Kyttaro – Keim des Lebens - Christian F. Schultze - E-Book

Kyttaro – Keim des Lebens E-Book

Christian F. Schultze

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Beschreibung

Pandemie, Klimakatastrophe, Transhumanismus – alles Verschwörungstheorien? Zwei starke Frauen, Li Hui, die chinesische Spionin wider Willen und Pia Beck, die junge deutsche Investigationsjournalistin, sind auf der Suche nach Antworten und geraten dabei in ein Netz voller Gefahren. Sie ahnen nicht, welchen Mächten sie in die Quere kommen. Ob in Ägypten, wo Li Hui dem Geheimnis der Sphinx nachjagt, in den USA, wo Pia Beck den Organisatoren der Pandemie und dem Anführer der 13 Blutlinien auf der Spur ist, oder in Mittelamerika, wo Pias Vater seine plötzlich verschwundene Tochter sucht, die Pegasusloge sieht alles und plant ihren Untergang. Wird die Wahrheit rechtzeitig ans Licht kommen oder ist es bereits zu spät, den Angriff auf Kyttaro, den Keim des Lebens, abzuwehren?

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Seitenzahl: 328

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2023 novum publishing

ISBN Printausgabe:978-3-99146-115-9

ISBN e-book: 978-3-99146-116-6

Lektorat:Jasmin Fürbach

Umschlagfotos:Bruce Macqueen, Sakkmesterke, Viesturs Radovics, David Carillet | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

1. Gizeh

Über dreißig Jahre lag es nun zurück, seit sie dies hier das erste Mal gesehen hatte. Und wenn ihr damals jemand gesagt hätte, dass sie noch einmal hierher zurückkehren müsse, um einen neuen, noch schwierigeren und viel weiter reichenden Auftrag auszuführen, hätte sie es nicht geglaubt.

Doch nun stand sie tatsächlich hier. Und aufs Neue erfasste sie dieses unerklärliche, geradezu mystische Gefühl, welches sie schon damals heimgesucht hatte, als sie an jenem Septembernachmittag des Jahres 1989 mit ihrer Kommilitonin Jiang Ju von Kairo City herübergefahren war und sie beide ganz klein und ziemlich plötzlich vor ihnen gestanden hatten.

Die große, welche die orthodoxe Schularchäologie dem Pharao Cheops zuschrieb, stand jetzt übermächtig halbrechts vor ihr. Die mittlere, die den Namen des Chefren trug, nur weil sie in der Eingangshalle, die die meisten Ägyptologen für einen Totentempel ausgaben, ein paar Figürchen von ihm gefunden hatten, lag links der hinaufführenden Straße. Und die dritte, die von hier aus halbrechts dahinter befindliche Mykerinos-Pyramide, „die Kleine“, war im aufziehenden Abenddunst kaum noch auszumachen.

Ein kühler Schauer erfasste sie.

Man schrieb den 22. März des Jahres 2021. Die ganze Welt stand immer noch wegen dieser neuartigen Viruspandemie Kopf. Angeblich war der Prototyp, genannt SarsCov2-19, vor zwei Jahren ausgerechnet in ihrem Land ausgebrochen. Und so stark die alten Erinnerungen auch in ihr hochstiegen, sie ahnte, diesmal würde womöglich alles ganz anders ausgehen.

Wie damals hatte sie bis zum späten Nachmittag gewartet, ehe sie von ihrer neuen Herberge, die nahe des Tahrir Square lag, zum Plateau hinübergefahren war. Sie hatte das winzige, rote Mietauto auf einem der früher, vor der Pandemieausrufung, ständig überfüllten Parkplätze abgestellt. Heute standen hier nur ein halbes Dutzend PKW und ein paar abgenutzte Toyota Hilux herum. Vom Parkplatz war sie gemächlich zum Taltempel hinabgewandert, in dessen Nähe einige der renommierten Altertumsforscher einen früheren großen Nilhafen verorteten.

Sie verharrte eine Weile sitzend auf einem der riesigen Monolithen, welcher von der westlichen Mauer herabgestürzt war und nur vor diesem gigantischen Bauwerk lag. Und wie damals schon, erbebte sie auch diesmal wieder vor der monumentalen Wirkung der Jahrtausende alten Anlage des Plateaus.

Von hier aus links unten befanden sich die vorgelagerten Tempelanlagen und die Dutzende kleiner Grabstätten, um die sich nur wenige Altertumsforscher wirklich bekümmerten. Und einige hundert Meter rechts ragte die „Große Sphinx von Gizeh“ in den späten Märznachmittag.

Damals war die Sphinx für sie männlich gewesen. Doch inzwischen wusste sie es besser. Denn fast zweihundert Jahre vor dem berühmt-berüchtigten napoleonischen Ägyptenfeldzug hatte der deutsche Jesuit Oedipus Anthanasius Kircher ein Buch mit Zeichnungen über das Plateau herausgebracht, welche die Sphinx als einen Wolpertinger zwischen Löwin und Göttin mit freiem Oberkörper darstellte. Warum hätte Kircher die Sphinx als halbnackte Frau mit bloßen Brüsten in einem Löwenkörper und mit himmelwärts gerichtetem Blick darstellen sollen, wo doch in Europa freizügige und aufmüpfige Frauen zu dieser Zeit gelegentlich noch auf dem Scheiterhaufen landeten, wenn er es nicht genauso gesehen hätte?

Inzwischen hatte Li Hui unzählige andere diesbezügliche alte Schriften studiert. Auch in diesen war die Sphinx stets weiblich dargestellt worden. Erst nachdem Napoleon offenbar eine Umgestaltung der Gesichtszüge des Kolossal-Denkmals befohlen hatte, wurden auch deren Beschreibungen anders. Wie alt war die Sphinx also wirklich? Und wohin richtet sie ihren Blick? Darüber stritten sich die „Gelehrten“ nach wie vor!

Li Hui war sich mit Professor He Jungkiang und ihrer Freundin Jiang Ju einig, dass die Sphinx etwa 10700 Jahre vor der christlichen Zeitrechnung zu Beginn des Zeitalters des Löwen zusammen mit den Tempelanlagen errichtet worden sein musste. Diese Auffassung schmiss natürlich alle Zeitfolgen der klassischen Ägyptologie über den Haufen. Doch Li Hui wollte einfach nicht glauben, dass es vor dem König „Fingerschnecke“, mit dem vor rund fünfeinhalbtausend Jahren die prädynastische Zeit im Nilland begonnen haben sollte, auf dem Plateau nichts gegeben habe.

All diese Fragen, die in den ganzen Jahren unbeantwortet geblieben waren, gingen ihr angesichts der drei Kolosse, der zahllosen uralten Bauwerke ringsum und des rätselhaften Sphinxmonumentes durch den Kopf. Was wusste man wirklich über diese prädynastischen Zeiten?

Heutzutage konnte man mit allen zugänglichen Computerprogrammen sicher berechnen, dass vor etwa 12700 Jahren, von Gizeh aus gesehen, eine Wanderung der Himmelskörper durch die Ekliptik mit dem Frühaufgang des Sternbildes des Löwen begonnen hatte. Seither war, ausgehend von diesem Frühlingstag, jahrhundertelang ein Agrarkalender für das Nilimperium bestimmt worden.

Doch welches Antlitz die Sphinx ursprünglich auch gehabt haben mochte, bevor es im 2 600sten Jahr b.C. unter Pharao Chefren vermutlich zum ersten Mal verändert wurde und unter Napoleon zum zweiten Mal – darüber konnte weiter spekuliert werden. Hatte sich womöglich auch noch die große Königin Hatschepsut an der Sphinx verewigt? Und hatte die Löwin schon immer geradeaus nach Osten geblickt oder wenigstens noch bis zu Napoleons Besuch die zwölf Grad aufwärts in den Duat, den Frühlingspunkt des Jahres 10 700 vor Christus, wie es einige Gelehrte vermuteten. So war sie jedenfalls von Anthanasius Kircher dargestellt worden!

Wie passten die jetzigen männlichen Gesichtszüge zu den damals noch vorhandenen Brüsten der Löwin, und wenn es um eine Frau ging, wen stellte die Sphinx dann letztendlich dar? Und wo waren die in den alten Berichten beschriebenen Hieroglyphenstelen und der vierfach gehörnte hebräische Opferaltar verblieben, welche vor den Zeichnungen von Napoleons Cheflithographen Dominique Vivant Denon noch alle früheren Darstellungen zierten? Schließlich war auch die nach Li Huis Meinung wichtigste Frage immer noch offen: Wieso sollte Chefren am Ende des Großsternenjahres des Stieres eine derart kolossale Löwenskulptur errichten lassen?

Das Sternenjahr des Löwen hatte jedenfalls vor 12 700 Jahren begonnen!

Lange Zeit verharrte Li Hui reglos und ließ die archaischen Monumente auf sich einwirken. Am westlichen Firmament zog die Nacht schnell herauf. Nachdem sie eine Weile so mit ihren Gedanken gesessen hatte, musste sie plötzlich lächeln, weil sie daran dachte, wie wenig sie damals über altägyptische Geschichte gewusst hatte. Sträflich wenig geradezu! Doch auch Jiang Ju kannte zu jener Zeit nur Bruchstücke der Zusammenhänge, die sie später nach und nach gemeinsam entdeckten. Es war vor allem die Freundin gewesen, welche in ihr ein immerwährendes Interesse an der Geschichte der Pyramidenkomplexe, am ägyptischen Altertum und an den gewaltigen Anlagen aufwärts des Nils geweckt hatte. Später dann, als sie bereits etwas mehr über die Pyramidenzeit der Erde, die Texte des ägyptischen Totenbuches und über dieBesucherherausgefunden hatten, schworen sie sich, so viele Beweise wie möglich über die Geschichte dieser „uralten“ Zeiten zu sammeln.

Uralt waren sie eigentlich gar nicht, fand Li Hui. Denn gemessen an der Entwicklungsgeschichte der Menschheit handelte es sich nur um einen Wimpernschlag der Zeit. Um so erstaunlicher und deprimierender war es doch, dass man über diese rund dreizehntausend zurückliegenden Jahre der Menschheitsgeschichte genau genommen immer noch so wenig Zusammenhängendes wusste.

Die Sonne war inzwischen bereits einige Minuten hinter dem Horizont der westlichen Wüste verschwunden. Der rötlich-gelbe Himmel hatte in rascher Folge ein unglaubliches Farbenspiel absolviert. Schnell ging er jetzt in ein massives, dunkles Blau über. Die markanten Dreiecke der Pyramiden zeichneten sich jetzt trotz der aufblitzenden Lichter des östlichen Highways als geheimnisvolle schwarze Schattenrisse gegen den westlichen Abendhimmel ab. In wenigen Minuten würde es Nacht sein. Das ging hier, am Nordostende Afrikas, beinahe ebenso schnell wie am Äquator.

Li Hui ließ diese geheimnisvolle südliche Dunkelheit eine Weile auf sich wirken. Als sich die ersten Sterne zeigten, schlenderte sie eher widerwillig zurück in Richtung des Parkplatzes. In ihrer Erinnerung zogen jetzt die Bilder ihres Studiums an der amerikanischen Universität zu Kairo Ende der 80er Jahre vorbei. Es war diese Zeit, in der sie ihre rotchinesische Freundin Jiang Ju kennengelernt hatte, welche heute die Chefin der Mittel-Nahostabteilung des Auslands-Nachrichtendienstes der chinesischen Volksrepublik war, und die seither ihr Leben immer wieder in so entscheidender Weise bestimmt hatte.

Natürlich musste sie auch an die romantischen Nächte mit ihrem amerikanischen Professor Roger Gilmor in den Wadis der westlichen Wüste denken. Er war es schließlich gewesen, der sie beide damals in das Wissen der Schularchäologie, die Geheimnisse des altägyptischen Totenbuches, jener Uraltschrift vom „Herausgehen in den Tag“, und an die ursprüngliche altägyptische Bilderschrift herangeführt hatte.

Li Hui lächelte still vor sich hin, als sie an jenen Tag dachte, an welchem sie mit Jiang Ju den Plan gefasst hatten, den Gipfel der Großen Pyramide zu ersteigen. Leider war es damals nicht mehr dazu gekommen und sie beneidete den jungen Deutschen, der es kürzlich trotz aller Sicherheitsmaßnahmen geschafft hatte.

Neben all diesen Erinnerungen ging ihr unablässig das Schicksal ihres Sohnes Ning Sebastian durch den Kopf. Die Entscheidung der obersten Behörden der Volksrepublik war unangemessen hart, sie erneut von ihm zu trennen. Selbst das Telefonieren mit ihm war ihr aus den vorgegebenen Sicherheitsgründen verboten worden. Er würde sich jetzt, da er allmählich in das Erwachsenenalter eintrat, sicherlich allerhand Sorgen um sie machen. Auch diesmal durfte er nicht wissen, in welcher Mission sie unterwegs war.

Und vielleicht war es überhaupt sinnlos, dass sie sie hierhergeschickt hatten. Vielleicht lagen die Antworten auf die Fragen der Abteilung von Jiang ganz woanders.

Sie wartete sehnlichst auf die Ankunft jenes merkwürdigen Deutschen, der angeblich die halbe Welt vor der Pandemie von 2017 gerettet hatte. Vielleicht konnte sie mit seiner Hilfe eine Nachricht nach Zhengzhou absetzen. Denn dieser seltsame Bioinformatiker schien sich, ebenso wie sie, nach Freiheit zu sehnen. Vielleicht konnte sie mit seiner Hilfe doch irgendwie mit Ning Sebastian in Verbindung treten …

Das Argument eines erhöhten Sicherheitsrisikos war natürlich zutreffend. Mit Covid21, einer angeblich neuen Mutation des Coronavirus, hatte das allerdings gar nichts zu tun. Der internationale Informationskrieg zwischen nicht genau definierbaren Machtgruppen in China, Japan, den USA, Russland, Indien und Europa tobte immerhin schon seit Jahrzehnten und hatte mit der immer umfassenderen weltweiten Vernetzung und unablässig voranschreitenden Installierung von G4- und G5-Netzen beständig zugenommen. Die Kunst der Verschlüsselungstechnologien hatte daher immer weiter an Bedeutung gewonnen. Experten und Whistleblower wie Edward Snowden und die Veröffentlichungsplattform des Wikileaks-Gründers Julian Assange, die seinerzeit den Geheimdiensten Konkurrenz machen wollten, waren mittlerweile auf Abstellgleise geraten.

Damals, im Jahr 2006, als sie noch imCalifornia Institute of Technologyangestellt war, hatten nicht einmal die dortigen Spitzenleute eine wirkliche Vorstellung davon gehabt, welche Bedeutung die Kryptologie einmal erlangen würde. Auch sie selbst hatte es in jenen Jahren noch nicht in vollem Umfang erfasst. Ihr war es auch gar nicht um Verschlüsselung von Informationen gegangen. Sie hatte umgekehrt lediglich eine vage Idee davon entwickelt, dass es möglich sein müsste, mithilfe mathematischer Methoden alte Schriften und Sprachen, besonders die altägyptischen Hieroglyphen oder das so genannte Transsanskrit, vielleicht sogar die Rongorongoschriften der Osterinseln, entschlüsseln zu können. Denn es war eine wissenschaftliche Tatsache, dass die Menschheit überwiegend nichts Umfassendes über ihre zurückliegende vieltausendjährige Kulturgeschichte wusste, geschweige denn über etwaige Zivilisationen wie der „Atlanter“, die angeblich in grauer Vorzeit „an einem einzigen Tag und in einer einzigen Nacht“ im Atlantik untergegangen sein sollten.

Seit ihrer Studienzeit in den USA hatte sich für Li Hui vieles gründlich geändert. Eigentlich war es wegen der modernen Computertechnologien heutzutage nahezu unmöglich, eine Nachricht unauflösbar zu chiffrieren und unaufspürbar über das Internet zu versenden. Die vielbeschworenen Quantencomputer würden möglicherweise neue Lösungen bringen, hofften vor allem die Geheimdienste. Aber die waren längst noch nicht weit genug entwickelt. Deshalb waren Kryptologen wie sie neuerdings wieder gefragt. Bereits während des Zweiten Weltkrieges hatte man bestimmte Spezialisten, sogar besondere Indianergruppen, rekrutiert, die hervorragende Leistungen auf dem Gebiet der Ver- und Entschlüsselung geheimer Botschaften erbringen konnten. Ähnliche Wunder erwartete man jetzt von den modernen Kryptologen.

Mittlerweile hatte sie ihren kleinen roten Peugeot erreicht, welcher jetzt fast mutterseelenallein auf dem riesigen Parkplatz des Plateaus stand, hatte dem gelangweilten Nachtposten noch einmal freundlich zugewinkt und startete unverzüglich in Richtung der brodelnden ägyptischen Metropole.Vielleicht sollten wir lieber Brieftauben oder Graugänse für die Nachrichtenübermittlung abrichten, dachte sie launig, während sie in den dichten Verkehr über die Qasr al-Nil-Brücke eintauchte und ihrer unauffälligen Pension zustrebte.

2. Kairo

Als Li Hui vor wenigen Tagen in der ägyptischen Hauptstadt eingetroffen war, hatte sie versucht, wieder ihre frühere kleine Maisonettewohnung unweit des El-Tharir-Square zu mieten. Diese war damals, im Jahr 2011, als ihr die Flucht aus den Verliesen des koptischen Klosters gelungen war, einige Wochen ihr Unterschlupf gewesen. Dort hatte sie dann auf das Eintreffen John Redcliffs gewartet. Doch diesmal war diese Pension schon besetzt gewesen und so war ihr nichts Anderes übriggeblieben, als in die oberen Etagen einer ziemlich schäbig erscheinenden Herberge in der Altstadt einzuziehen.

Um ihre eigene Sicherheit machte sich Li Hui kaum Sorgen. Überraschenderweise hatte ihr die Abteilung wieder die Identität der amerikanischen Archäologin Du Chong gegeben, mit der sie seinerzeit ihr Freund und Abteilungsleiter des CIA, John Redcliff, kurz vor seinem Tod ausgestattet hatte. Unter dieser Legende hatte sie 2011 sogar Zugang zu den Katakomben des Ägyptischen Museums und zuletzt zum berühmten Grab 33 erlangt. Und diese merkwürdigen, abartigen Corona-Schutzmaßnahmen erleichterten ihr im Grunde alle weiteren und notwendigen Tarnungsmaßnahmen.

Sie hatte bereits herausgefunden, dass die damalige Direktorin des Museums, Wafaa al Saddik, mit der sie nach einigen Wochen gemeinsamer Arbeit Freundschaft geschlossen hatte, nicht mehr im Amt war. Seit den politischen Wirren Anfang der 2010er Jahre, die die Medien euphemistisch als „Arabischen Frühling“ bezeichnet hatten, waren auch in Ägypten tiefgreifende Veränderungen vor sich gegangen und es war noch viel schwieriger geworden, Zugang zu den Geheimnissen der ägyptischen Altertümer-Sammlungen, zu den Depots oder gar zu Genehmigungen für Grabungen und Forschungen sowohl rund um das Gizehplateau als auch weiter aufwärts des Nils zu erhalten. Das war kein Wunder, wenn man bedachte, dass während jener Aufstände ein Großteil der wertvollsten Artefakte der Museen geraubt worden waren.

Allerdings wusste niemand, nach welchen Gesichtspunkten das Antikenministerium und die Altertumsbehörde heutzutage einzelne Grabungsgenehmigungen erteilte. Man munkelte, dass allein die Franzosen noch umfangreichen Zugang zum Plateau hätten, insbesondere zu den unerforschten Labyrinthen unter der Sphinx. Sicher ging es dabei wie immer auch ums Geld. Wer am meisten zahlen wollte, bekam seinen Willen …

Ein ganz wichtiger Punkt, den sie klären musste, waren die Vorgänge um dieses so genanntescan-pyramides-project, das die Franzosen gemeinsam mit Ägyptern, Japanern und Kanadiern an den beiden großen Gizeh-Pyramiden und den zwei Dashur-Pyramiden seit 2015 betrieben. Welche Ergebnisse hatten diese aufwändigen Experimente wirklich erbracht? Im Internet war darüber nur wenig zu finden und das war doch ziemlich verdächtig. Diese Myonen-Scan-Technologie, die man seit einiger Zeit im Bergbau und auch im Tunnelbau verwendete, schien, ähnlich wie die Drohnenfotografie, auch der Archäologie ganz neue Möglichkeiten zu eröffnen. Immerhin war durchgesickert, dass man im oberen Drittel der Cheopspyramide mindestens zwei neue Hohlräume, darunter eine weitere „Galerie“ von vielleicht 400 Kubikmeter Volumen entdeckt haben wollte. Warum hielt man das aber derart geheim?

Womöglich war aber auch alles ganz anders, als Li Hui vermutete. Vielleicht lagen die Kristalle weder in den Gizeh-Pyramiden, noch unter der Sphinx noch irgendwo im Tal der Könige. Was war mit Abydos?

Der Stein der Weisen,lapisphilosophorum,war seit jeher in allen möglichen Erzählungen und Verschwörungstheorien herumgegeistert. Mal wurde er als schwarz, mal als weiß, mal als durchsichtig wie die Bergkristalle und mal als großer grüner Smaragd beschrieben. Diejenigen, die Li Hui in Area 51 und in Badaling gesehen hatte, sahen eher aus wie schlichte Glasprismen. Sie besaßen eine Kantenlänge von 11,1 cm und einen Neigungswinkel von 52 Grad. Damit gewährleisteten sie einen optimalen Laserstrahlzugriff von allen Seiten. In ihren Kristallstrukturen konnten tausende von Exabytes an Informationen zerstörungssicher abgespeichert werden.

Nachdem in den vergangenen Jahren ziemlich offensichtlich geworden war, dass seit mindestens 12 000 Jahren vor der modernen Zeitrechnung von den damaligen Zivilisationen tausende von Pyramiden auf dem so genannten Pyramidengürtel rund um den gesamten Erdball errichtet worden waren, konnten die heiß gesuchten „Weißen Steine“ überall an solchen Plätzen verborgen sein. Es war daher gut möglich, dass sie hier in Ägypten zu spät kam und am ganz falschen Ort suchte!

War überhaupt schon mal jemand auf den Gedanken gekommen, dass derlei Artefakte auch noch in verborgenen Kammern der alten Anlagen von Abu-Simbel, tief unter den Fluten des Nassersees versteckt sein konnten? Oder in den Katakomben der Nekropolen von Abydos und Theben? Auch hatte noch niemand die Relikte der Induskultur annähernd so fleißig und gierig durchforscht, wie die Araber und Europäer seit der Antike die alte Nilzivilisation! Gerne hätte Li Hui auch mehr darüber gewusst, was an den Erzählungen dieses New-Age-Rosenkreuzers Maurice Doreal, der mit bürgerlichem Namen Claude D. Dodgin geheißen hatte, über die „Smaragdtafeln“ des Atlanters und Mondgottes Thot, die er angeblich 1925 in einer mexikanischen Pyramide gefunden haben wollte, dran war. Dessen dubiose Übersetzungen konnte man noch überall im Buchhandel erwerben. Doreal hatte behauptet, dass er die Smaragdtafeln wieder an den angestammten Ort in die Große Pyramide verbracht habe. Wie wollte er das aber angestellt haben und warum hatte er das getan?

Oder hatte je mal einer ein seriöses Forschungsprojekt über die Rasse der Langschädel auf die Beine gestellt, die man im gesamten Niltal genauso wie in Mittelamerika und in China aufgefunden hatte? Wieso war der Baka-Komplex immer noch militärisches Sperrgebiet und warum hatten ihre Auftraggeber ihr keinen neuerlichen Tauchgang im Sphinxlabyrinth aufgetragen? All dies waren Fragen, die die Erforscher des Altertums sich eigentlich ebenfalls bald mal stellen sollten, für deren Beantwortung aber selbst die Mittelnahost- und Afrikaabteilung der chinesischen Nachrichtendienste wohl längst noch nicht bereit war, Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Darüber würde sie dringend mit Jiang Ju reden müssen …

Amenophis IV., genannt Echn-Aton, derjenige, der im 14. Jahrhundert vor Christus auf einmal die Eingottreligion im sogenannten Neuen Reich eingeführt hatte, war anerkanntermaßen ein Langschädel gewesen. Seine Kinder Tut-Ench-Amun und dessen sechs Schwestern vermutlich ebenfalls. Nach den Angaben der Schularchäologen sollen sie um 1350 vor Christus gelebt haben, nur 50 Jahre, nachdem Thutmosis IV. die Große Sphinx von Gizeh wieder einmal aus den Wüstenverwehungen hatte freilegen lassen.

Im Verhältnis zu den ganz alten Zeiten, die Li Hui interessierten, roch das alles noch ziemlich frisch! Noch weniger Verlässliches wusste man über die früheren Reiche der sogenannten Prädynastik und das Reich Kemet, das „Schwarze Land“! Und auch diese kümmerlichen Überlieferungen reichten lediglich bis ins 5. Jahrtausend vor Christus zurück!

Konnte man also alles für bare Münze nehmen, was die Althistoriker, Ägyptologen und sonstigen Altertumsforscher in den beiden letzten Jahrhunderten über das Nilland zusammengetragen hatten? Die Geschichte war schließlich voll von Wissenschaftsbetrug zur Ehre der Entdecker und derer, die sich mit ihnen schmückten oder Profit aus diesen Geschichten zogen.

Was aber, wenn die Antworten auf ihre und Jiang Jus Fragen weder am Nil noch am Indus, sondern im Hochland der Anden oder am Amazonas zu finden waren? Nur wenige hatten bis dato entsprechende Expeditionen in diese Gebiete unternommen. Und noch niemals wurden bislang wirklich komplexe Forschungsunternehmen unter Teilnahme verschiedener Fachdisziplinen in dieser Richtung umgesetzt …

Li Hui alias Du Chong hatte mit dem kauzigen deutschen Molekularbiologen Winfried Knauer einen Treffpunkt in der ihr noch bestens in Erinnerung befindlichen Al Mahata-Bar unweit des Ägyptischen Museums vereinbart. Dort hatte sie im Jahr 2010 einige Abende mit Roger Gilmor verbracht, als die chinesischen Geheimaktionen ins Innere des Sphinxlabyrinths und wegen des Kabbala-Steins in Mekka vorbereitet worden waren. Nun wartete sie hier, wie verabredet, schon seit drei Tagen jeden Abend ab 19:00 Uhr auf diesen „Dr.“ Winfried Knauer, der ganz unauffällig mit einem normalen Linienflieger von Peking über Frankfurt am Main als Tourist in der ägyptischen Hauptstadt eintreffen sollte.

Die Kaffeebar Al Mahata war traditionell ein beliebter Treffpunkt für ausländische Touristen. Ungeachtet der politischen Lage im Land, die immer noch von allgemeiner Unsicherheit gekennzeichnet war, hatten sich einige Deutsche, Engländer und Japaner zu ihrem abendlichen Treff in diesem Lokal eingefunden. Offensichtlich nahm man hier das Corona-Distancing nicht so genau. Ob auch Amerikaner anwesend waren, konnte Li Hui zunächst nicht ausmachen. Sie ging davon aus, dass dieses Lokal als Kontaktpunkt für Repräsentanten ganz verschiedener globaler Dienste und Firmen genutzt wurde und hoffte, dass Knauer nicht mehr lange auf sich warten ließ, damit sie möglichst bald hier herauskam. Denn obwohl es in dieser Bar ziemlich international zuging, sorgte sie sich, dass sie ohne Begleitung alsbald Ziel einer ungewollten Aufmerksamkeit werden würde.

Sie hatte in unregelmäßigen Abständen zur Eingangstür geblickt. Und auf einmal stand er dort, so wie er ihr in Badaling vorgestellt worden war: mittelgroß, schmal und dunkelhaarig, eher wie ein kleiner Italiener aussehend,zaghaft und unschlüssig, überaus hilflos wirkend an diesem Ort, in diesem Land und auf dieser Mission. Sie wusste plötzlich, sie würde ihn beschützen müssen – und dass dies keine leichte Aufgabe werden würde. Doch sie war froh, dass er endlich da war und irgendwie, ganz entfernt, erinnerte er sie an Sebastian Grüner, auch wenn Knauer um viele Jahre jünger war als der Vater ihres Sohnes.

Sie musste innerlich lachen: Diese schüchternen Deutschen sollten Mitte des vorigen Jahrhunderts einmal die gefürchtetsten Krieger Europas und fast der ganzen Welt gewesen sein? Weder ihr verstorbener Geliebter noch Knauer erinnerten sie im Entferntesten an gedrillte Soldaten zielbewusster Weltmachteroberer und Li Hui bezweifelte, dass Knauer jemals eine militärische oder sonstige Ausbildung in irgendwelchen Kampftechniken zur Selbstverteidigung oder gar für aggressive Zwecke erhalten hatte.

Sie winkte ihm zu, damit er sie endlich entdecken konnte und wunderte sich kein bisschen über seine deutlich erkennbare Erleichterung, als er sie erkannte. Eilig arbeitete er sich zu ihrem Tisch durch, einen voluminösen Rollkoffer hinter sich herziehend. Nachdem er seine Mundnasenbedeckung abgezogen hatte, begrüßte er sie brav mit Küsschen links und Küsschen rechts und ließ sich ziemlich erschöpft auf den gegenüberliegenden Stuhl plumpsen.

„Gab es Probleme?“

„Nein, jedenfalls nicht auf den Flughäfen. Mit dem Taxi auch nicht.“ Sein Englisch war äußerst holprig.

Sie wartete einige Sekunden: „Alles OK sonst?“

„Bin noch bisschen steif, aber es wird schon.“

„Haben Sie etwas Geld mitgebracht?“

„Nur wenig. Wir sollen äußerste Vorsicht walten lassen, hat man mir eingetrichtert. Ein paar Travellerschecks habe ich aber auch noch dabei. Doch wir sollen uns erforderlichenfalls Geld in der Botschaft besorgen.“

„Geht es Ihnen wirklich gut?“, hakte sie nochmal nach.

„Geht so. Es gibt neue Erkenntnisse. Aber ich bin das erste Mal in dieser Weise unterwegs. Das bin ich nicht gewöhnt und das macht mir auch Angst. Sie sind nämlich höchstwahrscheinlich überall. Ist sicher nur eine Frage der Zeit, wann sie uns entdecken werden.“

Dabei blickte er unruhig in der Bar umher.

„Du musst nicht so hektisch sein!“ Instinktiv duzte sie ihn plötzlich. „Wir haben unsere Mittelchen. Wir sind hier nicht ganz allein. Notfalls bringe ich dich in die Botschaft. Ich glaube aber nicht, dass Pegasus hier noch präsent ist. Und NSA und CIA sind nicht Pegasus. Allerdings müssen wir uns vor allen Dreien in Acht nehmen. Haben sie Dir noch irgendwas mitgegeben für mich?“

„Sie haben mir nochmal eingeschärft, dass wir die Internetverbindung nur einmal in der Woche und auch nur im Notfall verwenden dürfen. Ansonsten geht alles im Briefverkehr über die Botschaft, wie in alten Zeiten vor dem Internet und vor Edward Snowden.“

„OK, dann sollten wir jetzt gehen. Du wirst bei mir einziehen. Wenn du willst, zeige ich dir morgen einiges von der Stadt. Übermorgen nehme ich mir das Ägyptische Museum und die Amerikanische Universität vor und versuche herauszufinden, ob es Anzeichen gibt, dass in der letzten Zeit doch noch irgendjemand irgendwelche Entdeckungen gemacht hat, die auch uns interessieren könnten.“

„Sie finden überall andauernd was! Aber was ich eigentlich hier soll, ist mir noch ziemlich schleierhaft. Warum, zum Teufel, sollten die alten Ägypter Gendesign oder irgendwelche Eugenik betrieben haben und wie? Gibt es im Altägyptischen überhaupt Wörter, Hieroglyphen Bilder oder sonstige Anzeichen für so etwas?“

„Wir sollen vor allem weitere von diesen Kristallen suchen. Sie haben in Badaling bis jetzt nur diesen einen. Doch einer ist ihnen zu wenig. Sie erhoffen sich davon großen Wissenszuwachs. Mit Sicherheit gibt es noch viele davon. Wenn es stimmt, dass die Pyramiden Bauwerke mit uraltem Wissen in Stein sind, dann gab es sie da, in den noch unentdeckten Kammern oder in den Labyrinthen. Vielleicht sind sie aber auch gar nicht mehr dort. Vielleicht müssen wir ganz woanders suchen.“

„Und wer sucht außer uns noch alles danach?“, fragte Knauer fast tonlos.

„Inzwischen praktisch alle.“

Knauer ließ seine Blicke unruhig umherschweifen. „Es ist schwer, ich weiß nicht, ob ich Euch noch vertrauen kann. Möglich, dass ihr mich vor denen gerettet habt. In Badaling beschlich mich aber allmählich der Verdacht, dass sie mich für eine ganz besondere Forschung gewinnen wollen. Ihnen geht es klar erkennbar ebenfalls um Genediting. Und das beunruhigt mich sehr. Sie denken vielleicht, dass in jenen Kristallen auch Wissen über Gentechnologien und Transhumanismus steckt, die diesem vierten technologischen Sprung maßgeblich vorwärts helfen könnten.“

Li Hui stutzte. Das waren Gedanken, die ihr am Vorabend auf dem Gizehplateau ebenfalls gekommen waren. Es war gut möglich, dass ihre rotchinesischen Mentoren lediglich eins und eins zusammengezählt hatten, und die Forschungsergebnisse der Spanierin Calderòn und des Deutschen Knauer verbunden hatten, um zu erkennen, dass ihre Erkenntnisse zur Genmanipulation mit den Fähigkeiten dieser beiden Spitzenleute am schnellsten einen Vorsprung versprachen. Wenn nun auch noch die Kristalle Informationen darüber enthielten, stand ihrer Spitzenstellung auch auf diesem Gebiet nichts mehr im Wege.

Woran mochte sie derzeit arbeiten, diese freundliche und bescheidene spanische Molekularbiologin mit dem so bombastisch klingenden Namen: Dr. Carona Alethea Pardo Calderòn? Li Hui hatte ihr viel zu verdanken. Alethea war ihres Wissens bis jetzt die einzige Medizinerin, die wusste, wie man Nervenstränge des Riechorgans wieder einigermaßen haltbar zusammenflicken konnte …

Jedenfalls hatte ihr die kleine dunkeläugige Spanierin in Santiago de Cuba den Geruchssinn zurückgegeben, den sie wegen ihres geheimnisvollen Sturzes in den B-Schacht des unterirdischen Sphinx-Labyrinths während des Gizeh-Kommandos verloren zu haben glaubte. Und seither konnte sie viel besser riechen als jemals zuvor. Sie konnte quasi sogar riechen, wenn Gefahr drohte.

Vielleicht passte dies alles einwandfrei zusammen: Die Geheimnisse der Kristalle, Knauers Molekularbiologie und Calderòns Genschere. Sie würde dahinterkommen, wenn sie sich anstrengte …

„Ich verstehe leider zu wenig von diesem Gen-Editing. Du musst mir das mal erklären. Aber nicht hier. Gehen wir ‚nach Hause‘.“

Die von außen sehr unscheinbar erscheinende Pension bot dennoch die notwendigen Annehmlichkeiten. Und wie bei den meisten Gebäuden in diesem exotischen nordafrikanischen Land führte eine kleine Treppe ab dem ersten Stock außen entlang bis hinauf zur Dachterrasse. Ihr Etablissement befand sich direkt darunter.

„Du kannst hier diesen Diwan benutzen. Ich gehe aufs Dach“, bedeutete sie Knauer.

„Ich würde gern auch mit hochkommen. Gibt es da nicht vielleicht noch eine Liege für mich? Die Hitze hier erschlägt einen ja geradezu und auf der Terrasse gibt es vielleicht wenigstens ein kleines Lüftchen der Abkühlung.“

Knauer tat ihr leid. Da schickten sie diesen vollkommen unerfahrenen deutschen Provinzler zu ihr in das Kerngebiet aller geschichtlichen Geheimnisse, um mit ihr nach diesen Kristallen oder irgendwelchen bislang unentdeckten anderen Hinweisen zu suchen, obwohl sie wussten, dass es außer der Volksrepublik China niemanden gab, der ihn in dieser Welt nicht verfolgen würde. Sollten sie je heil hier herauskommen, müsste sie auch darüber ein ernsthaftes Gespräch mit Jiang Ju über künftige Strategie, Taktik und Kaderauswahl führen müssen.

„Du hast Recht, die Klimaanlage ist zu schwach und die Nacht reicht kaum aus, um unsere Behausung ausreichend abkühlen zu können. Wir versuchen es oben.“

Sie übergab ihm die Matratzen und das Bettzeug. Nachdem er es hinaufgeschleppt und sie es sich einigermaßen bequem eingerichtet hatten, sprudelte es aus ihm heraus: „Die haben in Badaling was ganz anderes vor, als die Weiterentwicklung meiner Generalimmunisierung. Das hat immerhin einigermaßen funktioniert. Leider sind dennoch zwei oder drei Milliarden gestorben. Aber sie wollen vielleicht gar nicht, dass unser Immunsystem perfektioniert wird. Sie wollen uns nur alle perfekt manipulieren können.“

Li Hui hatte zwei Gläser mit diesem wunderbaren trockenen ägyptischen Weißwein gefüllt, den sie von früher kannte und tags zuvor im Kühlschrank deponiert hatte. Sie reichte Knauer eins hinüber, nachdem der sich auf seiner Matratze einigermaßen unbeholfen ausgestreckt hatte.

„Wie manipulieren, das verstehe ich nicht, das musst du mir erklären“, forderte sie Knauer auf.

„Die Frage ist doch, wieso wir, also die Menschheit, diese ganze Forschung mit der Gentechnologie und mit diesem Gendesign wirklich betreiben. Das, was wir gerade machen, ist ja nur ein ganz kleiner Teil davon. Die probieren woanders noch ganz andere Sachen aus! Natürlich fand ich es die letzten Jahre ganz toll, irgendwie in diese immunologischen Forschungen eingebunden zu sein. Also hab’ ich mich da reingekniet. Schließlich wollte ich ja vor allem auch meinen Doktor machen. Ich wusste, dass mindestens ein Dutzend Aspiranten ebenfalls an diesem Thema dran waren. Ich bin schließlich nicht bescheuert: Jeder hätte es finden können! Nur wir hatten eben das Glück, die Ersten zu sein in unserem kleinen Provinzlabor in Deutschland. Wir fanden also diesen speziellen Genschalter. Wir brachten unsere Evolution einen kleinen Schritt vorwärts, indem wir mit diesem mRNA-Schalter die Immunbiologie um ein wichtiges Detail verbesserten. Dass wir dabei undercover für jemanden ganz anderen gearbeitet haben, wurde uns erst ganz zum Schluss klar.

In Badaling habe ich dann gesehen, wie dieser ‚ehrwürdige‘ Professor He Youngkan, geführt von eine Deinem Geheimdienstmann Dong Zi, mit seinem exklusiven Team von anonymen Supermännern, an Systemen zur totalen Genmanipulation arbeitet. Sicher machen das die Amerikaner, die Israelis, die Russen und vielleicht noch andere ebenfalls. Es ist ein Wettbewerb um den ersten Platz in der neuen technologischen Revolution, wie er seit der Jahrtausendwende zwischen Europa, China und den Vereinigten Staaten von Amerika stattfindet. Ich finde aber, ich kann da nicht mehr einfach so mitmachen. –

Entschuldige, ich muss mal kurz verschwinden.“

Li Hui stutzte: Knauer auf diesem Gebiet, und sie auf dem Feld der Altarchäologie, das passte also doch irgendwie zusammen! Weder in den klassischen archäologischen Wissenschaften, noch in den neuesten Forschungsteams der Biotechnologie schien irgend jemand die Frage aufzuwerfen, ob es zwischen ganz alt und ganz neu irgendwelche wichtigen Bezüge gab.

Als Knauer wieder erschien, sagte sie ruhig: „Du solltest nicht gleich alles so schwarz sehen, mein lieber Knauer. Lass uns erstmal hier nachschauen, ob es was Neues gibt. Vielleicht müssen wir am Ende doch hinauf zum Nassersee oder sogar noch weiter südlich reisen. Vielleicht finden wir ein paar Hinweise zu unseren Problemchen. Schlafen wir lieber erst einmal darüber.“

Knauer brummte noch etwas Unverständliches. Es konnten auch gut bayrische Flüche gewesen sein. Dann wurde es still, soweit man das unterschwellige Brausen des Verkehrs der Multimillionenstadt überhaupt als Stille bezeichnen wollte.

Li Hui konnte jedoch lange keinen Schlaf finden. Die Neuigkeiten, die dieser Deutsche in so naiver Weise von sich gegeben hatte, beunruhigten sie maximal.

3. Havanna

Im letzten Quartal dieses seltsamen Jahres 2020, in dessen Frühjahr von der Weltgesundheits-Organisation die Covid-19-Pandemie ausgerufen worden war, hatte man der französischen Mikrobiologin Emmanuelle Charpentier zusammen mit der US-amerikanischen Biochemikerin Jennifer Doudna den Chemienobelpreis verliehen. Sie erhielten ihn wegen der Entdeckung eines biochemischen Verfahrens, dem man den bombastischen Namen ClusteredRegularlyInterspacedShortPalindromicRepeats, kurz die Genschere CRISPR/Cas9, verliehen hatte. Mit dieser Biotechnologie könne man pflanzliche und tierische Gene maßgeblich und ziemlich kurzfristig gezielt manipulieren, hieß es. Ob man damit auch wirklich Erbanlagen designen konnte, würde sich in naher Zukunft herausstellen. Das wäre nur eine Frage der weiteren Entwicklungsarbeit, hieß es.

Die Bedeutung dieser Entdeckung der beiden Forscherinnen könne gar nicht hoch genug eingeschätzt werden, schrieben sowohl die internationale Fachwelt als auch die Boulevardpresse. Mit CRISPR/Cas9 könnten in Zukunft alle Erbanlagen gezielt bearbeitet werden, versprachen die Wissenschaftsjournalisten. Die Methode sei revolutionär und insofern auch als Genome Editing zu bezeichnen.

Dr. Carona Alethea Calderon war damals einige Tage wütend gewesen, nachdem sie jenen Times-Artikel zum xten-Mal durchgelesen hatte. Das hatte sie dieser Dr. Nalda Baroja Alemán und ihrem damaligen Chef, Professor Fernán Carrasco Cela, zu verdanken, dem angeblichen Eigentümer jenes kleinen, aber feinen Madrider Biotech-Institutes namens Célula Nueva Inc., aus welchem sie im Frühjahr des Jahres 2010 wegen dieser Verräterin herausgeflogen war.

Die kleine energiegeladenen Madrilenin legte die Zeitschrift beiseite, erhob sich aus ihrem Korbsessel und trat an den Rand der Terrasse, von der sie den wunderbaren Rundblick über die Niederstadt Havannas bis hinüber zum Hafen und zum westlichen Teil der Bucht, und nach Norden zu über den Floridastrom fast bis fast zur Halbinsel Varadero genießen konnte. Diese einmalige Aussicht hatte auch damals geholfen, ihre innere Unruhe zu besiegen und sich immer wieder auf ihre nervenzerreibende und spannende Arbeit konzentrieren zu können.

Im Grunde war diese CRISPR/Cas-Methode, die von der Wissenschaftsgemeinde 2010 ebendiese Bezeichnung erhalten hatte, schon seit den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts bekannt. Ihr Landsmann Francisco Mojica hatte sie als „Tandem Repeats“ bezeichnet, und Alethea war sich sicher, dass ihr damaliger Boss ebenso viel von Mojica gelernt hatte, wie sie selber. Wie aber nun ihre Forschungsergebnisse und Informationen von damals, als sie diesen Streit mit Donna Alemán und Professor Cela, ausgefochten hatte, an die beiden Damen des Max-Planck-Instituts für Infektionsbiologie der mitteldeutschen Stadt Potsdam gelangt waren, hätte sie gerne mal gewusst. So war es eben oft in der Wissenschaft: Manche säten und manche ernteten. Nur selten waren es dieselben.

Am Ende war es gleichgültig. Es war kaum damit zu rechnen gewesen, dass sie für ihre Entdeckungen der Regeneration von Nervenzellen von den westlichen Gremien und der westlichen Politik internationale Ehrungen empfangen oder sogar in den Bereich des Nobelpreises gerückt werden würde. Ihr war es stets um die allgemeine Verbreitung und nicht um die Patentierung der Verfahren gegangen. Immerhin aber hatte sie mit ihrer Methode bis jetzt bereits hunderten Riech- und Hörgeschädigten helfen können und das Institut und auch sie verdienten damit gutes Geld.

Was mochte aus ihrer damaligen besonderen chinesischen Patientin geworden sein, um die alle hiesigen Offiziellen und besonders ihr Gönner, der Geheimdienstmann Soto del Valle, derzeit so viel Gewese gemacht hatten?

Für den morgigen Tag wartete wieder solch ein besonderes Ereignis auf sie. Wenn dieser Versuch glückte, würde das nicht nur ein kleiner Schritt für die Menschheit werden …

Ihr Ehemann Lemos rief zum Abendessen.

Alethea beobachtete, wie ihre inzwischen erwachsene Tochter Oneca langsam und lässig vom Pool heraufgeschlendert kam. Sie ging ihr ein Stück entgegen. Arm in Arm eilten sie zum Haus hinauf und nahmen am bereits gedeckten Tisch Platz. Dieses Familienritual ließ sich Juan Lemos nur sehr ungern nehmen: Sonntagabend wurde für die Familie von ihm persönlich ein weitschweifiges spanisches Dinner bereitet und nur ganz selten durfte es wegen besonderer Verpflichtungen einzelner Familienmitglieder ausfallen.

„Aufgeregt?“, fragte der Schriftsteller, während er die duftende Gemüsesuppe in die Schüsselchen füllte.

„Nee, kein bisschen …“, flunkerte Alethea und Oneca grinste. „Ich bin nun mal die Größte. – Aber dieser Carrasco Cèla hat das damals einfach nicht begriffen. Und diese Charpentier und ihre Komplizin Doudna hatten einfach nur Glück. Denn was sie gemacht haben, war überhaupt nicht neu. Es ist eben alles eine Sache der Vermarktung und der Beziehungen.“

„Klingt bisschen stressig, Mama.“

Lemos sah seine Tochter missbilligend an, während er begann, die Paella aufzutragen. „Komm ärgere Dich nicht!“, sagte er zu seiner Ehefrau gewandt. „Diese Welt ist ein einziger Zufallsgenrator für Ungerechtigkeiten.“

„He, das klingt jetzt so, als ob es mir nur um den Erfolg ginge. Er ist doch schließlich auch mein persönlicher Patient. Stellt Euch doch bloß mal vor, was es für seine Familie bedeuten würde, wenn er wieder gehen könnte.“

„Und was ist, wenn es nicht funktioniert, wenn es wieder schief geht?“, warf Oneca leise ein.

„Dann bleibt es so, wie es jetzt ist. Schlechter wird es jedenfalls nicht!“, knurrte Lemos und sah seine geliebte Tochter wiederum stirnrunzelnd an.

Einige Augenblicke war es still auf der Veranda. Es war Alethea, die nach einer Weile das Schweigen brach: „Kommt, es wird nicht der Weltuntergang, wenn wir es dieses Mal wieder nicht schaffen. Aber wir haben doch schon ungeheurer viel dazugelernt seit damals. Und dem Tüchtigen hilft das Glück.“

Den Rest des Dinners nahmen sie schweigend ein und jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Lemos beschloss, bei nächster Gelegenheit noch einmal mit del Valle darüber zu philosophieren, wie es in dieser merkwürdigen Umbruchzeit überhaupt mit ihnen, mit seiner Familie, mit der Republik Kuba, mit der Welt, weitergehen würde.

Alethea stand am folgenden Morgen bereits um sieben Uhr im Bad. Eine frühe Stunde für Kuba-Insulaner. Ihr eiliges Frühstück bestand nur aus einem Pott Kaffee und einem Marmeladensandwich. Der Kalender zeigte den 22. März 2021. Für den Weg ins Institut wollte sie wie gewohnt das Fahrrad nehmen. Doch Lemos stellte sich ihr plötzlich, nur mit einem Bademantel bekleidet, in der Garagenausfahrt in den Weg.

„Warte noch, ich komme mit, wenn Du nichts dagegen hast. Wir fahren mit dem Auto. Es ist doch wirklich ein besonderer Tag.“

„Habe ich nicht. Freut mich sogar“, entgegnete sie überrascht. Sie drückte den Auslöser für das Garagentor und schob das Fahrrad zurück in den Unterstand. Dann setzte sie sich schon mal in den Roadster. Nach wenigen Minuten erschien ihr Ehemann, noch einen Becher Kaffee in der Hand, den er, nachdem er ihn geleert hatte, auf einem Wandbord abstellte.

Dieser Morgen versprach einen milden, sonnigen Frühlingstag. Als sie im Institut ankamen, war dort bereits alles in Bewegung.

„Wie lange wird es dauern?“, fragte Lemos, während sie das Vestibül durchquerten.

„Bis wir anfangen können, mindestens noch eine Stunde. Du kannst Dir noch einen Kaffee machen lassen.“

Alethea gab ihm ein Wangenküsschen und eilte davon. Lemos ging hinüber zur Aufnahmestelle und fragte nach einem Americano. Die Empfangsschwester kam seinem Wunsch etwas knurrig entgegen. Er beschloss, im allgemeinen Besucherzimmer zu warten. Alethea würde sich sicherlich noch einmal bei ihm melden.

Juan Lemos hatte seinen Kaffee erst zur Hälfte getrunken, als Soto del Valle mit zwei Begleitern, einem Lemos unbekannten Herrn und einer sehr attraktiven, sehr großen und sehr dunkelhäutigen Dame, das Vestibül betrat. Nachdem der kubanische Geheimdienstchef einige Worte mit dem Einlassverantwortlichen gewechselt und ihm irgendeinen Regierungsausweis gezeigt hatte, schweifte sein Blick zu Lemos herüber. Er nickte ihm kurz zu, gab einige Anweisungen an seine Begleiter, die eilig in den Fluren verschwanden. Dann kam er zu ihm herüber.

„Juan Lemos! Sie heute auch hier! Natürlich! Sie konnten es sich ja gar nicht nehmen lassen!“

„Na, das ist aber wirklich eine Überraschung, lieber Don Soto. Aber eigentlich entscheidet sich heute ja wohl noch gar nichts.“

Sie schüttelten sich die Hände.

„Ja, das ist wohl richtig. Aber ich wollte Ihrer lieben Gattin vorher doch noch einmal persönlich viel Erfolg wünschen“, schwindelte del Valle fröhlich daher und Lemos war völlig klar, dass seine Experten dazu da waren, die ganze Operation zu überwachen und zu dokumentieren.

„Gehen wir doch lieber nach oben in eines der Besprechungszimmer. Ich habe viele Fragen an Sie. Wir haben uns ziemlich lange nicht gesehen.“ Soto del Valle gab dem Empfangschef einige Anweisungen. Dann stiegen sie die Treppe hinauf in den ersten Stock.

Der Besprechungsraum war klein, besaß aber ein bis auf den Fußboden reichendes Fenster mit Blick auf den Park des Institutsanwesens. Kaum, dass sie an dem winzigen runden Glastisch Platz genommen hatten, kam eine junge Bedienstete herein und stellte ein Tablett mit Getränken ab.

„Es wird wohl eine Weile dauern, bis wir die ersten Informationen bekommen werden. Was trinken wir also?“

„Na, dann doch höchsten ein Wasser mit viel Eis. Ich hab’ nämlich noch nicht mal gefrühstückt“, erwiderte Lemos.

Del Valle betätigte sich an den Gläsern: „Spannend, wie damals vor sieben Jahren, als Ihre Frau unsere chinesische Freundin Li Hui behandelte. Wenn sie das heute schafft, sind wir darin führend auf dem ganzen Planeten.“

„Ja, es geht merkwürdigerweise immer irgendwie mit irgendwas vorwärts, das ist doch zumindest gut für den optimistischen Teil unseres Wesens“, gab Lemos lächelnd zurück.

„Sind Sie denn nicht stolz auf Ihre Frau?“

Del Valle nahm einen größeren Schluck aus seinem Limonadenglas und sah Lemos verschmitzt an.