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Mag sein, dass Stephanie Plum kein Albert Einstein ist, aber sie merkt es, wenn sie für dumm verkauft wird – so wie im Fall des Studenten Ken Globovic. Globovic soll den chronisch missmutigen Dekan verprügelt haben. Jetzt ist er abgetaucht. Zwar wurde er auf dem Campus gesichtet, doch seine Kommilitonen halten dicht. Als das Opfer der Prügelattacke erschossen im eigenen Vorgarten liegt und keiner irgendein Interesse an dem Mordfall zeigt, wird Stephanie klar: An diesem College ist was faul. Gemeinsam mit ihrem On-Off-Freund Joe Morelli und Ranger, Sicherheitsexperte und sexy Versuchung, stürzt sie sich in die Ermittlungen – und Hals über Kopf ins Chaos ...
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Seitenzahl: 341
Mag sein, dass Stephanie Plum kein Albert Einstein ist, aber sie merkt es, wenn sie für dumm verkauft wird – so wie im Fall des Studenten Ken Globovic. Globovic soll den chronisch missmutigen Dekan verprügelt haben. Jetzt ist er abgetaucht. Zwar wurde er auf dem Campus gesichtet, doch seine Kommilitonen halten dicht. Als das Opfer der Prügelattacke erschossen im eigenen Vorgarten liegt und keiner irgendein Interesse an dem Mordfall zeigt, wird Stephanie klar: An diesem College ist was faul. Gemeinsam mit ihrem On-Off-Freund, Joe Morelli, und Ranger, Sicherheitsexperte und sexy Versuchung, stürzt sie sich in die Ermittlungen – und Hals über Kopf ins Chaos …
Weitere Informationen zur Autorin und zu ihren Romanenfinden Sie am Ende des Buches.
JANET EVANOVICH
Ziemlichbeste Küsse
Ein Stephanie-Plum-Roman
Aus dem Amerikanischenvon Thomas Stegers
1
Ginny Scott stand auf einer Fensterbank im zweiten Stock und drohte damit zu springen. Ich war schuld. Mehr oder weniger. Ich bin Stephanie Plum, und ich arbeite als Kopfgeldjägerin für die Kautionsagentur meines Cousins Vinnie.
Ginny war eine NVGlerin, unser Code für: Nicht vor Gericht erschienen. Ich hatte den Auftrag, sie zu suchen und den Behörden zu übergeben. Das ist mein Job. Bleibt der Erfolg aus, verliert mein Cousin die Kautionssumme, und ich bekomme kein Honorar. Andererseits will Ginny natürlich auch nicht wieder im Knast landen.
Meine Kollegin Lula und ich standen auf dem Bürgersteig und schauten hinauf zu Ginnys Fenster, zusammen mit einem Haufen anderer Leute, die Videos mit ihren Smartphones drehten.
»Das ist keine sehr vorteilhafte Perspektive für sie«, kommentierte Lula. »Von hier aus kann man unter ihren Rock gucken, bis rauf zu ihrer Dingsbums. Natürlich nur bis zu ihrem Tanga, aber man weiß ja, dass hinter diesem roten Stofffetzen und dem Marschriemen der Intimbereich lauert.«
Lula war früher eine angesehene Prostituierte gewesen. Vor einigen Jahren hatte sie beschlossen, ihren angestammten Strich aufzugeben und Büroangestellte zu werden. Sie macht bei uns die Aktenablage. Theoretisch. Denn wir haben kaum noch Akten abzulegen. Die meisten Akten sind heute elektronisch. Daher arbeitet Lula in letzter Zeit verstärkt als meine Assistentin und Fahrerin. Lula ist zehn Zentimeter zu klein für ihr Gewicht, ihre Kleider drei Nummern zu eng für ihre üppige Figur, ihre Haarfarbe ändert sich wöchentlich, nur ihre Hautfarbe ist standhaft schokoladenbraun.
Neben Lula fühle ich mich unsichtbar, ich werde einfach nicht beachtet. Von meinen italienischen Vorfahren habe ich die widerspenstigen braunen Haare geerbt, die süße Stupsnase ist ein Geschenk Gottes, laut meiner Oma, und die blauen Augen und die blasse Haut verdanke ich meinem ungarischen Erbe. Keine Ahnung, woher meine BH-Größe 75C kommt, aber ich kann damit leben.
Vor zehn Minuten wäre es mir beinahe gelungen, Ginny Handschellen anzulegen. Lula und ich klingelten an ihrer Tür, und ich sagte mein übliches Kopfgeldjägersprüchlein auf.
»Wir müssen mit Ihnen am Gericht einen neuen Termin vereinbaren. Es dauert nicht lange.«
Das stimmte nur teilweise. Einen neuen Termin zu machen ging schnell, aber ob Ginny noch mal gegen Kaution freikam, stand auf einem anderen Blatt. Wenn nicht, wäre sie bis zum Prozess Gast des Strafvollzugs.
»Fick dich«, erwiderte Ginny, schüttete ihren Becher Big Gulp über mich aus, knallte die Tür zu und schloss ab.
Als Lula und ich die Wohnungstür endlich aufgebrochen hatten, war Ginny aus dem Schlafzimmerfenster auf die fast einen halben Meter breite Fensterbank geklettert. Sprungbereit. Und ich, in meinem klatschnassen stinkenden T-Shirt, versuchte, sie zum Aufgeben zu bewegen.
»Okay«, schrie ich sie an. »Ich verlasse Ihre Wohnung wieder. Das wollen Sie doch damit erreichen, oder? Steigen Sie von der Fensterbank runter.«
»Ich gehe nicht ins Gefängnis.«
»So schlimm ist es da gar nicht«, schwächte Lula ab. »Es gibt im Aufenthaltsraum sogar einen Fernseher. Und Sie lernen neue Leute kennen.«
»Lieber bin ich tot«, sagte Ginny. »Ich springe jetzt.«
»Tun Sie sich keinen Zwang an. Aber ich warne Sie. Ihre Wohnung ist im zweiten Stock«, sagte Lula. »Da brechen Sie sich nur ein paar Knochen, wenn Sie unten ankommen. Und sowieso, Sie wissen doch, wie das ist mit Gerichtsterminen. Manchmal werden sie auch wieder abgesagt.«
»Sie hat ihrem Freund den Penis abgeschnitten«, flüsterte ich Lula zu.
»Vielleicht zu Recht«, sagte Lula.
»Es war sein bestes Stück!«
»Die Aussichten, dass er die Klage zurückzieht, stehen also schlecht«, sagte Lula. »Männer lassen sich bekanntlich nicht gerne ihren Schwanz absäbeln. Es soll nämlich ziemlich schwer sein, ihn wieder anzunähen.«
Sie wandte sich erneut an Ginny und schrie hinauf: »Wenn Sie wirklich tot sein wollen, müssen Sie darauf achten, dass Sie auf dem Kopf landen. Dann könnte es klappen.«
Zwei Funkstreifen der Polizei von Trenton fuhren vor und parkten schräg auf dem Bürgersteig. Gefolgt von Feuerwehr und Rettungswagen.
Einer der Polizisten stieg aus und stellte sich neben mich.
»Was ist los?«
»Eine NVGlerin«, klärte ich ihn auf. »Ich wollte ihr gerade Handschellen anlegen, da entwischt sie mir und steigt aus dem Fenster.«
Ein Übertragungswagen des lokalen TV-Senders rollte heran und hielt hinter der Feuerwehr.
»Können Sie jemanden auftreiben, der mit ihr redet? Eine Angehörige? Ihren Freund?«, fragte mich der Polizist.
»Den Freund lieber nicht«, sagte ich.
Die Feuerwehrleute rückten ein Sprungpolster unter das Fenster, und der Kameramann des SAT-Trucks baute sein Stativ auf.
»Ihre Landung auf dem Sprungpolster wäre nicht gerade fotogen in dem kurzen Rock«, rief Lula wieder zu Ginny hinauf. »Überlegen Sie es sich noch mal.«
Joe Morelli von der Mordkommission pflanzte sich neben mir auf. Er ist eins achtzig groß, schlank, hat kräftige Muskeln, welliges schwarzes Haar und ein Lächeln, bei dem jedes weibliche Wesen dahinschmelzt. Ich kenne Morelli schon mein Leben lang, und seit ein paar Jahren ist er mein fester Freund.
»Hast du dir wieder eine Fensterspringerin eingehandelt«, sagte Morelli.
»Vinnie hat sie gegen Kaution freibekommen, aber sie hat ihren Gerichtstermin verpasst«, sagte ich. »Die Handschellen hatte ich ihr fast schon angelegt, da ist sie auf die Fensterbank geflüchtet.«
»Was wirft man ihr vor?«
»Sie hat ihrem Freund den Piepmatz abgeschnitten«, sagte Lula.
Morelli und der Streifenpolizist feixten um die Wette.
»Kannst du nicht mal mit ihr reden?«, fragte ich Morelli.
Morelli war vom Kleinstadtrowdy zum Bootsmann der Navy aufgestiegen und später in den Polizeidienst gewechselt. Er ist ein sehr guter Polizist. Klug. Einfühlsam. Er glaubt an das Gesetz, an den amerikanischen Traum und an das Gute im Menschen. Wer das Gesetz bricht oder den amerikanischen Traum mit Füßen tritt, den spürt er auf wie ein Marder ein Eichhörnchen. Er besitzt ein Haus, einen Hund, einen Toaster und eine menschliche Reife, von der ich vermutlich noch weit entfernt bin. Die Männer in seiner Familie sind Trinker und Weiberhelden, und sie werden schnell übergriffig. Ganz anders Morelli. Morelli ist eine Filmschönheit, nach Italo-Jersey-Maßstäben. Seit er gelernt hat, ganze Sätze zu formulieren, steht er im Ruf, eine Frau dazu überreden zu können, alles für ihn zu tun. Als ich noch ein kleines Mädchen war, ergaunerte er sich einen Blick auf meine Tinker-Bell-Unterwäsche, und auf der Highschool befreite er mich von der Last der Jungfräulichkeit. Die Frau oben im zweiten Stock von der Fensterbank wegzulocken dürfte ein Kinderspiel für Morelli sein. Dachte ich.
»Ist die bewaffnet?«, fragte mich Morelli.
»Ich glaube nicht.«
»Fleischermesser? Gemüsemesser? Teppichmesser?«
»Ich hab keins gesehen.«
Er verschwand im Haus und tauchte wenige Minuten später am Fenster im zweiten Stock wieder auf. Ginny rückte zentimeterweise von ihm ab, außer Reichweite. Die Feuerwehrleute verschoben entsprechend das Sprungpolster unten auf dem Bürgersteig. Ich konnte nicht verstehen, was er zu ihr sagte, sah nur ihr Lächeln. Sie unterhielten sich eine Weile, Ginny nickte zustimmend und rückte wieder ein Stück näher zu ihm heran. Er streckte die Hand nach ihr aus, doch bei dem Versuch, sie zu ergreifen, verlor sie das Gleichgewicht, rutschte von der Fensterbank und plumps! Mit einem dumpfen Aufschlag landete sie auf dem Polster und rührte sich nicht. Umgehend warfen sich die Nothelfer auf sie.
Alle hielten die Luft an und schauten ihnen bei der Arbeit zu. Ich spürte, wie Morelli hinter mich trat, eine Hand auf meine Schulter legte. Und plötzlich richtete Ginny sich auf.
Morelli winkte einen der Nothelfer heran.
»Kommt sie wieder auf die Beine?«, wollte Morelli von ihm wissen.
»Sie ist einfach nur außer Atem. Wir bringen sie zur Untersuchung ins St Francis Hospital, aber sie wird sicher heute noch entlassen.«
»Sie braucht Polizeischutz«, sagte Morelli zu dem Streifenpolizisten. »Und wenn sie aus dem Krankenhaus kommt, nehmen wir ein Protokoll auf und buchten sie ein.«
»Mann, oh Mann«, sagte Lula, »im ersten Moment ist mir das Herz stehen geblieben. So einen Rums wie eben möchte ich nicht noch mal hören. Mir hat sich echt der Magen umgedreht. Dagegen kenne ich nur ein Mittel. Ich muss was essen. Ein Hamburger mit Pommes. Danach will ich zu mir, weil dann meine Lieblingssendungen im Fernsehen kommen.« Lula sah zu Morelli, dann wieder zu mir. »Soll ich dich nach Hause bringen, oder chauffiert dich Officer Hottie?«
»Das mache ich schon«, sagte Morelli.
Lula zog ab, und ich ging mit Morelli zu seinem Wagen. »Wieso bist du eigentlich hier?«
»Reiner Zufall. Ich war bei Anthony zum Abendessen, und auf der Rückfahrt sah ich ein paar Häuser vom Unglücksort entfernt Lulas Firebird parken. Da konntest du ja nicht weit sein.«
Anthony ist Morellis Bruder. Verheiratet mit einer Frau, die sich ständig von ihm scheiden lässt und ihn kurz darauf erneut heiratet. Bei jeder Wiederverheiratung wird sie schwanger. Ich habe den Überblick verloren, wie viele Kinder sie haben, bei ihnen zu Hause geht es drunter und drüber.
»Danke für deine Hilfe«, sagte ich.
»Welche Hilfe?«, sagte Morelli. »Durch mich wäre deine NVGlerin ja beinahe noch zu Tode gekommen.«
Als Morelli die Tür seines SUV öffnete, sprang Bob heraus und hätte mich beinahe umgestoßen. Bob ist ein struppiges rotblondes Wuschelmonster, das noch am ehesten einem Golden Retriever ähnelt. Ich wurde überhäuft mit Hundeküssen, und dann kämpften wir um den besten Platz im Auto, vorn neben Morelli. Ich gewann.
»Zu dir oder zu mir?«, fragte Morelli.
»Zu dir. Mein Fernseher ist kaputt. Fahr zuerst am Büro vorbei, mein Auto steht da.«
Morelli hatte von seiner Tante Rose ein hübsches Häuschen geerbt. Es ist von meinen Eltern in Chambersburg aus nur einmal über die Grenze, und wenn man nicht wüsste, dass es die Grenze gibt, könnte man denken, Morelli wohnt in Burg. Die Häuser sind bescheiden, aber gepflegt. Samstags wird das Auto gewaschen. An Feiertagen die Fahne gehisst. Veteranen und Polizisten werden respektiert, selbst von der Mafia. In diesem Viertel leben Menschen, die ihr Leben lang geackert haben, und in der Polizei sehen sie die Beschützerin ihrer hart erarbeiteten Bürgerrechte und Flachbildschirme. Wenn es Vorurteile gibt, dann werden sie nur hinter verschlossenen Türen geäußert. In der freien Wildbahn ist jeder gleichermaßen reif für den Stinkefinger.
Als Morelli das Haus bezog, atmete es noch den Geist von Tante Rose. Jetzt ist es ganz nach Morellis Geschmack eingerichtet, die Schlafzimmervorhänge ausgenommen. Unten Wohnzimmer, Esszimmer, Küche und Gäste-WC. Oben drei Schlafzimmer und ein Bad. Zum Haus gehören eine Garage, die Morelli so gut wie nie benutzt, und ein Garten, wo Bob seine Löcher buddelt und sein Geschäft verrichtet.
Kurz vor neun trudelten wir bei Morelli ein und düsten gleich ab in die Küche. Morelli holte eine halbe übrig gebliebene Pizza aus dem Kühlschrank und schnitt sie in drei Teile. Bob fraß sein Stück auf der Stelle, Morelli und ich setzten uns ins Wohnzimmer vor den Fernseher. Es war Anfang September, und Morelli verfolgte ein Spiel der New York Mets. Wir aßen unsere Pizza, und noch bevor die Mets ein Inning durchlaufen hatten, hatte Morelli eine Hand auf mein Knie gelegt und mir seine Zunge in den Mund geschoben. Es überraschte mich nicht sonderlich. Schließlich übernachtet der eine gelegentlich beim anderen, sogar von Liebe und Ehe ist schon die Rede gewesen. Er hat Kondome in meiner Wohnung deponiert, ich eine Schachtel Tampons in seiner, viel weiter waren wir mit dem Thema Zusammenwohnen aber noch nicht gekommen.
Wir zogen ins Schlafzimmer um und kamen gleich zur Sache, da wir das Vorspiel schon unten auf dem Sofa erledigt hatten, während die Mets ihren Pitcher austauschten.
Morelli ist ein unberechenbarer Lover. Manchmal ist er langsam und bedächtig. Manchmal geradezu stürmisch vor Verlangen. Manchmal witzig. Häufig alles drei gleichzeitig. Und manchmal, wenn wir uns bei einem Spiel der Giants gegen die Patriots lieben, ist er ein bisschen unkonzentriert. Heute war so ein Abend, nur ohne die Giants.
Wir kuschelten uns in postkoitaler Trägheit aneinander, und ich fragte mich, was der Grund für Morellis Unkonzentriertheit war. Woran dachte er gerade? Mord? Chaos? Ehe? Angenommen Letzteres. Wie würde ich auf einen Heiratsantrag reagieren? Seit einiger Zeit lief es wirklich gut zwischen uns. Vielleicht würde ich mit Ja! antworten. Andererseits: Ehe bedeutet Bindung. Vielleicht auch Kinder. Mit Kindern kann ich umgehen. Ich sorge gut für meinen Hamster Rex. Mir entfuhr ein Seufzer. Wahrscheinlich müsste ich seinen Antrag annehmen. Er wäre am Boden zerstört, wenn ich es nicht täte. Seine Arbeit bei der Polizei würde darunter leiden. Er wäre deprimiert und demoralisiert, würde an sich selbst zweifeln.
»Du wirkst heute Abend irgendwie abwesend«, sagte ich.
»Mir geht viel durch den Kopf.«
Ich versuchte, nicht allzu zu affektiert zu lächeln. Daran musste es liegen, definitiv. Ob er wohl schon einen Ring hatte?
»Möchtest du darüber reden?«, fragte ich ihn.
»Da gibt es nicht viel zu bereden. Ich finde nur, dass wir unsere Beziehung eine Zeitlang auf Eis legen sollten. Uns mal mit anderen verabreden.«
»Ja. Äh: Wie bitte?«
»Ich überlege, ob ich meinen Lebensstil ändern soll. Und solange ich mir noch nicht darüber im Klaren bin, möchte ich ungebunden sein«, erklärte mir Morelli. »Ich gebe dir also alle Freiheiten, dich nach anderen Männern umzusehen. Außer Ranger.«
Carlos Manoso, besser bekannt als Ranger, ist der Eigentümer von Rangeman, einem Security-Unternehmen für den gehobenen Anspruch, das in einem unscheinbaren Gebäude in der Innenstadt residiert. Ranger ist ein ehemaliges Mitglied der Special Forces, Kopfgeldjäger der harten Sorte, er war mein Ausbilder, als ich anfing, für Vinnie zu arbeiten. Er ist geheimnisumwittert. Smart. Und er lebt und arbeitet nach seinen eigenen Regeln, die ich nicht bis ins Letzte durchschaue. Morelli meint, er habe einen schlechten Einfluss auf mich und sei gemeingefährlich. Stimmt.
»Im Ernst?« Ich richtete mich kerzengerade auf und starrte ihn an.
»Ich denke schon länger daran.«
»Und ausgerechnet jetzt teilst du mir das mit!«
»Ist das kein guter Zeitpunkt?«
Ich stand auf, wedelte mit den Armen in der Luft, kochte vor Wut. »Ich bin nackt. Man sagt einer nackten Frau solche Sachen nicht ins Gesicht. Was denkst du dir eigentlich?«
»Vielleicht ist es ja nur vorübergehend.«
»Vorübergehend?! Soll wohl eher heißen, wahrscheinlich für immer! Adios. Auf Wiedersehen. Willst du mich verarschen?« Ich kniff die Augen zusammen. »Hast du dir schon eine bestimmte Person ausgesucht, mit der du dich verabreden willst?«
»Nein.«
»Jetzt hab ich es! Du bist ins andere Lager übergelaufen. Du bist schwul!«
»Kein bisschen.«
»Mein Freund Bobby sagt, der einzige Unterschied zwischen einem Schwulen und einem Hetero ist ein Sixpack Bier.«
»Pilzköpfchen, nach sechs Bier bin ich zu nichts, aber auch gar nichts mehr fähig.«
»Du willst also deinen Lebensstil ändern? An was hast du dabei gedacht?«
»Eine berufliche Veränderung. Schluss mit der Polizei.«
»Wow!«
»Jetzt bist du geschockt, was?«
Ich stöberte mit den Füßen in den Klamotten auf dem Boden nach meiner Unterhose. »Was hast du vor?«
»Ich weiß es noch nicht.« Er winkte mich mit einem Finger heran. »Komm wieder ins Bett.«
»Bist du verrückt? Erst servierst du mich ab, und jetzt soll ich zurück zu dir in die Kiste springen?«
»Wir könnten immer noch Freunde bleiben.«
»Ich fühle mich aber nicht so. Ich bin sauer.« Ich zog den Reißverschluss meiner Jeans zu und hob mein T-Shirt vom Boden auf. »Und erst recht schlafe ich nicht mit Männern, die mich abserviert haben. Na gut, ab und zu vielleicht, aber für gewöhnlich nicht. Und mit dir schlafe ich sowieso nicht mehr. Nie wieder.« Ich schlang mir meine Tasche um die Schulter und dampfte ab.
»Ich rufe dich morgen an«, rief Morelli hinter mir her.
Ich stürmte die Treppe hinunter und zeigte ihm den Stinkefinger. Er konnte mich nicht sehen, aber es war trotzdem ein gutes Gefühl. Die Haustür knallte ich so fest zu, dass auch ja sein Wohnzimmerfenster schepperte. Ich marschierte zu meiner Schrottkarre, klemmte mich hinters Steuer, zog aus der Parklücke und begab mich auf kürzestem Weg zum Spätkauf in der Hamilton Avenue. Dort deckte ich mich mit Bergen von Trostnahrung ein, Snickers, Peanut Butter Cups, York Peppermint Patties, M&Ms, Twizzlers, alles, was Karamell enthielt, dazu noch drei Eisbecher, fuhr nach Hause und aß mich satt.
2
Offiziell gehört die Kautionsagentur meinem Cousin Vinnie, doch in Wahrheit ist Vinnie abhängig von seinem Schwiegervater, Harry, dem Hammer. Vinnie stellt die meisten Kautionen aus, wettet bei Pferderennen, lässt sich hin und wieder von dunkelhäutigen jungen Männern auspeitschen und ist, alles in allem, die Eiterbeule des kranken Zweigs unserer Familie.
Connie Rosolli gibt den Wachhund vor Vinnies Arbeitszimmer. Sie hält das Büro am Laufen, stellt gelegentlich auch Kautionen aus und sorgt dafür, dass nicht irgendein ehemaliger Klient während der Bürostunden tödliche Rache an Vinnie nimmt. Sie ist Mitte dreißig, lebt seit Jahren in Scheidung und ist eine kleinere, italienische, vollbusigere Ausgabe von Cher.
»Wow«, begrüßte sie mich, als ich mich Montagmorgen ins Büro schleppte. »Bist du von einem Zug überrollt worden? Du hast dunkle Ringe unter den Augen und einen Pickel am Kinn.«
»Ich hab gestern Abend mit Morelli Schluss gemacht.« Ich fasste mich ans Kinn. Es fühlte sich an, als würde mir der Kilimandscharo aus dem Gesicht wachsen. »Der kommt von den Süßigkeiten. Ich hab mich gestern Abend mit Snickers vollgestopft. Und zum Frühstück gab es eine Tüte Oreos.«
Lula lag auf dem Sofa. »Oreos zum Frühstück geht gar nicht«, stellte sie klar. »Du brauchst was Kräftigeres. Versuch es mal mit Almond Joy, das sind Proteine in Nussform. Aus Oreos wird einfach nur Oreo-Scheiße.«
Lula trug Stiefeletten mit Beschlägen und fünfzehn Zentimeter hohen Pfennigabsätzen, einen schwarzen Elastan-Rock, der ihren Hintern nur knapp bedeckte, ein giftgrünes Tanktop, das sich über ihre voluminösen Brüste spannte, und ein lila glitzerndes flauschiges Angorajäckchen. Bei jeder Bewegung lösten sich einzelne Angoraflusen und tanzten in der Luft.
»Was ist los mit Morelli?«, fragte Lula. »Der Mann ist ein superheißes Teil. Willst du wirklich mit ihm Schluss machen?«
»Er hat mit mir Schluss gemacht. Ende der Diskussion.«
»War das vor dem Pickel?«, fragte Lula.
»Ja.«
»Dann können wir den als Grund also ausschließen.«
Die Tür zu Vinnies Arbeitszimmer flog auf, und Vinnie steckte den Kopf heraus.
»Was geht hier ab?«, sagte er. »Ich bezahle euch nicht fürs Schnattern.« Er beugte sich ein Stück vor und musterte mich scharf. »Was ist denn das für ein Krater auf deinem Kinn?«
»Ein Pickel«, sagte Lula. »Sie hat gerade viel Stress.«
»Verdammte Hacke«, sagte Vinnie. »Das Ding ist der Horror. Sieht aus wie der Vesuv kurz vorm Ausbruch.« Er verzog sich wieder in sein Zimmer und schloss die Tür ab.
Connie wedelte mit einer Akte. »Ich hab einen neuen NVGler für euch. Der Fall ist gestern Nachmittag reingekommen«, sagte sie. »Ein junger Mann, der nicht zu seinem Prozesstermin erschienen ist. Ich hab mich schon mal ein bisschen umgehört, er ist wie vom Erdboden verschwunden. Ken Globovic. Spitzname Gobbles. Einundzwanzig. Angeklagt wegen Einbruchs und schwerer Körperverletzung.«
Lula sah mir über die Schulter, während ich in der Akte blätterte.
»Hier steht, der Idiot hat den Studiendekan angegriffen«, sagte Lula. »Das war es dann wohl mit seiner Collegekarriere. Ich war nie auf einem College, aber mit dem Studiendekan sollte man sich lieber nicht anlegen, so viel weiß ich immerhin.«
Ich betrachtete das beigefügte Foto des Gesuchten. Blondes Haar, helle Haut, ein bisschen pummelig. Ein Albino-Backenhörnchen, irgendwie niedlich.
»Sieht gar nicht aus wie ein Killer«, sagte Lula. »Der trägt bestimmt Pu-der-Bär-Schlafanzüge.«
»Er ist ein Zeta«, sagte Connie. »Also fangt am besten im Zeta-Haus an.«
»Zeta-Haus«, träumte Lula. »Klingt, als wäre es ein hübscher Ort.«
»Die Zetas sind entweder die beste oder die schlimmste Studentenverbindung auf dem Campus, je nach Sichtweise. Das Zeta-Haus ist besser bekannt unter der Bezeichnung ›Der Zoo‹«, sagte Connie. »Aber macht euch besser selbst ein Bild. Ken Globovic trägt den Titel Allererhabenster Zoowärter. Vor ein paar Wochen haben die Zetas einer rivalisierenden Studentenverbindung kübelweise Alka-Seltzer in die Wasserleitung gekippt. Alle Toiletten sind explodiert. Es sollte ein chemisches Experiment sein, haben sie erklärt. Der Film Ich glaub, mich tritt ein Pferd hätte sie dazu angeregt.«
»Dafür haben sie bestimmt die Bestnote bekommen«, sagte Lula. »Ich hätte sie ihnen jedenfalls gegeben.«
Ich steckte den Hefter in meine Umhängetasche. »Sonst noch ein Fall reingekommen?«
»Kein neuer. Aber Billy Brown läuft immer noch frei herum. Mittelhohe Kautionssumme. Wäre ganz schön, wenn wir das Geld wiederbekämen.«
Billy Brown, heute allgemein nur noch als Billy Bacon bekannt, hatte es in die landesweiten Nachrichten geschafft, weil er mit Schinkenfett eingerieben durch den Kaminschacht gerutscht und so in eine millionenschwere Villa eingebrochen war. Beim Verlassen hatte er den Alarm ausgelöst und wurde von einer schinkenwitternden Hundemeute angegriffen. Als die Polizei ihn rettete, fanden die Beamten in seinen Hemd- und Hosentaschen Schmuck im Wert von zehntausend Dollar sowie fünftausend Dollar Bargeld. Vinnie war so blöd, die Kaution für ihn zu stellen; seitdem ist Billy Bacon untergetaucht.
»Ich halte die Augen offen«, sagte ich, »und grase noch mal sein Viertel ab.«
»Ich komme mit«, sagte Lula. »Soweit ich weiß, wohnt er in der K Street. Da gibt es einen Deli, die haben exzellenten Eiersalat. Sie tun noch gehackte Oliven dazu und viel Mayo. Mayo ist das Geheimnis eines guten Eiersalats. Und mit Oliven kann man sowieso nichts falsch machen. Wir können unsere Nachforschungen mit der Mittagspause zusammenlegen. Aber bevor wir aus dem Haus gehen, schmier dir etwas Abdeckcreme auf den Pickel, damit die Leute nicht noch vor Schreck davonlaufen, wenn sie dich aus der Nähe sehen.«
Wir nahmen Lulas Auto, weil sie einen roten Firebird fährt, tadellos gepflegt, im Gegensatz zu meiner Kiste, die ursprünglich mal ein Ford Soundso war, aber heute die reinste Rostlaube ist.
»Weißt du überhaupt, wie das Kiltman College noch genannt wird?«, fragte Lula. »Klito College. Echt. Möchtest du auf ein College mit so einem Namen gehen? Ich meine, ich bin immer dafür, die weiblichen Genitalien zu würdigen, aber auf meinem Abschlusszeugnis will ich sie dann doch nicht stehen haben.«
Ich bin auch dafür, die weiblichen Genitalien zu würdigen, wollte aber jetzt nicht darüber sprechen. Ich bin katholisch erzogen, und bei Gesprächen mit Lula über weibliche Genitalien wird mir regelmäßig schummrig. Mit dem blinden Glauben bei den Katholiken hab ich so meine Probleme, das katholische Urgefühl der Schuld dagegen hab ich so ziemlich verinnerlicht.
»Ich möchte lieber nicht mit dir über diese Sachen sprechen«, sagte ich.
»Sonst noch was, über das du heute nicht sprechen willst? Du willst ja schon nicht darüber sprechen, warum man dir den Laufpass gegeben hat. Das kam wohl überraschend, oder? Wann war das? Gestern Abend? Vielleicht bist du ja sexuell verklemmt.«
»Ich bin nicht verklemmt.«
»Du willst nicht über deine Genitalien sprechen, obwohl das Thema neuerdings massenkompatibel ist. Die weiblichen Genitalien sind total in.«
»Wenn ich nicht darüber sprechen will, bin ich noch lange nicht sexuell verklemmt.«
»Aber auch nicht sexuell befreit. Wann hat er dir denn nun den Laufpass gegeben? Nach dem Vögeln? Das ist nämlich nie ein gutes Zeichen. Das könnte bedeuten, dass du keine gute Leistung gebracht hast.«
Gut, dass ich meine Pistole zu Hause in der Plätzchendose gelassen hatte, sonst hätte ich Lula auf der Stelle eine Kugel verpasst.
»Andererseits hat er vielleicht auch was Unzumutbares von dir verlangt«, führte sie weiter aus. »In dem Fall kann ich nur sagen: Gott sei Dank bist du den Kerl los! Weil, ich lasse es mir auch nicht mehr von hinten besorgen.«
»Großer Gott.«
»Genau. Es verstößt gegen die menschliche Natur. Wozu hat man seine Prinzipien? Gut, ein bisschen Spanking darf sein, nur so, zum Spiel, aber wehe, es hinterlässt Striemen, Honey. Ein einziger Striemen auf meinem Pfirsichpopo, und ich lege dir Firebird-Bremsspuren auf deinen Arsch.«
»Das interessiert mich alles überhaupt nicht!«, protestierte ich.
»Ich sag ja nur. Ich pflege meine Haut mit Lanolin, so bleibt sie seidenweich. Ich will keine Striemen. Wie tief muss ein anständiges Mädchen gesunken sein, dass es Striemen auf ihrem Hintern duldet.«
Das Kiltman College liegt am nordwestlichen Rand von Trenton. Es ist eine mittelgroße Schule, bekannt für ihre ausgezeichneten akademischen Leistungen in den Wissenschaften, für ihre Blindheit gegenüber den ausschweifenden Aufnahmeritualen der Studentenverbindungen und für die Zulassung des bisher jüngsten TV-Quizshow-Champions, Wunderkind und Biologie-Ausnahmetalent Avi Attar wegen seiner guten Leistungen für das Studienprogramm.
Lula röhrte über den Campus und parkte vor dem Zeta-Haus, einem großen zweigeschossigen Gebäude. Der weiße Anstrich blätterte vom Putz, auf dem fleckigen Rasen im Vorgarten stand eine zerschlissene Couch, und über der Haustür hing ein Schild, Zeta. Das Z war verblichen und nur noch »eta« übrig geblieben. In der Tür lehnte ein Klappstuhl, und der üble Geruch von abgestandenem Bier wehte nach draußen.
»Von Raumspray haben die Zetas wohl auch noch nichts gehört«, sagte Lula.
Zwei Jungs lümmelten auf einem Sofa im Aufenthaltsraum und sahen sich auf einem gigantischen Flatscreen eine Folge von SpongeBob an. Ich stellte mich vor und sagte, ich sei auf der Suche nach Ken Globovic.
»Kenne ich nicht«, sagte der eine.
»Er ist Mitglied in Ihrer Studentenverbindung«, sagte ich.
»Hm«, sagte er. »Na so was.« Er stieß den jungen Mann neben sich mit dem Ellbogen an. »He, Iggy. Kennst du diesen Ken Globovic?«
»Nö. Nie gehört den Namen«, sagte Iggy.
»Putzig«, sagte Lula. »Soll ich mich auf Sie draufsetzen, um Ihrem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen?«
»Ha«, sagte Iggy. »Kleiner Schoßtanz mit mir, Momma?«
»Nein«, sagte Lula. »Ich zerquetsche Sie wie eine Fliege. Aber erst darf Stephanie Ihnen noch die Fresse polieren.«
Ich gab mir ein irgendwie gefährliches Aussehen, aber ehrlich, ich bin überhaupt kein großer Fressepolierer. Das heißt, einmal hab ich Joyce Barnhardt eine Ohrfeige verpasst, und letzte Woche hab ich einem Mann vors Schienbein getreten, aber der war bewaffnet und hatte den Tritt verdient.
Iggy sah zu mir auf. »Was haben Sie denn da im Gesicht? Etwa einen Pickel?«
»Ich hatte in letzter Zeit eine Menge Stress am Hals«, sagte ich.
»Kann ich nachvollziehen«, sagte Iggy. »Wollen Sie ein Bier?«
»Nein danke«, sagte ich.
Vier Kommilitonen kamen angeschlurft.
»Die beiden Damen hier suchen einen Ken Globovic«, sagte Iggy. »Kennt den einer von euch?«
»Wen?«
»Ich nicht.«
»Nein.«
»Was dagegen, wenn ich mich mal ein bisschen umschaue?«, fragte ich.
»Schauen Sie sich um, so viel Sie wollen«, sagte Iggy. »Die Zetas haben nichts zu verbergen.«
»Yeah«, sagte einer aus der Viererbande. »Wir zeigen Ihnen, was so alles an uns dran ist. Wollen Sie mal sehen?«
Lula beugte sich vor. »Wollen Sie mal sehen, was an mir so dran ist?«
Sie überlegten kurz und schüttelten dann den Kopf. Nein, lieber doch nicht.
»Globovic hat das Zeta-Haus als seine Adresse angegeben«, sagte ich. »Wer möchte mir sein Zimmer zeigen?«
Sie traten verlegen auf der Stelle, zuckten mit den Achseln.
»Dann müssen wir wohl alle Zimmer abklappern«, sagte Lula. »Damit es auch offiziell ist, holen wir noch Stephanies Exfreund dazu. Der ist Polizist. Es könnte unangenehm für Sie werden, falls er Gras oder andere verbotene Substanzen findet.«
»Nicht nötig«, sagte Iggy und bequemte sich von der Couch. »Folgen Sie mir.«
Iggy ging voran, Lula und ich folgten, hinter uns die anderen fünf Mitbewohner des Hauses. Wir verließen den Aufenthaltsraum, stiegen eine breite geschwungene Treppe hinauf, dann ging es einen endlosen Flur entlang. Vor einer offenen Zimmertür stand ein Mann in Frauenkleidern stramm.
»Meine Herren«, sagte er, als wir ihn passierten.
»Ein Fuchs«, erklärte Iggy.
»Müssen alle Anwärter bei Ihnen Frauenkleider tragen?«, wollte Lula wissen.
»Das gehört zu unserem Programm zur Steigerung der Geschlechtersensibilität«, sagte Iggy.
»Okay, aber die Farbe steht ihm überhaupt nicht, und der Rock hat Falten. Ich könnte mich dadurch beleidigt fühlen«, sagte Lula.
»Ein Schlag mit dem Paddel, weil der Fuchs seinen Rock nicht gebügelt hat«, befahl Iggy.
Einer löste sich aus der Gruppe, und kurz darauf hörten wir ein lautes Patsch! Patsch!
»Au!«
»Das gibt hübsche Striemen«, sagte Lula. »Man soll seine Sachen ja auch bügeln.«
Ich sah sie mit einem schneidenden Blick an. »Wenn du nichts gesagt hättest, wäre ihm nichts passiert.«
»Na und? Ist mir nur aufgefallen. Mehr nicht. Soll ich ihm Lanolin empfehlen?«
»Nein!«
Iggy blieb vor einem Zimmer stehen und bedeutete uns hineinzugehen. »Keiner da«, sagte er.
Systematisch durchsuchte ich den Raum, schaute in Schubläden, unterm Bett und im Kleiderschrank nach. Einige von Globovic’ Büchern und Klamotten lagen verstreut auf dem Boden, doch seine Toilettenartikel waren alle aus dem Badezimmer entfernt worden. Kein Handy, kein Computer, kein Tablet. Es war eindeutig, dass Globovic hier nicht mehr wohnte, aber eine Nachsendeadresse fand sich auch nicht.
»Sie wollen mir wohl nicht verraten, wo ich Globovic oder Gobbles, wie Sie ihn nennen, finden kann, oder?«
Niemand meldete sich.
3
Wir verließen das Zeta-Haus und begaben uns zurück zu Lulas Firebird.
»Das war reine Zeitverschwendung«, sagte Lula. »Die Jungs lügen doch wie gedruckt. Als ob sie nicht wüssten, wo Gobbles sich versteckt hält. Wahrscheinlich hockt er im Keller.«
Ich hatte den gleichen Gedanken, aber Schiss hinunterzusteigen. Womöglich befand sich dort ein Verlies, in dem sie die armen Cross-Dressing-Anwärter gefangen hielten. Oder noch schlimmer, er war spinnenverseucht.
»Irgendwas ist faul«, sagte ich. »Der Mann ist nicht vorbestraft. Ein guter Student. Ich hab nichts Auffälliges in seinem Zimmer gefunden. Bei seinen Kameraden von der Studentenverbindung ist er offenbar beliebt. Sie schützen ihn. Seine Familie hat ihm einen guten Anwalt besorgt, aber er hat es vorgezogen, unterzutauchen und nicht zu seinem Prozess zu erscheinen.«
»Das ist typisch für Amateure«, sagte Lula. »Jeder Mensch hat Angst, wenn er zum ersten Mal ins Gefängnis muss. Globovic ist ja bei der Festnahme schon ausgerastet und musste eine Nacht in Polizeigewahrsam verbringen. Auf ihn warten schließlich keine Freunde oder Verwandte im Knast so wie bei den meisten aus meinem Viertel. In meinem Viertel kann sich eine Zahnbehandlung nur leisten, wer sich für ein paar Monate ins Zuchthaus einweisen lässt. Knast bedeutet bei uns nicht gleich die große Katastrophe.«
Ich las mir noch mal Globovic’ Akte durch. Seine Eltern lebten ungefähr eine Autostunde von hier, in East Brunswick. Irgendwann würde ich sie befragen, aber zuerst wollte ich seine Kontakte vor Ort überprüfen.
»Globovic wird vorgeworfen, den Studiendekan angegriffen zu haben«, sagte ich. »Fragen wir ihn doch gleich mal.«
Nach zehn Minuten Irrfahrt über den Kiltman Campus hatte Lula das Verwaltungsgebäude endlich gefunden.
»Die müssen die Häuser hier beim Bau zwischen alte Wildpfade gesetzt haben.« Lula bog auf einen Parkplatz und fand eine freie Bucht. »Kein einziges Straßenschild, und für das GPS ist das hier ein weißer Fleck.«
Der Campus bestand hauptsächlich aus wuchtigen roten Backsteinblöcken, zwei- bis dreigeschossig, außer dem gerade neu errichteten Naturwissenschaftlichen Institut, das war fünfstöckig. Das Verwaltungsgebäude zierte ein Portikus mit vier Säulen.
Der Studiendekan Martin Mintner hatte sein Büro im ersten Stock. In dem kleinen Wartebereich davor standen vier unbequeme Holzstühle und ein zerkratzter Sofatisch, ebenfalls aus Holz, darauf fristeten einige zerlesene Zeitschriften ein trauriges Dasein.
»Hier schicken sie die schwierigen Kinder hin«, sagte Lula.
Die Tür zum Büro des Dekans stand offen, ich steckte den Kopf hindurch und klopfte. »Jemand da?«
Hinterm Schreibtisch saß ein etwas beleibter Herr mit kurzen schwarzen Haaren und Stirnglatze, an den Schläfen erste graue Strähnen. Ich schätzte ihn auf Anfang fünfzig. Er trug ein hellblaues Button-Down-Hemd mit grau-rotgestreifter Seidenkrawatte. Der linke Unterarm war in Gips.
Er blickte von seinem Computer auf und sah mich an. »Ja bitte?«
»Sind Sie Dekan Mintner?«
»Kann ich Ihnen helfen?«
»Ich hoffe«, sagte ich. »Ich suche einen Ihrer Studenten, Ken Globovic.«
Spontan leuchteten rote Flecken auf Mintners Gesicht auf. »Und in welchem Zusammenhang steht diese Suche, wenn ich fragen darf?«
»Ich arbeite für die Kautionsagentur Vincent Plum«, sagte ich. »Mr Globovic hat seinen Prozesstermin verpasst, und wir müssen einen neuen Termin bei Gericht vereinbaren.«
»Kopfgeldjäger?«, fragte Mintner.
»Kautionsvollstreckung.«
Mintner nickte. »Ja natürlich. Er hätte erst gar nicht aus dem Gewahrsam entlassen werden dürfen. Er ist wahnsinnig. Ist in mein Haus eingedrungen und mit einem Baseballschläger auf mich losgegangen. Er hat mir den Arm gebrochen und mein Wohnzimmer verwüstet.«
»Hatte er noch andere Waffen außer dem Baseballschläger bei sich?«
»Soweit ich weiß, nicht«, sagte Mintner. »Näheres entnehmen Sie bitte dem Polizeibericht.«
»Warum hat er Sie angegriffen?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Mintner. »Vielleicht weil er verrückt ist. Platzt zur Tür herein und stürzt sich auf mich. Ich bin gar nicht dazu gekommen, ihn zu fragen, warum er mich töten will.«
»War er vielleicht über irgendetwas schwer enttäuscht?«, fragte Lula.
»Er ist ein Zeta«, antwortete Mintner. »Die sind alle Unruhestifter. Ein Abschaum, diese Studentenverbindung. Seit Jahren versucht die Schule, das Haus zu schließen, aber die alten Herren der Zetas spenden regelmäßig an die Stiftung.«
»Wir waren gerade da«, sagte Lula. »Ist eigentlich ganz schön, wenn man von dem Jungen in Frauenkleidern absieht, der mit einem Paddel geschlagen wurde.«
Mintner sah aus, als wollte er sich ein paar Gefühlshemmer einpfeifen. »Die sind alle pervers«, sagte er. »Ein Haufen Geistesgestörter. Ich würde die Bude am liebsten niederbrennen, aber sie würden sie einfach wieder aufbauen. Globovic ist der Schlimmste von allen. Er ist der Rädelsführer. Das Mastermind hinter der ganzen Verderbtheit. Jede abgedrehte Toga-Party entspringt seinem kranken Hirn.«
»Würde man gar nicht drauf kommen«, sagte Lula. »Auf dem Foto sieht er wie der kleine Christopher Robin aus Pu der Bär aus.«
»Suchen Sie ihn. Ich will, dass er für den Rest seines Lebens hinter Gitter kommt«, sagte Mintner. »Jedenfalls so lange, bis er vor Altersschwäche den Weg zu meinem Haus nicht mehr findet.«
»Haben Sie eine Idee, wo ich mit der Suche anfangen soll?«, fragte ich ihn.
»Weit kann er nicht sein. Er verfügt über viele Kontakte hier. Freunde. Fehlgeleitete Menschen, die ihm helfen wollen. Im Zeta-Haus geht irgendetwas vor. Etwas Böses. Globovic ist daran beteiligt.«
»Whoa«, entfuhr es Lula. »Etwas Böses. Sie meinen, mit Dämonen und Teufeln und so?«
Mintner sah mich an. »Wer ist sie?«
»Lula«, sagte ich.
»Ich bin ihre Assistentin«, sagte Lula. »Wir sind wie der Lone Ranger und – wie hieß er andere doch gleich?«
Ich gab Mintner meine Visitenkarte und bat ihn, mich anzurufen, falls er etwas von Globovic hörte.
»Was denkst du?«, fragte Lula, als wir draußen waren.
»Der Mann hat was gegen das Zeta-Haus.«
»Glaubst du, dass dort etwas Böses vor sich geht?«
»Böse ist ein ziemlich starker Ausdruck. Oft sagen Leute böse, meinen aber eigentlich nur schlimm.«
»Das Böse ist mir unheimlich«, stellte Lula klar. »Es macht mir Gänsehaut. Ich hab mal einen Film über eine Frau gesehen, die war von einem bösen Geist besessen. Ihr Kopf drehte sich um sich selbst, und aus ihrem Mund krochen Kakerlaken. Erst ist sie ganz normal, und dann Zack! Im nächsten Moment spuckt sie Kakerlaken. Alles nur wegen dem bösen Geist. Und das Haus, in dem der böse Geist lauerte, sah genauso aus wie das Zeta-Haus.«
»Das hast du erfunden.«
»Ich schwöre. Bei Gott. Es ist genauso wie in dem Film. Ich würde mir gut überlegen, ob ich das Zeta-Haus noch mal betrete. Echt jetzt, ich bin nicht scharf drauf, Kakerlaken zu spucken.« Lula sah auf die Uhr. »Wo fahren wir als Nächstes hin? Ist es noch zu früh für Eiersalat?«
Wir standen vor dem Verwaltungsgebäude, blickten über eine weite Wiese, auf der sich, wie hingetupft, junge Leute tummelten; Collegestudenten, die auf dem Weg zu ihren Seminaren waren, Frisbee spielten oder einfach nur ein Nickerchen in der Sonne hielten. Das neue Gebäude für die Naturwissenschaften befand sich am anderen Ende des Campus.
»Globovic studiert im Hauptfach Biologie«, sagte ich zu Lula. »Versuchen wir es also im Biologischen Institut. Connie hat ein bisschen für mich recherchiert, Globovic’ Studienbetreuer heißt Stanley Pooka.«
Mein Handy brummte, eine SMS von Ranger.
Brauche ein Date. Hole dich um sieben ab. Bitte das sexy rote Kleid. Und scharfe Waffe.
Auch das noch. Mein Leben war so schon kompliziert genug. Da konnte ich ein Date mit Ranger nicht brauchen. Eine Waffe besaß ich zwar, aber wo hatte ich bloß die Munition hingetan?
»Keine guten Nachrichten?«, fragte Lula.
»Ranger braucht ein Date, er holt mich später ab.«
»Warum bekomme ich nie so ’ne SMS? Das wäre genau das Richtige für mich. Der Mann ist ein supergeiles Teil. Ich kriege Hitzewallungen, wenn ich nur an ihn denke.« Lula fächelte sich Luft zu. »Mir ist schon ganz warm. Oder hat der böse Geist aus dem Zeta-Haus Besitz von mir ergriffen?«
»Es sind fünfundzwanzig Grad im Schatten, und wir stehen in der Sonne. Vielleicht ist dir deswegen warm.«
»Ja, könnte sein. Aber wenn ich anfange, Kakerlaken zu spucken, holst du einen Priester, ja?«
Wir gingen über die Wiese zum Biologischen Institut und fuhren mit dem Aufzug zu Stanley Pookas Büro im zweiten Stock. Die Tür stand offen, und im Raum ging ein Mann umher, mittelgroß, schlank, und sein krauses abstehendes Haar sah aus wie ein Strohballen, in dem Eichhörnchen Versteck spielen konnten. Er fuchtelte mit den Armen und führte Selbstgespräche. Sein Alter war schwer zu schätzen, etwa Anfang fünfzig. Er trug eine Schlafanzughose, ein graues T-Shirt und an einer Kette um den Hals ein auffälliges Amulett.
»Ich glaube, da ist ein Spinner in Professor Pookas Büro«, sagte Lula.
Ich stellte mich in die Tür. »Professor Pooka?«
Ruckartig fuhr der Mann herum. »Ja?«, sagte er. »Bürozeiten sind mittwochs und donnerstags. Heute ist Montag. Gehen Sie.«
Ich stellte mich vor, gab ihm meine Visitenkarte und sagte ihm, ich sei auf der Suche nach Ken Globovic.
»Der ist nicht da«, sagte Pooka. »Auf Ihrer Karte steht Kautionsvollstreckung. Woher soll ich wissen, ob Sie wirklich Kautionsagentin sind? Wo ist Ihre Waffe? Warum tragen Sie keine schwarze Lederkleidung?«
»Kopfgeldjäger in schwarzen Lederklamotten? Das ist Fernsehen aus dem letzten Jahrhundert, Honey«, sagte Lula. »Heute tragen wir keine Lederkluft mehr, aber eine Waffe hab ich dabei. Sogar eine ziemlich große.« Lula kramte in ihrer Tasche. »Sie muss hier irgendwo sein.«
»Sie sind Kens Studienbetreuer«, sagte ich.
»Ich war sein Studienbetreuer. Ken ist verschwunden. Drei Kreuzzeichen! Er war sowieso ein Versager. An dieser Schule laufen nur Versager herum.«
»Er gehört den Zetas an«, sagte ich.
Pooka musterte mich scharf. »Und? Was wollen Sie damit andeuten?«
»Gar nichts«, sagte ich. »Ich suche nur nach Antworten.«
»Dann sind Sie hier falsch. Hier will niemand Antworten. Diese Schule ist Teufelswerk.«
»Das hab ich doch irgendwo schon mal gehört«, sagte Lula.
»Die akademische Freiheit ist dahin«, sagte Pooka.
»Dafür ist Spanking hier erlaubt«, sagte Lula, die noch immer in ihrer Tasche wühlte. »Ich finde mein Schießeisen nicht. Ich muss es in der anderen Tasche gelassen haben. Ich hab mir diese Tasche hier genommen, weil die andere nicht zu meinem lila Sweater passte. Ich lege großen Wert auf stimmige Accessoires.«
»Lila ist die Farbe der Feministinnen«, sagte Pooka. »Sind Sie Feministin?«
»Und was für eine«, sagte Lula. »Nur nicht, wenn Männerarbeit gefragt ist. Schlangen wegtragen oder so. Dann bin ich durchaus dafür, die Regeln zu brechen. Nur weil ich Lila trage, muss ich kein Dummerchen sein. Und wenn wir schon bei dem Thema Fashion sind: Darf ich Ihnen sagen, dass Ihnen die Halskette wirklich ausnehmend gut steht?«
»Das ist mein Power-Amulett«, sagte Pooka. »Ich lege es nie ab. Es ist der einzige wirksame Schutz gegen das Böse an dieser Schule. Es abzulegen würde den Geist des Amuletts beleidigen.«
»Ja, und wer will schon den Geist seines Amuletts beleidigen«, sagte Lula. »Wer weiß, was für schlimme Sachen der anrichten könnte. Zum Beispiel Ihren Schwanz zum Verfaulen bringen. In einer Folge von South Park hatte mal jemand Gluten getrunken, woraufhin ihm der Schwanz abfiel.«
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte ich zu Pooka. »Zurück zu Ken Globovic. Hätten Sie einen Tipp, wo wir ihn finden könnten?«
»Versuchen Sie es mal bei seiner Freundin. Sie gehört zu den verrückten Aktivistinnen. Schreibt dämliche Artikel für die Studentenzeitung.«
»Wissen Sie, wie sie heißt?«
»Ihren Namen kenne ich nicht. Aber sie sieht aus wie die Malibu-Barbie.«