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Imani Soto lebt ein Leben, das sich viele wünschen: Sie studiert Medizin in L.A., macht ihre ersten praktischen Erfahrungen in einem der angesehensten Krankenhäuser der Stadt, genießt ihr Studentenleben in vollen Zügen und hat sich in eine aufregende Affäre gestürzt. Sie hat ihr Leben komplett im Griff, denkt sie, doch wird schnell eines Besseren belehrt. Ihre heile Welt ändert sich schlagartig, als sie von den Spuren ihrer Vergangenheit eingeholt wird, vor denen sie jahrelang geflüchtet ist. Sie kommt zurück in eine Welt, mit der sie nie wieder etwas zu tun haben wollte und der sie trotz allem auch nicht wieder entfliehen kann.
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Seitenzahl: 488
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Vorwort
Prolog
Kapitel 1: Imani
Kapitel 2: Imani
Kapitel 3: Imani
Kapitel 4: Paco
Kapitel 5: Imani
Kapitel 6: Paco
Kapitel 7: Imani
Kapitel 8: Imani
Kapitel 9: Paco
Kapitel 10: Imani
Kapitel 11: Paco
Kapitel 12: Imani
Kapitel 13: Imani
Kapitel 14: Paco
Kapitel 15: Imani
Kapitel 16: Paco
Kapitel 17: Imani
Kapitel 18: Imani
Kapitel 19: Imani
Kapitel 20: Imani
Kapitel 21: Paco
Kapitel 22: Imani
Kapitel 23: Imani
Kapitel 24: Imani
Kapitel 25: Imani
Kapitel 26: Paco
Kapitel 27: Imani
Kapitel 28: Paco
Kapitel 29: Imani
Kapitel 30: Imani
Kapitel 31: Paco
Nach langer Zeit gibt es in diesem Buch ein Wiedersehen mit Paco und allen anderen Charakteren aus Sierra. Man muss die Buchreihe Llora por el amor nicht kennen, um dieses Buch zu lesen - doch falls ihr das nicht tut - solltet ihr das schleunigst ändern, ihr verpasst etwas. Allen, die die Buchreihe kennen und Sierra vermissen ... welcome back. Euch allen viel Spaß auf Imanis ungewöhnlichem Weg, zu sich selbst zu finden.
Bella legt die Schüssel zurück in ihre Küche, Lando rennt an ihr vorbei in den Garten direkt zu Leandro, der ihn auf den Arm nimmt und sich wieder zu Dania und Nala umdreht. Ihr Garten ist voll, wie so oft, doch Bella genießt all das nur noch. Sie haben in den letzten Jahren so oft zu spüren bekommen, wie es sich anfühlt, wenn nicht alles in Ordnung ist und sie ist einfach nur dankbar für diese momentane Ruhe.
Bella holt eine neue Tüte Nachos aus dem Schrank und füllt diese in die Schüssel, dann tritt sie hinaus in den Garten und stellt die Schüssel zurück auf das Buffet, das dieses Mal komplett von ihnen zusammengestellt wurde, wie sie es immer tun, wenn eine Babyparty ansteht. Nur den Kuchentisch haben sie bestellt, es steht eine riesige Cremetorte auf dem Tisch und viele Kekse und Cake-Pops in rosa und blau daneben, auch die Torte ist mit Babyschuhen verziert, ebenfalls in rosa und blau.
Bella geht an Latizia und Dilara vorbei, die mit Melissa und Sara zusammen die vielen Geschenke betrachten, die jetzt schon zusammengekommen sind und alle sind noch neutral gehalten. Sie gibt Dilara einen Kuss auf die Wange, sie ist wunderschön mit ihrer kleinen Kugel in dem Sommerkleid. Fast alle sind barfuß, es ist nur die Familie da, was nicht bedeutet, dass es nicht trotzdem Platzmangel gibt.
Juan kommt zu ihr und fragt nach ihrer Mutter, die im überdachten Pavillon am Ende des Gartens sitzt und dann kommt Paco zurück. Er hat mit Rodriguez noch einige Stühle aus dessen Garten geholt und Bella ist sich sicher, dass die Männer bald mit ihrem Kartenspiel anfangen werden, da beginnt aber erst einmal das geplante Feuerwerk und die Musik wird passend dazu lauter gestellt.
Natürlich hätte man auch mit Luftballons oder mit der Torte verkünden können, welches Geschlecht es wird, doch Dilara hat etwas ganz Besonderes geplant. Ihr Frauenarzt hat ihr versichert, dass das Geschlecht hundertprozentig eindeutig erkennbar ist und sie hat ihm die Nummer des Mannes gegeben, der das Feuerwerk geplant hat, damit er alles vorbereiten kann, das heißt, niemand von ihnen weiß, was auf sie zukommt.
Statt zu den anderen Frauen geht Bella zu Paco, der stehengeblieben ist und sie mit offenen Armen empfängt. »Alles in Ordnung, Cariño?« Sie lehnt sich an ihn und verschränkt ihre Hände miteinander, während er ihre Wange küsst und sie zusammen in den Himmel sehen, in dem erst goldene und silberne Raketen zerplatzen.
»Ich muss wirklich sagen, dass ich dich lange nicht mehr so entspannt und zufrieden erlebt habe wie die letzten Tage.« Bella wendet sich Paco zu und er küsst ihre Nasenspitze. »Ich bin auch einfach nur glücklich und dankbar.« Sie alle sind in den letzten Tagen sehr zur Ruhe gekommen, es war selten so friedlich wie momentan bei ihnen.
»Denkst du, dass nach all den Jahren des Chaos jetzt vielleicht mal ruhige Zeiten in Sierra einkehren werden und einfach mal keine neuen Abenteuer anstehen?«
Bella verfolgt das atemberaubende Feuerwerk und genießt Pacos Atem an ihrem Nacken, während er ihren Hals küsst und dann zu den Jungs deutet, die alle zusammen am Pool stehen. Leandro, Sanchez, Miguel, Sami … sie alle sind da und man könnte fast denken, dort stehen ihre Väter vor einigen Jahren.
»Ich denke, dass noch nicht alle Geschichten erzählt sind und ich bin mir sicher, dass uns noch einige Aufregung bevorsteht ...« Genau in diesem Moment funkeln die Wörter 'It's a' und dann in hellblau 'Boy' in den Nachthimmel und alle lachen, klatschen und beglückwünschen Dilara, Musa und auch Melissa und Rodriguez.
Bella lächelt, sie geht auch gleich zu ihnen, doch Paco beugt sich noch einmal an ihr Ohr und knabbert zärtlich daran. Wie schafft es dieser Mann nach all den Jahren, noch immer solch eine Gänsehaut bei ihr zu erzeugen?
»Und außerdem ist jetzt bereits die nächste Generation unterwegs. Es wird nie Ruhe in Sierra einkehren, und die Geschichten hier werden niemals enden.« Bella lacht leise auf und Paco sieht ihr noch einmal in die Augen.
»Es hat mit uns beiden angefangen, Cariño, doch es wird noch lange nicht mit uns beiden enden.«
»Sehen Sie sich den Patienten an: Außer dem bereits Bekannten, was Sie aus den Unterlagen entnehmen können und dem, was Ihnen die Geräte verraten, was bemerken Sie noch?«
Die Medizinstudenten drängen sich um den Patienten, der nicht bei Bewusstsein ist, er wird gleich operiert, doch trotzdem hat sich Dr. Austen Zeit genommen, uns alle zusammenzurufen. Man sagt, dass er einer der besten Ausbilder in ganz Los Angeles ist. »In solchen Situationen muss man auf alles achten, der Mann hat innere Blutungen, wir müssen uns beeilen, es bleibt keine Zeit für weitere Untersuchungen, doch solange der OP vorbereitet wird, frage ich Sie: Was sagt Ihnen der Patient allein, ohne dass Sie dafür irgendwelche Tests brauchen?«
Anthony neben mir räuspert sich. Sein Aftershave, das viel zu stark ist und mich regelmäßig zum Niesen bringt, kitzelt wieder verdächtig in meiner Nase. Er ist der beste Student unseres Jahrganges und entstammt einer Ärztefamilie, wie sie im Buche steht, es gab in keiner Generation, die aufgezeichnet wurde, nicht mindestens einen Arzt. Sein Vater ist ein Chefchirurg an dieser Klinik und Anthony wird nach dem Studium auch hier anfangen, doch erst einmal muss er genau wie wir alle den Ärzten hinterherlaufen und lernen, was man aufschnappt und am besten auffallen, weswegen Anthony auch gleich einen Schritt näher zum Patienten geht. »Er führt kein gesundes Leben, er ist übergewichtig und somit besteht ohnehin ein Risiko.«
Man sieht Dr. Austen an, dass ihm die Antwort nicht reicht. Die OP-Schwester kommt aus dem Operationstrakt und deutet, dass es so weit ist, da fasse ich mir ein Herz und atme laut aus. Eine ganze Weile habe ich versucht, so unauffällig wie nur möglich zu sein, aufzufallen war das Letzte, was ich wollte, doch jetzt sind wir an einem Punkt im Studium, wo die guten Noten nicht mehr reichen und man einfach zeigen muss, dass man auch in der Praxis klarkommen würde, auch wenn es noch ein langer Weg sein wird.
Schon von klein auf habe ich eine besonders schnelle Auffassungsgabe, schneller als die meisten anderen. Das umfasst nicht nur mein Studium, sondern alle Bereiche, ich trete in einen Raum und bemerke Dinge, die andere erst einmal übersehen oder denen sie keine Bedeutung schenken, doch ich sehe in vielem Zusammenhänge, die andere nicht bemerken. Meine damalige Lehrerin, die mich und meine Schwestern zu Hause unterrichtet hat, hat mich darin gefördert, sie hat mir gesagt, man sollte seine besonderen Talente nie verschwenden und das habe ich auch nicht vor, dafür habe ich zu hart gekämpft, um jetzt hier zu stehen, deswegen deute ich auf die Hände des Patienten.
»Seine Handinnenflächen haben rote Flecken und auf der Brust hat er Lebersterne, man kann davon ausgehen, dass er ein Problem mit der Leber hat, ich würde nicht sagen, dass es eine Zirrhose ist, dafür sind seine äußeren Merkmale noch zu ungenau, aber man sollte das auf jeden Fall im Hinterkopf behalten während der Operation und auch danach bei der Medikamentengabe.«
Dr. Austen strahlt mich an. »Genau das brauchen wir, sehr gut, Miss Soto, machen sie sich OP-fertig, als Belohnung dafür dürfen Sie mir über die Schulter sehen.« Anthony und Lima verdrehen die Augen. »Imani, du Besserwisserin!« Die meiste Zeit verbringe ich mit den beiden, die mir belustigte Blicke zuwerfen. Wir sind uns am ersten Tag an der UCLA bei den Einteilungen der Zimmer begegnet. Während Anthony in die bekannte und beliebte Studentenverbindung für Elitestudenten aufgenommen wurde, teilen sich Lima und ich ein kleines Studentenapartment. Es gibt zwei Schlafzimmer, eine Kochnische und ein Minibad, doch wir haben es uns gemütlich gemacht und seit einem Monat verbringt Lima eh viel Zeit bei ihrem neuen Freund, dem Footballstar unserer Unimannschaft und somit habe ich das Apartment meistens für mich alleine.
Die anderen Studenten gehen schon weiter. »Du bist so eine Angeberin, dafür werde ich alle Thunfischsandwiches aus der Cafeteria aufessen und mir den heißen Kerl, der in der Notaufnahme eingeliefert wurde, genauer ansehen.« Lima hakt sich bei Anthony unter und ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. Auch wenn sie einen Freund hat, ist Lima einem guten Flirt nie abgeneigt und auch ich habe den hübschen dunkelhaarigen Mann gleich bemerkt.
»Den habe ich mit Dr. Vidal schon vorhin entlassen, ich habe zufällig mitbekommen, wo er arbeitet, aber da du ...« Ich bin so schnell in den OP-Bereich geschlüpft, dass Lima mich nicht mehr schnappen kann und winke meiner Freundin nun durch die Scheibe zu, bevor ich mich umdrehe und in den Raum gehe, in dem man sich für die Operationen bereit macht. So schwer das Medizinstudium auch ist, mit den beiden an meiner Seite fällt es mir leichter und dafür bin ich dankbar. Nachdem ich es endlich an die UCLA geschafft habe, dachte ich, ich würde eine der ältesten Studentinnen sein. Als ich mit sechzehn nach Amerika gekommen bin, musste ich nach zwei Jahren die Highschool beenden und sogar noch ein extra Jahr dranhängen, da ich davor nur privat zu Hause unterrichtet wurde. Dann musste ich ein Jahr auf einen Studienplatz warten und habe mir in der Zeit mit kleineren Modelaufträgen und als Verkäuferin Geld zusammengespart, um mir die Uni leisten zu können, zumindest die erste Zeit, denn ich würde niemals ein Stipendium bekommen. Das heißt, ich war zwanzig, als ich meinen ersten Studientag hier an der UCLA begonnen habe, doch zu meiner Verwunderung sind die meisten Studenten älter, es gibt auch welche, die mit achtzehn angefangen haben wie Anthony, doch meistens liegen ein oder zwei Jahre zwischen Highschool und der Uni, wir haben sogar eine Frau, die mit über dreißig Jahren noch einmal angefangen hat zu studieren, also habe ich mir damals umsonst Sorgen gemacht.
Die ersten zwei Jahre haben wir zusammen das Grundstudium absolviert, dann zwei Jahre die Basisausbildung im medizinischen Bereich und jetzt lernen wir bereits seit einem halben Jahr an der Uni und die Hälfte der Woche dürfen wir hier an der Klinik den Ärzten über die Schulter schauen und werden hier und da sogar mit eingebunden. Die praktische Arbeit macht so viel mehr Spaß als nur das Lernen über Büchern und Laptops, aber es gibt auch Dinge, an die ich mich nur langsam gewöhne.
Im Grunde will ich das hier gar nicht, ich mag das Medizinstudium, doch wenn es eine Sache gibt, an die ich mich nicht gewöhnt habe, dann ist es, im OP zu stehen. Es ist eine Sache, Diagnosen zu stellen, mit Geräten und anderen Menschen zu arbeiten, all das beherrsche ich, doch hier in diesem Bereich geht es um alles, hier geht es um Leben und Tod, selbst bei der routiniertesten Operation können Fehler passieren, Komplikationen. Ich war dabei, als letzte Woche eine ältere Frau fast an einem Blinddarmdurchbruch gestorben wäre und weiß nicht, ob ich jemals den Respekt vor dem Operationssaal überwinden werde.
Sobald die Scheiben sich sanft schließen, umgibt einen die Stille dieser Säle, der Geruch von Sterilisationsmitteln, von Blut und Putzmitteln zu gleichen Teilen, was einen Geruch bewirkt, den man sofort wiedererkennt. Eine leichte Gänsehaut überzieht meinen Arm, ich trage nur ein weißes Shirt unter dem weißen Kittel, den wir Studenten hier tragen, auf ihnen ist groß und dick Student auf der Brust eingestickt, sodass auch niemand auf die Idee kommt, uns im Eifer des Gefechtes zu schwierige Aufgaben zu übertragen. Hier herrscht auch eine andere Temperatur, neben einer Assistenzärztin ziehe ich mir den Kittel an und die Kopfbedeckung, wasche mich und mache mich steril. Schritte, die man tausende Male durchgegangen ist und doch, wenn man sie dann tatsächlich macht, kommt es mir vor, als hätte ich irgendetwas Wichtiges vergessen, jedes Mal, deswegen sehe ich auch noch dreimal nach, bevor ich endlich durch die Schleuse in den Operationssaal trete. Die OP hat bereits begonnen. Die Assistenzärztin stellt sich zu Dr. Vidal, also bleibt mir nichts anderes, als mich zu Dr. Austen zu stellen, der sich schon über den geöffneten Brustkorb gebeugt hat und versucht, die Blutung zu stoppen.
»Was für ein Durcheinander, seht ihr das? Das Wichtigste ist es, jetzt einen klaren Kopf zu behalten, alles andere kann warten, wir müssen die undichte Stelle finden, woher kommt das Blut?« Noch bevor Dr. Austen etwas tun kann, unterbricht ihn die Assistenzärztin. »Wahrscheinlich von der …« Dr Austen flucht auf und fordert eine Klemme. »Wahrscheinlich gibt es in diesem Moment nicht, was sagen Sie, Soto?«
Auch wenn ich es garantiert gleich wieder bereuen werde, deute ich auf die Arterie, die die Blutung verursacht. »Sie müssen es hier abklemmen, man muss sich genau ansehen, wo sich das meiste Blut bildet und von wo aus es fließt ...« Im selben Moment als die Worte meine Lippen verlassen, hat Dr. Austen die Stelle schon abgeklemmt und Dr. Vidal das meiste Blut abgesaugt. »Sehr gut, ich weiß, dass ihr alle dasselbe lernt, doch es gibt immer wieder Studenten, die herausragen, weil sie besondere Talente haben, ich brauche noch einmal den anderen Sauger und dann geht es los.«
Wenn ich eines gelernt habe, dann, dass ich für mein eigenes Glück kämpfen muss, ich kann nicht immer an andere denken, es war nicht leicht, jetzt hier zu stehen, ich bin 24 und habe vielleicht schon mehr erlebt und gesehen als die meisten hier im Raum, eingeschlossen den armen alten Mann, dessen Herz Dr. Austen nun wieder zu stabilisieren versucht und der nach einem Sturz mit Milzriss, Herzproblemen und inneren Blutungen eingeliefert wurde. Ich muss mich nicht schlecht fühlen, weil ich etwas kann oder weiß und doch werfe ich der Assistenzärztin einen entschuldigenden Blick zu, während sie Dr. Vidal die Instrumente reicht. Sie ignoriert mich während der restlichen Operation. Beide Frauen mir gegenüber, sie und auch die hübsche Chirurgin Dr. Vidal fragen Dr. Austen über den Kongress aus, auf dem er am Wochenende war. Da ich alles darüber weiß, halte ich mich zurück und beobachte jeden Handschlag der beiden erfahrenen Ärzte genau. Mir entgeht nicht, wie sehr die beiden Frauen um die Aufmerksamkeit von Dr. Austen buhlen, was nicht verwunderlich ist, er ist Anfang dreißig und gehört bereits zu den Top-Chirurgen in Kalifornien, dazu wirkt er mit seinen dunklen Locken und den blauen Augen sehr anziehend, das wird keiner Frau, die halbwegs bei Verstand ist, entgehen. Als sie dann aber beginnen, sich über ihre Studentenzeit und die langen Semesterferien, die in ein paar Wochen beginnen, zu unterhalten, höre ich ihnen wieder zu.
Erst nachdem der letzte Schritt getan und der Patient stabil geblieben ist, atme ich durch und spüre gleichzeitig, wie verkrampft ich war. Ein Blick auf die Uhr im OP verrät mir, dass wir fast zwei Stunden hier verbracht haben, doch die Zeit ist nur so an mir vorbeigerast, ich muss lernen, mich zu entspannen, ich muss versuchen, mich an alles hier zu gewöhnen.
»Haben Sie schon einmal einen Patienten zugemacht, Miss Soto?« Er wendet sich zu mir um und hält mir gleichzeitig das Nähwerkzeug hin. Er kennt die Antwort genau, wahrscheinlich will er mich überraschen, es ist nicht üblich, Studenten so aktiv an einer OP teilhaben zu lassen, doch es soll wohl eine Belohnung für meinen Einsatz heute sein, also greife ich danach und versuche nicht zu zeigen, wie aufgeregt ich bin. »Im OP noch nicht, ich habe einige Wunden auf Station genäht und in der Uni beim Üben.« Dr. Vidal lächelt Dr. Austen an und verabschiedet sich mit ihrer Assistenzärztin, während Dr. Austen noch näher tritt und mir ganz genau auf die Finger schaut. »Das schaffen Sie, ich bin da.«
Sobald ich den ersten Stich getan habe, ist die schlimmste Aufregung vorbei; wie auch bei allen Wunden davor, gebe ich mir besonders viel Mühe beim Zumachen. Auch wenn ich selbst aktiv nicht viel bei der Operation mithelfen konnte, so kann ich dafür sorgen, dass er eine feine Narbe bekommt und lasse mir Zeit. Danach helfe ich den OP-Schwestern noch beim Aufräumen, da ich als Studentin auch darüber Bescheid wissen muss.
Die ganze Anspannung der letzten Stunden fällt erst von mir ab, als ich mich hinter der Schleuse wasche und umziehe, am liebsten würde ich direkt duschen gehen, mein Dienst ist bereits seit einer halben Stunde vorbei und ich sehne mich nach Ruhe, doch eine Krankenschwester steckt ihren Kopf durch die Tür. »Dr. Austen möchte, dass Sie noch in sein Büro kommen, er stellt Ihnen den Eintrag für die Operation gleich aus.« Ich nicke nur und bedanke mich. Statt nach unten zu fahren und endlich den Kittel abzulegen, fahre ich nun also in die oberste Etage, wo die Büros der Ärzte liegen, die sich eines verdient haben.
Ohne anzuklopfen schlüpfe ich in das Büro in der Hoffnung, dass mich so wenige wie möglich bemerken, es gibt keinen Grund dazu, alle Studenten und Assistenzärzte müssen sich ihre OP-Zeiten von den Oberärzten bestätigen lassen, doch ich fühle mich einfach nicht gut dabei. Dr. Austen sitzt am Schreibtisch und lächelt, sobald ich die Tür hinter mir geschlossen habe und ich ihn vorwurfsvoll ansehe.
»Du weißt, dass ich das nicht mag.« Marc deutet mir, zu ihm zu kommen. Sein Büro besticht mit modernen weißen Aktenschränken, einem teuren Gemälde eines New Yorker Malers, den er vergöttert und einem alten Mahagoni-Schreibtisch, an dem auch sein Vater früher immer gearbeitet hat. »Es wäre auffälliger, wenn ich es nicht gemacht hätte, außerdem habe ich dir schon hundertmal gesagt, dass du nicht so panisch sein musst, wenn du wüsstest, wer hier alles Affären hat ...« Ich lehne mich genau vor ihm an den Schreibtisch und hebe die Augenbrauen. »Eine Affäre also, das klingt sehr sexy.« Sofort umfassen mich seine Hände und er zieht mich auf seinen Schoß. »Du weißt, wie ich das meine, du warst großartig heute, Baby, ich finde dich immer heiß, doch im OP ...« Seine Lippen gleiten meinen Hals entlang, gleichzeitig klingelt mein Handy, es ist bestimmt Lima. Auch wenn sie eine gute Freundin von mir ist, habe ich Geheimnisse vor ihr, bei meinem Leben geht es gar nicht anders und auch meine Affäre mit Marc, die gestern genau seit vier Monaten besteht, habe ich ihr noch nicht gebeichtet, niemand weiß davon. Keiner soll sagen, alles, was ich mir erarbeite, habe ich nur, weil ich mich auf ihn eingelassen habe. Man tut es einfach nicht. Nicht einmal zwischen einer Assistenzärztin und einem ausgebildeten Arzt sollte es eine Beziehung oder eine Affäre geben, mit einer Studentin ist es ein absolutes No-Go. Zu unserer Verteidigung sei gesagt, dass ich ihn bei der Anmeldung zum Platz für den praktischen Teil hier in der Klinik kennengelernt habe, ich habe mir vor Aufregung mein Knie heftig angestoßen, beim Versuch, ruhig zu wirken und er hat es sich gleich angesehen, mich auf einen Kaffee eingeladen und da war noch nicht klar, ob ich überhaupt an sein Krankenhaus komme, doch nun sitzen wir hier und genießen es, auch wenn wir beide wissen, dass es sich nicht gehört.
»Ich muss los, Lima wartet sicherlich schon, wie lange musst du noch arbeiten?« Marc sieht auf die Uhr und küsst meine Wange entlang. »Ich habe noch zwei Operationen vor mir, ich melde mich später, wenn du noch wach bist, können wir etwas essen gehen, übrigens wird es am Wochenende richtig warm, wir könnten zum Strand ...« Marc liebt es zu surfen und ich liebe das Meer, auch wenn ich niemals auf ein Surfbrett steigen würde, habe ich versprochen, ihn zu begleiten, wenn die Zeit dafür wieder gekommen ist und nun scheine ich nicht mehr drum herumzukommen. Ich kann mich nicht ewig davor drücken. »Okay, aber dieses Mal sorgst du für Proviant und als Arzt solltest du wissen, dass Skittles und aufgetaute Waffeln kein Picknick darstellen.« Meine Arme legen sich um seinen Hals, er lächelt und küsst meine Lippen. Eine vertraute Wärme bildet sich in meinem Bauch, ich fühle mich wohl bei ihm. »Verstanden, so machen wir es ...«
Auch wenn ich losmuss, lasse ich den Kuss inniger werden, sobald er darum bittet. Wir hatten die letzten Tage wenig Zeit füreinander und als er mich tief küsst und seine Hände gleichzeitig meinen Hintern entlanggleiten, drücke ich mich tiefer auf seinen Schoß. Marc stöhnt in meinem Mund auf und ich spüre, dass er mehr will, auch mir wird heißer, wir sehen uns fast täglich, doch viel Zeit alleine haben wir nicht. Trotzdem bleibt immer in meinem Hinterkopf, dass wir vorsichtig sein müssen und ich beende den Kuss. »Du fehlst mir, Imani ...« Er will mich noch einmal küssen, doch ich lache leise auf und küsse seine Wange, da ich die Vernünftigere von uns beiden bin und mich aus seinem Griff befreie. »Melde dich später, ich muss los.«
Mir seines Blickes im Rücken wohl bewusst, schlüpfe ich so schnell es geht aus seinem Büro, ich habe den Zettel vergessen, doch er wird ihn mir später sicherlich mitbringen. Erst einmal werde ich endlich den Kittel los, mache mich in der Garderobe etwas frisch und trete dann hinaus in die warme Sonne Kaliforniens. Da ich wusste, dass ich heute nur zur Klinik und zurück zum Campus gehe, habe ich mich bequem und schlicht angezogen. Ich trage nur eine enge schwarze Hose und ein weißes Shirt, dazu bequeme Leinenschuhe. Ich öffne meinen Zopf, meine langen schwarzen Locken gehen mir bis fast zur Hüfte und im Krankenhaus binde ich sie immer zusammen. Dankbar nehme ich den Kaffee an, den mir Lima hinhält, die auf der Bank vor dem Krankenhaus auf mich gewartet hat. Ich bin immer wieder froh, das viereckige sterile, weiße Gebäude zu verlassen und auf den wunderschönen Park davor zu sehen. Auch wenn ich jedes Mal aufgeregt ins Krankenhaus gehe, so bin ich doch froh, wenn eine Schicht zu Ende ist, die Zeit rast jedes Mal nur so an einem vorbei, doch spätestens hier spürt man, wie lang der Tag war.
»Wie war die Operation? Erzähl mir jedes Detail. Anthony hat sich freiwillig noch eine Stunde für die Notaufnahme eintragen lassen, der Mann hat schon gar keinen Platz mehr auf seinem Bonusheft. Kommst du mit mir noch beim Training zusehen …?« Es war ein langer und harter Tag, doch ich lege zufrieden den Arm um Lima und zusammen laufen wir die paar Blocks bis zum Unigelände. Die Straßen von L.A. sind voll wie immer, doch sobald wir in die Nähe der Uni kommen, wird es ruhiger, weil die meisten Studenten in Vorlesungen, Kursen, beim Lernen oder in einem der vielen Cafés in den umliegenden Straßen sind. Lima weiß, dass ich mich im OP noch unwohl fühle, in solchen Sachen verberge ich nichts vor ihr, als wir allerdings vor dem großen Eingang des Unigeländes stehen, entgleitet mir ein Fluch und wir beide sehen auf zwei schwarze teure Wagen, die mein Herz zum Rasen bringen.
Verdammt, von diesem Teil meines Lebens habe ich ihr nie erzählt, ich habe ihn so weit ich konnte von mir geschoben und gehofft, nie wieder etwas davon zu hören oder zu sehen. Doch jetzt sehe ich direkt in Kikes Augen, auch Milan steht an einem der Wagen und sieht sich um, ich …
»Wer ist das? Kennst du die? Ist das die Security vom Präsidenten? Obwohl, die sehen eher wie die Bösen aus, was ...« In dem Moment kommt die Footballmannschaft an uns vorbei gejoggt und Limas Aufmerksamkeit liegt ganz auf ihrem Freund, der uns beiden zuzwinkert. »Ja, ich … geh schon mal vor, ich komme gleich, ich kenne die von früher, ich sage nur kurz hallo und bin gleich da.«
Lima hebt verwundert die Augenbrauen, geht aber schon in Richtung des Eingangs. »Also ich weiß ja, dass du nie gerne über deine Vergangenheit sprichst, doch vielleicht solltest du uns da doch mal einiges erzählen ...« Außer einem lauten Ausatmen fällt mir nichts ein, sie ahnt ja nicht, wie sehr ich mit alldem abgeschlossen habe. Als ich mich wieder den Autos zuwende, hat sich Kike bereits von seinem Wagen abgestoßen und kommt mir entgegen, auch Milan grinst mich frech an, die anderen Männer bleiben im Auto sitzen, ich kenne sie nicht, all das ist Jahre her.
»Guapita, du bist nur noch schöner geworden.« Hier spreche ich selten spanisch und es fühlt sich merkwürdig an, als ich ihm antworte. »Was tut ihr hier? Woher wisst ihr überhaupt, wo ich bin?« Ich sehe zu den beiden Männern, mit denen ich quasi aufgewachsen bin, sie beide sind hübsch, dunkel, mexikanisch, sie sind sportlich angezogen, tätowiert, und auch wenn man sieht, dass sie über viel Geld verfügen, so sieht man auch, dass man ihnen nachts lieber nicht über den Weg laufen sollte und das sollte man tatsächlich nicht.
Kike umarmt mich und einen Moment umarme ich ihn auch zurück, er hat nichts mit alldem zu tun, was passiert ist. Auch wenn er ein Teil davon ist, so habe ich keine Wut auf ihn oder auf Milan, ich will nur nichts mehr mit diesem Teil meines Lebens zu tun haben.
»Ich bitte dich, Guapita, denkst du echt, nur weil du erst abgehauen und dann untergetaucht bist, wussten wir nicht immer, wo wir dich finden? Nur weil wir dich dein Leben haben leben lassen, bedeutet das nicht, dass wir dich nicht immer im Auge hatten, doch es wird Zeit, mal wieder nach Hause zu kommen, deine Mutter möchte dich sehen, es ist wichtig.«
Er gibt mir einen Kuss auf die Wange und Milan öffnet gleichzeitig die hintere Autotür. Ich muss fast laut auflachen, als ich die Arme vor der Brust verschränke. »Ach, will sie das? Und wieso denkt ihr, sollte mich das interessieren? Ich habe mit alldem ...« Kike legt den Kopf schief und sieht mich streng an. »Imani, ich liebe dich, doch du weißt, dass das hier keine Bitte ist, du kommst mit uns mit, entweder still und heimlich, dass dein neues Leben nicht mitbekommt, was los ist und wer Imani Soto wirklich ist, oder ich werde es alle wissen lassen und Stress machen, ich denke nicht, dass du das willst … Die Leute hier kennen das Soto Cartel sicher nur aus den Nachrichten, es liegt an dir, ob sie jetzt auch von deinem Platz im Cartel erfahren werden.«
Er deutet zu Lima, die sich immer wieder zu uns umdreht und unsicher beobachtet.
Nur allzu gern würde ich Kike sonst etwas an den Kopf werfen, doch leider weiß ich, dass er das tun wird, ich weiß, dass ich im Grunde keine Wahl habe, auch wenn ich mir das gerne seit Jahren einrede. Deswegen kneife ich wütend meine Augen zusammen. »Und was soll ich ihnen erzählen, wo ich bin? Ich muss noch ein paar Sachen holen und ...« Kike hebt die Hand und lächelt Lima zu, deren Wangen sich rot färben und die schnell wieder wegsieht.
»Sag ihnen, wie es ist. Du bist für ein paar Tage deine Familie besuchen, was du seit Jahren nicht getan hast. Du hast fünf Minuten, beeil dich, Guapita! Der Jet wartet, es wird Zeit, dass du nach Hause kommst!«
»Ich hoffe, du verstehst das, mich hat es auch überrascht und ich kann dir auch noch nicht genau sagen, was los ist, aber ich bin Sonntagabend zurück, ich habe auch schon meinen Dienst im Krankenhaus für Freitag abgesagt … melde dich, wenn du Zeit hast ...« Die Worte 'ich hab dich lieb' liegen mir auf den Lippen, doch ich lasse es und beende das Gespräch, während ich mir müde über die Stirn reibe. Wie kann innerhalb weniger Minuten alles so aus dem Ruder laufen?
Ich habe extra eine Stunde gewartet und erst alles andere geklärt, bevor ich Marc angerufen habe, ich weiß, dass er gerade wieder im OP steht, sodass ich erst einmal den Fragen ausweichen kann, die nun aber wohl oder übel auf mich zukommen werden. Bis jetzt hat es immer gereicht, wenn das Thema auf meine Familie kommt, jedem zu sagen, dass es kompliziert ist und ich nicht gerne darüber spreche. Die Menschen spüren, dass ich mich bei dem Thema unwohl fühle und respektieren es, doch da ich nun quasi vor der Uni abgefangen wurde und Hals über Kopf nach Mexiko abgereist bin, wird das wohl oder übel neue Fragen aufwirbeln.
»So kalt zu deinem Freund? Wer ist es? Einer der Ärzte aus dem Krankenhaus, wo du arbeitest?« Um nicht weiter mit Nachrichten von Lima und Anthony bombardiert zu werden, schalte ich erst einmal mein Handy aus und lege es in meine Tasche, bevor ich mich auf der Couch zurücklehne und Kike einen giftigen Blick zuwerfe, der auf dem Sessel neben mir sitzt und belustigt meine Notizen zum Studium ansieht, die ich ihm nun aus der Hand nehme.
»Ich bin nicht kalt zu ihm und das geht dich nichts an, es hat seinen Grund, wieso ich mit sechzehn Mexiko verlassen und in L.A. neu angefangen habe, ich dachte, die Familie hätte das verstanden, ich wusste nicht, dass ihr mir die ganze Zeit … hinterherschnüffelt. Und ganz so erfolgreich war das wohl auch nicht, sonst wüsstest du, wer er ist.«
Milan kommt aus dem vorderen Bereich, wir sind schon über eine Stunde in der Luft und bisher habe ich den gesamten Flug dafür gesorgt, dass ich für einige Tage in meine Vergangenheit abtauchen kann, ob ich will oder nicht.
Der Jet ist in zwei Abteilungen aufgeteilt, in dem hinteren bin ich mit Kike, die anderen Männer sind vorne, ich habe sie gar nicht weiter beachtet, ich will mit alldem nichts mehr zu tun haben.
»Wir schnüffeln dir nicht hinterher, deine Mutter hat nur immer ein Auge auf dich. Es geht darum, dass dir nichts passiert, nicht, wem du den Kopf verdrehst. Ich weiß, dass du … all das nicht willst, doch du kannst nicht ändern, als was du geboren bist, Imani, außerdem ist es wichtig, was deine Mutter will, sie ist trotz alldem deine Mutter. Hier, iss etwas, es dauert noch ein wenig, wir landen in Tulum.«
Milan stellt mir zwei Burritos hin und holt mehrere Getränkedosen aus dem Kühlschrank. Er trägt mittlerweile einen Bart, als ich damals gegangen bin, war er ein wichtiger Vertrauter meines Vaters. Das letzte Mal habe ich ihn am Tag meiner Flucht gesehen und er war es auch, der mich sehr oft geschützt hat, deswegen habe ich trotz allem, was war, ein Grundvertrauen zu ihm und auch zu Kike, der nur etwas älter als ich und der Sohn der Cousine meiner Mutter ist, wir sind zusammen aufgewachsen und ich weiß, dass er sich niemals gegen mich stellen würde. Sie mögen meine Entscheidung damals nicht gut gefunden haben, aber keiner von ihnen würde mir das jemals vorwerfen, sie kennen die Wahrheit.
»Tulum? Früher waren wir nur im Sommer da. Wenn unsere Privatlehrerin frei hatte und wir im Sommer meinem Vater auf die Nerven gegangen sind, hat er uns mit Mama dorthin geschickt, seit wann ist sie dort einfach so?«
Kike öffnet sich zischend ein Bier und lehnt sich in seinem Sessel zurück, würde man nicht die Motoren des Jets hören, könnte man denken, wir befinden uns mitten in einem vornehmen Wohnzimmer.
»Es ist nichts mehr einfach so, Guapita, aber das muss dir deine Mutter erklären, ich weiß, dass du uns und all das … was war, gerne von dir schiebst, aber du hast mir gefehlt und ich bin froh, dass du mal wieder da bist.«
Mein Blick gleitet über Kikes Gesicht, er ist ein hübscher Mann geworden, er war immer ein wilder, niedlicher Junge, doch jetzt ist er ein wirklich hübscher Mann mit grünen Augen und dunklen Haaren, die mich liebevoll anstrahlen. Auch wenn Kike jetzt strahlt und der wahrscheinlich positivste Mensch ist, den ich je kennengelernt habe, so erkenne ich doch eine gewisse Schwere in seinem Blick und atme tief aus.
Meine Wut und mein Hass auf all das, für was Mexiko steht, gilt nicht ihnen, die beiden hier haben immer hinter mir gestanden, sie konnten mich nicht vor allem schützen, doch vor einigem und sie waren der gute Part aus diesem Leben. Also lächle ich und beiße vom Burrito ab. »Wenn du wusstest, wo ich bin, hättest du auch einfach vorbeikommen und mit mir essen gehen können, statt Jahre zu warten und mich dann quasi zu entführen … es wäre auch einfacher gegangen.« Ich lege den Kopf schief und Milan setzt sich zu mir auf die Couch. »Da ist ja unsere Drama-Queen wieder, entführt ist etwas überspitzt, aber du weißt, dass auch wenn uns deine Entscheidung damals nicht gefallen hat, wir sie verstanden haben. Wir haben dir von Weitem dabei zugesehen, wie du dir ein neues Leben aufgebaut hast und hätten dich auch weiter dein … Ärzteding machen lassen, doch manchmal geht es nicht anders, aber das wirst du noch verstehen, ruh dich ein wenig aus, es erwartet dich einiges.«
Früher habe ich niemals Fragen gestellt, ich wusste, dass das gefährlich ist und vielleicht wollte ich auch niemals die Antworten wissen, doch das habe ich mir mit den Jahren meiner Freiheit abgewöhnt. Auch jetzt liegen mir tausend Fragen auf der Zunge und doch verfalle ich viel zu schnell in das Muster von damals zurück, ich esse die Burritos, lehne mich zurück und sehe mit Kike zusammen die Nachrichten aus Mexiko.
Ich habe das jahrelang nicht mehr gemacht, ich höre von Überfällen, Armut, wichtigen Treffen, und auch wenn es für die meisten Menschen ein Albtraum wäre und sie sich das schockiert anhören würden, für mich ist das die vertraute Melodie meiner Kindheit und ich döse darüber hinweg sogar ein. Ich muss über Kikes Worte nachdenken, wie kalt ich zu Marc bin. Für die meisten ist es unvorstellbar, dass man sich nach vier Monaten noch hab dich lieb sagt, ich denke normalerweise nicht darüber nach, es ist so, ich mag ihn, ich fühle mich wohl bei ihm und ich habe ihn lieb. Ist da mehr? Ist es richtige Liebe, ich weiß es nicht, gibt es so etwas überhaupt. Die Leidenschaft, die Lima überfällt, wenn sie von ihrem neuen Freund spricht, hatte sie aber auch schon ein Jahr vorher für einen anderen Mitstudenten, also ist das besser? Ich weiß es nicht und gerade will ich auch nicht darüber nachdenken.
Als ich das nächste Mal richtig wach werde, spüre ich, dass wir landen.
Kike sieht sich mittlerweile einen Film an und tippt etwas auf seinem Handy ein, Milan ist mit mir auf der Couch eingeschlafen, meine Füße liegen auf seinem Bein, als ich mich jetzt wieder aufrichte, wird auch er langsam wach. Einen Moment halte ich ein, ich kann nicht glauben, dass ich tatsächlich zurück bin, ich wende mich um und sehe aus dem Fenster auf Mexiko hinab, auf die endlosen weißen Strände von Tulum, die Palmen und doch liegt ein schwerer Stein in meinem Magen.
Um Lima nicht zu zeigen, wie schlimm es für mich ist, hier zu sein und sie ein wenig zu beruhigen, während sie mir wie ein unruhiges Küken beim Zusammenpacken meiner Sachen durch unser Apartment gefolgt ist, habe ich mir nur schnell eine große Handtasche geschnappt, einige Kleider, einen Bikini und Flipflops hineingelegt und ein paar meiner Badezimmersachen. Ich habe ihr gesagt, dass ich in der Familie etwas klären muss und ihr alles erzähle, wenn ich zurück bin, was ich niemals wirklich tun kann, nicht die ganze Wahrheit, niemals. Als ich dann schnell gehen wollte, hat sie mich nur überrumpelt angesehen und gefragt, ob ich nicht wenigstens meinen Ausweis brauche. Ihr zuliebe habe ich ihn auch noch in meine Tasche geschmissen, doch ich werde ihn nicht brauchen, niemals würden wir kontrolliert werden.
Erst einmal gehe ich ins Bad, ich ziehe mir meine Sachen aus. Egal wie lange ich nicht mehr hier war, ich weiß, dass man die Temperaturen in L.A. nicht mit denen in Mexiko vergleichen kann. Einen Moment lasse ich mir noch Zeit, als könnte ich so das Unausweichliche weiter hinauszögern. Ich mache mich frisch und ziehe mir ein graues, einfaches Sommerkleid über, schlicht und Basic und doch hat es einen sexy Beachvibe, zumindest konnte ich Lima so vielleicht überzeugen, dass ich mich hier ein paar Tage amüsiere.
Als ich aus dem Bad komme, stehen nur noch Milan und zwei andere Männer am Eingang der bereits offenen Jettür, die anderen scheinen schon hinausgegangen zu sein. »Bist du bereit?« Milan lächelt mich an, die beiden anderen Männer wagen es kaum, mich anzusehen, doch positionieren sich sofort hinter mir, am liebsten würde ich laut aufseufzen, doch ich setze mir nur meine Sonnenbrille auf und stelle mich zu Milan. »Eigentlich nicht, doch würde das etwas ändern?«
Sobald ich auf das Rollfeld des kleinen Flughafens hier in Tulum blicke, weiß ich sofort, dass ich zurück bin. Vier große schwarze Geländewagen stehen am Rollfeld, die Männer steigen gerade ein, nur Kike steht noch am zweiten und begrüßt zwei Männer.
»Nein, das würde es nicht, aber trotzdem, willkommen zu Hause!«
Einen winzigen Moment halte ich noch einmal. Auch wenn ich damals geflüchtet bin, treiben mir die Gerüche von Jasmin und Honig, die ich aufnehme, sowie der warme Wind und die Sonne ein Lächeln ins Gesicht. All das erinnert mich auch an gute Zeiten, in denen ich lachend mit meinen Schwestern über den Strand gerannt bin und wir die höchsten Prinzessinnen-Schlösser gebaut haben. Milan lässt mich diesen Moment genießen, bis ich die beiden Männer hinter mir spüre, die nicht von meiner Seite zu weichen scheinen und mich daran erinnern, was mich hier auch wieder erwartet.
Milan läuft mit mir zusammen die Treppen vom Jet hinunter. »Ich wollte dir im Flieger erklären, was sich in den Jahren alles getan hat, doch du bist zu schnell eingeschlafen, vielleicht hast du mitbekommen, dass das Cartel gewachsen ist, noch immer liegt Mexiko in unserer Hand und all die Männer hier stehen hinter deiner Familie ...« Ich will ihn unterbrechen, doch Milan deutet zu den Männern, die vor dem zweiten Wagen zusammen mit Kike stehen und sich jetzt zu ihnen umdrehen.
»Ich weiß nicht, ob du noch weißt, wer Avid ist? Er ist der Sohn des besten Freundes deines Vaters, der mit deinem Vater zusammen … damals bei dem Anschlag umgekommen ist. Avid wurde schon vorher in die Geschäfte eingewiesen und ist auch damals schon, aber besonders seitdem, der Anführer des Cartels. Er hat die Stelle deines Vaters eingenommen, auch wenn natürlich deine Mutter offiziell als die Anführerin gilt.«
Avid Zarate, ein Name, den man so laut von den Dächern Mexikos ruft, dass er auch immer wieder bei mir in meinem friedlichen Leben in L.A. ankommt. Er hat sich in Lateinamerika einen Namen gemacht, das Soto Cartel war schon immer berüchtigt, doch man sagt, seitdem er das Sagen hat, ist das Cartel so erfolgreich wie noch nie zuvor. Mich verwundert es nicht, ich weiß, dass mein Vater damals einiges nicht gut unter Kontrolle hatte, meine Mutter hat ihn immer wieder verflucht und gesagt, es liegt daran, dass er nicht dazu geboren wurde. Sie ist diejenige, die als Anführerin geboren wurde, sie hat den Platz meines Großvaters eingenommen und den Mann geheiratet, der vom Cartel für sie ausgesucht wurde und der dann in ihrem Namen das Cartel geleitet hat.
Ich spüre die Blicke der Männer auf mir, doch da mich all das nichts mehr angeht, sehe ich mich lieber um, ich erinnere mich an den Flugplatz, hier scheint sich nicht viel getan zu haben.
»Neben Avid ist sein Cousin Camino seine rechte Hand, sie kümmern sich um alles ...« Nun sind wir so nah, dass ich nicht anders kann und mir die beiden neben Kike ansehe.
Man sieht eine gewisse Ähnlichkeit zwischen ihnen. Ich erinnere mich daran, dass ich sie auf einigen Kindergeburtstagen gesehen habe, ich meine mich zu erinnern, dass Avid das Aquarium meiner Schwester mit einem Ball zerschossen und mächtig Ärger bekommen hat, doch ganz genau weiß ich es nicht mehr, aber was damals auch war, jetzt stehen zwei attraktive Männer vor mir. Ähnlich wie Kike und Milan sind auch die beiden eher sportlich angezogen, beide tragen Shorts und Shirts, Avid eine dunkelblaue Shorts und ein weißes Shirt, er ist braungebrannt, doch nicht so wie Kike und Milan, die eher allgemein einen dunkleren Hautton haben, er hat einen schönen goldfarbenen Hautton, als käme er von einem langen Urlaub nach Hause. Man sieht, dass sie alle durchtrainiert sind, alle Männer hier, doch das kenne ich nicht anders, es gehört zu ihren Aufgaben, trainiert zu sein.
Wieder kommt mir meine Gabe, Dinge schneller zu erfassen, zugute. Sie alle hier tragen auf dem rechten Arm Soto Cartel eintätowiert, bei Avid bemerke ich das Kreuz an seinem Hals und seinen Nachnamen Zarate auf dem anderen Unterarm. Es ist nicht unüblich, dass jemand anderes ein Cartel leitet, der Anführer muss immer aus der direkten Familie sein, doch die Leitung kann jemand anderes haben und scheinbar ist es nun seit dem Tod meines Vaters der Fall.
Ich erwidere Avids Blick auf mir, falls er denkt, dass mich irgendetwas von alldem beeindruckt, weiß er wohl nicht mehr, wer ich bin. Allerdings wirkt er genauso desinteressiert wie ich an dem, was hier passiert. Seine schwarzen Haare sind kurz geschnitten und er hat ein unfassbar attraktives Gesicht, das mich daran erinnert, was ich gehört habe, kurz bevor ich aus Mexiko geflüchtet bin. Damals hat man sich schon erzählt, dass Avid und sein Cousin, die zusammen mit seinem Vater für das Soto Cartel den westlichen Teil Mexikos unter Kontrolle hatten, der Frauenwelt den Kopf verdrehen und ich denke, das wird sich bis heute nicht geändert haben.
Avid ist ein hübscher Mann, seine dunklen Haare, die noch dunkleren Augen, die ruhig auf mir liegen, anziehende Lippen, man sieht ihm an, dass er mächtig ist. Dazu ziert eine Narbe seine rechte Wange, die ihn aber nur noch interessanter macht, am liebsten würde ich den Kopf schütteln. Wenn jemand einen Mafia-Cartel-Film drehen würde, wäre er die beste Besetzung dafür, ein gefährlicher Mann, der die Frauen zum Dahinschmelzen bringt, kitschiger geht es nicht mehr.
Einen Moment muss ich über meine eigenen Gedanken schmunzeln und sehe zu seinem Cousin, der ihm ähnlich sieht, auch wenn er etwas kleiner ist und lockige Haare hat. Man erkennt trotzdem, dass sie aus einer Familie stammen und zusammen geben sie ein beeindruckendes Bild ab. Ich will gar nicht wissen, wie die Partys, die es damals schon regelmäßig gab, heute aussehen, und zum Glück muss ich das auch gar nicht wissen.
»Avid, Camino, das ist Imani ...«
Camino lächelt mich an, Avids Blick gleitet nur ein weiteres Mal an mir hoch und runter, am liebsten würde ich ihn ermahnen, das sein zu lassen, doch da hält er bereits die Tür zu seinem Wagen auf.
»Die verlorene Tochter also, … willkommen zurück.«
Kike lacht leise auf, während ich ins Auto steige und mir innerlich sage, dass ich das alles einfach ignorieren sollte, ich kläre das, was auch immer meine Mutter von mir will und bin wieder weg. Es kann mit egal sein, was die Leute hier von mir denken, deswegen setze ich mich nach hinten ans Fenster, sehe hinaus und ignoriere alles andere.
»Aufpassen, Avid, sie mag eine Weile nicht hier gewesen sein, doch sie hat mehr Temperament als alle anderen Frauen Mexikos, die du bisher getroffen hast. Glaub mir, ich kann dir da Geschichten erzählen, so schön wie sie ist, so sehr kann sie dich auch innerhalb von Sekunden in den Boden stampfen, ohne sich dabei überhaupt anzustrengen…« Kike setzt sich neben mich und zwinkert mir zu. Da gibt es tatsächlich einige Geschichten, doch auch die habe ich weit von mir geschoben.
Avid und sein Cousin setzen sich nach vorne, Milan ist verschwunden, auch das ignoriere ich und sehe mir weiter die Landschaft an. Hier hat sich kaum etwas verändert. Es ist acht Jahre her, dass ich hier war, doch trotzdem fühle ich mich wieder so klein und unbedeutend wie damals, während wir durch die Straßen Tulums in Richtung Meer fahren. Ein Gefühl, was ich in L.A. niemals hatte, noch nicht einmal am ersten Tag an der Universität, niemals habe ich mich so unbedeutend gefühlt wie hier. Mir ist klar, dass das nichts mit dem Land zu tun hat, sondern mit meinen Erinnerungen und doch fühle ich mich hier wieder ganz anders. Während die Landschaft an mir vorbeigleitet, frage ich mich, ob sich das jemals ändern wird, werde ich mich in meiner Heimat jemals wohlfühlen?
Hier in Tulum leben die meisten Menschen von Tourismus und es geht ihnen gut. Wie früher stehen aufgebaute Stände an den Seiten der Straßen, die typische Mitbringsel oder leckere Köstlichkeiten anbieten, ein kleines Mädchen läuft hüpfend durch die Straßen mit selbstgemachten Blumenkränzen und Ansteckblumen für die Haare. Ich muss lächeln, als sie anhält und aufgeregt zu unseren Autos sieht, sie winkt, für die Menschen hier ist das Cartel nicht schlimm, im Gegenteil, sie wissen, dass sie mit ihnen besser dran sind als mit so einigen Politikern und doch ist es bizarr, diese Szene zu sehen, mit dem Abstand, den ich nun in L.A. gehabt habe.
Nur nebenbei höre ich, wie sich die anderen im Auto über eine Lieferung unterhalten, all das war so weit weg von mir, dass ich es gar nicht erst wieder an mich herankommen lassen will, doch kurz bevor wir in den vertrauten Eingang zu unserem Anwesen einfahren, sehe ich doch vom Fenster weg. »Sind meine Schwestern da?« Sofort beginnt es in meinem Magen zu rumoren, so weit ich all das auch von mir schieben wollte, an sie habe ich ständig gedacht, sie würde ich gerne wiedersehen. Statt Kike antwortet Avid. »Natürlich sind sie da, sie weichen deiner Mutter nicht von der Seite.«
Meine Augen gleiten zum Rückspiegel in der Mitte des Wagens, wo ich auf seine dunklen Augen treffe. Habe ich darin einen Hauch von Vorwurf gehört? Er kennt mich nicht, er hat keine Ahnung, was passiert ist, am liebsten würde ich ihm so viel an den Kopf werfen, dass er kein Recht hat zu urteilen und einiges mehr, doch ich spare mir die Kraft, seine Meinung ist mir egal, er weiß nichts, deswegen lache ich nur bitter auf und sehe wieder aus dem Fenster.
Sobald wir auf das Gelände einfahren, kommen aus dem Haupthaus zwei hübsche junge Frauen gerannt und mein Herz beginnt zu rasen. Amora und Anisa, meine beiden Schwestern. Wenn ich etwas vermisst habe an alldem hier, dann die beiden. Ich konnte den Kontakt niemals ganz zu ihnen abbrechen, auch wenn es mir am Anfang geraten wurde. Ich habe ihnen jeden Monat Postkarten und Briefe geschickt, Geschenke zu den Feiertagen und Geburtstagen, ich habe sie immer wissen lassen, dass ich an sie denke und sie liebe, zwar ohne Absenderadresse, doch ich wollte trotzdem ein Teil von ihnen bleiben. Wir haben damals vor meiner Flucht viel geweint, die beiden waren die Einzigen, die von meinen Plänen wussten, Kike und die anderen haben es geahnt, sie wussten es genau. Sie waren noch jünger und haben es trotzdem verstanden, sie wussten, dass ich so nicht weiterleben konnte und vielleicht irgendwann nicht mehr überlebt hätte, auch wenn das bedeutet, dass ich aus ihrem Leben trete.
Sobald ich die beiden sehe, kann ich es nicht verhindern, dass mir Tränen die Wangen herunterlaufen. Als ich gegangen bin, war Amora zwölf und Anisa acht, jetzt stehen junge Frauen vor dem Auto, sie sind wunderschön, sie kamen schon immer mehr nach meinem Vater und sind viel dunkler als ich, doch wir haben alle drei die gleiche schmale Nase meiner Mutter und ihre vollen Lippen.
Sobald ich aussteige, liegen sie mir im Arm. Ich kann kaum etwas sehen, ein Gewirr aus Haaren, Weinen und leisen Gebeten umgeben mich, ich spüre die Lippen von Anisa auf meinen Wangen, sie ist jetzt sechzehn und Amora ist letzten Monat zwanzig geworden, immer wieder küsse ich die beiden und sehe sie mir an.
»Wir haben gewusst, dass du nur noch schöner geworden bist und etwas ganz Besonderes aus dir geworden ist und nun sieh dich an, eine Ärztin, du siehst aus wie ein Topmodel, du weißt gar nicht, wie froh wir sind, dass du zurück bist, bleibst du jetzt hier? Es ist so schlimm … Mama ...« Ich muss lachen und unterbreche meine jüngste Schwester, erst jetzt steigen nach und nach die Männer aus, vielleicht wollten sie uns diesen Moment geben.
»Ich weiß noch nicht einmal, warum ich hergebracht wurde und ich bin keine Ärztin, noch nicht, ihr wisst gar nicht, wie sehr ich euch vermisst habe, hier hat sich ja kaum etwas verändert.« Noch immer habe ich meine Arme um die beiden gelegt, doch nun sehe ich mich auf dem Anwesen um. Auch heute noch wird alles von hohen Mauern und einem schwarzen Zaun geschützt, hier vorn stehen die Häuser der Männer, einige Lagerräume und weiter vorne kommt man zu unserem Ferienhaus, ich kann das Meer schon riechen, auch wenn es manchmal etwas langweilig war, so viele Wochen hintereinander hier zu verbringen, habe ich diese Zeit immer am meisten genossen. Mein Vater war nur selten hier und es waren die friedlichsten Zeiten im ganzen Jahr.
»Wo ist sie?« Meine Schwestern laufen mit mir die perfekt gepflasterten Straßen zum Meer hinab. Kaum ein Mann ist auf der Straße, wer weiß, wie viele gerade hier sind, es ist bereits Abend und die meisten sind sicherlich unterwegs. Auch die Männer, die mit uns angekommen sind, verteilen sich auf die Häuser weiter oben. Mir fällt auf, wie akkurat hier alles blüht und steht. Jeder Grashalm wirkt perfekt gestutzt, jede Blume präzise ausgewählt, vor der Mauer ist alles staubig und trocken, doch hier drinnen wirkt alles wie in einer saftigen, blühenden Oase. Mitten im Gebiet steht wie früher ein Brunnen, dessen Wasser im gleichen Takt fließt, das hat mir immer beim Einschlafen geholfen. Wie damals schon schwimmen Seerosen auf dem Wasser, die jeden Tag, spätestens jeden zweiten ausgetauscht werden, all diese Details, ich ermahne mich, diese Gabe von mir wieder auszublenden und mich auf meine Schwestern zu konzentrieren.
»Sie wartet auf der Terrasse auf dich, ich habe dir dein Lieblingsessen kochen lassen, wir warten im Wohnbereich in unserem Trakt. Ich kann es gar nicht erwarten, alles zu erfahren, komme danach direkt zu uns.« Anisa gibt mir noch einen Kuss auf die Wange, dann gehen die beiden zum anderen Eingang. Unser Privathaus am Meer ist so groß, dass es zwei Eingänge hat, darauf hat mein Vater immer Wert gelegt. Hier im vorderen Bereich, den ich ansteuere, haben er und meine Mutter ihren Schlafbereich, Essensbereich und alles andere, hier hinein durften die Männer kommen, wenn sie etwas von ihm wollten. Durch den anderen Eingang kommt man zum Bereich, der für uns drei Mädchen bestimmt war, wir haben dort eine eigene Terrasse, einen eigenen Wohnbereich und unsere Schlafzimmer, vielleicht haben wir deswegen auch besonders die Zeit genossen, wenn wir hier waren.
Ich sehe den beiden aufgeregten Hühnern hinterher und lächle, dann erst drehe ich mich das erste Mal um und erschrecke, als die beiden Männer, die es sich offensichtlich zur Aufgabe gemacht haben, mir nicht mehr von der Seite zu weichen, so nah hinter mir stehen, dass ich ihre Brust fast mit meiner Nase berühre, sobald ich mich umdrehe.
»Ich bezweifle, dass das hier nötig ist.« Hinter den beiden kommen Kike, der sich einen Schokoriegel öffnet und Avid, der den beiden Männern deutet, dass sie gehen können. »Ich übernehme sie!« Mein Blick gleitet von den beiden zu Avid, die beiden Männer treten sofort weg und laufen den Weg wieder nach oben, sodass nur noch Kike und Avid hinter mir stehen. »Mich braucht niemand zu ... übernehmen!« Das erste Mal sehe ich dabei Avid richtig in die Augen, hier im dämmernden Licht der langsam untergehenden Sonne wirken sie noch dunkler.
Er hebt die Augenbrauen und setzt an, etwas zu sagen, doch ich wende mich einfach um und betrete das Haus meiner Eltern. Ich höre noch Kikes leises Lachen, meine Aufmerksamkeit richtet sich allerdings auf das Haus. Auch hier ist alles genau wie es war, die gleichen Trockenblumen auf dem großen Tisch im Eingangsbereich, das riesige Bild meines Vaters über dem Sideboard, das bei der Hochzeit mit meiner Mutter entstanden ist. Ich habe mich nie gefragt, wieso von ihrer Hochzeit nur ein Bild von ihm hier hängt, jetzt fällt mir das sofort auf.
Mein Vater ist vier Jahre nachdem ich aus Mexiko geflohen bin bei einem Angriff gestorben, er und sein engster Verbündeter, Avids Vater, sind in ihrem Auto beschossen worden. Damals war es das erste Mal, dass meine Familie Kontakt zu mir aufgenommen hat, über meine Lehrerin, die mir damals geholfen hat zu flüchten. Sie wollte, dass ich zu seiner Beerdigung komme, doch ich habe nur gesagt, dass ich das nicht kann, ich will diejenigen, die um ihn trauern, nicht vor den Kopf stoßen, weil für mich dieser Tag alles andere als ein Trauertag war.
Auch jetzt sehe ich nur zum Bild, schüttle den Kopf und gehe mit schnellen Schritten zu der Terrasse, auf der ein großes gemütliches Strandbett steht. Es gibt noch einige Liegen, doch dieses Strandbett nimmt den meisten Platz ein, auf einem Tisch neben dem Bett stehen aufgeschnittene Früchte, Säfte und Kekse, ich sehe zwei Krankenschwestern, einen Infusionsständer und schließe die Augen. Natürlich war mir klar, dass meine Mutter mich nicht einfach so zu sich ruft, sie würde es nicht wagen, sie kennt ihre Schuld.
Als wir Kinder waren, hatte meine Mutter zweimal Brustkrebs, beide Male hat sie es gut überstanden, doch als ich jetzt an das Bett trete und die beiden Krankenschwestern zur Seite weichen, weiß ich, dass es zurück ist und dass es dieses Mal nicht wieder gut wird.
Meine Mutter war immer eine wunderschöne Frau, sie hat die gleichen langen schwarzen Locken wie ich, hellere Augen, auch nach drei Kindern hatte sie noch eine gute Figur, sie hat immer viel Wert auf ihr Äußeres gelegt und auch bei uns darauf geachtet. Ich weiß noch, wie sehr ich es gehasst habe, wenn sie uns alle drei in den gleichen Kleidern, am besten mit ganz viel Rosa und Spitze, die Haare gleich geflochten und mit weißen knielangen Socken und Lederballerinas, allen vorgeführt hat.
Als ich ihr jetzt in die Augen sehe, treten Tränen in ihre. Sie ist blass und dünn, sie hat ein Tuch um ihren Kopf gebunden und keine Haare mehr und doch erkennt man noch die gleiche stolze Frau von früher. Sie versucht sich aufzusetzen, doch ich deute ihr, so zu bleiben, ihr scheint es so gut zu gehen.
»Wie schön du aussiehst, Imani, du erinnerst mich an mich selbst … in meiner besten Phase des Lebens. Hast du deine Schwestern gesehen?« Auch ihre Stimme ist gebrochen, also nehme ich mir einen Stuhl und setze mich an ihr Bett, ich spüre einige Leute um uns herum, doch ich ignoriere das alles und sehe zu ihr. »Ja, das habe ich, Mama. Er ist also zurückgekommen, der Krebs? Wie sieht es aus, ich denke, du weißt, dass ich mittlerweile Medizin …« Meine Mutter hustet auf und lächelt. »Das ist … nein, das ist nicht der Grund, wieso ich dich habe rufen lassen, ich weiß, was du machst. Ich habe deine Entscheidung zu gehen immer respektiert, ich weiß, dass ich nicht viel machen konnte, doch ich habe auch deinen Vater gezwungen, es zu respektieren, ich verstehe, dass du keinen Kontakt wolltest, doch nun sieht alles anders aus.«
Sie deutet um sich herum, hinter uns ist noch immer der große Pool, von dem man direkt zum Meer kommt, über dem sich der Himmel nach und nach in den schönsten Farben färbt und die Nacht einläutet. »Ich habe die besten Ärzte, der Krebs ist schon eine Weile zurück, doch er ist überall. Ich habe eine Weile dafür gekämpft, dass ich noch mehr Zeit bekomme, um alles zu regeln, doch ich spüre, dass auch diese Zeit bald vorbeigeht und deswegen musste ich das erste Mal gegen deinen Willen handeln und dich herrufen.«
Sie sieht sich um, als würde sie nach Hilfe suchen, Kike und Avid stehen zwar in der Nähe, doch sie sehen nicht so aus, als wollen sie sich hier einmischen und die Krankenschwestern sind auch respektvoll weggetreten.
»Es wird Zeit, dass du deinen Platz im Cartel einnimmst. Ich weiß, dass ...« Ich unterbreche sie, hart und mit einer Kälte, die mich selbst erschreckt, doch sie liegt so tief unter meiner Haut, dass es gar nicht anders geht, als dass sie zum Vorschein kommt.
»Ich kenne meinen Platz im Cartel und in der Familie, oder hast du das vergessen? Hast du vergessen, was all die Jahre war, Mama? Wie mein eigener Vater mich behandelt hat? ...« Sie will etwas sagen, doch ich kann es nicht zulassen. Wie viele Nächte lag ich wach, habe ich mich gefragt warum, habe über all das nachgedacht und mich immer wieder gefragt warum, gehofft, dass eines Tages dieser Punkt kommen wird, an dem ich all das mal rauslassen kann und wenn es jetzt so weit ist, werde ich mich nicht davon abhalten lassen.
»Ich wurde geboren und wurde von ihm ignoriert, er hat mich nicht einmal in den Arm genommen. Wenn ich zu laut war, hat er mich geschlagen, wenn ich gestört habe, hat er mich mit einem Arschtritt aus dem Zimmer gejagt vor allen Leuten. Ich dachte immer, all das ist normal, ich bin so aufgewachsen in dem grauen Zimmer, mit kaum Spielsachen, kaum Liebe, all den Dingen, die er mir an den Kopf geworfen hat, wie hässlich ich sei, wie dumm, wie oft er mich nur zu seinem Spaß vor anderen erniedrigt hat, ich dachte, das ist ganz normal, auch, dass meine Mutter dazu nichts sagt … für mich war das normal.«
Meine Mutter senkt den Blick und ich bin mir sicher, dass auch Kike das tut, denn jetzt, wo ich wieder hier bin, lässt sich all das nicht mehr unter den Tisch kehren.