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Ein Schlamassel kommt selten allein, das weiß die Kopfgeldjägerin Stephanie Plum nur zu gut. Als wäre es nicht schlimm genug, einer ausgebüxten Giraffe durch Trentons Straßen hinterherzujagen, muss Stephanie nun auch noch einen skrupellosen Gangster aufspüren: Salvatore Sunucchi, alias „Onkel Sunny“. Sunny wird des Mordes bezichtigt – doch niemand will sich mit ihm anlegen. Selbst Trentons heißester Cop, Joe Morelli, hat wenig Interesse, den Flüchtigen zu stellen. Denn tatsächlich ist „Der Pate“ sein Patenonkel. Als Stephanie nebenbei auch noch über einen Serienkiller stolpert, der es auf alleinstehende Seniorinnen abgesehen hat, ist das Plum'sche Chaos mal wieder perfekt ...
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Seitenzahl: 337
Buch
Ein Schlamassel kommt selten allein, das weiß die Kopfgeldjägerin Stephanie Plum nur zu gut. Als wäre es nicht schlimm genug, einer ausgebüxten Giraffe durch Trentons Straßen hinterherzujagen, muss Stephanie nun auch noch einen skrupellosen Gangster aufspüren: Salvatore Sunucchi alias »Onkel Sunny«. Sunny wird des Mordes angeklagt, er hat einen Mann überfahren – und zwar gleich zwei Mal. Doch niemand will sich mit ihm anlegen. Selbst Trentons heißester Cop, Joe Morelli, hat wenig Interesse, den Flüchtigen zu stellen. Denn tatsächlich ist »Der Pate« sein Patenonkel. Doch während Morelli durchaus einsieht, dass das Gesetz auch für die eigene Familie gilt, lässt seine Großmutter Bella nichts unversucht, um die Ermittlungen zu sabotieren. Nebenbei stolpert Stephanie auch noch über einen Serienkiller, der es auf alleinstehende Seniorinnen abgesehen hat. Drei Frauen wurden bereits tot aufgefunden, ausgeraubt und mit einer Jalousien-Kordel erwürgt. Alle drei waren um die 70, alle drei waren bekannt für ihre Bingo-Leidenschaft. Apropos Leidenschaft: Morelli oder Ranger, das ist und bleibt die Frage … Eine Giraffe, ein Gangster und Gefühlschaos hoch drei – damit ist das Plum’sche Chaos mal wieder perfekt!Mehr Informationen zur Autorin und ihren Büchern unter: www.janetevanovich.de
JANET EVANOVICH
Küss dich glücklich
Ein Stephanie-Plum-Roman
Übersetzt von Thomas Stegers
1
Spätabends. Lula und ich observierten gerade Salvatore Sunucchi, besser bekannt unter dem Spitznamen Onkel Sunny, als plötzlich Jimmy Spit in unser Blickfeld geriet. Spit parkte mit seinem vorsintflutlichen Cadillac Eldorado am Rand der Sozialsiedlung von Trenton, einen halben Häuserblock von Sunucchis Wohnung entfernt. Der Kofferraum stand offen.
»Sieh an, sieh an«, sagte Lula. »Jimmy hat seinen Bauchladen mitgebracht. Eine ganze Fuhre Handtaschen. Ich könnte eine gebrauchen. Handtaschen kann frau nie genug haben.«
Kurz darauf musterte Lula eine lila Brahmin-Tasche, angeblich mit Swarovski-Kristallen besetzt. »Ist das auch wirklich eine echte Brahmin?«, fragte sie nach. »Und nicht bloß eine billige Fälschung?«
»Die Ware ist absolut sauber. Das weiß ich aus zuverlässiger Quelle«, sagte Spit. »Und für Sie mach ich einen Sonderpreis. Zehn Dollar. Ein besseres Schnäppchen kriegen Sie nicht.«
Lula schlang sich zur Probe die Tasche um die Schulter, und im selben Moment galoppierte eine Giraffe vorbei. Einfach so. Die Straße entlang. Sie bog an der Ecke Sixteenth Street ab und verschwand in der Dunkelheit.
»Das hab ich jetzt nicht gesehen«, stellte Lula klar.
»Ich auch nicht«, sagte Spit. »Möchten Sie die Handtasche nun kaufen oder nicht?«
»Das war eine Giraffe«, sagte ich. »Sie ist an der Sixteenth Street abgebogen.«
»Will bestimmt zum 7-Eleven«, sagte Spit. »Sich ein Slurpee genehmigen.«
Ein schwarzer Cadillac Escalade mit getönten Scheiben und Satellitenschüssel auf dem Dach raste vorbei und stieß links in die Sixteenth. Quietschende Bremsen, Schüsse, dann ein unmenschlicher Schrei.
»Ich hab die Giraffe nicht gesehen«, sagte Spit. »Ich hab das Auto nicht gesehen. Und den ganzen Scheiß eben hab ich auch nicht gehört.«
Er entriss Lula die zehn Dollar, knallte die Kofferraumklappe zu und dampfte ab.
»Wehe, die haben die Giraffe massakriert«, sagte Lula. »Sowas kann ich nicht leiden.«
Ich sah sie an. »Hast du nicht gerade noch behauptet, du hättest keine Giraffe gesehen?«
»Ja. Ich dachte, das wär eine Halluzination. Und käme von den Pilzen auf meiner Pizza gestern Abend. Schließlich sieht man nicht alle Tage eine Giraffe frei herumlaufen.«
Mein Name ist Stephanie Plum, und ich arbeite als Kautionsdetektivin für die Agentur Vincent Plum Bail Bonds. Lula ist zuständig für die Ablage im Büro, fährt aber meistens unser Fluchtauto. Sie ist ein paar Zentimeter kleiner als ich, etliche Zentimeter breiter, und ihre Haut ist sehr viel dunkler. Früher ist sie auf den Strich gegangen; aber ihren angestammten Platz an einer Straßenecke hat sie schon lange aufgegeben, nur die entsprechende Garderobe behalten. Neonfarben und Tiermuster sind ihre Vorlieben, und sie experimentiert gerne mit Elastan, dessen Möglichkeiten sie bis zum Äußersten ausreizt. Heute trug sie knallrosa Strähnchen im brünetten Haar, damit es zu dem Tanktop passte, das ihre gottgegebene dralle Fülle kaum bewältigte. Das Tanktop reichte bis knapp über den hautengen schwarzen Stretchrock, der Rock bis knapp unter den Poansatz. Ich sähe in diesen Klamotten ziemlich dämlich aus, doch bei Lula funktioniert diese Neon- und Elastan-Masche irgendwie.
»Ich muss herausfinden, ob der Giraffe was passiert ist«, sagte Lula. »Die Typen in dem Escalade könnten Großwildjäger sein.«
»Wir sind hier in Trenton, New Jersey!«
»War das nun eine Giraffe oder nicht?«, empörte sich Lula. »Und ist eine Giraffe etwa kein Großwild?«
Da Lula unsere Chauffeuse war, mussten wir fahren, wohin sie wollte, also sprangen wir in ihren Firebird und folgten der Giraffe.
Kein Escalade und keine Giraffe, als wir in die Sixteenth Street bogen, nur ein Mann, der mitten auf der Straße lag, regungslos, Gesicht nach unten.
»Sieht nicht gut aus«, sagte Lula. »Wenigstens hat es nicht die Giraffe erwischt.«
Lula bremste kurz vor dem leblosen Körper ab, wir stiegen aus und beugten uns über ihn.
»Kein Blut zu erkennen«, stellte Lula fest. »Vielleicht hält er nur gerade ein Schläfchen.«
»Klaro. Und das Ding in seiner Pobacke ist auch kein Betäubungspfeil.«
»Den habe ich erst nicht gesehen, aber du hast recht. So eine Giftspritze haut den stärksten Eskimo vom Schlitten.« Lula stieß mit der Schuhspitze gegen den Kerl, doch er bewegte sich noch immer nicht. »Was sollen wir deiner Meinung nach mit ihm machen?«
Ich setzte einen Notruf ab, und der Mann in der Zentrale riet mir, den Verletzten an den Straßenrand zu bugsieren, damit er nicht noch überfahren wurde. »Wir schicken jemanden vorbei.«
Während wir auf den Notarzt warteten, durchwühlte ich die Taschen des Mannes. Ralph Rogers, vierundfünfzig, Wohnsitz in Trenton, Hamilton Township. Er besaß eine MasterCard und sieben Dollar.
Der Notarztwagen schnurrte ohne großes Trara heran. Zwei Sanitäter stiegen aus und untersuchten Ralph, der noch immer auf dem Bauch lag, die Spritze im Allerwertesten.
»Sowas kriegt man nicht alle Tage zu sehen«, sagte der größere der beiden.
»Der Pfeil war wahrscheinlich für die Giraffe bestimmt«, sagte Lula zu ihm. »Oder der Mann ist ein Gestaltwandler und war vorher eine Giraffe. Die Giraffe von eben.«
Die beiden Männer schwiegen, überlegten vermutlich, ob sie Lula nicht gleich mitnehmen und in der Klapse abliefern sollten.
»Es ist Vollmond«, bemerkte schließlich der kleinere von beiden.
Der andere nickte. Sie luden Ralph in den Wagen und fuhren davon.
»Und jetzt?«, fragte Lula. »Weiter nach Onkel Sunny suchen? Oder geben wir uns einen neuen Auftrag? Zum Beispiel Pizza bei Pino’s?«
»Ich hab genug für heute. Ich fahr nach Hause. Wir nehmen Sunnys Spur morgen wieder auf.«
In Wahrheit wollte ich nach Hause, weil im Kühlschrank eine Flasche Champagner auf mich wartete. Tagelang hatte sie auf der Küchentheke gestanden, eine Abschlagszahlung für einen Job, den ich für meinen Freund und gelegentlichen Arbeitgeber Ranger erledigt hatte. An der Champagnerflasche klebte eine Nachricht, die nahelegte, dass Ranger ein Date brauchte. Dazu muss ich sagen: Ranger ist ein heißer Typ, steht gut im Saft, ist ein Magier im Bett, und trotzdem, all das konnte nicht aufwiegen, was beim letzten Mal, als ich Rangers Date spielte, passiert war: Ich war vergiftet worden. Den Champagner hatte ich für einen besonderen Anlass aufgehoben, und eine Giraffe die Straße langlaufen zu sehen schien mir der beste Anlass überhaupt.
Lula setzte mich am Kautionsbüro ab, ich stieg in mein Auto um, zwanzig Minuten später lehnte ich an meiner Küchentheke und süffelte Champagner. Ich schaute meinem Hamster Rex in seinem Laufrad zu, da spazierte Ranger herein.
Mit trivialen Dingen wie Anklopfen oder Klingeln gibt sich Ranger nicht ab, ihn hat noch nie eine verschlossene Tür aufgehalten. Er besitzt ein Security-Unternehmen, das von einem unscheinbaren sechsstöckigen Bürogebäude im Stadtzentrum von Trenton aus operiert. Ranger hat einen perfekten Körper, eine eigensinnige Moral und eine verschwiegene Art. Er ist, wie ich, Anfang dreißig, was die Lebenserfahrung betrifft, mir jedoch um Lichtjahre voraus. Er ist Latino. Er war bei den US Army Special Forces. Er ist sexy, smart, manchmal unheimlich und mir gegenüber häufig überfürsorglich. Heute trug er einen schwarzen Kampfanzug mit dem Rangeman-Firmenzeichen auf dem Ärmel, und er war bewaffnet, was bedeutete, dass er gerade Streifendienst versah. Wahrscheinlich war er für einen seiner Männer eingesprungen.
»Arbeitest du heute Abend?«, fragte ich ihn.
»Ich habe für Hal die Nachtschicht übernommen.« Er sah das Glas in meiner Hand. »Trinkst du etwa aus einem Bierglas Champagner?«
»Ich besitze leider keine Champagnerflöten.«
»Babe!«
»Babe« deckt bei Ranger ein breites Bedeutungsspektrum ab. Es kann ein Vorspiel einleiten, eine einfache Begrüßung sein, Ausdruck absoluter Verzweiflung oder, wie in diesem Fall, von Heiterkeit.
Ranger schmunzelte ein klein wenig und tat einen Schritt auf mich zu.
»Stehen bleiben«, sagte ich. »Nicht näher kommen. Die Antwort lautet nein.«
Seine braunen Augen sahen mich an. »Hab ich eine Frage gestellt?«
»Du wolltest gerade eine stellen.«
»Stimmt.«
»Vergiss es, ich hab nämlich keine Lust.«
»Ich könnte dich umstimmen.«
»Glaub ich nicht.«
Na gut, Ranger ist zu allem fähig. Ranger kann sehr überzeugend sein.
Rangers Handy brummte, er las die SMS und ging zur Tür. »Ich muss gehen. Ruf an, wenn du es dir anders überlegt hast.«
»Was?«
»Egal.«
»Moment noch. Wie lautet die Frage?«
»Kann ich dir jetzt nicht erklären. Keine Zeit«, sagte Ranger. »Ich hol dich morgen Abend um sieben Uhr ab. Ein kleines Schwarzes wäre nicht schlecht. So von der sexy Sorte.«
Weg war er.
2
Als ich mich aus dem Bett quälte, drangen gerade die ersten Sonnenstrahlen durch den Spalt im Schlafzimmervorhang. Ich duschte, trocknete mir die schulterlangen lockigen Haare mit dem Föhn und bändigte sie zu einem Pferdeschwanz. Ich putzte mir die Zähne, klatschte mir Mascara auf die Wimpern und Cherry Gloss auf die Lippen.
Für Vinnie Plum auf Verbrecherjagd zu gehen ist kein supereinträglicher Job, aber ich kann mir die Arbeitszeit selbst einteilen und muss keine Büroklamotten tragen. Girlie-T-Shirt, Jeans, Sneakers, Handschellen, Pfefferspray, und ich bin einsatzbereit.
Ich goss Rex frisches Wasser nach, gab ihm einen Cracker, schnappte mir meine Umhängetasche und machte mich auf den Weg ins Büro. Ich wohne am Stadtrand von Trenton, zwei Zimmer, Küche, Bad, ohne Schnickschnack, erster Stock. Es ist kein Loch, aber auch kein Luxusapartment. Im Haus residieren hauptsächlich Rentner, die in dem Diner um die Ecke gerne den Frührabatt nutzen und auf den Moment hinleben, in dem sie sich einen Behinderten-Sticker an die Autoscheibe pappen dürfen. Sie sind alle bis an die Zähne bewaffnet, das Objekt ist also gut gesichert, sieht man von den Schusswechseln ab, die Personenverwechslungen aufgrund einer Makuladegeneration geschuldet sind. Meine Wohnung geht auf den Mieterparkplatz hinaus; mir recht, weil ich so immer sehen kann, ob gerade mein Auto geklaut wird oder nicht.
Es war ein wunderschöner, hochsommerlicher Donnerstagmorgen, und es herrschte, da keine Schulbusse unterwegs waren, nur wenig Verkehr. Ich fuhr auf den kleinen Parkplatz hinter Vincent Plums Kautionsbüro. Von den vier Parkbuchten waren drei schon belegt, mit dem Cadillac von Cousin Vincent, dem Toyota unserer Büroleiterin Connie und Lulas Firebird. Ich stellte meinen durchgerosteten Ford Taurus dazu und ging hinein.
»Hallöchen«, begrüßte mich Lula. »Dein Blick sagt alles.«
»Was denn?«
»Dass es dir gestern keiner besorgt hat.«
Ich lief zielstrebig zur Kaffeemaschine. »Mir besorgt es so gut wie nie jemand. Daran bin ich gewöhnt. Morelli hinkt mit seiner Arbeit hinterher.«
Joe Morelli ist Zivilpolizist, Dezernat Verbrechen gegen Menschen. Ich bin mit Morelli zusammen aufgewachsen, ich habe meine Jungfräulichkeit an ihn verloren, ich habe ihn in einem berechtigten Wutanfall mit dem väterlichen Buick überfahren, und heute, Jahre später, ist er mein Freund. Das soll einer verstehen. Er ist ein guter Polizist und ein toller Liebhaber. Und er hat einen Hund. Morelli, das sind hundertzweiundachtzig Zentimeter italienische Libido, die meinen Slip zum Brennen bringt. Welliges schwarzes Haar, braune Augen, straffer Body. Wegen einer Schussverletzung musste Morelli zeitweilig pausieren, jetzt arbeitet er wieder, schluckt aber Schmerztabletten.
»Wieso dann diese Miene heute Morgen, als bräuchtest du drei Donuts?«, fragte Lula.
»Ranger war gestern Abend bei mir.«
Lula gingen die Augen über. »Echt?«
»Er wollte ein Date.«
»Ich hab jetzt schon Herzrasen«, sagte Lula. »So ein schöner Mann. Das heißeste Teil, das ich je gesehen habe. Bist du der Stimme der Natur gefolgt? Ich will alles wissen, jedes Detail.«
»Ist nichts passiert. Das Date soll heute Abend sein.«
»Ach du Scheiße«, sagte Lula.
»Und?«, sagte Connie.
»Ich hab die ganze Nacht kein Auge zugetan. Ich musste immer daran denken.«
»Kann ich mir vorstellen«, sagte Lula. »Mir wäre die Flattermöse durchgedreht.«
Ich schielte in den Donut-Karton auf Connies Schreibtisch und nahm mir einen mit Ahornsirupglasur. »Als ich mich das letzte Mal auf ein Date mit Ranger eingelassen habe, hat sich sein Freund in meiner Wohnung in die Luft gesprengt.«
»Ranger hat aber danach einen Putztrupp vorbeigeschickt, um die Gehirn- und Gedärmreste von der Wand zu kratzen«, sagte Lula. »Das war doch sehr aufmerksam von ihm.«
»Hast du neue Fälle für mich?«, fragte ich Connie.
Ich erhalte keinen festen Monatslohn. Mein Geld verdiene ich mit dem Aufspüren von Kautionsflüchtlingen. Eine Person, die eines Verbrechens angeklagt ist, geht entweder ins Untersuchungsgefängnis oder kommt gegen eine Stange Geld als Garantie bis zum Prozessbeginn auf freien Fuß. Fehlen dem Angeklagten die nötigen Mittel, wendet er sich an Vinnie, der dann die Kaution stellt. Erscheint er später nicht zum Prozess, behält das Gericht Vinnies Geld ein. Jetzt komme ich ins Spiel. Vinnie schickt mich los, den Kerl zu suchen und ihn dem Gericht vorzuführen. Bei Erfolg erhalte ich einen Prozentanteil vom erstatteten Geld.
»Nichts Interessantes«, sagte Connie. »Nur zwei Fälle mit niedriger Kautionssumme. Ziggy Radiewski und Mary Treetrunk sind beide nicht vor Gericht erschienen.«
»Was hat Ziggy denn diesmal verbrochen?«, fragte Lula.
»Erst hat er seine Notdurft auf Mrs Bilsons Hund verrichtet«, sagte Connie. »Dann hat er ihr den blanken Hintern gezeigt. Behauptet, das sei keine Absicht gewesen, er sei aufgrund einer Alkoholvergiftung vorübergehend unzurechnungsfähig gewesen.«
»Da hat er vermutlich recht«, sagte Lula.
»Die können mich alle mal«, rief Vinnie aus seinem Büro. »Warum habt ihr Onkel Sunny nicht geschnappt? Für den habe ich eine happige Kaution hingelegt. Der Kerl hat jemanden umgebracht, verdammte Hacke! Worauf wartet ihr noch? An die Arbeit! Ich bezahl euch nicht fürs Rumsitzen und Donut-Fressen.«
»Nur weiter so, und ich komme in dein Büro und hock mich auf dich drauf und zerquetsch dich, dass nur noch ein hässlicher Fettfleck übrig bleibt«, drohte Lula ihm.
Die Tür zu Vinnies Büro wurde zugeknallt, der Riegel vorgeschoben.
»Läuft gerade nicht so gut für ihn«, erklärte Connie. »Wir schreiben rote Zahlen, und Harry wird ungeduldig.«
Harry der Hammer, ihm gehört das Kautionsbüro. Außerdem ist er Vinnies Schwiegervater. Den Spitznamen hat er sich als Mafiaschläger verdient; er soll Kunden dazu gebracht haben, ihren Zahlungsverpflichtungen nachzukommen, indem er ihnen Nägel in verschiedene Körperteile getrieben hat. Das war vor der Zeit, als Bolzenschussgeräte bei Schreinern und Mafiosi in Mode kamen.
Ich nahm Connie die beiden Akten ab und verstaute sie in meiner Tasche.
»Wir haben Onkel Sunny gestern Abend mehr als vier Stunden observiert«, sagte ich zu Connie. »Und was ist dabei herausgesprungen? Eine neue Handtasche für Lula.«
»Jimmy Spit hat Brahmins verkauft und mir einen guten Preis gemacht«, sagte Lula zu Connie. »Ich wollte schon immer eine Brahmin haben, und die hier ist von der neuen Atelier-Linie.«
Lula nahm die Umhängetasche von ihrer Schulter und führte sie Connie vor.
»Ich habe noch nie eine strassbesetzte Brahmin gesehen«, sagte Connie.
»Das ist kein Strass, das sind Kristalle, damit geht Brahmin ganz neue Wege«, sagte Lula. »Und hier, das kleine silberne Namensschild, daran erkennt man, dass es eine echte Brahmin-Tasche ist.«
Connie sah sich das Namensschild genauer an. »Da steht aber nicht Brahmin. Da steht Brakmin.«
»Ähm.« Lula musterte die Tasche. »Muss ein Schreibfehler sein. Shit happens. Aber auch egal, weil, es ist eine Eins-a-Tasche, und sie passt zu meinen Schuhen.«
»Nehmt euch mal Onkel Sunnys Nachbarn vor«, sagte Connie zu mir. »Und seine Verwandten. Ist Morelli nicht mit ihm verwandt?«
»Er ist Joes Patenonkel«, erwiderte ich. »Und Grandma Bellas Neffe.«
»Oh«, sagte Lula. »Das kann ja heiter werden.«
Grandma Bella ist vor gefühlten tausend Jahren aus Sizilien eingewandert, hat aber immer noch einen starken Akzent, trägt immer noch Schwarz, wie eine Statistin aus Der Pate, und spricht Flüche gegen alle aus, die sie respektlos behandeln. Vermutlich sind diese Flüche totaler Humbug und die anschließenden Furunkel oder der Haarausfall bei den Betroffenen reiner Zufall, trotzdem macht mir die Frau jedes Mal, wenn ich sie sehe, schreckliche Angst.
»Onkel Sunny ist beliebt«, sagte ich. »Bei allen Leuten. Nicht nur bei Bella. Niemand würde ihn verraten.«
»Schlimmer noch«, sagte Lula. »Wir haben die Angestellten im Tip Top Deli gefragt, ob sie wüssten, wo er sich versteckt. Die haben gesagt, wir sollten uns was schämen, Onkel Sunny zu verfolgen. Und dann wollten sie uns nicht bedienen. Und haben uns gewarnt, besser niemals wiederzukommen. Ärgerlich, weil, der Tip-Top-Eiersalat war für mich früher eine tragende Säule meiner Ernährung.«
»Du hast nicht zufällig auf dem Polizeifunk etwas über eine Giraffe gehört, die gestern Abend die Sixteenth Street langgelaufen ist, oder?«, fragte ich Connie.
»Nein. Wieso?«
»Wir glauben, dass wir eine gesehen haben«, sagte Lula.
Connie zog die Stirn kraus.
»Gestern Abend jedenfalls sah es nach einer Giraffe aus«, sagte Lula. »Aber heute Morgen beim Aufwachen sind mir Zweifel gekommen.«
Ich trank meinen Kaffee aus, schlang den Donut hinunter und wandte mich an Lula. »Ich fahre nochmal zurück zu Onkel Sunnys Haus und befrage die Nachbarn. Bist du dabei?«
»Nur mit meinem Auto. Dein Radio ist kaputt. Und ich brauche Stimmung.«
3
Onkel Sunny wohnte im ersten Stock eines dreistöckigen Hauses ohne Fahrstuhl an der Ecke Fifteenth und Morgan. Mindys Nagelstudio im Erdgeschoss diente als Fassade für diverse halb legale, jedenfalls in Trenton halb legale Unternehmungen: Kreditwucher, Prostitution, Wetten. Als Onkel Sunny hier einzog, erweiterte er seine Palette krimineller Machenschaften noch um Gewaltdelikte und Schutzgelderpressung von Grundbesitzern. Oberflächlich betrachtet schien es so, als lebte Onkel Sunny in bescheidenen Verhältnissen, in Wahrheit gehörte ihm das Haus, ja, Sunny besaß den ganzen Häuserblock. Und sein Immobilienbesitz beschränkte sich nicht allein darauf.
»Verstehe ich nicht«, sagte Lula beim Einparken. »Was ist so besonders an dem Mann? Warum haben ihn alle dermaßen gern?«
»Er ist charmant«, sagte ich. »Zweiundsechzig Jahre alt, knapp eins siebzig groß, und auf Hochzeiten singt er Sinatra-Songs. Er flirtet mit alten Damen, und auf Beerdigungen trägt er eine rote Fliege. Zu Weihnachten und Thanksgiving schwingt er in der Suppenküche von St. Ralphs persönlich die Kelle. Er verteilt großzügig Trinkgelder. Und er ist ein Mitglied der Familie Sunucchi-Morelli, zu der halb Chambersburg gehört. Sie hält bekanntlich zusammen, auch wenn sie sich untereinander noch so sehr hassen.«
Ich bin mir sicher, dass er ab und zu auch Menschen umbringt, Geschäfte in Brand setzt und mit verheirateten Frauen rumhurt. In Trenton allerdings fällt all das nicht sonderlich ins Gewicht, und gegen eine rote Fliege oder Sinatra kommt es schon gar nicht an.
Sinatra ist immer noch angesagt in Burg, einem Arbeiterviertel von Trenton. Hier bin ich groß geworden; meine Eltern, meine Schwester samt Familie und meine Oma wohnen immer noch hier. Das Kautionsbüro Vincent Plum ist am Rand von Burg. Das St. Francis Hospital gehört zu Burg. Außerdem gibt es hier vier Konditoreien, zwölf Restaurants, fünf Pizzerien, ein Bestattungsunternehmen, drei italienische Freizeitvereine und an jeder Ecke eine Bar.
Wir standen auf dem Bürgersteig und sahen zu den Fenstern im ersten Stock.
»Anscheinend nichts los da oben«, sagte Lula.
Ein übergewichtiger, kahlköpfiger Fünfzigjähriger betrat das Nagelstudio und wurde ins Hinterzimmer gebeten.
»Der ist bestimmt wegen dem Sonderangebot hier«, sagte Lula. »Das Vormittags-Doppelpack, Fußbehandlung inklusive Blowjob zum halben Preis. Als ich noch Nutte war, wollte Mindy, dass ich für sie arbeite. Ich habe dankend abgelehnt. Pediküre ist nicht so mein Ding. Ich stehe nicht auf Füße. Als Frau sollte man wissen, wo die eigenen Grenzen sind, kapiert?«
Ich wählte Sunnys Nummer auf meinem Handy und hörte es am anderen Ende klingeln. Keine Antwort. Ich marschierte ins Haus, Lula hinter mir her. Wir stiegen die Treppe hinauf in den ersten Stock und fanden Sunnys Wohnung. Nicht weiter schwer, weil es auf dieser Etage nur zwei Wohnungen gab. Ich klopfte an die Tür und wartete. Keine Reaktion. Ich klopfte nochmal.
»Vielleicht ist er tot«, sagte Lula. »Liegt leblos auf dem Boden. Sollen wir nicht lieber reingehen und nachsehen?«
Ich versuchte die Tür zu öffnen. Fehlanzeige.
»Ich würde sie ja eintreten, aber ich habe leider meine Heels an«, sagte Lula. »Das wäre nicht besonders ladylike.«
Ich ging zum anderen Ende des Hausflurs und klingelte. »Hauen Sie ab!«, rief jemand aus der Wohnung.
»Ich möchte Sie nur was fragen«, rief ich zurück.
Die Tür wurde aufgerissen, und eine Frau glotzte mich an. »Was wollen Sie?«
»Ich suche Onkel Sunny«, sagte ich.
»Na und?«
»Vielleicht wissen Sie ja, wo er ist.«
»Bin ich seine Mutter? Sehe ich so aus, als wäre ich sein Terminkalender? Was wollen Sie überhaupt von ihm? Sind Sie von der Polizei?«
»Kautionsagentur.«
»He, Jake!«, schrie die Frau.
Ein großer schwarzer sabbernder Hund trottete herbei und blieb hinter der Frau stehen.
»Fass!«
Das Biest stürzte sich auf uns, Lula und ich wichen instinktiv zurück, doch da hatte es sich bereits in Lulas Handtasche verbissen und sie ihr von der Schulter gezerrt.
»Meine neue Tasche!«, rief Lula. »Könnte eine echte Brahmin sein!«
Der Hund schwenkte die Tasche hin und her, bis sie völlig zerfetzt war. Dann visierte er Lula an.
»Wie der mich anguckt! Gefällt mir gar nicht. Ich würde ihn ja erschießen, aber meine Pistole ist in der Tasche.« Lula sah mich fragend an. »Hast du eine Pistole dabei?«
Ich trat den Rückzug an, zentimeterweise Richtung Treppe. »Nein«, hauchte ich. Es war sowieso egal, denn ich kann nicht auf Hunde schießen, auch wenn ihre Augen noch so rot glühen und ihre Köpfe rotieren.
Jake machte einen Schritt auf uns zu, und Lula und ich ergriffen die Flucht. Lula übersah die oberste Stufe, kippte mir entgegen, und kopfüber kullerten wir die Treppe hinunter und kamen als Knäuel unten im Hausflur an.
»Gut, dass ich oben gelandet bin, sonst hätte ich mir noch was gebrochen«, sagte Lula.
Ich stemmte mich hoch und humpelte zur Haustür. Lula und ich legten nicht zum ersten Mal so eine Bauchlandung hin. Im ersten Stock öffnete sich ein Fenster, Lulas falsche Brahmin flog heraus, und das Fenster wurde wieder zugeknallt.
Lula hob die geschundene Tasche auf. »Wenigstens hab ich meine Pistole wieder«, sagte sie. »Was machen wir jetzt? Frühstücken? Ich könnte ein Frühstücks-Sandwich vertragen.«
»Vinnie wird mir so lange in den Ohren liegen, bis ich Onkel Sunny gefunden habe.«
»Kann schon sein, aber mit der Suche nach Onkel Sunny machen wir uns nur unbeliebt. Und ich habe einen blauen Fleck, weil, ich bin bei dem Sturz auf dir drauf gelandet. Schinkenspeck soll echt gut bei blauen Flecken helfen.«
Ich blätterte in Sunnys Akte. Die Anklage lautete auf Mord mit bedingtem Vorsatz, weil er Stanley Dugan überfahren hatte, zweimal hintereinander. Wahrscheinlich hatte er im Laufe der Jahre vielen Menschen noch weit Schlimmeres angetan, doch diesmal hatte ein Junge ihn mit seinem iPhone aufgenommen und den Film auf YouTube gestellt. Aber da jeder, der Stanley Dugan gekannt hatte, ihn hasste (seine neunzigjährige Mutter eingeschlossen), trug das Video nur zu Sunnys Beliebtheit bei.
Zwei Männer Mitte fünfzig kamen aus dem Nagelstudio geschlendert. Glatzkopf, Wampe, Bundfaltenhose, Bowling-Shirt, Ring am kleinen Finger. Auf dem Shirt des einen Mannes war über der Brusttasche der Name Shorty aufgenäht.
»He«, quatschte mich Shorty an. »Sie haben sich nach Sunny erkundigt.«
»Ich arbeite für seine Kautionsagentur«, sagte ich. »Sunny hat die Kautionsvereinbarung verletzt. Er muss einen neuen Gerichtstermin vereinbaren.«
»Und wenn er dazu keine Lust hat?«, sagte Shorty. »Vielleicht hat er was Besseres zu tun.«
»Wenn er keinen neuen Termin vereinbart, gilt er als Krimineller, Mann.«
Shorty kicherte albern. »Natürlich ist er ein Mann. Sind Sie blöd oder was?«
»Mann! Ein Krimineller! Einer, der sich dem Gesetz entzieht.«
»Passen Sie auf, was Sie sagen«, warnte mich Shorty. »Sie können nicht einfach Sachen über Sunny verbreiten, die rufschädigend sind. Er könnte Sie wegen Verleumdung verklagen.«
»Dann wissen Sie also, wo er sich aufhält.«
»Klar. Er ist da, wo er immer um diese Tageszeit zu finden ist.«
»Und wo ist das, bitte?«
»Das verrate ich Ihnen nicht. Sie sollten sich lieber verpissen, Girlie, sonst muss ich rabiat werden. Ihnen eine Kugel verpassen oder so.«
»Bla, bla, bla«, sagte Lula. »Sie wollen rabiat werden, Shorty? Sie und wer noch?«
»Ich und er.« Shorty wies auf den Mann neben ihm. »Ich und Moe. Stimmt’s, Moe?«
»Ja«, sagte Moe. »Leute wie Sie, die Sunny beleidigen, mögen wir nicht.«
»Außerdem haben Sie meinen Namen so komisch ausgesprochen«, bemerkte Shorty. »Als wollten Sie damit andeuten, ich sei klein.«
»Sind Sie doch auch«, erwiderte Lula. »Sie sind klein. Sie haben eine Glatze. Und wenn ich mir Ihre Klamotten so ansehe, könnte man denken – falls Sie nicht gerade auf der Bowlingbahn waren –, dass Sie einen schlechten Geschmack besitzen.«
»Ach ja? Das müssen Sie gerade sagen«, gab Shorty zurück. »Sie sind fett!«
Lula kniff die Augen zusammen, stemmte die Fäuste in die Seiten und beugte sich vor, dass sie beinahe mit Shortys Nase zusammengestoßen wäre. »Was habe ich da gehört? Ich soll fett sein? Das sollten Sie lieber nicht sagen, sonst müsste ich Sie nämlich plattmachen wie einen Hamburger.«
Mein Blick wanderte nach links, und ich sah die Giraffe ein paar Häuserblocks weiter die Straße überqueren.
»Ach du liebe Scheiße. Schon wieder die Giraffe.«
Lulas Kopf schnellte zur Seite. »Wo? Ich kann keine Giraffe erkennen.«
»Sie hat in Höhe Eighteenth die Straße überquert.«
»Wir müssen los«, sagte Lula. »Was erledigen.«
Wir sprangen in Lulas Auto, rasten die Straße hinunter, bogen in die Eighteenth und kurvten ein bisschen herum. Von der Giraffe war nichts zu sehen.
»Sehr mysteriös«, sagte Lula. »Schließlich kann sie nicht einfach in den nächstbesten Subaru gestiegen und abgehauen sein. Die passt ja nicht mal in einen Escalade. So eine Pleite.«
Morelli rief auf meinem Handy an. »Hallo, Pilzköpfchen. Was geht ab?«
»Nichts«, sagte ich. »Mein Freund ist ein Workaholic.«
»Ich habe fünfzehn Minuten Zeit. Willst du … na, du weißt schon.«
»Wow. Eine ganze Viertelstunde!«
»Ja. Eine Minute für mich und vierzehn für dich.«
»Verlockend. Aber ich bin mindestens noch eine halbe Stunde beschäftigt.«
»Ich könnte mein Angebot um ein Mittagessen erweitern, wenn dir nach Multitasking ist.«
»Wir treffen uns in der Mittagspause bei Pino’s, aber die andere Sache … du weißt schon … müssen wir verschieben.«
»Besser als gar nichts«, sagte Morelli. »Bis gleich.«
Morelli war schon da, als ich das Pino’s betrat. Er hatte uns einen Ecktisch reserviert und sich vor lauter Hunger bereits über den Brotkorb hergemacht. Morelli trug Jeans und über der Hose ein schwarzes T-Shirt, das die Glock an seiner Hüfte nur dürftig verbarg. Sein dunkles Haar wellte sich bis über die Ohren, die braunen Augen waren scharf, der Blick berechnend.
Ich setzte mich ihm gegenüber. »Du hast den Bullenblick«, sagte ich.
Er schob mir den Brotkorb hin. »Das könnte sich ändern, wenn wir die Mittagspause auf den Parkplatz verlegen. Zwischen Schusswechsel und Doppelschicht … Ach, Baby, du fehlst mir … sehr.«
»Du fehlst mir auch.«
Ich nahm mir eine Scheibe Brot und musterte Morelli. Ich kenne ihn fast mein ganzes Leben lang, und an seiner Miene kann ich äußerst gut seine Stimmung ablesen.
»Sonst noch was?«, sagte ich.
Morelli nickte. »Ralph Rogers.«
»Der Kerl mit dem Pfeil im Hintern? Was ist mit ihm?«
»Er ist tot.«
»Als ich ihn das letzte Mal sah, lebte er noch.«
»Herzstillstand bei der Einlieferung ins Krankenhaus. Die Ärzte konnten ihn nicht wiederbeleben. Der Pfeil enthielt irgendein exotisches Gift. Offenbar sehr viel.«
»Hätte es für eine Giraffe gereicht?«
»Darauf geht der Bericht des Toxikologen nicht ein.«
»Empörend.«
»Auch wenn ich meine Frage bestimmt bereue – aber woher das Interesse an Giraffen?«
»Lula und ich verfolgten gerade eine Giraffe, als wir Rogers auf der Straße liegen sahen.«
»Du willst mir nicht auf diese Weise einen Drogenmissbrauch gestehen, oder?«
»Nein. Kein Witz, die Giraffe haben wir tatsächlich gesehen. Lula machte gerade ein Geschäft mit Jimmy Spit klar, und in dem Moment kommt die Giraffe angaloppiert und biegt in die Sixteenth Street. Sekunden später rast ein schwarzer Cadillac mit einer Satellitenschüssel auf dem Dach vorbei, biegt ebenfalls in die Sixteenth, und kurz darauf hören wir Schüsse. Als wir in die Sixteenth kommen, sind die Giraffe und der Escalade wie vom Erdboden verschluckt. Stattdessen liegt Rogers bäuchlings auf der Straße.«
»Bist du sicher, dass es eine Giraffe war?«
»Absolut. Lange Streichholzbeine, knorpelige Knie, gelbes Fell mit schwarzen Flecken, langer Hals. Das war eine Giraffe. Hat niemand aus dem Viertel eine Giraffe gemeldet?«
»Nicht dass ich wüsste. Ich könnte bei der Zentrale nachfragen, aber da käme ich mir blöd vor.«
»Wie geht es deinem Bein? Hast du Schmerzen?«
»Nein. Ich bin schmerzfrei, aber auch vollgepumpt mit Schmerzmitteln. Meine Haare könnten brennen, ich würde es kein bisschen spüren.«
»Kannst du Autofahren?«
»Ja. Müde machen mich die Pillen nicht. Einfach nur ein gutes, taubes Gefühl. Ich kann meine Beine nicht spüren, meine Fingerspitzen nicht und auch nicht meine Zunge.«
»Gut, dass du mir das gesagt hast. So haben wir unsere kostbare Zeit nicht mit schlechtem Parkplatzsex vergeudet.«
Morelli grinste. »Ich wäre schon zurechtgekommen.«
Die Kellnerin brachte uns zwei Baguettesandwichs mit Fleischbällchen und je eine Portion Krautsalat.
»Ich habe beim Reinkommen gleich für uns beide bestellt«, sagte Morelli. »Einverstanden? Meine Zeit ist knapp. Hat Rogers noch was sagen können?«
Ich stocherte in dem Krautsalat. »Nein. Der Pfeil im Arsch hat ihn niedergestreckt. Der Mann hat sich nicht gerührt.«
»Du hast dir nicht zufällig das Nummernschild des schwarzen SUV notiert, oder?«
»Tut mir leid. Er flog so schnell vorbei. Aber allzu viele Escalades mit einer Satellitenschüssel auf dem Dach kann es nicht geben.«
»War es so eine große Schüssel, wie Fernsehsender sie haben?«
»Nein, eher was Kleineres, wie für Drogenhändler oder Zuhälter.«
Morelli biss in sein Baguettesandwich, und etwas rote Soße quoll ihm aus dem Mund und lief ihm übers Kinn.
»Du solltest deinen Tablettenkonsum mal etwas einschränken.«
Er wischte sich den Mund mit einer Papierserviette ab. »Falls du vorhast, den Rest deines Lebens mit mir zu verbringen, dann weißt du jetzt schon, wie ich mit neunzig aussehe.«
»Ist das ein Heiratsantrag?«
»Nein. Ich meine nur.« Er legte die Serviette beiseite. »Und wenn es doch einer wäre? Würdest du ja sagen?«
»Da gibt es nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.«
Er schmunzelte wieder. »Ich spare schon für den Ehering.«
Der Satz hätte mir einen ziemlichen Schrecken eingejagt – wenn ich auch nur für einen Moment geglaubt hätte, Morello meinte es ernst. Aber er ist zum Glück genauso wenig bereit sich zu binden wie ich.
»Darauf kann man sich freuen«, sagte ich.
Sein Grinsen wurde breiter.
Wir aßen auf, Morelli ließ sich die Rechnung bringen, und wir verließen unseren Eckplatz.
»Und auf welchen Unglücksraben hast du es heute abgesehen?«, fragte er mich.
»Onkel Sunny.«
»Erzähl keinen Scheiß.«
»Er hat die Kautionsvereinbarung gebrochen.«
»Halt dich von ihm fern. Soll Ranger den Fall übernehmen.«
»Ranger gibt sich nicht mehr mit Kautionsflüchtlingen ab.«
Morelli legte einen Arm um mich und schob mich aus dem Lokal nach draußen in die Sonne. »Niemand wird dir helfen, Onkel Sunny aufzuspüren. Aber viele werden sich dir in den Weg stellen. Und manche darunter sind verdammt bösartig – und reichlich durchgeknallt.«
»Meinst du deine Oma?«
»Ja. Sie ist die Bösartigste und Durchgeknallteste von allen.«
Ich gab Morelli einen freundschaftlichen Kuss, stieg in meinen Taurus und fuhr zu meinen Eltern. Sie wohnen in keinem besonders schicken Haus, aber es ist ein Stück Heimat, und ich fühle mich dort sicher und geborgen.
4
Das Haus meiner Eltern ist schmal. Oben drei Schlafzimmer und Bad. Unten Wohnzimmer, Esszimmer und Küche. Das Wohnzimmer ist vollgestellt mit Polstermöbeln, Ecktischchen, Lampen, Sitzkissen, Servierschalen, Kunstblumengestecken und Plastikeimern mit Spielzeug für die Kinder meiner Schwester. Das Sofa und alle Sessel sind nach dem Fernseher ausgerichtet. Auf dem Esstisch liegt immer eine Spitzendecke, darauf zwei Kerzenleuchter. Der Tisch ist für acht Personen, aber er hat auch schon neun plus Kindersitz aufgenommen. Und es bleibt gerade noch genug Platz für meine Nichte, die gerne wie ein Pferd um den Tisch galoppiert. In der Küche werden alle wichtigen Dinge besprochen: Was gibt’s zu essen? Auf welches College soll ich gehen? Soll ich mir die Gallenblase entfernen lassen? Soll ich heute Abend zu Andy Melniks Totenwache gehen oder mir lieber den Festumzug der Miss America ansehen?
Grandma Mazur stand schon an der Haustür, als ich einparkte. Grandma ist zu meinen Eltern gezogen, nachdem mein Opa mit seinen verkalkten Arterien in den Himmel aufgestiegen war. Sie hat stahlgraue Haare und trägt eine Dauerwelle im Stil von 1959. Sie hält sich kerzengerade und gönnt sich gerne ein Schlückchen Whiskey vorm Schlafengehen. Seit kurzem läuft sie in Pilates-Hosen und Tanktops herum, was die grauenvolle Wirkung der Schwerkraft auf schlaffe menschliche Haut besonders betont. Grandma ist eine Klatschbase und unerschöpfliche Informationsquelle über die Unterwelt von Trenton. Gut möglich, dass sie mir was über Onkel Sunny erzählen konnte, was nicht auf Connies Datenblatt stand.
»Was für eine nette Überraschung«, sagte Grandma. »Ich hatte gehofft, dass jemand Interessantes vorbeiläuft. Wir haben keinen Fernsehempfang, unser Kabel ist kaputt.«
Ich folgte Grandma in die Küche, wo meine Mutter gerade Minestrone kochte. Meine Mutter ist das Sandwichkind, zwischen meiner Oma und mir. Sie hat braunes Haar, einen Bubikopf, kleidet sich konservativ, mit ausgeprägter Vorliebe für Hosen und Baumwollblusen, und sie ist erzkatholisch.
»Hast du schon was gegessen?«, fragte meine Mutter. »Wir haben Aufschnitt von Giovichinni’s.«
»Ich bin pappsatt«, antwortete ich. »Hab mit Morelli zu Mittag gegessen.«
Ich stellte meine Umhängetasche auf den Boden und rückte einen Stuhl an den kleinen Küchentisch. Grandma holte die Plätzchendose aus dem Regal und setzte sich mir gegenüber. Ich hob den Deckel von der Dose und nahm mir einen Schoko-Cookie.
»Heute schon einen Verbrecher gefangen?«, wollte Grandma wissen. »Eine Schießerei erlebt?«
»Zweimal nein.«
Ich sah lieber nicht zu meiner Mutter, aus Angst, sie würde die Augen verdrehen und nach der Whiskeyflasche greifen. Schießereien sind nicht so ihr Ding.
»Wir suchen Onkel Sunny«, sagte ich. »Er hat die Kaution geprellt und sich abgesetzt.«
»Onkel Sunny? Ein gerissener Kerl«, sagte Grandma. »Und, schon was erreicht?«
»Nein. Lula und ich haben seine Wohnung observiert. Keine Spur von ihm.«
Grandma biss in einen Cookie und nahm sich gleich den nächsten. »Ich würde mich an die Freundin halten.«
»Hat Sunny eine Freundin?«
»Er geht seit zehn Jahren mit Rita Raguzzi«, sagte Grandma. »Sunny ist eigentlich gut zu allen Ladys, wenn du weißt, was ich meine, aber es heißt, bei Rita hätte er sein zweites Zuhause gefunden. Er war schon Jahre vor dem Tod seiner Frau mit ihr zusammen.«
Meine Mutter und meine Oma bekreuzigten sich.
»Seine Frau möge in Frieden ruhen. Sie war eine Heilige«, stellte meine Mutter klar.
Raguzzis gab es in Burg wie Sand am Meer. Emilio Raguzzi besaß eine Autoschlosserei und wohnte mit seiner Familie direkt gegenüber von Morellis Mutter. Seine beiden Söhne waren ebenfalls in Burg ansässig. Rita kannte ich nicht persönlich, hatte nur mal gehört, dass sie in Hamilton Township lebte.
»Warum suchst du dir nicht eine anständige Arbeit?«, fragte meine Mutter. »In einer Bank oder einem Frisiersalon. In dem Deli auf der Hamilton Avenue ist gerade eine Stelle frei. Du könntest Metzger lernen.«
Ich und Metzger? Mir klappte die Kinnlade runter. Der Cookie fiel mir aus dem Mund. Der Gedanke, den ganzen Tag mit rohem Fleisch zu hantieren – ich hätte kotzen können.
»Metzger sollen ganz gut verdienen«, sagte meine Mutter. »Sie sind fleißig und werden hoch geachtet von ihren Kunden.«
»Du lernst, fachgerecht mit einem Fleischerbeil umzugehen«, gab Grandma zu bedenken. »Es könnte mal ganz nützlich sein, man weiß ja nie.«
»Ich tauge nicht zum Metzger«, sagte ich. »Außerdem gefällt mir mein Job. Ich lerne interessante Leute kennen.«
»Kriminelle!«, raunte meine Mutter. »Und ausgerechnet den beliebtesten Mann von ganz Burg musst du verfolgen. Ich bekomme schon Anrufe, dass du die Finger von Onkel Sunny lassen sollst. Alle hier lieben ihn!«
Ich nahm mir noch einen Cookie. »Gerade hast du gesagt, er hätte mit einer anderen Frau rumgemacht, als seine Ehefrau noch lebte. Das soll ein netter Kerl sein? Und ganz nebenbei: Er hat Menschen umgebracht.«
»Ach was, schon lange nicht mehr«, sagte Grandma. »Er ist in die Jahre gekommen. Für sowas schickt er jetzt seine Leute vor.«
»Und was ist mit Stanley Dugan? Sunny ist des Mordes an ihm angeklagt.«
»Könnte ein Unfall gewesen sein«, sagte Grandma.
»Sunny hat ihn zweimal überfahren! Dann ist er ausgestiegen und hat ihn gewürgt. Ein Zeuge hat es mit seinem iPhone aufgenommen.«
»Na gut, Sunny hätte ihn nicht überfahren dürfen«, räumte Grandma ein. »Aber du musst ihm zugestehen, dass er noch ganz ordentlich zulangen kann.«
»Ich habe für heute Abend Schinken gekauft«, lockte mich meine Mutter. »Wenn du willst, bring Joseph zum Essen mit.«
Ich stand auf. »Schöne Idee, aber leider muss ich heute Abend arbeiten.«
»Den nächsten Killer jagen«, sagte Grandma. »Hab ich recht?«
»Ich mache eigentlich selten Jagd auf Killer«, korrigierte ich sie. Außer du rechnest Onkel Sunny dazu.
»Auf wen dann?«, fragte sie. »Einbrecher? Diebe? Terroristen?«
»Ich habe ein Date mit Ranger, aber wahrscheinlich ist es doch nur wieder rein beruflich.«
»Ich hätte auch nichts gegen ein berufliches Date mit Ranger«, sagte Grandma munter. »Der Typ ist heiß.«
Meine Mutter kniff die Lippen zusammen. Ranger war nicht ehetauglich. Ranger würde ihr keine Enkel bescheren, jedenfalls keine ehelichen.
»Ich muss los«, sagte ich. »Hab noch was zu erledigen.«
Vom Auto aus rief ich Connie an und bat sie um Rita Raguzzis Adresse.
»Du bekommst sie nur, wenn du Lula abholst«, sagte sie. »Die Frau macht mich noch wahnsinnig. Wir müssen ihren morgendlichen Koffeinkonsum drosseln. Sie faselt ununterbrochen irgendwas von Giraffen.«
Ich schaute im Büro vorbei und lud Lula ins Auto.
»Hier ist die gewünschte Information.« Sie gab mir einen Computerausdruck und schnallte sich an. »Was ist mit dieser Raguzzi?«
»Laut Grandma hat Onkel Sunny bei ihr ein zweites Zuhause.«
»Grandma weiß alles. Hast du sie mal nach der Giraffe gefragt?«
»Von der Giraffe war nicht die Rede.«
»Wie ist das möglich? In Trenton läuft eine Giraffe frei herum. Das dürfte doch sowas wie ein Weltwunder sein. Ist schließlich kein scheißnormales Pferd oder irgendein blödes Rindvieh. Eine Giraffe ist was absolut Außergewöhnliches. Es ist das größte Tier. Größer als ein Elefant. Giraffen können bis zu sechs Meter groß werden. Und die Beine bis zu zwei Meter lang. Wusstest du das?«
»Nein.«
»Giraffen können fünfzig Stundenkilometer schnell laufen und wiegen über tausend Kilo. Und jetzt pass auf: Ihre Zungen sind fünfzig Zentimeter lang. Das mögen die Giraffinnen besonders.«
»Ziemlich lang, so eine Giraffenzunge.«
»Aber hallo! In der freien Wildbahn werden Giraffen fünfundzwanzig Jahre alt, aber in den Straßen von Trenton reduziert sich die Lebenserwartung wohl. Ich mache mir Sorgen um Kaya.«
»Kaya?«
»Die Giraffe. Ich hab sie Kaya getauft.«
Ich überflog die wenigen Angaben zu Rita. Einundfünfzig, zweimal geschieden, Wohnsitz in Hamilton Township. Arbeitete als Immobilienmaklerin mit Büro im Stadtzentrum.
»Sollen wir nicht lieber nach der Giraffe suchen?«, meinte Lula.
»Und was sollen wir mit ihr machen, wenn wir sie gefunden haben?«
»Ihr gut zureden. Vielleicht ist sie einsam und braucht was zu fressen. In dem Viertel, das sie sich ausgesucht hat, gibt es nicht viele Bäume mit saftigen Blättern.«
»Ihr Besitzer hat sie bestimmt längst gefunden.«
»Vielleicht will der Besitzer sie loswerden. Und jetzt ist sie verwaist. So wie herumstreunende Katzen, die kein Zuhause haben. Wie nennt man solche Tiere nochmal?«
»Verwildert.«
»Ach ja. Kaya ist vielleicht eine verwilderte Giraffe.«
Ich sah auf die Uhr. »Wir könnten rasch die Morgan Street entlangfahren und noch kurz in die Querstraßen schauen, aber dann muss ich unbedingt zu Rita Raguzzi.«