilt in zwei gewaltige Torflügel aus Eichenholz, die den Zutritt bereits symbolisch sehr erschwerten. Die Klinke – sie befand sich am rechten Torflügel – sah aus wie der Stiel von einer großen Axt. Ein Hebelarm also, den man mit zwei Händen fassen und nach unten drücken musste: Was Tilo Parker nur mit Mühe schaffte; wie auch daran zu ziehen, wiederum mit aller Kraft. Der Torflügel ließ sich aber nicht bewegen. Keinen Millimeter gab er nach. Enttäuscht bog er um die Ecke und vertraute darauf, an der Rückseite des Gebäudes einen Zugang zu entdecken. In der Mitte, wo der steinerne und der gläserne Gebäudeteil aneinandergrenzten, fand er schließlich einen. Es war eine Tür, die normalen Zimmertüren ähnlich war. Und sie hatte eine Klinke, die sogar ein Kind umfassen und niederdrücken konnte. Er zog die Tür nach außen auf. Als dabei eines der Scharniere quietschte, fühlte er, dass Entschlusskraft und Moral sich gegenseitig in die Fresse schlugen, was leider die Entscheidungskräfte lähmte.

Da er seine Erwartungen enttäuschen müsste, falls das sittliche Empfinden die Oberhand gewinnen würde, half er etwas nach. Ließ Ethos und Gewissen gegensätzlich wirksam werden und sich dadurch die erwünschte Handlungsweise anempfehlen. Er ging hinein.

Im Inneren der Halle war er aber noch nicht. Lediglich in einer kleinen Kammer. Die hier, wie es schien, als Windfang diente. Beleuchtungskörper fehlten. Es war stockfinster. Nicht einmal die Hand vor seinen Augen konnte er sehen. Zum Glück hatte das Licht – das zuvor beim Öffnen der Außentür mit ihm hereingekommen war – noch eine zweite Tür erhellt; genau dem Eingang gegenüber. Wenn die erste nicht ins Innere führt, dann muss es wohl die zweite sein, dachte er. Tapste auf diese zu. Ertastete den Türgriff, den eisernen und kalten. Drückte ihn nieder. Öffnete die Tür einen Spaltbreit nach innen. Und spähte in den Teil der Halle, der auch tiefdunkel war. Daraufhin verbreiterte er den Spalt und sah geradeaus. Genau zu jenen Luken hin, die von außen rabenschwarz gewesen waren, nun aber im allerhellsten Lichte gleißten. Und Strahlenbündel in das Innere fluten ließen, die seinen Blick in den rechten Teil der Halle lenkten.

Als er sah, was dort vom Licht beschienen wurde, wusste er, dass sein Wunsch, der heiß ersehnte, sich in diesem Augenblick erfüllte. Aber nicht alle Teile des Objektes wurden angestrahlt. Nur einige warfen Licht zurück. Sie fügten sich zu einer Komposition, die aus Finsternis und Widerschein bestand und ein Ambiente arrangierten, das seine Existenz dem momentanen Stand der Sonne zu verdanken hatte.

Diese stumme Darbietung gedachte er so lange zu genießen, bis sich die Position der Sonne ändern … oder eine Wolke den Lichteinfall verhindern würde.

Daraufhin nahm er, auf bequeme Weise allerdings, Haltung an. Und wärmte sich am Feuer seiner überreizten Emotionen. Alles vor ihm schien auf eine Weise arrangiert, als habe ein Beleuchtungsprofi vom Theater sein Know-how hier eingebracht. Denn das Licht erhellte nur solche Einzelheiten, die gedankliche Ergänzungen zum Ganzen möglich machten. Beleuchtet wurden die obere Hälfte des Seitenruders; das kleine Rad am Heck; das hintere Rumpfsegment; der linke Tragflügel in seiner ganzen Länge, bestimmt vier Meter; der untere Teil vom Fahrgestell mit den zwei Rädern und die Hälfte des Propellers, der Ähnlichkeit mit einem verkürzten Kajakpaddel hatte.

Von der Größe dieses Flugzeugs war er überrascht. Großartig! Ein Erwachsener fände darin genügend Platz! Allerdings fehlte der Sitz für den Piloten noch.

Nach einer Weile gewahrte er auch die Pläne: die von Marc erwähnten. Sie hingen an der Wand, vor der das Flugzeug stand. Er zählte sie. Es waren neun, waagerecht gereiht und vom Restlicht, das stellenweise vom Boden zurückgeworfen wurde, schwach erhellt. Sodass auch alles, was darauf gezeichnet worden war – vor allem aber wegen des Abstands von geschätzten fünfzehn Metern –, unscharf grau erschien. Daraufhin trat er so dicht an diese Wand heran, bis alle Linien auf den Plänen gestochen scharfes Schwarz annahmen … und die jeweiligen Übereinstimmungen mit dem einen oder anderen Flugzeugteil deutlich zu erkennen waren. Links unten auf den Plänen stand immer Maßstab 1:10. Respektvoll drang er in die konstruktiven Rätsel ein; ließ die strenge Schönheit der gezeichneten Ansichten und Schnitte einige Zeit lang auf sich wirken und bemühte sich, die technischen Zusammenhänge zu begreifen. Über die Anordnung der Teile, die dem Flugzeug sein Erscheinungsbild verliehen, hatten Marcs Brüder nicht selbst nachgedacht. Das wusste Tilo Parker in jenen Tagen aber nicht. Projektiert und ausgeführt worden war dieses Flugzeug einstmals von Blériot. Louis Blériot! Der – kraft seines Wissens und qua Intuition – all die Teile, die für einen aeromobilen Korpus erforderlich sind, zweckdienlich zusammengefügt hatte. Flugphysik als sinnliches Erlebnis auszukosten und die Überzeugung, mit dieser Konstruktion alsbald fliegerische Erfolge einzuheimsen, hatten ihn im Jahre 1909 bewogen, quer über den Ärmelkanal zu fliegen: von Calais nach Dover. In jenen Typ, der unter der Bezeichnung Blériot XI Geschichte machte, war der legendäre (25 PS starke) Anzani eingebaut worden: ein luftgekühlter Motor, der drei fächerförmig nach oben ragende Zylinder hatte und 1200 Umdrehungen pro Minute machte. Nichts Sensationelles! Aber ein Anzani, zudem als Original, war eine Rarität. Ein Schaustück, das vielleicht in einem Museum für Flugtechnik bewundert werden könnte, aber keinesfalls einfach so zu kaufen wäre. Deshalb hatten Marcs Brüder in ihr Flugzeug einen anderen Motor eingebaut: einen wassergekühlten, der zwei Zylinder hatte. Hergestellt wurde der zwar auch nicht mehr; dennoch war er – unter der Bezeichnung Rotax 462 – nach wie vor im Handel.

Gern hätte er sich mit den Bauplänen noch eine Weile befasst. Doch ein ohrenbetäubender Donnerschlag – markerschütternd wie die Explosion einer Sprenggranate – hielt ihn davon ab. Ein Luftstrom, der auf geheimnisvolle Weise irgendwo entstanden war, hatte die Tür, die er zuvor nicht zugemacht hatte, auf die hölzerne Zarge krachen lassen. Der Schreck, der ihn mehr als fünf Sekunden lähmte, bewirkte, dass er im ersten Augenblick nicht wusste, wo er war. Erst nach dieser Zeitspanne stellte er die Zusammenhänge wieder her. Nachdem das, was er hatte sehen wollen, lange genug von ihm betrachtet worden war, ging er rückwärts bis zur Tür … und blickte das partiell angestrahlte Flugzeug unablässig an. Einen Kotau machte er zwar nicht vor diesem Artefakt, doch seine Körperhaltung kam einer Verbeugung gleich.

Einige Tage später hielt sich Marc Vorsth wieder bei den Parkers auf. Er saß am Küchentisch, futterte altbackene Kuchenstücke und sagte dann mit vollem Mund: „Das Ding is’ fertig. Übermorgen is’ der Probeflug.“

Obwohl Tilo den Pilotensitz in der Blériot nur erahnt, aber nicht gesehen hatte, glaubte er dem Freunde dieses Mal sofort. Und fragte aufgeregt: „Wer fliegt? Andreas? Oder Hannes?“

„Keine Ahnung! Interessiert mich auch nicht“, antwortete Marc. Und griff nach dem letzten Kuchenstück.

Abermalig hakte der Gedankenfluss. Die belebten Bilder aus der frühen Jugendzeit wurden durch die Einrichtung des Zugabteils ersetzt. Irgendetwas hielt aber die Erinnerungen, sowohl an dieses Hallen-Ambiente als auch an das, was sich danach ereignet hatte, wach. Es verdichtete sich zu der Frage, weshalb nichts anderes – etwas von gleichwertiger Beschaffenheit vielleicht –, sondern ausgerechnet jene Lebensphasen in die Gegenwart befördert worden sind.

Derartige Überlegungen mündeten meist in einen Dialog mit seinem zweiten Ich. Es gibt Eindrücke, sagte es, die vielleicht schon zwanzig Jahre in dir ruhen. Doch erst im einundzwanzigsten Jahr werden sie aktiv. Sie erobern das bewusste Denken; und sie werden von dir registriert!

„Soso!“, zischelte Tilo Parker und schaute wichtigtuerisch. Nun reagier doch nicht so blöd, kam es prompt zurück.

Hatte sich ein Gespräch mit seinem zweiten Ich auf diese Weise zugespitzt, war ein schnelles Ende nicht in Sicht.

Bei solchen Scheingefechten erwies sich Tilo Parker als erfahren. Daher wehrte er den ersten Angriff nicht gleich ab. Wich lediglich ein kleines Stück zurück. Und relativierte seine Selbstgefälligkeit.

Denn niemand hätte ihm erst sagen müssen, dass sich den Sinnen zuerst nur die Erscheinung zu erkennen gibt. Ihren Wesenskern erfasst der Mensch, wenn überhaupt, danach: egal, ob es eine Sekunde oder zwanzig Jahre währt. Aber … sind Erscheinung und Wesen nicht als Einheit zu begreifen?!

„Unbestritten!“, hielt Tilo Parker dagegen.

Und fügte, nach einer Weile aber erst, den Rest der Antwort an: „Beide sind aber jeweils unterschiedlich zu bewerten! Schließlich ist die Erscheinung sinnlicher! Interessanter! Verführerischer! Oder einfach schöner: wie es Laien sagen würden!“

Verfälscht das aber nicht den Blick fürs Wesentliche? Für das, was tatsächlich von Bedeutung ist?

„Mag sein! Dafür ergötzt man sich umso mehr am Äußerlichen!“, entgegnete Parker selbstbewusst und beendete das Wortgefecht. Denn er hatte keine Lust, sich von seinem inneren Widersacher, dem vermeintlich Klügeren, das Weitere vermiesen zu lassen.

Zudem hatte er, vor einem Monat erst, über dieses Thema referiert und insbesondere darauf hingewiesen, dass das Schöne nur im Auge des Betrachters existiere und keine Eigenschaft des Angeschauten sei! Und behauptet hatte er zum Schluss, „dass jeder Mensch, gemäß seiner persönlichen Wahrnehmungskraft, nur jene Schönheit akzeptiert, die sich mit der eigenen Wesensart verträgt!“

Manchen visuellen Reizen konnte Tilo Parker bedingungslos verfallen. Andere hingegen widerten ihn an. Dass ihn beim Betrachten von Hieb-, Stich- und Feuerwaffen – altertümliche sowie moderne – glühende Leidenschaft erfasste, ihm aber beim Anblick des weltweit bestrenommierten Gemäldes Les Demoiselles d’Avignon (Picasso) kotzübel wurde, entsprach, gemäß der letzten These dieses Referats, tatsächlich seiner Wesensart. Und es reizte ihn zum Lachen, sobald er in diesem Zusammenhang an die Kunstsachwalter dachte; hauptsächlich an solche, die List mit Stärke vereinen und mit leerem Wortgeklingel, gefragt oder ungefragt, ihren Einfluss geltend machten.

Zankte sich Tilo Parker mit seinem inneren Intimus – mit jenem also, der sich zuvor als Widersacher zu profilieren versucht hatte –, so trainierte er damit seinen Intellekt.

Die Klingen dabei rabiat zu kreuzen, hielt ihn geistig wach. Ohne Frage! Längst hatte er bemerkt: Sogar stilles Streiten ist denkerischer Sport, auch wenn nur böse Lust dahintersteckt. Trotz dieser Erkenntnis setzte er das Wortgefecht nicht fort. Und konzentrierte sich stattdessen wieder auf das Vorhaben, das die Zwillingsbrüder in die Tat umsetzen wollten …

Um den Probeflug an dem erwähnten Tag nicht zu verpassen, brach er frühzeitig auf. Wanderte zum Köhlerpfad. Ging auf diesem bis zum Bergkamm hoch. Passierte rasch die Köhlerhütte. Rannte dann, soweit der Waldboden dafür geeignet war und die Serpentinen wieder querend, hinunter bis zum Bach: dem Hindernis! Und praktizierte, worin er schon genügend Übung hatte. Zog zuerst die Schuhe aus. Streifte dann die Socken ab. Schlug die Hosenbeine um. Watete durchs Wasser. Lief sich auf dem flauschigen Rasen die Füße trocken. Zog das, dessen er sich entledigt hatte, wieder an. Ging weiter auf dem Trampelpfad. Und bog, kurz danach, auf die Zielgerade ein.

Ein Motor wurde angelassen. Das Echo, das davon erzeugte, erinnerte an artilleristisches Trommelfeuer. Es puffte. Es knallte. Es dröhnte, krachte, hallte. War etwa die Dämpfung in den Auspuffrohren weggelassen worden?

Das Getöse kam von allen Seiten her.

Trotzdem ließ sich der Ausgangspunkt des Höllenlärms lokalisieren. Es war das Quarzsandsteingebäude, das er kurz darauf erreichte. Die Torflügel standen offen! Der Eingang, aus dem es infernalisch donnerte, gemahnte an den Schlund der Hölle. Anzunehmen war, dass hier alles gleich in Stücke fliegen würde. Gern hätte er, trotz des Krachs, in das Gebäude hineingeguckt. Vermutete aber, für einen schaulustigen Gaffer gehalten und weggejagt zu werden. Deshalb versteckte er sich hinter einer Hecke. Blickte dabei nach links, zum See. Und sah, dass die Strecke – sie reichte vom Tor bis zum Ende des Holzstegs für die Ruderboote – kerzengerade war und etwa achtzig Meter maß. Der Motor, der bis dahin laut, aber einwandfrei gelaufen war, begann zu stocken. Es hörte sich so an, als ob er gleich verstummen würde. Was sicherlich geschehen wäre, wenn die nächste Zündung keinen Sprit bekommen hätte. Doch Sprit floss nach. Vermutlich mehr, als nötig war; denn markerschütternd war der jähe Donnerschlag danach. Besiegelt schien hierdurch das Ende!

Wider Erwarten lief der Motor wieder. Sogar lauter als zuvor. Auspuffgase zogen durch die Hecke. Dann endlich zeigte sich die Tugendhafte. Langsam, aber stolz und laut kam sie aus dem Versteck heraus. Beschleunigte die Fahrt, nachdem sie das Eingangstor hinter sich gelassen hatte … und wurde immer schneller!

Tilo Parker konnte nicht erkennen, ob Hannes oder Andreas hier die Schau abziehen wollte. Egal, wer es auch war, der inmitten des Gestänges saß; mit Fliegerhaube und Motorradbrille sah der Bursche jedenfalls verwegen aus! Das Fahrwerk war, wie Tilo sah, geändert worden. Oberhalb der beiden Räder entdeckte er zwei Wasserflugzeug-Schwimmer. Klarer Fall: So etwas benötigt man zum Landen auf dem See. Kaum hatte er diesen Sachverhalt durchschaut, kam die Blériot an seinem Heckenschutz vorbei. Mit voller Leistung schien der Motor nun zu laufen. Tilo steckte sich die Finger in die Ohren. Beschleunigung und Lärm schienen ihr Maximum erreicht zu haben. Der lange Bootssteg und das Stück des kerzengeraden Weges, das bereits zurückgelegte, ergaben eine ideale Strecke: als Startbahn, auf der das Flugzeug seewärts rollte und, wahrscheinlich binnen kurzem, die Gewichtskraft überwinden würde. Gleich hebt es ab, dachte er. Weil sich das Gleich nicht schnell genug vollzog, imaginierte er den Flug. Und wähnt den Flieger, leicht wie eine Feder, vom Steg abheben und Kurs auf die gegenüberliegende Uferseite nehmen. Geht, kurz vor dem Berghang drüben, in den Steigflug über; schraubt sich hinauf bis zu den zerzupften Haufenwolken, die ihn im Nebelweiß verschwinden lassen …

Das Erdachte wurde durch die Wirklichkeit ersetzt. Das ungünstige Blattprofil des Paddel-Propellers vermochte nicht genügend Schubkraft zu erzeugen, um den Auftrieb einzuleiten. Nur nach vorne zog es die Blériot-Doublette. Leider hielt sie nicht die Spur. Brach seitlich aus. Schlingerte über die linke Plankenkante. Und stürzte kopfüber in den See. Der Propeller drehte sich noch zwei-, dreimal. Es gluckerte irgendwo; wahrscheinlich kam es aus dem Auspuffrohr. Dann herrschte wieder Stille in der Flur. Nur das Fluchen des Piloten war zu hören. Er war – zum Glück! – mit heiler Haut davongekommen.

3

Mithilfe seiner Vorstellungskraft noch nie Gesehenes zu ersinnen, gelang Tilo Parker, wann immer er es wollte. Seine Neigung, solche Träume mit Wunschbildern zu bereichern, führte oft zu gedanklichen Exzessen, die scheinbar fremdgesteuert wurden.

Überlagerten sich Fiktionales und Reales während solcher Phasen, durchströmte ihn ein Glücksgefühl. All das funktionierte, wann immer er es wollte.

Entdeckt hatte er diese Fähigkeit zum allerersten Mal an jenem Vormittag am Liboldsee: Das auf den Steg zurollende Flugzeug hatte der Realität entsprochen; und von seinen imaginativen Kräften waren ihm Start, Kurvenflug und das Verschwinden in den Haufenwolken dargeboten worden. Seither nutzte er sein Anschauungsvermögen, um Kapital aus dieser Fähigkeit zu schlagen. Aber nie hatte er vergessen, dass er die Entdeckung dieser Gabe den Zwillingsbrüdern zu verdanken hatte.

Jenen Vorsth’schen Flugversuch zu würdigen – gleichgültig, zu welcher Zeit sich ein Anlass dafür bot – und sich mit dieser Würdigung indirekt bei diesen zwei Tollkühnen zu bedanken, war ihm seither eine Herzensangelegenheit.

Indem er das Missglückte ins Gegenteil verkehrte, es in hohem Maße sogar idealisierte und, in dieser Version, vielen Leute zur Kenntnis brachte, glaubte er, dem Wagemut der beiden dauerhaft gerecht zu werden. Bei diesen Ehrerbietungen kam es vor, dass nicht jeder, der sich diese Episode anzuhören hatte, von dem Fliegerlatein begeistert war und wunschgemäß auf das Erzählte reagierte. Schade!

Zeigten seine Zuhörer an dem fliegerischen Ereignis aber Interesse, waren sie wissbegierig und stellten, als Beweis dafür, intelligente Fragen, fühlte sich Tilo Parker herausgefordert. Und er wurde Überzeugungstäter: ehrte, posthum, sowohl Monsieur Blériot als auch die Zwillingsbrüder. Hierbei war er besser als Baron Münchhausen. Er log, dass sich die Balken bogen. Nun ja; Lügen, die das Strafrecht betreffen, waren es nicht. Eher harmlose Schwindeleien. Übertreibungen. Prahlereien. Phrasendreschen und vorgetäuschtes Wissen. Augenwischereien also, mit denen sich (was ihn immer wieder aufs Neue wunderte) sogar gebildete Zeitgenossen überzeugen und in die zweite, dritte Reihe drängen ließen. Vorzugsweise solchen Leuten erzählte Tilo Parker die Geschichte von dem Blériot-Nachbau sehr gern. Um das Ganze immer zielgerichtet einzuleiten, brachte er zuerst – gewissermaßen als Impuls – die Kräfte der Natur ins Spiel. Flocht, scheinbar absichtslos, Begriffe aus der Physik mit ein. Und machte hierdurch glauben, in jener Disziplin besonders kenntnisreich zu sein. Nach solch einer Ouvertüre biss der technisch Interessierte für gewöhnlich an. Nie sollte er jedoch ein echter Fachmann sein. War er, wie erwünscht, ein technisch interessierter Laie, erfand Tilo Parker flugtechnische Zusammenhänge, die jeder Logik trotzten. Mit Beweisen, die, bei Licht besehen, gar keine waren, und mit Fachbegriffen, die selten zu dem Hokuspokus passten, täuschte er über dieses Manko flugs hinweg. Und lenkte, bei diesem Prinzip bleibend, listig auf den Blackburn-Eindecker aus der Shuttleworth-Collection hin: Weil jenes Prachtstück aus dem frühen Flugzeugbau vortrefflich geeignet war, um das Prinzip des Dreiachsen-Steuersystems zu erklären. Außerdem ließ sich, speziell mit dieser Explikation, auf das nächste Fachkapitel überleiten; sodass er anschließend über Tragflächen und Profilvarianten referieren konnte. Naheliegend war es da, sich auch über Auftrieb, Motorenstärke und Hubraumklassen auszulassen sowie die physikalischen Phänomene bei der Steigleistung zu erörtern. Denn die Ergebnisse dieser Exkurse ließen sich mit dem Problem der Höhenmessung gut verknüpfen, womit er seine Fachkenntnisse in die Nähe wissenschaftlicher Korrektheit rückte. Man glaubte ihm: ohne je zu widersprechen! Zeigte weiterhin Interesse. Und wollte immer mehr von diesen fliegenden Kisten wissen. Die Frage nach dem Unterschied zwischen einem Aneroid-Barometer und einem Funkhöhenmesser kam erwartungsgemäß, wenn er, um das Problem der Flughöhe zu erörtern, sowieso über beide Gerätetypen sprechen musste. Die Erläuterungen hierzu waren eingeplant, weil er damit auf das vertikale Navigieren überleiten wollte. War auch diese Unterweisung beendet, ließ er den Diskurs über die Kursbestimmung folgen.

Aber nicht alles, was er auf diese Art verständlich machte, wurde immer gleich begriffen. Deshalb veranschaulichte er einige Sachverhalte durch wirkungsvolle Skizzen. Die er, wenn nichts Besseres vorhanden war, auf Papierservietten machte und das Visualisierte, als krönenden Abschluss, mit eingeübten Berechnungen aus der sphärischen Trigonometrie versah. Das, was man beim Navigieren Referenzrichtung nennt, verdeutlichte er auf diese Weise immer gerne. War ein Gesprächspartner nicht minder einfallsreich und warf technisch interessante Fragen auf, wuchs Tilo Parker über sich hinaus. Er mengte dann vorzugsweise solche Technizismen unter seine Sätze, die von manch einem Zuhörer als Demütigung empfunden wurden. Um Zugaben war er nie verlegen. Als Angebote führte er Begriffe wie Luvwinkel, Steuerkurs, Kompassnord und Gitternord im Köcher. Hätte er diesen geleert, wäre sein Fliegergarn verbraucht gewesen. Daher schloss er seine Ausführungen stets vor(!) solch einem faden Ende. Mit der Behauptung, dass der Kurskreisel das Azimut in Bezug auf eine gewählte Richtung zeige, beendete er dann stets die Werbeposse.

All das, was Tilo Parker über Aeronautik und Aeromechanik wusste, war, streng genommen, unnützes Wissen. Eine Verkettung von Kenntnissen, die in seinem Hirn solange ein Vagabundenleben führen durften, bis sie ab und an benötigt wurden. Und ihm, dem Referenten, ein bisschen Ruhm einbrachten.

Da hierbei meist ein Faktum richtig war, gelang es ihm hin und wieder, auch unter Experten einige Trümpfe auszuspielen und sich damit Genugtuung zu verschaffen.

„Würde man sich bei mir nach den Koordinaten des Flughafens München erkundigen“, monologisierte Tilo Parker selbstzufrieden, „jedem könnte ich sie augenblicklich sagen.“ Imaginierte eine mit hellem Staub getrübte Stelle auf der Fensterscheibe. Und schrieb mit dem Zeigefinger die GPS-Koordinaten, die zur geografischen Definition dieses Ortes nötig waren, in den Fleck hinein: 48° N und 11° E; die jeweiligen Minuten- und Sekundenangaben hierzu hatte er vergessen.

Dass er nun wieder in der Gegenwart verweilte, erstaunte ihn nicht sehr. Er wusste ja, dass sein innerer Intimus schlecht einzuschätzen war. Dieser hatte häufig unberechenbare Launen. Und er ließ ihn unter dieser Willkür leiden. Insbesondere dann, wenn Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft jeweils präzise zugeordnet werden mussten.

Doch dem inhärenten Anarchisten schien es Spaß zu machen, Zusammenhängendes zu trennen und es danach, allerdings beliebig, neu zusammenzusetzen.

Bisweilen wehrte sich Tilo Parker gegen dieses aufgezwungene Geratewohl. Auch momentan kämpfte er dagegen an. Er konzentrierte sich und richtete seine Gedanken auf die Begebenheiten, die dem Flugzeug-Crash am Liboldsee damals gefolgt waren …

Nachdem die Blériot vom Steg gerutscht und ins Wasser gefallen war, verließ er den entweihten Ort. Aber noch einmal den Berg hinaufkraxeln? Nein! Dazu hatte er keine Lust. Sodass er für den Rückweg, gezwungenermaßen, die fast doppelt so lange Verbindungsstraße nehmen musste. Auf der er dann frustriert die Schritte zählte; bis er sich, nach etwa zehn Minuten, an eine Abkürzung erinnerte. Es war ein Seitenweg, der sich durch zwei Ackerflächen schnitt. Die jedoch, seit Jahr und Tag, verwildert waren: Weil Noltmann, dem dieses Land gehörte, seinen Lebensherbst genoss. Für Feldarbeiten rührte er schon lange keinen Finger mehr.

An diesem Seitenweg war Tilo Parker längst vorbeigelatscht. Kurz entschlossen machte er kehrt. Ging bis zur Abzweigung zurück. Bog links ab. Schlenderte bis zu dem Geräteschuppen. Nutzte dessen Schatten, um in diesem zu verweilen und zu jenem kahlgebrannten Baum zu gucken. Ein Baum, der seiner Gattung aber nicht mehr ähnlich sah; allenfalls die Szenerie in einem Horrorfilm bereichert hätte. So grausig wirkte er! Sein Aussehen war den unergründlichen Gestaltungskräften eines Blitzes zu verdanken; ein Blitz, der sich hier als Land-Artist dauerhaft verewigt hatte: mit Brandspuren als Signatur.

Noltmann stand vor diesem Baum. Er hatte Tilo Parker den Rücken zugekehrt; machte sich an irgendwas zu schaffen.

Gregor Noltmann war beliebt im Ort. Auch Tilo Parkers Großvater, der Bäckermeister, hatte eine gute Meinung von Besagtem. „Er ist ein Mann mit guten Umgangsformen! Ehrenmann müsste Noltmann deshalb heißen! Dem würde ich jederzeit vertrauen.“ So war von ihm schon oft zu hören gewesen.

Niemand hätte Herrn Noltmann anders eingeschätzt. Vor allem Tilo Parker nicht. Nur Gutes fiel ihm zu dem alten Knaben ein.

Dieses Mal wahrte er instinktiv Distanz. Er lehnte sich an den Geräteschuppen. Lugte um die Ecke. Und versuchte zu ergründen, was an diesem Baum dort vor sich ging. Besondere Beachtung fand zunächst der Ast, der, zwei Handbreit über Noltmanns Kopf, dem gespenstischen Stamm rechtwinklig entwuchs … und dann auch noch die Kordel, die an diesem Ast befestigt worden war. Sie hing ein kurzes Stück nach unten. Und sie umschnürte zwei Hinterpfoten! Herr Noltmann balgte ab. War es doch, und zwar seit alters her, im ganzen Landstrich üblich, sonntags hin und wieder einen gebratenen Hasen aufzutischen. Der – bevor er als leckere Mahlzeit die Mägen füllen konnte – zuerst sein unbeschwertes Leben herzugeben hatte. Dass einem Hasen, nachdem er ausgeweidet worden war, auch das Fell noch abgezogen werden musste, gehörte nun einmal dazu!

Als Tilo Parker dann genau hinsah, erkannte er, dass es gar kein Hase war! Ein Hund hing dort am Seil! Ein Dackel offenbar: gemäß dem erinnerlichen Rasseportrait.

Bis auf jene, die neu hinzugezogen waren und von diesem dunklen Brauch nichts wussten, hatte es sich unter den Alteingesessenen jedoch herumgesprochen, dass Noltmanns Frau, die Josefa, das Kochrezept für einen Canis familiaris derart kunstvoll abzuwandeln wusste, dass er hinterher wie Westfälischer Hasenpfeffer –, manchmal auch wie Rindersauerbraten schmeckte!

Um speziell diese Variante auf den Tisch zu bringen, nahm sie Suppengrün, Schalotten, Sellerie, Piment- und Pfefferkörner, Wacholderbeeren, Lorbeerblätter und auch noch einen grünen Tannenzweig. Mit Rotwein und Himbeer-Essig – die jeweiligen Mengen waren ihr Geheimnis – verkochte sie all dies zu einer Marinade, mit der sie das Fleisch vier Tage lang nass beizte. Danach holte sie das eingelegte Stück heraus. Trocknete es ab. Und schnitt Speck: in Würfel, die im Bräter ausgelassen wurden. Hinein in dieses heiße Fett kam dann das gute Stück. Auch Salz und Pfeffer noch, die Mengen jeweils nach Geschmack. War das Fleisch von beiden Seiten kräftig angebraten worden, goss sie die durchgesiebte Marinade an und ließ das Ganze schmoren. Kurz vor dem Auftischen reduzierte sie den Sud. Verfeinerte ihn mit rotem Wein und saurer Sahne. Und bereitete daraus die Bratensoße, deren Geruch sogar militante Veganer in Versuchung hätte führen können.

Das Haustier Dackel, lebend, war für Tilo Parker ein liebenswertes Wesen. Als er sich vorstellte, Herrn Noltmann sogleich ehrerbietig und lächelnd grüßen zu müssen, wenn er an ihm vorübergehen würde, wurde ihm ganz flau.

Da es aber keine andere Abkürzung in der Nähe gab, ging er notgedrungen zum See-Hotel zurück. Schaute freudlos die steile Anhöhe an. Und kraxelte, die Serpentinen wieder querend, missgestimmt hinauf.

An der Köhlerhütte ging er vorüber, ohne sie im Blickfeld wahrzunehmen; umso deutlicher jedoch das getrocknete Laub daneben. Es verlockte, um eine Ruhepause auf den braunen Blättern einzulegen. Er gab dem Anreiz nach. Und setzte sich aufs naturgemachte Polster.

Nach einer halben Minute meinte er, sich auszustrecken wäre erquickender als zu sitzen.

Daraufhin machte er gemeinsame Sache mit seiner körperlichen Schwäche, die ihn, der Länge nach, sanft aufs Laub hinunter drückte.

Er entspannte sich, indem er seine Augen schloss, im Dunkeln nach dem Lichten suchte …

und sich Gedankenbilder offerieren ließ, die ihn als Akteur der Handlung zeigen; Vertonung inklusive. Krähen sind’s, die von fernher krächzen. Wie unter Zwang zählt er dann die ausgestoßenen Laute. Zählt. Zählt und zählt. Bis er, statt Krächz-Geräusche, das Geschrei von Möwen hört und von einst verbrachten Urlaubstagen an der Nordseeküste träumt. Doch nicht die lauten Möwen sind es, die ihn stören. Es ist der bellende Husten, der alles übertönt … und Tilo Parker in Verwirrung bringt. Denn niemand ist ihm hier zuvor begegnet, in dieser menschenleeren Gegend. Auch die Krabbenkutter, auf denen gelegentlich gehustet wird, sind längst in See gestochen. Ein einziger nur, ein weißer, liegt noch im Hafen. Er hat ungewöhnlich hohe Deckaufbauten. Vor allem das Ruderhaus ragt weit nach oben. Es hat ein flaches Dach, das Tilo Parker nun als Lagerstatt benutzt …

Er liegt auf dem Rücken, guckt in den unbewölkten Himmel. Genießt die leichte Brise von Nordwest. Lässt sich vom fedrigen Luftstrom die Gesichtshaut streicheln und zählt die Möwen, die das Ruderhaus umkreisen, aber nicht mehr kreischen. Sodass allein der trockene Husten durch die Sphäre schallt. Unerhört!, denkt er. Unerhört, dass hier jemand pausenlos so husten darf! Und, durch diesen Missklang aus dem Hals, die heilende Kraft der Seeluft frech infrage stellt. Wer, außer mir, verweilt noch hier? Wer es auch sei, denkt er, ich werde diesen Störenfried zur Ordnung rufen, ihm weiteres Husten untersagen!

Er setzt sich aufrecht hin. Blickt nach unten. Und entdeckt den Ruhestörer.

Dieser – angekleidet mit einer schwarzen Soutane – steht unten auf dem Hafendamm und hält dem hohen Blick, der auf ihn gerichtet ist, eine Weile stand. Dann hebt er seinen Stock – nein, ein Regenschirm ist es, der in einer dunklen Hülle steckt – und zeigt damit dorthin, wo Tilo Parker sitzt. Merkwürdig, denkt er, als er hinunterblickt: Seltsam, dass sich ein Mensch, den man steil von oben sieht, so extrem verkürzt. Oder ist der Kerl dort unten tatsächlich so ein kleiner Wicht? Wenn ich nur wüsste, wer dieser Heini ist?

Es scheint, als ob der Ruhestörer Gedanken lesen könnte. Während er noch immer hinauf zu Tilo Parker zeigt, sagt er weihevoll: „Ich bin der Gräfliche Kaplan! Hier kennt mich jedermann! Doch wer bist du? Und was treibst du dort oben auf dem Kahn? Weißt du etwa nicht, dass jeder Feriengast ein gültiges Visum in diesem Landesteil hier haben muss? Diese Rechtsverordnung gilt selbstverständlich auch für dich! Gleichgültig, wer du bist! Also! Zeig ihn her: den Sichtvermerk im Pass!“

Einen Kaplan, der im Dienste eines Grafen steht und obsolete Rechtsansprüche geltend macht, den gibt’s doch nicht in Wirklichkeit! Jedenfalls nicht in dieser Zeit, denkt Tilo Parker und schweigt. Tut, als habe er kein Wort gehört.

Nach einer Weile besinnt er sich jedoch. Und ruft: „Der Kommandant auf diesem Schiff bin ich! Ein Dokument, wie man es wünscht, benötige ich auf eigenem Territorium nicht!“

Die Reaktion darauf ist sonderbar.