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Ein Tanz, der Träume wahrwerden lässt
Natis Freundin Mara aus Stuttgart ruft an und bittet sie um einen Gefallen: Ihre Schwester Lilian möchte nach einer Trennung unbedingt ein paar Wochen an der Ostsee verbringen. Kurzerhand wird sie als Aushilfskraft in der Tanzschule eingestellt, denn Nati hat alle Hände voll zu tun und ist dankbar für jede Unterstützung. Doch als Lili im Kindertanzkurs für Nati einspringen soll, kippt die Stimmung plötzlich. Gemeinsam mit Nic will Nati herausfinden, was Lili verbirgt. Sie ist sich sicher: In ihrer Tanzschule kann jeder seine Vergangenheit hinter sich lassen und sein großes Glück finden. Vor allem, wenn der sympathische Meeresbiologe Tim Lilis Herz dazu bringt, sich endlich wieder zu öffnen.
Band 2 der romantischen Wohlfühl-Liebesroman-Reihe über die kleine Tanzschule am Meer von Ria Hellichten.
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Seitenzahl: 371
Cover
Grußwort des Verlags
Über dieses Buch
Titel
Bauernregeln für die Liebe und das Leben
Prolog
1. Wo die Liebe hinfällt, bleibt sie nicht unbedingt auch liegen
2. Ein echter Gärtner freut sich über das kleinste Blatt
3. Wer mit einem Regenschirm aus dem Haus geht, wird die Sonne nicht sehen
4. Die schönste Blume allein macht noch kein Beet
5. Wahre Freundschaft ist winterhart und immergrün
6. Alles beginnt mit einem Samenkorn, das zur richtigen Zeit auf den richtigen Boden fällt
7. Hat ein Mensch erst einmal Wurzeln geschlagen, trägt er seine Heimat bei sich, wohin er auch geht
8. Die Borke der Bäume und die Gesichter der Menschen sprechen zu dem, der hinsieht
9. Der Mensch braucht Liebe wie die Blume Sonne
10. Die Zwiebel in der Erde wächst, weil sie vom Frühling träumt. Nur der Mensch hat das Träumen verlernt
11. Die Blüten des Alltags werden zum Garten der Erinnerung
12. Die widerstandsfähigsten Pflanzen wachsen oft auf den kärgsten Böden
13. Die Liebe ist wie ein Pusteblumenschirmchen – der Wind weht sie, wohin er will
14. Wenn reden nicht weiterhilft, muss man manchmal gemeinsam schweigen
15. Sonne allein reicht zum Wachsen nicht aus, es gehört immer auch ordentlich Regen dazu
16. Manche Entscheidungen kann man nur mit dem Herzen treffen
17. In der Natur geschieht alles zur rechten Zeit
18. Mit wem man tanzen kann, mit dem kann man streiten, mit wem man streiten kann, den kann man lieben
19. Wenn das Leben dir Zitronen gibt, wird es wohl Zeit, selbst einkaufen zu gehen
20. Manchmal braucht es für die Liebe nur eine Verkettung glücklicher Umstände
21. Freundschaft wächst ein Leben lang
22. Liebe wächst auch unbegossen
23. Wer einer Dame widerspricht, ist entweder sehr dumm oder sehr mutig
24. Geschwister sind unterschiedliche Blumen, die im selben Garten wachsen
25. Manchmal wartet das Leben nur auf die richtige Gelegenheit
26. Wer liebt, ist niemals wirklich allein
27. Wer von Luft und Liebe leben will, sollte sich zumindest ein Stück Kuchen dazunehmen
28. Wer einer Frau einen Garten pflanzt, braucht ihr nie wieder Rosen zu schenken
29. Die Erde, in der alles wächst und gedeiht, heißt Vertrauen
30. Jeder Winter bedeutet Frieden, jeder Frühling Neuanfang
31. Liebe ist nicht für Feiglinge gemacht …
32. … sondern für die Mutigen und Verwegenen
33. Der Nörgler sieht die Wolken am Himmel, der Dankbare das Blau dazwischen
34. Wer den direkten Weg nimmt, verpasst ein Dutzend schöne Umwege
35. In der Liebe ist alles erlaubt – man verliebt sich Herz über Kopf, nicht andersherum
36. Manche Geheimnisse werden umso offensichtlicher, je mehr man sie zu verbergen versucht
37. Ein Mensch ohne Makel ist ein Mensch ohne Geschichte
38. Wer nie etwas riskiert, kann nicht gewinnen und hat wohl auch nichts zu verlieren
39. Sehnsucht ist Liebe zum Unmöglichen
40. Die Welt wäre schöner, gäbe es mehr Träumer, Idealisten und hoffnungslos Verliebte
41. Hoffnung ist die einzige Pflanze, die man selbst mit Tränen wässern kann
42. Was man liebt, muss man … nein, nicht loslassen! Besonders gut festhalten natürlich
43. Wenn du weder vor noch zurückkannst, musst du eben möglichst hoch springen
44. Ein wahrer Freund ist jemand, bei dem du deine Fehler nicht verstecken musst
45. Angst bedeutet nur, dass dir etwas Großartiges bevorsteht
46. Das letzte Wort überlasse ich dem Idol meiner Jugend, den Beatles, die es damals schon auf den Punkt gebracht haben: All You Need Is Love
Rezept für Doras Rhabarberkuchen
Über die Autorin
Weitere Titel der Autorin
Impressum
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Natis Freundin Mara aus Stuttgart ruft an und bittet sie um einen Gefallen: Ihre Schwester Lilian möchte nach einer Trennung unbedingt ein paar Wochen an der Ostsee verbringen. Kurzerhand wird sie als Aushilfskraft in der Tanzschule eingestellt, denn Nati hat alle Hände voll zu tun und ist dankbar für jede Unterstützung. Doch als Lili im Kindertanzkurs für Nati einspringen soll, kippt die Stimmung plötzlich. Gemeinsam mit Nic will Nati herausfinden, was Lili verbirgt. Sie ist sich sicher: In ihrer Tanzschule kann jeder seine Vergangenheit hinter sich lassen und sein großes Glück finden. Vor allem, wenn der sympathische Meeresbiologe Tim Lilis Herz dazu bringt, sich endlich wieder zu öffnen.
Ria Hellichten
Liebe Leserin, lieber Leser,
die Liebe ist wie ein Garten. Sie durchlebt ihre eigenen Jahreszeiten, die dem Frühling, Sommer, Herbst und Winter, den wir aus der Natur kennen, nicht unähnlich sind. Trotzdem weiß man nie genau, wie das Wetter wird – mal stürmt es, mal scheint die Sonne. Mal trägt die Liebe üppige Frucht, mal fällt die Ernte ganz aus. Auch Schädlinge können sich im Garten der Liebe einnisten und die traute Zweisamkeit stören. Und manchmal kommt es vor, dass man vergisst, die Pflanzen in seinem Garten zu düngen. Aber nur Mut! Die Liebe ist zäher als so manches Unkraut. Und für alle Fälle habe ich euch die wichtigsten Bauernregeln für die Liebe und das Leben aufgeschrieben.
Auf dass ihr sie niemals brauchen werdet,
Eure
Dora.
»Hast du dir wehgetan?«
Lili hob den Blick und sah direkt in die braunen Kulleraugen von Fiona, sechsdreiviertel Jahre alt, mit blonden Locken, einem Herz aus Gold und einem Schädel aus Titan. Ihr Brustkorb zog sich zusammen, ohne dass sie sagen konnte, ob es am Schmerz lag oder an der Zuneigung, die sie für den kleinen Wildfang hegte.
»Ja«, antwortete Lili schlicht.
»Dann hole ich dir ein Pflaster!« Fiona wirbelte herum und lief zurück ins Klassenzimmer.
Erschöpft ließ Lili den Kopf auf die Knie sinken, die sie fest an den Körper gezogen hatte. Aus dem Augenwinkel erspähte sie die kleinen Jacken und Rucksäcke an der Garderobe. Neben ihrem Sneaker lagen ein paar Schnipsel Konfetti, die ihren Weg aus der Kiste mit der Partydekoration dorthin gefunden haben mussten. Aus dem Klassenzimmer drang jetzt ein Happy-Birthday-Kanon, gesungen von zwei Dutzend Kinderstimmen.
Wie glücklich sie hier gewesen war, in dem Sechzigerjahre-Bau in Stuttgart-Möhringen, mit seiner wettergegerbten Fassade, dem löwenzahnübersäten Spielplatz und den quietschbunten Fenstern. Die Waldseeschule war ein sicherer Hafen gewesen, nicht nur für die Jungen und Mädchen, die hier die vielleicht wichtigsten Jahre ihrer Kindheit verbrachten, sondern auch für Lili.
Jetzt fühlte es sich an, als wäre jeder Atemzug einer zu viel. Lilis Lunge brannte, der Druck nahm stetig zu, und die Luft war stickig und dünn. Sie musste hier raus.
Die Tür des Klassenzimmers schwang auf, und Fiona stürmte heraus. »Ich hab extra eins mit Dinos genommen.« Stolz streckte sie ihr das Pflaster hin. »Wo tut es weh?«
Tränen stiegen Lili in die Augen, trotzdem mühte sie sich ein Lächeln ab. Sie überlegte kurz, dann legte sie die rechte Hand über ihre linke Brust. »Hier tut es weh.«
Fiona friemelte in akribischer Kleinstarbeit den Schutzstreifen vom Pflaster, aber plötzlich hielt sie inne. Ihr kleines Gesicht erstarrte vor Schreck. »Da? Da, wo das Herz ist?«, fragte sie.
Lili nickte. »Genau.«
Dann brachen die Gefühle aus ihr heraus; die Enttäuschung und die Wut. Vor allem aber die erdrückende Gewissheit, wie aussichtslos ihre Lage war. Die Erkenntnis, dass sie weder vor noch zurück konnte.
Die Tränen, die sie zurückgehalten hatte, liefen heiß über Lilis Wangen. Sie schloss die Augen, und plötzlich spürte sie, wie zwei dünne Arme sie mit aller Kraft an sich drückten. Ein eigentümlicher Duft nach Himbeershampoo, Knete und Fiona stieg in ihre Nase. Fiona, die ihre Lehrerin abgöttisch liebte, weil Kinder alles aus tiefster Überzeugung taten, und die nicht wusste, dass es Lili jedes Mal innerlich zerriss, wenn sie in ihrer Nähe war. Dass dann nicht nur Zuneigung ihre Zellen überschwemmte, sondern auch eine unterschwellige, schwelende Eifersucht. Weil Fiona alles war, was Lili niemals haben konnte.
Mein Gott, sie musste hier raus.
Lili
Ein Jahr später
»Sag es.«
»Sven ist … er ist …«
»Jetzt spuck’s schon aus!«
»… ein verflixter Blödmann.«
Am anderen Ende der Leitung lachte Mara hell auf. »Bitte was? Ein Blödmann? Schätzchen, er hat dich eiskalt sitzen gelassen. Nachdem er eine andere geschw…«
»Bitte nicht«, unterbrach sie Lili und umklammerte dabei das Handy fester, so als könnte ihre Schwester das irgendwie spüren. »Sprich es nicht aus. Ich will es nicht hören.«
Mara seufzte und holte hörbar Luft – wahrscheinlich, um so etwas zu sagen wie: Aber du musst. Du musst es benennen und dich deinen Dämonen stellen.
Und damit hätte sie sogar recht. Irgendwann musste Lili den Tatsachen ins Auge sehen, und irgendwann würde sie auch die Kraft dafür finden. Aber nicht jetzt.
Doch stattdessen sagte Mara: »Na schön. Dann beschimpf ihn wenigstens wie eine gestandene Frau. Brauchst du ein paar Anregungen?«
Obwohl ihr immer noch zum Heulen zumute war, musste Lili schmunzeln. In der Schule waren Schimpfwörter verboten gewesen. Anscheinend war sie etwas aus der Übung.
Ihr Schweigen war Mara Antwort genug. »Sven ist eine Flachpiepe«, setzte sie an, »ein Vollhorst, ein Toilettentieftaucher, ein Hanswurst mit der Hirnkapazität einer Stehlampe – wobei das genau genommen eine Beleidigung für die Stehlampe ist –, ein Gauner und Schuft, ein Arsch mit Ohren, ein Bundfaltenträger, ein Doppeltrottel, ein Dummschlumpf, ein Elfmetergesicht …«
Lili musste so heftig lachen, dass ihr Tränen in die Augen traten. »Bitte hör auf.« Mit dem vertrauten brennenden Gefühl kehrte auch die Verzweiflung zurück. Sie schluchzte hörbar auf.
»Hey.« Maras Stimme klang jetzt wieder sanfter. »Soll ich vorbeikommen?«
Lili schüttelte unbewusst den Kopf und strich sich eine feuchte Haarsträhne aus dem Gesicht. »Danke, ist schon gut.«
Anscheinend wusste Mara so gut wie sie selbst, dass das gelogen war. Sie schnalzte mit der Zunge. »Leg schon mal die Gläser ins Gefrierfach, ich bringe eine Flasche Weißwein mit.«
Lili fühlte sich zu schwach, um zu widersprechen. »Okay.« Sie hauchte ein Küsschen ins Handy und legte auf.
Eine Viertelstunde später klingelte es an der Tür. Lili blieb kaum Zeit, Ordnung zu schaffen. Aber in einer Wohnung ohne Möbel machte Aufräumen ohnehin wenig Sinn. Sven, dieser Intelligenzallergiker, war am Nachmittag mit einem leeren Transporter vorbeigekommen und vor einer Stunde mit einem vollbeladenen Auto wieder abgedampft. Allein die Tatsache, dass seine einjährige Tochter dabei gewesen war, die inzwischen schon laufen konnte, hatte Lili davon abgehalten, eine Szene zu machen. Vielleicht war es auch schlicht seine Dreistigkeit gewesen, die ihr die Sprache verschlagen hatte. Dank Mara wusste sie jetzt immerhin, was sie sagen würde, sollte er sich trauen, noch einmal bei ihr aufzutauchen – mit oder ohne Kind.
Lili warf einen Blick in den Flurspiegel und rieb sich über die Unterlider, um die verwischte Wimperntusche zu entfernen, aber die dunklen Schatten blieben. Sie zwang ein mattes Lächeln auf ihre Lippen und öffnete die Tür.
Mara umarmte sie stürmisch, die Weinflasche in der einen Hand, ein Buch in der anderen. »Hallo, Schwesterherz.« Sie rückte ein Stück von ihr weg, um ihr ins Gesicht zu sehen. »Wow, du siehst schlimm aus.«
»Danke für die Blumen, komm rein.« Lili holte die Weingläser aus der Küche, ging dann weiter in das jetzt spärlich möblierte Wohn- und Schlafzimmer und ließ sich auf eines der Kissen fallen, die in Ermangelung eines Sofas auf dem Boden lagen. Kissen, die sie gekauft hatte, denn Sven hatte für Dekoration nichts übriggehabt – zum Glück, sonst müssten sie jetzt vermutlich auf dem Boden sitzen.
Aus dem Augenwinkel beobachtete Lili, wie ihre Schwester sich mit heruntergeklappter Kinnlade im Zimmer umsah. »Was ist denn hier passiert? War das Sven? Das hat er hat nicht wirklich …?«
Lili fürchtete schon, dass Mara wieder zu einer Schimpftirade ansetzen würde, aber stattdessen atmete sie tief ein und wieder aus und sank dann kopfschüttelnd ebenfalls auf die Kissen. Sie legte das Buch neben sich ab und pulte passiv-aggressiv die Plastikhülle vom Schraubverschluss der Weinflasche.
»Was hast du da?« Lili spähte zu dem Buch hinüber. Das Cover zeigte Giebelfassaden aus rotem Backstein. »Einen Reiseführer?«
Mara nickte. »Man könnte auch sagen: die Lösung für all deine Probleme.«
»Bitte mach keine Witze«, gab Lili zurück und klang dabei gekränkter, als sie beabsichtigt hatte. »Wegzulaufen ändert doch nichts.«
»Vielleicht nicht. Aber wie sollst du hier jemals wieder glücklich sein, wo dich doch alles an den ganzen Mist erinnert?«
Lili verkniff sich ein Ich weiß und goss schweigend den Wein in die Gläser, dann hielt sie plötzlich inne. »Musst du nicht später noch fahren?«
Mara schüttelte den Kopf und nahm ein Glas entgegen. »Pascal hat versprochen, mich abzuholen, sollte das nötig sein.«
Prompt überkam Lili ein schlechtes Gewissen, weil sie vergessen hatte, dass ihre Schwester an diesem Wochenende Besuch von ihrem Freund hatte. Sie seufzte. »So ein Goldstück. Wo hast du den nur gefunden?«
Ein Grinsen schlich sich auf Maras Lippen. »In Travemünde, das weißt du doch.« Sie ließ ihr Glas gegen Lilis klingen. »Auf guten Wein und gute Männer – und auf Neuanfänge!«
»Wenn du meinst.« Lili verdrehte schmunzelnd die Augen und trank einen Schluck.
Mara stellte ihr Glas auf dem Laminat ab, dann streckte sie ihr den Reiseführer hin. »Ich wüsste nicht, was besser gegen Liebeskummer helfen sollte als Fischbrötchen, Marzipantorte und das Meer. Wirf doch mal einen Blick rein.«
Der Vorschlag war so absurd, dass Lili sich dabei erwischte, ihn tatsächlich für die Dauer eines Wimpernschlags in Erwägung zu ziehen. Sie nahm den broschierten Reiseführer, der eher ein dicker Prospekt als ein richtiges Buch war, und ließ ihn von einer Hand in die andere wandern. »Ich soll also Urlaub am Meer machen?«
Mara nickte eifrig.
»Für zwei, drei Tage?«
»Mit dem Zug brauchst du über sieben Stunden, daher dachte ich eher an zwei, drei Wochen.« Ehe Lili Gelegenheit hatte, etwas zu erwidern, fügte sie hinzu: »Oder Monate.«
Fassungslos lachte Lili auf. »Man könnte fast meinen, du möchtest mich loswerden.«
Daraufhin sah Mara sie so pikiert an, dass es keiner Worte bedurfte: Mit dem Dackelblick aus ihren blauen Augen war schon alles gesagt.
»Ist ja gut«, lenkte Lili ein. »Ich weiß, das würdest du niemals tun. Bestimmt ist es in Travemünde wunderschön, bloß – was soll ich denn da?«
Mara schüttelte den Kopf. »Frag dich lieber, was du noch hier sollst. Nichts für ungut, aber …« Sie ließ ihren Blick durch das leere Zimmer wandern, und Lili ahnte, was sie dachte: Du hast deinen Job verloren, deinen Mann und jetzt auch noch deine Wohnung. Oder zumindest den Großteil des Inventars. Und es stimmte, was Mara sagte: Sie hatte hier nichts mehr, vor allem keine Perspektive. Als Lehrerin konnte sie nicht länger arbeiten, und ihrem Ex-Mann wollte Lili um nichts in der Welt noch einmal über den Weg laufen. Zumindest die Chancen dafür wären in Travemünde um einiges geringer.
»Und wovon soll ich die Reise bezahlen?«, fragte sie. Aber selbst in ihren eigenen Ohren klang der Einwand lasch. Sie hatte für das perfekte Leben gespart, das sie sich erträumt hatte: mit Mann, Haus und zwei bis drei Kindern. Mara wusste das.
Trotzdem sagte ihre Schwester schlicht: »Ich bin sicher, Nati könnte ein bisschen Hilfe in der Tanzschule gebrauchen. Wenn du ihr zur Hand gehst, hast du sicher freie Kost und Logis.«
»Du hast das alles von langer Hand geplant, oder?«
Mara erwiderte nichts, aber Lili kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie selten etwas dem Zufall überließ. Und dass sie nicht lockerließ, wenn sie sich erst mal etwas in den Kopf gesetzt hatte.
Gut, dass auch sie den Dickkopf der Familie geerbt hatte. »Was ist mit meinen Sitzungen?« Sie hatte die Therapie zwar offiziell abgeschlossen, aber sie fühlte sich längst nicht bereit, das Leben, das sie täglich mit Themen konfrontierte, über die sie nicht nachdenken wollte, allein zu meistern.
Mara zuckte unbeeindruckt mit den Schultern. »Wofür gibt es Internet und Telefon? Sicher weiß auch Frau Dr. Schmittgen, wie man einer Zoom-Sitzung beitritt.«
»Aus deinem Mund klingt das immer alles so einfach.« Lili nippte an ihrem Wein und wartete darauf, dass ihre kleine Schwester so etwas sagen würde wie: Es ist auch einfach.
Stattdessen rückte Mara bloß näher an sie heran und legte einen Arm um ihre Schultern. Sie sah ihr tief in die Augen. »Nein. Ich weiß, dass es nicht leicht ist. Aber ich ertrage es nicht länger, einen Menschen, der mir so viel bedeutet, so unglücklich zu sehen.«
Lili wurde warm ums Herz. Seit einem Dreivierteljahr führte Mara eine Fernbeziehung, und obwohl sie Pascal nur jedes zweite oder dritte Wochenende sah, saß sie jetzt hier bei ihr, anstatt Zeit mit ihrem Freund zu verbringen. Bei diesem Gedanken meldete sich prompt ihr schlechtes Gewissen. Wollte sie Urlaub machen, in Travemünde oder sonst wo? Nein. Sie hatte bestimmt keine Lust darauf, bei Sonnenschein und überteuertem Touristenkaffee so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Andererseits berührte es sie, dass ihre kleine Schwester alles stehen und liegen ließ, um für sie da zu sein, wenn es ihr schlecht ging. Wie konnte sie ihr also etwas abschlagen?
Sie legte den Kopf auf Maras Schulter ab. »Ich denke drüber nach, in Ordnung?«
Obwohl sie es nicht sehen konnte, war Lili sicher, dass sich Maras Mundwinkel jetzt zu einem Lächeln bogen. »Das ist alles, was ich wollte«, gab sie zurück und streichelte ihr mit der freien Hand über den Kopf.
Nati
Nati erwachte, weil die Sonnenstrahlen ihre Nase kitzelten. Sie blinzelte gegen das grelle Licht an, das durch das Dachfenster fiel, und wälzte sich zur Wand um, wo kein Fenster war. Dabei stieß sie gegen etwas Hartes, das gleichzeitig irgendwie weich war. Ein vertrauter Geruch stieg in ihre Nase. Sie atmete tief ein, öffnete schließlich doch die Augen und hauchte einen Kuss auf Nics Schulter. Er gab irgendetwas zwischen einem Grummeln und einem Seufzer von sich und klang dabei so zufrieden wie ein sattes Baby. Mit einem Arm zog er sie näher zu sich.
Gab es etwas Schöneres, als neben diesem Mann aufzuwachen? Neben ihrem Mann. Nati konnte immer noch nicht fassen, dass sie nun schon seit vier Wochen mit Niclas Holtmann verheiratet war. Fast konnte sie den Duft der Freesien und Rosen, mit denen Mara die Segelmasten der Passat geschmückt hatte, noch riechen und den Sand unter ihren nackten Füßen spüren: Es war ein ungewöhnlich warmer Apriltag gewesen, und nach der Zeremonie hatten sie am Strand gefeiert, ungezwungen und familiär. So, wie sie es sich beide immer gewünscht hatten.
Aber irgendetwas ließ Nati innehalten, bevor sie ganz in diesen glücklichen Erinnerungen versinken konnte. Sie schreckte hoch und versuchte, einen Blick auf den Wecker zu erhaschen, der neben Nic auf dem Nachtschrank stand.
»Mist! Wie spät ist es?«
»Viel zu früh«, murmelte er verschlafen.
Nati schlug die Bettdecke zurück. »Ich muss in den Wellentänzer.«
Jetzt richtete sich auch Nic auf und warf einen Blick zur Seite. »Es ist erst halb neun«, sagte er. »Also quasi mitten in der Nacht. Außerdem ist Wochenende.«
Nati lächelte und strich ihm eine dunkelblonde Haarsträhne aus der Stirn. Das Leben als Inhaberin einer eigenen Tanzschule hatte ihren Biorhythmus ziemlich durcheinandergebracht: Viele Kurse fanden abends statt, Feierabend hatte sie oft erst nach zweiundzwanzig Uhr. Dann übernachtete sie in Nics Zweizimmerwohnung, die ihnen so lange als gemeinsames Domizil dienen würde, bis sie eine neue Wohnung gefunden hatten, was sich in Travemünde als nicht gerade leicht erwies. Sie verbrachten anschließend den restlichen Abend zusammen und blieben meist bis spät in die Nacht auf. Aber auch am Vormittag war in der Tanzschule viel zu tun: Buchhaltung, Aufräumen, Putzen und Einkaufen. Und spätestens ab sechzehn Uhr ging es schon mit den Kursen weiter.
Nati beugte sich über ihren Mann und angelte nach dem Handy auf dem Nachtschrank. Sie wischte über das Display. »Laut Kalender habe ich außer dem Hochzeits-Crashkurs noch eine Privatstunde heute Morgen. Gesellschaftstanz steht hier. Na toll, das kann ja alles heißen.« Mit einer Hand glättete sie ihre langen, vom Schlaf zerzausten hellbraunen Haare. »Wem habe ich denn da etwas versprochen? Ich kann mich gar nicht erinnern, den Termin ausgemacht zu haben.«
Aus dem Augenwinkel sah sie Nic schmunzeln. »Steht kein Name dabei?«, fragte er.
Nati scrollte durch ihren cloudbasierten Terminkalender und schüttelte den Kopf.
»Dann muss das wohl ein gewisser Herr Holtmann sein.«
Nati war so verschlafen, dass es einen Augenblick dauerte, bis sie begriff, was er gesagt hatte. Scherzhaft verdrehte sie die Augen und bohrte ihm einen Zeigefinger in die Brust. »Du kannst Herrn Holtmann ausrichten, dass er noch ein paar Privatstunden guthat, immerhin hat er den kompletten Wellentänzer fast im Alleingang renoviert, aber bitte erst nach Feierabend!« Sie gab Nic ein flüchtiges Küsschen, doch als sie den Kopf zurückziehen wollte, hielt er ihr Handgelenk fest, intensivierte den Kuss und weigerte sich, sie wieder loszulassen.
»Wir sollten dringend unsere Flitterwochen nachholen«, flüsterte er an ihren Lippen, als sie wieder zu Atem gekommen waren. »Nur wir beide, weit weg. Irgendwo, wo ich keinen Termin machen muss, um Zeit mit meiner Frau zu verbringen.«
Nati ließ ihre Stirn an seiner ruhen. Sie nahm Nic den unterschwelligen Vorwurf in diesen Worten nicht übel, denn er hatte recht. Aber im letzten Sommer hatte sie alles darangesetzt, den Traum von ihrer eigenen Tanzschule zu verwirklichen. Und weil ihr der Erfolg des Wellentänzers so wichtig war, würde Nic ihr auch nie ernsthaft Vorwürfe machen. Außerdem arbeitete er selbst oft bis spätabends, seit er das Bauunternehmen seiner Eltern übernommen hatte.
»Flitterwochen wären traumhaft«, sagte sie und öffnete die Augen, um ihn anzusehen. Die Sehnsucht in seinem Blick versetzte ihr einen Stich. »Bald, okay? Spätestens nach unserem Umzug. Versprochen.«
»Na schön.« Er zog sie wieder zurück auf die Matratze und biss ihr zärtlich in den Hals. »Dann wäre ich jetzt bereit für meine Tanzstunde.«
Nati riss sich lachend von ihm los. Beim Aufstehen wurde ihr ein bisschen schwindlig, aber sie hielt sich am Kleiderschrank fest. Als sich die Welt wieder langsamer drehte, warf sie ihr Kopfkissen nach ihm. »Was hältst du stattdessen erst mal von Kaffee?« Mit diesen Worten verschwand sie aus dem Schlafzimmer. Noch bevor die Tür hinter ihr zufiel, hörte sie, wie Nic ebenfalls aus dem Bett aufstand.
Selbst ein noch so voller Tag konnte nur gut werden, wenn er mit einem gemeinsamen Frühstück begann. Bei diesem Gedanken wurde ihr bewusst, wie viel Glück sie hatte. Seit sie ihr Leben mit Nic teilte, waren sogar die unscheinbarsten Momente des Alltags etwas Besonderes. Auch, wenn sie nach einer grenzwertig kurzen Nacht mit einem dröhnenden Kopf und einer vollen Blase viel zu früh aufstehen musste.
Dorsch (Gadidae)
Zur Familie der Dorsche gehören mehrere Fischarten. Im Ostseeraum wird immer der Begriff Dorsch verwendet. Lebt der Dorsch in anderen Meeren, bezeichnet man ihn auch als Kabeljau. Der unter dem Namen Alaska-Seelachs bekannte Pollack-Dorsch ist ein beliebter Speisefisch.
Zur Paarungszeit zeigen männliche Dorsche ein ausgeprägtes Balzverhalten. Dabei machen sie mit den Schwimmflossen tänzerische Bewegungen und geben gesangsähnliche Laute von sich, um ein Weibchen zu beeindrucken. Heute sind viele Dorscharten vom Aussterben bedroht.
Tim
»Mama, ich will den Fisch haben!«
Mama, eine nicht unattraktive Frau ungefähr Mitte dreißig, warf Tim ein entschuldigendes Lächeln zu, ehe sie sich wieder ihrem kleinen Schreihals zuwandte. Der leichte Sonnenbrand auf ihrer Nase wies sie eindeutig als Touristin aus, denn die unterschätzen wegen des Küstenwinds gern mal die UV-Strahlen. »Nein, mein Schatz. Du hast schon mindestens … drölfzig Fische zum Spielen zu Hause.«
»Drölfzig?«, fragte der Junge, den Tim auf vier Jahre schätzte. Er sah mit zusammengekniffenen Augenbrauen von seiner Mutter zu der Auslage im Souvenirregal und wieder zurück. Dass dieses Regal direkt neben der Kasse aufgehängt worden war, erwies sich nicht zum ersten Mal als völlige Fehlplanung. Tim war schließlich Meeresbiologe und kein Spielwarenverkäufer. Hätten die zusätzlichen Einnahmen ausgereicht, um seine Stelle im Museum zu finanzieren, hätte er sich vielleicht dazu überreden lassen, den Kindern, die in den Muscheltaucher kamen, Seifenblasen, Miniatursegelboote und singende Plüschmöwen anzudrehen. Aber das war unwahrscheinlich. Und nicht nur, weil er eben kein geborener Verkäufer war. Sondern vor allem, weil es zu viel Konkurrenz gab – moderne, kommerzielle Großaquarien, von Unternehmensketten betrieben, mit denen eine Bildungseinrichtung wie der beschauliche Muscheltaucher nicht mithalten konnte. Souvenirs hin oder her.
Die Gründung seines eigenen kleinen Museums, in dem er Kindern die heimische Unterwasserwelt näherbringen wollte, um sie für einen sorgsamen Umgang mit der Umwelt zu sensibilisieren, lag gerade einmal fünf Jahre zurück. Diese sechzig Monate hatten ausgereicht, um Tims Enthusiasmus den Wind aus den Segeln zu nehmen und seinen unrentablen Traum in die Hände eines Vereins übergehen zu lassen, der jetzt sogar seine eigene Stelle wegrationalisieren wollte. Wahrscheinlich würden bald Audioguides die Besucher durch die Ausstellung führen, oder vielleicht eröffnete jemand noch ein hippes Eiscafé oder ein Spa für gutbetuchte Urlauber in den Räumlichkeiten. Und er hatte geglaubt, hier endlich angekommen zu sein.
Wieder deutete der Junge mit ausgestrecktem Zeigefinger auf das Spielzeug. »Haben, haaa-ben!«
Sein Gesicht war rot angelaufen, und Tim, der allmählich Mitleid mit der Mutter hatte, nahm den Plastikfisch aus dem Regal, packte ihn an der Rückenflosse und ließ ihn in Schlangenlinien durch die Luft über dem Tresen schwimmen. Die zufriedene Stille, die daraufhin eintrat, war eine Wohltat für seine Ohren. Dabei mochte er Kinder – oder zumindest die Arbeit mit ihnen. »Weißt du überhaupt, was das für ein Fisch ist?«, fragte er und legte erwartungsvoll die Stirn in Falten.
Der kleine Meeresforscher schwieg.
»Das ist ein Dorsch«, erklärte Tim. »Er lebt in der Ostsee, also genau hier, vor der Tür. Na gut, vor der Tür und dann noch ein paar Meter über das Pflaster. Aber inzwischen ist das Wasser zu warm geworden, sodass es nicht mehr viele Dorsche gibt. Wenn es zu warm ist, geht es dem Dorsch schlecht, weißt du?«
Der Junge hing gebannt an seinen Lippen. »Dann müssen wir dem Dors helfen!«
Tim schmunzelte in sich hinein. »Du kannst ihm helfen, indem du nicht so viel Fisch isst. Ja, damit meine ich auch Fischstäbchen. Wenn, dann kauft deine Mama den Fisch am besten direkt vom Fischkutter.« Er lächelte der Frau entschuldigend zu. »Habt ihr euch den Fischereihafen in Travemünde schon angesehen?«
»Noch nicht«, antwortete sie.
Tim holte eine Broschüre samt Stadtplan unter der Theke hervor und erklärte ihnen, wie sie vom Priwall, der Halbinsel an der Travemündung, dorthin gelangten: »Einfach mit der Fähre über den Fluss setzen und der Hafenpromenade folgen, immer links halten, und schon sieht man die Masten der Fischerboote.« Mit einem Kugelschreiber zeichnete er den Weg ein, dann gab er den Prospekt an den Jungen weiter. Während dieser neugierig die Karte betrachtete, stellte Tim unbemerkt den Spielzeugdorsch wieder ins Regal zurück. Für einen Moment blitzte in seinen Gedanken die ironische Vorstellung auf, dass die Überbleibsel genau dieses Plastiktiers irgendwann wieder im Meer landen, von echten Fischen verschluckt werden und diese krank machen würden. Ein Widerspruch in sich. Aber so waren die Menschen, zumindest die meisten. Was sie nicht sahen, interessierte sie auch nicht.
Als er sich wieder umdrehte, bemerkte er, dass die Mutter ihn nachdenklich musterte. »Den Dors nehmen wir auch«, sagte sie zwinkernd.
Tim unterdrückte ein Grinsen und wollte das Spielzeug wieder auf den Tresen legen, doch die Frau streckte gleichzeitig den Arm aus und plötzlich trafen ihre Hände aufeinander. Tim sog die Luft ein. Die Berührung fühlte sich merkwürdig vertraut und gleichzeitig befremdlich an. Die Finger der Besucherin verweilten für eine Millisekunde auf seiner Haut. Flirtete sie etwa mit ihm? Das war ihm in letzter Zeit ein paarmal passiert, denn sein etwas unkonventioneller Typ schien gerade wieder in Mode zu sein. Wahrscheinlich lag es an den schulterlangen Haaren, die ihn wie einen Surfer wirken ließen, dabei war er nicht mal blond, wenn man von den ersten grauen Haaren absah. Allerdings trug Tim meistens Jeans, T-Shirt und Windbreaker statt Hawaii-Hemden und Badeshorts.
Ein Kribbeln wanderte von den Fingerspitzen ausgehend Tims Arm hinauf, aber sicher war das nichts weiter als ein subtiler Hinweis seines Körpers darauf, dass er schon ziemlich lange allein war. Und dass die Gesellschaft der Meeresbewohner diese Einsamkeit zwar betäuben, aber ein Gespräch mit seinesgleichen oder gar eine ehrliche Umarmung nicht ersetzen konnte. Vielleicht sollte er mal wieder unter Leute kommen. Mit ein paar Kumpels weggehen. In letzter Zeit hatte er das vermieden, denn die meisten seiner Freunde hatten entweder Familie und damit kaum noch Zeit für solche Männerabende, oder sie waren alleinstehend und setzten alles daran, das möglichst schnell zu ändern. Er hingegen war nicht darauf aus, sich sein Herz so bald brechen zu lassen. Diesem irrsinnigen Spiel aus Verletzen und Verletztwerden konnte er schon lange nichts mehr abgewinnen.
Er zog seine Hand zurück, die Frau errötete trotz des Sonnenbrands sichtlich und strich ihrem Sohn über den Kopf, der begeistert sein neues Spielzeug durch die Luft schwimmen ließ, so wie Tim es vorgemacht hatte. »Wow, den nehme ich mit in den Kindergarten!«, rief der Junge.
»Danke noch mal für den Tipp mit dem Hafen«, sagte die Frau und legte einen Geldschein auf den Zahlteller. »Das stimmt so.«
Dann drehte sie sich um und verschwand beinahe fluchtartig aus dem Gebäude.
Nachdem sie gegangen war, starrte Tim noch lange den Schein an, ehe er sich überwinden konnte, ihn in die Kasse zu sortieren. Nichts als schmutziges Papier, dachte er und wusste im selben Augenblick, dass er es hier nicht mehr lange aushalten würde.
Und zum Glück musste er das auch nicht. Denn die Weiten der baltischen See waren schon zum Greifen nah.
Nic
»Kurt, hast du etwa vergessen, den Sekt kaltzustellen?« Die Stimme seiner Mutter Monica hallte schrill durch das Foyer der Villa.
Nic schmunzelte in sich hinein und roch an dem Rosenstrauß, der ihm glücklicherweise in der Auslage von Frömers Floristik ins Auge gestochen war, nachdem er Nati an der Tanzschule abgesetzt hatte. Zwar schien die Ehekrise seiner Eltern vom letzten Jahr überwunden – eine Scheidung stand zumindest inzwischen nicht mehr im Raum –, aber seither ließ seine Mutter keine Gelegenheit aus, ihren Ehemann daran zu erinnern, dass er derjenige gewesen war, der sich »eine Auszeit genommen« hatte, wie sie es nannte. Nic bezweifelte, dass Kurt deshalb ein schlechtes Gewissen plagte, und daran würden wohl auch Monicas ständige Vorwürfe nichts ändern. Aber es war zwecklos, sich einzumischen. Wenn er es sich recht überlegte, war der Waffenstillstand zwischen seinen Eltern schon immer sehr fragil gewesen.
Nic warf einen Blick zur Decke, wo ein funkelnagelneuer Kristalllüster hing. Er musste daran denken, wie er die Lampe, die zuvor dort angebracht gewesen war, in einer Spontanaktion abmontiert und im Wellentänzer aufgehängt hatte, wohin sie ohnehin viel besser passte.
Von Kurt war nichts zu sehen, also atmete Nic tief durch, ging auf seine Mutter zu, die gerade in der Küche Geschirr auf ein Tablett türmte, und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Alles Gute zum Geburtstag«, sagte er und überreichte ihr die Blumen. »Ich kümmere mich gleich um den Sekt.«
»Danke schön.« Ein Lächeln huschte über Monicas Gesicht, bevor sie streng die Augenbrauen hochzog. »Um den Sekt soll sich mal ruhig dein Vater kümmern.« Sie holte eine Vase aus dem Schrank und stellte den Strauß hinein. »Wo ist denn Natalie?«
Nic vergrub die Hände in den Taschen seines Sakkos, wie um sich zu vergewissern, dass er heute Morgen das richtige Kleidungsstück aus dem Schrank genommen und nicht versehentlich im Blaumann auf der Feier anlässlich des sechzigsten Geburtstags seiner Mutter aufgetaucht war. »Sie gibt doch samstags den Tanzkurs zur Hochzeitsvorbereitung, aber sie sollte jeden Moment hier sein«, gab er zurück und fragte sich gleichzeitig, ob es ein Fehler gewesen war, allein herzukommen, anstatt vor dem Haus auf Nati zu warten.
Wahrscheinlich, aber Monicas tadelnder Blick war Strafe genug. Sie legte eine Hand an seine Wange, seufzte hörbar auf und tätschelte ihn etwas fester als nötig. Bei dieser Geste stieg ein schlechtes Gewissen in Nic auf, das er verdrängte, so gut es ging. Seine Mutter müsste doch wissen, dass Nati sie nie absichtlich versetzen würde. Weil sie Monica trotz ihrer notorischen Neugier und unverbesserlichen Voreingenommenheit mochte – und Gott allein wusste, wie seine Mutter das angestellt hatte.
Vielleicht sollte er Nati anrufen. Andererseits schien außer ihm sowieso noch niemand da zu sein. Er wollte gerade in den Garten gehen, da läutete es an der Tür. Nic war nicht undankbar für diese Unterbrechung. »Ich mache schon auf.«
Er öffnete und blickte direkt in die Gesichter von seinem Bruder Ole, dessen Frau Steffi und Julius, dem ältesten der drei Holtmann-Söhne. Ole hielt ein überdimensionales Orchideengesteck in den Händen, Julius eine Flasche Gin. Nics Augen weiteten sich.
»Was?«, fragte Julius entnervt. »Ich kenne doch Mutters Geschmack.« Er zwängte sich kopfschüttelnd an ihm vorbei.
Nic umarmte Steffi und auch Ole, so gut das mit dem monströsen Gesteck zwischen ihnen ging. Hinter den beiden erspähte er Bennet und Till, seine vier- und sechsjährigen Neffen, die sich auf dem Rasen vor der Villa gerade im Ringkampf maßen.
»Gib meinen Dino wieder her!«, schrie Bennet, der sich trotz des Altersunterschieds schon gut gegen seinen großen Bruder zur Wehr zu setzen wusste.
»Wo sind meine Lieblingsneffen?«, rief Nic. Schlagartig verstummte das Gezanke, Till ließ das Plüschtier fallen, und beide Kinder rannten auf ihn zu. »Onkel Nic!«
Nic ging in die Hocke, und die Jungs umarmten ihn stürmisch. Unfassbar, wie groß sie geworden waren. Till würde dieses Jahr schon in die Schule kommen.
Plötzlich wand sich der Größere aus der Umarmung und schob trotzig die Unterlippe vor. »Ich will nicht zu Oma!«
Nic stand wieder auf und wuschelte seinen Neffen durch die zerzausten blonden Haare. »Warum denn nicht? Wir feiern doch heute Geburtstag. Weißt du, wie alt Oma jetzt ist?«
»So alt wie ein Dinosaurier!«, rief Bennet und bog die Finger zu Krallen. »Chrrr!«
Nic lachte. »Fast. Aber behalt das für dich, es ist nicht nett, so was zu sagen. Und jetzt kommt mit, es gibt Kaffee und Kuchen.«
»Ich habe aber keine Lust auf Kaffee und Kuchen«, widersprach Till. »Das ist langweilig!«
»Dann mache ich dir eben einen Kakao und hole den Fußball aus dem Schuppen, was hältst du davon?« Nic packte seinen ältesten Neffen, der vergnügt quietschte, und hob ihn auf die Schultern. Bennet schnappte seinen Kuscheldino und trottete ebenfalls neben ihnen her am Haus vorbei in den Garten.
Draußen kramte Nic den alten Fußball hervor und kickte ihn über den Rasen, wobei fast die Statue der Venus von Milo neben der Sauna zu Bruch ging. Till und Bennet rannten hinterher und amüsierten sich prächtig. Nach ein paar Schüssen trat allerdings Oma Monica aus dem Haus. Sie kam die Treppe herunter und setzte einen pikierten Blick auf, überhäufte aber gleich darauf ihre Enkel mit Küssen, was Nic eine kleine Verschnaufpause verschaffte. Er ließ sich an der langen gedeckten Tafel auf der Terrasse nieder, direkt neben seinem Vater, der in der Zeitung blätterte.
Vor ihm, in der Mitte des Tisches, stand auf der weißen Decke ein leerer Sektkühler zwischen etlichen Blumensträußen und Kuchenplatten. Nic räusperte sich.
Kurt zuckte zusammen und faltete die Zeitung. »Junge! Hast du mich vielleicht erschreckt.«
»Ich weiß gar nicht, wie du bei dem Trubel überhaupt lesen kannst.«
Sein Vater zog einen Mundwinkel hoch. »Das lernt man mit den Jahren.« Er klopfte seinem Sohn auf die Schulter. »Wo hast du deine reizende Frau gelassen?«
Nic überhörte den unterschwelligen Spott in diesen Worten. Auch, wenn es Kurt nicht leichtgefallen war, sich auf seine neue Schwiegertochter einzulassen, hatte sein Sohn doch eigentlich eine andere heiraten sollen, wusste Nic, dass sein Vater im Grunde ein Romantiker war. Im letzten Sommer hatten sich die Ereignisse förmlich überschlagen, und es brauchte Zeit, das zu verdauen. Trotzdem hätte Kurt niemals gewollt, dass sein Sohn eine Frau ehelichte, die er nicht liebte. Er musste Nati bloß noch etwas besser kennenlernen, das war alles.
Instinktiv tastete Nic nach seinem Handy. Wahrscheinlich hatte der Tanzkurs länger gedauert als gedacht. Aber wenn Nati in einer Viertelstunde nicht da wäre, würde er trotzdem anrufen, um sicherzugehen, dass alles in Ordnung war. Anstatt auf die Bemerkung seines Vaters einzugehen, fragte er zurück: »Wolltest du nicht den Sekt kaltstellen?«
Kurt schnaubte. »Jetzt fängst du auch schon damit an.« Er verdrehte die Augen, fuhr sich durch das lichte graue Haar, hievte sich aus dem Gartenstuhl und verschwand im Haus.
Als er gegangen war, wandte sich Nic an Julius, der den Gin geöffnet hatte und gerade mit einem Kaffeelöffel nach den Eiswürfeln im Champagnerkühler fischte.
Schnaubend fragte Nic: »Ich dachte, das wäre ein Geschenk?«
Julius schnalzte mit der Zunge. »Nein, das eigentliche Geschenk hast doch du.«
»Habe ich nicht.«
Nic und Julius sahen sich hastig um und riefen fast zeitgleich: »Ole?«
Ole, der inzwischen beim Fußballspielen eingesprungen war, warf einen Blick zur Terrasse, wo sich Steffi gerade bei dem Versuch abmühte, mit dem Ellbogen die Tür weiter aufzuschieben, während sie ein Tablett samt Marzipantorte in den Händen balancierte. Sie schnaubte. »Was ist? Wieso starrt ihr mich alle drei so an?«
»Entschuldige, Schatz.« Ole eilte zu seiner Frau, öffnete die Tür und nahm ihr dann die Torte ab. »Sag mal, du hast doch den Umschlag?«
»Welchen Umschlag … oh, verdammt.« Mit großen Augen sah Steffi zwischen den Männern hin und her.
Nic wollte gerade aufspringen, den Autoschlüssel schon in der Hand, da lachte seine Schwägerin und hob mit einem Finger Oles Kinn an, bevor sie ihm einen Stups auf die Nase gab. »Du fällst auch jedes Mal wieder drauf rein.« Sie zog ein Kuvert aus der Innentasche ihres Blazers.
»Das ist nicht witzig«, protestierte Ole und nahm den Umschlag an sich.
Erleichtert sank Nic zurück auf seinen Stuhl. Ein Wochenende in einem Romantikhotel in Paris. Es blieb zu beweisen, ob Monica und Kurt sich über dieses Geschenk so sehr freuen würden, wie Julius prophezeit hatte. Nic erinnerte sich noch an die genauen Worte seines ältesten Bruders: Die beiden Turteltauben fliegen aus, und wir haben endlich unsere Ruhe – zumindest für ein Wochenende. Allerdings war ihm selbst auch kein besseres Geschenk eingefallen, und jetzt mussten sie das Ganze wohl oder übel durchziehen.
Wieder wurde die Terrassentür aufgeschoben, diesmal kam Monica mit einer Kiste Sekt heraus. Sie warf Kurt einen tadelnden Blick zu und drängte sich an ihm vorbei, bevor er ihr zur Hand gehen konnte. »Nur gut, dass ich vorsorglich schon ein paar Flaschen ins Eisfach gelegt hatte. Nehmt Platz, meine Lieben.«
Till und Bennet setzten sich neben ihn an die Kaffeetafel, und Nic war froh, dass die Freundinnen seiner Mutter erst am morgigen Tag vorbeikommen würden, sodass sie eine übersichtliche Runde waren. Eine Familie, trotz allem. Er hoffte nur, der momentane Frieden hielt noch eine Weile an.
Monica griff nach dem Flaschenöffner, aber dann zögerte sie und wandte sich Nic zu. »Denkst du, Natalie nimmt es uns übel, wenn wir schon mal ohne sie anstoßen?«
»Ach was, wer zu spät kommt, verpasst das Beste«, warf Julius ein. »Jetzt mach endlich den Sekt auf!«
Monica zuckte entschuldigend mit den Schultern und ließ den Korken knallen. Nic lächelte ihr zu, obwohl er sich plötzlich merkwürdig fehl am Platz fühlte.
Nachdem sie angestoßen und die Torte angeschnitten hatten, lockerte sich die Stimmung. Monica schenkte den anderen und nicht zuletzt sich selbst regelmäßig nach. Nic hatte fast den Eindruck, dass seine Mutter schon das ein oder andere Glas Sekt zu viel getrunken hatte, denn sie war eindeutig beschwipst. »Das ist der perfekte Geburtstag«, säuselte sie. »Ihr alle zusammen an einem Tisch, und ausnahmsweise gibt es keinen Streit.«
Nic beobachtete, wie Julius den Mund öffnete – wahrscheinlich, um ihre Beobachtung mit einem zynischen Kommentar zunichtezumachen –, und warf ihm einen eindringlichen Blick zu. Sein Bruder starrte zurück, gab es jedoch schließlich auf und nahm sich stattdessen noch ein Stück Torte.
»Ich bin wunschlos glücklich. Zumindest fast. Das Einzige, was alles noch schöner machen würde, wäre ein drittes Enkelkind«, fügte Monica hinzu und kicherte.
Mit einem Mal legte sich Schweigen über die Tischgesellschaft, oder kam es Nic nur so vor? Er versuchte, einfach abzuwarten, bis der Moment vorüberzog, aber er spürte, dass alle Blicke auf ihm ruhten. Und die betretene Stille machte absolut keine Anstalten vorüberzuziehen.
»Also da musst du dich an Nic wenden«, warf Julius mit vollem Mund ein.
»Ich weiß«, sagte Monica und schenkte ihrem jüngsten Sohn ein überraschend nüchternes Lächeln.
Mit zwei Fingern rieb sich Nic die Schläfen, hinter denen es plötzlich schmerzhaft pochte.
»Das ist doch nicht zu viel verlangt, oder, mein Schatz?«
Nic rang sich ein steifes Lächeln ab. »Mal sehen, was sich machen lässt.«
Julius schlang schmatzend sein Tortenstück hinunter. »Nicht so bescheiden. Du hast uns doch schon gezeigt, dass du weißt, wie das geht.«
Kurt schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Diese plötzliche Geste der Empörung kam so überraschend, dass selbst Nic zusammenzuckte. »Jetzt ist aber gut«, sagte sein Vater in gefasstem, aber eindringlichem Tonfall.
»Ist doch wahr«, protestierte Julius. »Wobei, wenn seine Angebetete immer nur arbeitet, ist das natürlich schwierig.«
Nic wusste nicht, ob er über diesen Spruch seines Bruders wütend oder belustigt sein sollte. Mit einem Ruck stand er auf. »Ich habe genug gehört. Wenn ihr mich bitte kurz entschuldigt?« Er würde sich das keine Sekunde länger antun. Jedenfalls nicht allein, ohne die Unterstützung seiner Frau, für die sich heute Nachmittag alle über die Maßen zu interessieren schienen. Kopfschüttelnd ließ Nic den Autoschlüssel von einer Hand in die andere wandern. Er würde sich jetzt eine ruhige Ecke suchen und Nati anrufen – ja, zur Not würde er selbst zum Wellentänzer fahren und sie abholen.
Aber als er das Haus umrundet hatte, blieb er wie angewurzelt stehen: Draußen, auf dem Parkplatz vor der Villa, stand Natis gelber Fiat 500.
Nati
Nati band ihren Pferdeschwanz neu und betrachtete das Ergebnis im Spiegel an der Sonnenblende ihres neuen Autos, bevor sie in ihrer Handtasche nach dem Deo angelte. Der Hochzeits-Crashkurs hatte sie mehr angestrengt als gedacht: Wie sich gezeigt hatte, sorgte die Kombination aus Zeitdruck, Perfektionismus und überzogenen romantischen Vorstellungen vom »schönsten Tag des Lebens« bei den meisten heiratswilligen Paaren nicht gerade für ein angenehmes Lernklima. Ein Blick auf die Uhr im Armaturenbrett zeigte ihr, dass sie zwanzig Minuten zu spät war. Sie hatte wieder mal überzogen. Eigentlich war es wohl ein gutes Zeichen, dass ihre Tanzschülerinnen und -schüler sie auch nach Ende des Kurses mit Fragen zu den richtigen Tanzschuhen belagerten und sie baten, diese oder jene Figur noch einmal vorzuführen. Allerdings sollte sie in Zukunft dringend darauf achten, pünktlich Feierabend zu machen. Vor allem, wenn sie zu einer Familienfeier eingeladen war. Mist, sie hoffte nur, Monica würde ihr das nicht übelnehmen.
Natis Finger lagen schon am Türgriff, als ihr Handy klingelte. Geh nicht dran, sagte sie sich selbst. So wichtig würde es doch nicht sein, oder? Und die anderen warteten sicher schon auf sie. Andererseits konnte man nie wissen. Was, wenn es ihre Mutter war, die anrief, oder ihr Vater, der seit seinem Herzinfarkt im letzten Jahr eigentlich kürzertreten sollte, sich aber nur selten daran hielt, was die Ärzte ihm rieten?
Mit einem leisen Seufzen nahm Nati den Anruf entgegen.
»Hallo, Süße«, begrüßte sie eine vertraute Stimme am anderen Ende der Leitung.
Ein Lächeln schlich sich auf Natis Lippen. »Hey, du treulose Tomate. Ich dachte, du wolltest mich dieses Wochenende besuchen kommen?«
»Entschuldige«, sagte Mara. »Pascal ist spontan nach Stuttgart gefahren. Hier haben wir einfach …«
Nati lachte, aber sie wusste, was ihre beste Freundin hatte sagen wollen: mehr Ruhe. »Ist schon okay. Ich kann verstehen, dass er dich nicht ständig mit mir teilen möchte.«
»Ich komme bald wieder nach Travemünde«, gab Mara eilig zurück. »Versprochen.«
»Ich nehme dich beim Wort. Also, was gibt’s? Eigentlich bin ich gerade auf dem Weg zur Familienfeier, Monica hat Geburtstag. Ist alles in Ordnung?«
»Ja. Das heißt … nicht direkt, aber das kann auch bis später warten.«
»Jetzt spuck’s schon aus.«
Mara zögerte eine Millisekunde – lange genug, um Nati wissen zu lassen, dass tatsächlich etwas im Busch war. »Du erinnerst dich doch noch an den ganzen Mist, den meine Schwester in den letzten Monaten durchgemacht hat?«