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Lia lebt ein sehr bescheidenes Leben. Sie muss hart arbeiten, damit ihr Vater, ihre Schwester und sie überleben können. Alles ändert sich, als sie eine neue Arbeit beginnt und das erste Mal richtig ihr Dorf verlässt. Lia sieht, was außerhalb ihrer eingeschränkten Welt passiert, trifft neue Menschen und erlebt neue Gefühle, gleichzeitig gerät ihr altes Leben komplett außer Kontrolle und plötzlich ist da eine Kleinigkeit ... Eine Kleinigkeit wie die Liebe
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Seitenzahl: 438
Eine neue Begegnung,
neue Hoffnungen,
neue Schicksalsschläge,
neue Entscheidungen und neue Enttäuschungen,
aber vor allem …
Eine Kleinigkeit wie Liebe.
Folgt mir in die Welt von Lia ...
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
»Es tut mir leid, Lia, wenn ich könnte und eine andere Möglichkeit hätte, wärst du sofort dabei, aber du weißt, dass wir uns nur zur Hauptsaison so viele Feldarbeiter leisten können.«
Lia streift sich den Korb von den Schultern und legt dem Vorarbeiter, mit dem sie die letzten Monate gearbeitet hat, das Messer auf den Schreibtisch. Es war nicht einfach, die ersten Wochen hatte sie jeden Abend Wunden, doch wie jedes Jahr hatte sie wenigstens während der Hauptsaison Arbeit auf dem Feld, jetzt beginnen die harten Monate.
»Schon okay, ich weiß ja, dass ihr es auch nicht leicht habt.«
Der ältere Mann lächelt und tiefe Falten bilden sich um seine dunklen Augen. Lia selbst spürt jedes Jahr aufs Neue, wie hart die Arbeit im Freien, auf den Feldern ist.
Dem Vorarbeiter sieht man an, dass er sicherlich erst einige Jahre auf dem Feld arbeiten musste, bevor er jetzt für das Personal und die Logistik zuständig ist.
»Ich verspreche, sobald wir wieder etwas frei haben oder ich etwas höre, lasse ich dir Bescheid geben.« Lia nickt und umarmt den freundlichen Mann, der ihr jedes Jahr wieder Arbeit verschafft, leider eben nur für die Hauptsaison, und wie jedes Jahr zieht sich schon jetzt Lias Magen zusammen, beim Gedanken an die nächsten Monate.
Bevor sich Lia auf den Rückweg in ihr Dorf macht, geht sie noch einmal in den Gemeinschaftswaschraum. Sie wäscht sich den Staub aus dem Gesicht und sieht sich im Spiegel an. Sie stand die letzten Wochen jeden Tag auf dem Feld, ihre Haut ist trotzdem nicht sehr viel dunkler geworden, weil sie immer darauf geachtet hat, sie zu schützen.
Die meisten Menschen, die hier aus dem Süden Puerto Ricos kommen, sind sehr dunkel, sie hingegen ist etwas heller und hat einen schönen Olivton, der sie von den anderen unterscheidet und um den sie oft beneidet wird. Und obwohl sie es nie zugeben würde, mag sie es, etwas anders auszusehen, auch wenn ihr Aussehen sie an den Menschen erinnert, den sie am liebsten für immer aus ihren Gedanken verbannen möchte.
»Und, konnte er noch etwas für dich tun?« Lia schreckt zusammen, als die alte Crista aus einer der Toiletten kommt. »Nein, leider nicht.« Crista tritt neben sie an das Waschbecken und seufzt leise auf. »Sobald ich etwas höre, sage ich dir Bescheid. Versprochen.«
Lia lächelt und öffnet ihren langen Zopf. Sie lässt ihre dunklen welligen Haare, die ihr bis zum Bauchnabel gehen, frei und reibt sich über ihre dunklen Augen, die diesen verdammten Schwung haben, der sie auch immer an den Menschen erinnert, wegen dem sie sich selbst so herumquälen muss.
»Du hast so ein wunderschönes Gesicht, versuch es doch mal in den größeren Städten als Model.« Lia lacht und bindet sich ihre kleine hellbraune Tasche um. »Crista, du weißt doch, dass die Frauen von hier nicht anfangen sollten zu träumen.« Sie lachen beide und Lia verabschiedet sich.
Lia konnte die Schule nur besuchen, bis sie fünfzehn war, seit nun sieben Jahren arbeitet sie, doch sie ist nicht dumm oder naiv und weiß genau, dass Mädchen wie sie, aus den einfachen Dörfern hier, nicht sehr viel vom Leben erwarten dürfen.
Große Träume und Hoffnungen hat sie auch gar nicht, sie wünscht sich nur ein paar Monate weiter, ohne sich sorgen zu müssen, doch sie weiß, dass dies nicht so sein wird.
Die Felder liegen zwischen zwei Dörfern und Lia braucht in ihres zwanzig Minuten zu Fuß zurück. Sie geht einen Umweg am Fluss entlang, zieht ihre Flip Flops aus und läuft durch das kalte Nass.
Nach dem langen und heißen Tag tut es gut. Sie versucht eine Lösung für die kommenden Monate zu finden, doch als sie dann an den zwei alten Felsen vorbei in ihr Dorf tritt, hat sie noch immer keinen guten Ausweg aus der Situation gefunden.
Sie geht in den neuen Supermarkt, der erst vor einigen Monaten hier eröffnet wurde. Er ist klein und hat nicht so eine riesige Auswahl wie die Märkte in den größeren Städten, doch sie müssen nun auch nicht mehr jedes Mal über eine halbe Stunde zu Fuß bis in die nächste Stadt laufen, wenn sie etwas brauchen.
Lia kramt ihre zwei Geldscheine hervor, sie hat bereits geahnt, dass sie auch dieses Jahr nicht zu den Glücklichen gehört, die auch in der Nebensaison weiter auf den Feldern aushelfen dürfen. Es sind meistens die kräftigsten Männer, die dieses Glück haben. Deswegen hat sie alles, was sie in der Saison zur Seite schaffen konnte, durchgezählt und aufgeteilt, sodass sie wenigstens im Groben über die Runden kommen müssten.
Es gab vor zwei Tagen Fleisch, darauf müssen sie heute verzichten, sie hat alles da, um die leckeren Kichererbsenbällchen für ihren Vater zu machen, also kauft sie Bananen und Mehl, um ihm Bananenbrot zu machen.
Kurz vor der Kasse sieht sie auf die Flaschen mit Coca Cola, da sie heute nicht viel braucht, kauft sie eine große für das Essen, es ist sehr selten, dass sie sich das leisten können, doch Lia weiß, dass sie alle heute etwas Aufheiterung gebrauchen können.
»Hallo Lia.« Sie schreckt aus ihren Gedanken auf, als sie die Sachen auf das Band legt und plötzlich Yandiel hinter ihr steht. Seine Familie hat den Supermarkt hier eröffnet, sie sind die reichste Familie aus ihrem Dorf und sicher auch aus dem Nachbardorf.
Yandiel und sie sind zusammen zur Schule gegangen, bis Lia zu arbeiten beginnen musste. Er hat schon immer versucht, ihr näher zu kommen, doch auch wenn sie ihn mag, hat Lia jedes Mal abgeblockt und nach und nach hat sich gezeigt, dass sie eine weise Entscheidung getroffen hat.
Je mehr Geld die Familie bekam, desto mehr hat Yandiel sich verändert. Er geht davon aus, haben zu können, was immer er gerne möchte. Das bezieht sich auf alles, neue Kleidung, Freunde und auch Frauen.
Lia weiß, dass es ihn kränkt, dass ausgerechnet sie ihn nur als alten Schulfreund sieht, doch Lia ist keine Frau, die sich aufgrund von Geld auf einen Mann einlässt, im Gegenteil, sie hasst Frauen, die das tun und allein der Gedanke daran haftet wie eine Säure an ihr, die sich immer wieder brennend über ihre Haut zieht.
»Hallo Yandiel, arbeitest du jetzt auch mit im Laden?« Yandiel lehnt sich gelassen gegen den großen Aufsteller mit Cola, von dem sie sich gerade noch eine Flasche genommen hat. »Nein, doch da ich ja bald das Geschäft übernehme, bin ich jetzt schon öfter hier und sehe nach dem Rechten.«
Lia nickt, Yandiels Cousine sitzt an der Kasse und lächelt sie an, als sie die Preise der Waren in die Kasse eingibt. »Ich habe gehört, dass die Feldarbeit zu Ende ist.« Lia nickt erneut, es ist kein Geheimnis, dass sie mit dieser Arbeit ihre ganze Familie ernährt. »Wenn du Hilfe brauchst ...«
Lia lächelt und blickt zu Yandiel, hinter den hellbraunen frechen Augen und den komischen Designerhemden erkennt sie hin und wieder den kleinen dünnen Kerl aus ihrer Klasse wieder, den sie oft dabei erwischt hat, wie er sie heimlich beobachtet.
»Nein danke, Yandiel, das ist wirklich nett gemeint. Ich muss jetzt los, mein Vater wartet, grüß deine Familie.« Lia bezahlt und verabschiedet sich. Nur weil sie an den kleinen Jungen denkt, gelingt es ihr immer wieder, sein machthaberisches Getue zu ignorieren.
»Warte Lia ...« Yandiel kommt ihr hinterher und schnappt sich auf dem Weg eine Tüte mit Chips. »Hier … für besondere Kunden.« Er lächelt und Lia nimmt die Tüte an. »Danke.«
Sie sieht, wie Yandiels Cousine im Hintergrund den Kopf schüttelt. Lia lächelt und verlässt den Laden wieder.
Lia zieht ihren beigefarbenen Beutel aus der Handtasche und verstaut alles darin, bevor sie sich ihn um die Schulter bindet und durch das halbe Dorf läuft.
Sie wird überall gegrüßt, ihr Vater ist ein sehr beliebter Mann im Dorf, auch wenn er absolut davon überzeugt ist, dass es mittlerweile mehr Mitleid als alles andere ist, was die Dorfbewohner ihm entgegenbringen. »Lia, wie gut, dass ich dich treffe, warte mal einen Augenblick ...« Kurz bevor sie ihr Haus erreicht, hält sie die alte Nachbarin auf und reicht ihr einen Korb mit Äpfeln und vielen Aprikosen.
»Wir mussten die heute alle ernten, wir haben selbst noch drei Körbe und wissen gar nicht wohin damit, lasst es euch schmecken.« Lia ist der Nachbarin, die ihnen schon so oft geholfen hat, unendlich dankbar.
»Dankeschön, das ist aber schön, ich habe gerade Mehl gekauft, ich werde morgen einen Aprikosenkuchen machen und für dich und deinen Mann ein Stück vorbeibringen.«
Die Nachbarin lächelt und tätschelt ihre Hand. »Du bist eine tolle junge Frau, dein Vater kann sehr stolz auf dich sein.« Lia lächelt, sagt aber nichts dazu.
Ihr Vater liebt sie, das steht außer Frage, doch sie haben eine komplizierte Beziehung, die nicht so einfach zu erklären ist und das spürt man bereits, als Lia eine Minute später das schwere Eisentor zu ihrem Grundstück zur Seite schiebt.
Wie immer wartet ihr Vater auf der Terrasse auf sie, genau wie er dort auch immer auf ihre jüngere Schwester Lorena wartet, doch sobald er sie erblickt, erkennt Lia auch sofort neben der Erleichterung, dass sie da ist, den stillen Vorwurf, den er immer in seinem Herzen trägt und doch niemals ausspricht. Wer ihn jedoch gut kennt, kann diesen Vorwurf in seinen Augen erkennen.
Sie geht auf den unebenen Boden an den paar Hühnern vorbei, ihr Hund Bayli kommt zu ihr gerannt und begrüßt sie freudig.
»Sieh doch Vater, was wir bekommen haben, ich mache dir jetzt dein Essen und morgen leckeren Kuchen ...« Sie hebt den Korb mit den Früchten hoch. »Sie können dich nicht weiter beschäftigen, oder?«
Lia lässt den Korb wieder sinken und blickt ihrem alten Vater in die enttäuschten Augen. Es kostet ihn viel Kraft, mit seinen Krücken auf die Veranda zu kommen und doch tut er es jeden Tag. »Nein, aber ich werde mir etwas einfallen lassen, wir werden das schaffen. Ich frage morgen gleich in der Schneiderei nach, ob ich mal wieder etwas aushelfen kann.« Ihr Vater nickt. Früher war er ein großer, stolzer und starker Mann, zumindest in ihren Erinnerungen.
Jetzt zieht sich ihr Herz zusammen, wenn sie auf den alten Mann, der geschwächt und gebeutelt von seinem Schicksal vor ihr sitzt blickt und darin kaum mehr etwas von dem Mann von früher erkennt. Keiner von ihnen sagt mehr ein Wort.
Lia geht ins Haus und beginnt das Essen vorzubereiten, Lorena müsste bald von der Schule kommen und sie weiß, dass sie dann das nächste enttäuschte Gesicht zu sehen bekommt, schon jetzt zerfrisst sie ihr schlechtes Gewissen.
Sobald alles vorbereitet ist, hängt sie die trockene Wäsche im Hof ab und füttert die Tiere. Genau in dem Augenblick hört man draußen vor dem Tor laute Stimmen und Gepfeife. Das Tor geht auf, Lorena kommt in den Hof und lässt lachend das Tor ins Schloss fallen.
Lia seufzt leise auf, als sie den wütenden Blick ihres Vaters auf ihrer jüngeren Schwester sieht. »Bis morgen, mein Sonnenschein.« Von draußen ertönt eine laute Jungenstimme und Lorena zuckt unter dem Blick ihres Vaters zusammen.
Einen Moment ist es totenstill in ihrem Hof. Lias Herz zieht sich traurig zusammen, als sie auf ihre Schwester blickt. Sie haben sehr viel Ähnlichkeit, Lorena hat dieselbe olivfarbene Haut wie sie, auch sie ist schlank und hat an den richtigen Stellen die passenden Kurven.
Während Lia ihre Haare lang und gewellt bis zur Hüfte trägt, hat Lorena ihre Haare frech am Kinn abgeschnitten, doch das betont ihr hübsches Gesicht nur umso mehr.
Sie haben beide die gleiche feine Nase und die vollen Lippen, die Augen sind gleich geschwungen, wobei ihre Augen eher die Farbe einer Mandel haben und die von Lorena etwas heller sind, manchmal erkennt man darin die grüne Farbe der Frau, die ihr Leben zerstört hat.
Lia ist zweiundzwanzig, Lorena neunzehn und keiner von ihnen kann das Leben führen, was sie beide sicherlich hätten, wäre nicht vor sieben Jahren ihre kleine heile Welt zusammengebrochen.
Ihr Vater steht mühsam auf und geht ins Haus, ohne ein Wort an seine jüngste Tochter zu verlieren.
Lorena verdreht die Augen und kommt zu Lia. Sobald sie bei ihr ist, küsst sie ihre Wangen und Lia vergisst die mahnenden Worte, die sie ihrer Schwester gerade noch an den Kopf werfen wollte. Sie hält sich zurück.
»Kannst du die Jungs nicht eine Straße weiter verabschieden? Du weißt, wie Papa darüber denkt.« Lorena hilft Lia mit der Wäsche, dabei setzt sie ihre Korbtasche, die ihr als Schultasche dient, nicht ab.
»Wollte ich ja, doch sie haben mich verfolgt und ich denke auch, Papa muss irgendwann akzeptieren, dass wir zu Männern Kontakt haben, ich meine, wir müssen doch heiraten und glücklich werden, oder?«
Lia lacht und kneift ihrer Schwester leicht in die Hüfte, als sie zusammen ins Haus gehen. »Ich habe eine Überraschung für dich.« Lorena blickt sich enttäuscht zu ihr um.
»Du kannst nicht weiter auf dem Feld arbeiten, oder?« Ihre Schwester kennt sie zu gut. »Nein, aber ich lasse mir etwas einfallen. Versprochen. Es läuft alles weiter wie immer.«
Sie legen die Wäsche auf den Küchentisch und falten sie zusammen. »Ich sollte die Schule auch abbrechen, wenn wir beide arbeiten ...«
Lia hält sofort dagegen, das kommt gar nicht in Frage. »Niemals, du machst die Schule zu Ende, wenigstens eine von uns und du hast auch nur noch ein Jahr, ich schaffe es schon, mach dir keine Gedanken.« Lorena faltet schweigend weiter, erst als die Tür zum Schlafzimmer ihres Vaters laut ins Schloss fällt, blickt sie wieder hoch. Sie werden wohl wie so oft allein zu Abend essen.
Erst als die heiße Sonne schon lange untergegangen ist, schaffen es Lorena und Lia, sich auf das kühle Steindach ihres Hauses zurückzuziehen. Sie essen Chips und trinken Cola, einen Luxus, den sie sehr selten genießen können.
Ihr Vater ist erst jetzt in der Küche und isst. Momentan möchte er seinen Töchtern offenbar nicht ins Gesicht sehen, Lia stört es nicht, sie kennt es nicht anders.
»Ich habe letzte Nacht von ihr geträumt, sie stand plötzlich in der Tür und hat uns abgeholt, in ihr Leben, und all die letzten Jahre waren plötzlich unbedeutend.«
Lia verschluckt sich fast bei den leisen Worten ihrer Schwester. Sofort brennt ihr Rücken und Wut steigt in ihr auf, doch sie hält sich zurück und schweigt, auch wenn sie weiß, dass Lorena nicht nachlässt.
»Träumst du nie von ihr? Denkst du nie an sie?« Lia seufzt auf, sie sieht auf ihr Dorf hinab, das man von hier oben gut überblicken kann. »Nein und wenn, dann nichts Positives, Lorena, und du solltest dich auch nicht an falsche Hoffnungen klammern.«
Sie muss ihre Schwester nicht anblicken, um zu wissen, dass sie jetzt einen leicht schmollenden Gesichtsausdruck bekommt, doch sie sagt nichts mehr dazu, da sie genau weiß, dass Lia sonst vor diesem Gespräch flüchten würde.
Sie versteht ihre Schwester, doch Lorena kann nicht richtig begreifen, was Lia fühlt und denkt, denn sie weiß nicht, was alles in dieser bedeutenden Nacht passiert ist und was die Person, von der Lorena immer noch träumt, wirklich alles getan hat.
Lia fühlt sich ausgeruht, als sie am nächsten Morgen die Augen öffnet, erst als sie auf der Uhr in ihrem alten Handy bemerkt, dass es bereits Mittag ist, springt sie aus dem Bett, stößt dabei ihren Fuß an der Kante von Lorenas Bett und geht fluchend in die Küche, wo ihr Vater am Tisch sitzt und sie nur mit einem abfälligen Blick begrüßt.
»Ich habe total verschlafen, soll ich dir noch etwas zum Frühstück machen?«
Ihr Vater sieht wieder auf die Zeitung vor sich. »Nein, Lorena hat es mir heute Morgen gemacht. Soll das jetzt immer so weitergehen?« Lia geht ins Bad.
»Ich bin die letzten Monate jeden Tag um fünf aufgestanden, um auf dem Feld zu arbeiten, wenn ich einmal etwas Schlaf nachhole, wird das niemanden umbringen.«
Lia bindet sich einen Zopf, putzt sich die Zähne, wäscht sich und leert den vollen Wäschekorb.
Sie nähen sich ihre Kleidung fast immer selbst. Lorena hat unglaubliches Talent an der Nähmaschine und da ihre Nachbarin eine Tierallergie hat und sie weder eine Kuh oder Hühner halten kann, bekommt sie immer Milch und Eier von ihnen.
Ihr Mann ist ständig auf Geschäftsreise und bringt ihnen von überall die schönsten Stoffe mit, sie haben ein kleines Zimmer voll mit Stoffen, damit näht Lorena ihnen wunderschöne Sachen.
Viele andere Mädchen beneiden sie um ihre Kleidung und manchmal kaufen sie ihnen einige Sachen ab, sodass auch Lorena hin und wieder etwas Geld verdienen kann.
Lia zieht sich einen schwarzen knielangen Rock an, der mit einigen Pailletten abgesetzt ist, dazu trägt sie ein weißes Top, das mit dem Stoff des Rockes eine kleine Brusttasche hat und einen schönen Ausschnitt, der gleich abgesetzt ist.
Ihr Vater sitzt weiter in der Küche und ignoriert sie. Lia nimmt sich etwas Bananenbrot, trinkt ein Glas Milch und schnappt sich den Wäschekorb.
»Ich gehe Wäsche waschen.« Lia lässt die schlechte Laune ihres Vaters selten an sich heran, sie weiß, dass er anders sein kann, doch es fällt ihr immer schwerer, sich noch an den Mann von früher zu erinnern.
Sie muss einmal bis zum Ende des Dorfes laufen. Die ersten Schulbusse, die die Kinder der umliegenden Dörfer abholen und in die nächste Stadt zur Schule fahren, treffen bereits wieder ein, als Lia in den einzigen Waschsalon im Dorf kommt.
Sie hat Glück, sie bekommt gleich zwei Maschinen und kann so die ganze Wäsche zusammen waschen.
Ihre alte Klassenkameradin ist auch dort und erzählt Lia ausführlich von ihrer bevorstehenden Hochzeit mit dem Bruder von Yandiel. Das ganze Dorf redet nur noch von dieser Hochzeit und ihre alte Schulfreundin versteht überhaupt nicht, wieso Lia Yandiel keine Chance gibt.
Sie alle wissen, dass Lias Familie diese Hochzeit sehr gut tun würde, doch Lia verschwendet nicht einmal einen Gedanken an die Option zu heiraten, nur um finanziell besser dazustehen, niemals, nicht nachdem, was ihnen passiert ist.
Deswegen ist sie auch froh, als sie allein im Waschsalon bleibt und ihre nasse Wäsche wieder in ihren Korb zurücklegt. Der Rückweg geht natürlich schwerer und als sie kurz vor ihrem Tor ist, kommen drei Jungen die Straße hochgerannt und rufen sie.
Lia kennt die Jungs, sie kommen aus dem Nachbardorf, treiben sich aber oft genug bei ihnen herum.
»Lia, Lia, du sollst zu Crista, sie hat Arbeit für dich gefunden.«
Lia bleibt stehen, in diesem Moment kommt Lorena aus ihrem Hof, sie muss schon Schulschluss gehabt haben.
»Wirklich?« Die Jungen nicken ganz außer Atem und zeigen auf einen Geldschein. »Wir sollten dich holen, sie warten auf dich.« Lia gibt Lorena den Wäschekorb, ihre Schwester strahlt über das ganze Gesicht.
Wenn sie wirklich Arbeit findet, haben sie einige Sorgen weniger.
»Ich gehe ins Nachbardorf, bis später.«
Normalerweise braucht Lia von ihrem Haus bis zum Nachbardorf über zwanzig Minuten zu Fuß und dort braucht sie auch noch mal etwas, um zu Cristas Haus zu kommen, doch die Aussicht auf Arbeit, die ihre Familie in den nächsten Monaten über die Runden bringen könnte, lässt sie so schnell laufen, dass sie nach nur fünfzehn Minuten ganz außer Puste an Cristas Haus ankommt, wo auf der Terrasse schon zwei Frauen mit ihr zusammen auf sie zu warten scheinen.
Eine der Frauen hat einen Gips um den Fuß und diesen auf einen Stuhl gestützt, sie alle mustern sie und Lia verlangsamt ihr Tempo. »Hallo, das ging ja schnell. Ich freue mich, dass du Arbeit für mich hast.«
Crista lächelt und stellt die beiden Frauen neben sich als ihre Nachbarinnen Maria und Dora vor. »Sie ist viel zu jung, Crista, ich bezweifle, dass das wirklich gut gehen kann.« Die Frau mit dem Gips um das Bein, Dora, sieht fast schon enttäuscht auf sie, doch bevor Lia reagieren kann, antwortet Crista schon.
»Sie ist vielleicht jung, aber sie ist wirklich eine der Fleißigsten auf dem Feld und sie hat keine Mutter mehr, das bedeutet, dass sie einen Haushalt führen kann, eine andere Lösung habe ich auch nicht für dich.« Die Frau mit dem Gips sieht sie von oben bis unten an.
»Sie ist so hübsch, nicht dass es da Probleme gibt. Ich will den Job nicht verlieren.« Lia spürt, dass sie etwas tun muss, sie weiß immer noch nicht, worum es genau geht, doch sie braucht einen Job, egal welchen.
»Ich kann arbeiten, ich will arbeiten und mein Aussehen hat damit gar nichts zu tun, ich weiß wie es ist, hart zu arbeiten und ich verspreche, mein Bestes zu geben.«
Die Frau lächelt mild. »Du kennst die Nechas?« Lia zuckt die Schultern. »Natürlich.« Es gibt in Puerto Rico niemanden, der die führende Familia nicht kennt. Für die Außenwelt steht ein Präsident an der Spitze Puerto Ricos, hier aber weiß jeder, dass er, wenn er Entscheidungen zu treffen hat oder bei allen anderen Angelegenheiten, zu den Nechas geht.
Es gibt einige Familias in Puerto Rico, sie gehören nach Puerto Rico wie alles andere, so war es schon immer und keiner stellt es in Frage. Sie führen Geschäfte wie Waffenhandel, bieten Schutz gegen Geld an und viele andere Dinge laufen über sie.
Lia hat niemals jemanden von ihnen getroffen, sie weiß aber, dass die Mitglieder der größten Familia alle den Namen Nechas an ihrem Herzen, in Form eines Tattoos, tragen und für die Familia bereit sind zu sterben.
Sie hat auch gehört, dass sie alle in einer kleinen Nebenstadt von San Juan leben und dass man ihnen besser aus dem Weg geht, wenn man nicht gerade Hilfe von ihnen braucht oder ihnen ein gutes Geschäft vorzuschlagen hat, deswegen sieht sie die Frau jetzt neugierig an. Was hat ihre Arbeit mit den Nechas zu tun?
»Wir beide ... arbeiten für die Nechas ... in deren Häusern als Dienstmädchen. Wir kümmern uns um deren Wohlbefinden, kochen und erledigen alles, was mit dem Haushalt zu tun hat. Gestern habe ich mir zuhause auf dem frisch gewischten Boden mein Bein gebrochen und brauche für drei Monate eine Vertretung, sonst verliere ich den Job.«
Lia atmet tief ein, sie hat wirklich mit allem gerechnet, sogar darüber nachgedacht, wie weit sie für eine Arbeit gehen würde, doch die Nechas? Das trifft sie wirklich vollkommen unerwartet.
Alle sind ruhig und warten auf eine Reaktion von Lia, doch sie ist zu überrumpelt, sie wägt alles in ihrem Kopf ab, bis die Frau mit dem Gips leise aufseufzt.
»Mir ist klar, dass viele Vorurteile haben wegen der Nechas, aber seien wir ehrlich: Mir gegenüber war noch niemals jemand von ihnen respektlos. Sie bezahlen mehr als andere Haushalte und du hast meistens deine Ruhe. Ich arbeite im Haus von Cruz, einem der Hauptanführer, er verreist oft und ich sehe ihn eher selten.« Lia streicht sich ihre langen Haare hinter die Ohren.
»Aber für die Nechas? Ich meine, habt ihr keine Angst, dass da etwas passieren kann? Was genau müsste ich dort tun?« Die Frauen setzen sich etwas auf und deuten Lia, sich zu ihnen zu setzen, was sie auch tut. Sie kann sich nicht vorstellen, für solche Menschen zu arbeiten, sie hat nicht einmal damit gerechnet, jemals jemanden von ihnen zu treffen.
»Um Punkt acht kommt der Bus an die Haltestelle, der alle vom Dorf nach San Juan bringt. Alle, die dort arbeiten, steigen ein, es wird also voll und du musst jeden Morgen pünktlich sein, aber wir fangen so erst um neun unseren Dienst an. Maria hier arbeitet im Nebenhaus von mir, für Cruz' Bruder Jomar, sie kann dir am ersten Tag helfen.
Cruz ist momentan nicht im Land und du bist alleine im Haus, sodass du dich ganz in Ruhe an alles gewöhnen kannst. Es ist meistens gar nicht so viel zu tun, ich bereite im Garten Frühstück vor und lasse es auf dem Tisch, manchmal isst er etwas davon, manchmal nicht, je nachdem wie seine Pläne sind.
Oft sind Frauen bei ihm, Freunde kommen vorbei oder seine Brüder oder Cousins, aber für die bist du so gut wie unsichtbar und das sollst du auch. Du musst dich um alles kümmern, aber selbst nicht auffallen und unsichtbar bleiben, das ist eigentlich das Geheimnis.
Die Einkäufe erledigen andere, ich wische nach der Frühstückszubereitung das Haus, mache sauber und kümmere mich um die Wäsche. Im Garten musst du nichts machen, sie haben mehrere Gärtner. Ich habe hier eine Liste, was es jeden Tag zum Mittag geben soll, ich muss diese Liste wöchentlich erstellen, damit dafür eingekauft werden kann. Kannst du diese Gerichte kochen?«
Lia sieht auf eine Liste und nickt, sie kann all diese Gerichte kochen, es sind typisch puertoricanische Spezialitäten. »Gut, danach kannst du die Liste erstellen. Du wirst merken, was alles zu tun ist und Maria ist ja auch noch da. Jeden Freitag, wenn ihr die bewachte Siedlung wieder verlasst, bekommt ihr einen Umschlag mit eurem Lohn. Wieviel hast du auf dem Feld verdient?«
Lia sieht zu Crista. »Zwanzig Dollar am Tag.« Die Frau lächelt mild. »Du arbeitest dort nicht so hart und nur bis sechzehn oder achtzehn Uhr, da gehen die zwei Busse zurück zu den Dörfern. Je nachdem, wieviel zu tun ist, arbeite ich und bekomme jeden Tag vierzig Dollar.«
Lia kann ihre Überraschung nicht verbergen, vierzig Dollar, das wäre ein Traum. »Du kannst das Geld komplett behalten, ich habe schon gesagt, dass ich Ersatz habe und mir ist nur wichtig, dass du mir keine Schande machst und ich nach den drei Monaten zurück zu der Arbeit kann, traust du dir das zu?«
Lia schluckt schwer. Für die Nechas arbeiten? Doch das Geld kann sie mehr als gut gebrauchen und es ist so viel, dass sie die restliche Zeit ganz locker überstehen können. »Ich denke schon, ich werde mein Bestes geben.« Die Frau sieht sie misstrauisch an.
»Du brauchst keine besondere Kleidung, zieh dich nur nicht zu kurz an. Du solltest niemandem sagen, wo du genau arbeitest, wenn du sagst, in einem wohlhabenden Haushalt in San Juan, reicht das völlig, die Leute von hier fangen sonst nur an zu reden, bis heute weiß kaum einer, in wessen Haushalt ich mithelfe.«
Lia nickt, so muss sie das eh machen, ihr Vater würde garantiert ausrasten, wenn er den Namen Nechas hört.
Die Frau ermahnt Lia noch einige Male, unsichtbar zu bleiben und ihr Bestes zu geben. Sie verabredet sich am nächsten Morgen mit Maria an der Haltestelle und obwohl sie erleichtert sein sollte, geht sie mit einem merkwürdigen Gefühl zurück in ihr Dorf.
Ihre Schwester wartet schon gespannt und nicht einmal ihr erzählt sie, wo genau sie arbeiten wird, nur dass es ein Haushalt in San Juan ist. Sie erwähnt auch nicht, wie viel sie dort verdienen kann, da sie noch nicht weiß, ob sie das wirklich mitmacht, sie beschließt, sich morgen alles anzusehen und wenn es ihr zu sehr Angst macht, muss sie sich etwas anderes einfallen lassen.
Ihr Vater reagiert gar nicht auf die Neuigkeiten, er lässt sich am Abend von Lia Geld geben und wird von einem alten Freund mitgenommen. Die Schwestern wissen was passiert, wenn er mit seinem alten Freund in die Kneipe fährt, deswegen gehen sie früh ins Bett und schlafen auf dem Dach.
Wie immer kommt er mitten in der Nacht, sie hören seine wütende Worte und hören das aufgebrachte Poltern von Gegenständen, doch sie sind so sehr daran gewöhnt, dass es sie nicht mehr erschreckt.
Lia kommt am nächsten Tag auch nicht deswegen fast zu spät zur Haltestelle, sondern, weil sie nicht weiß, was sie anziehen soll. Sie war das letzte Mal mit zwölf in San Juan, als sie ins Krankenhaus musste wegen ihres Blinddarms.
Die Erinnerung daran ist noch ganz tief in ihr, sie mussten mit dem Bus fahren. Egal was für Schmerzen sie damals hatte, sie konnte nicht aufhören aus dem Fenster zu sehen, um sich das bunte Treiben außerhalb ihres Dorfes anzusehen.
Jetzt eilt sie zum Bus, als sie ankommt, kann sie gerade noch hineinspringen und setzt sich, völlig außer Puste, neben Maria. »Ich dachte schon, du springst ab, bevor es überhaupt angefangen hat.« Lia zeigt an sich herunter. Sie trägt eine dunkelblaue Treggings und ein weiß-blau gestreiftes Top.
»Ich wusste nicht, was ich anziehen soll.« Maria winkt ab, sie trägt eine Shorts und ein weites T-Shirt, worunter sich der leichte Bauch abzeichnet, der sich mit dem Alter sicherlich gebildet hat. »Das interessiert niemanden, manche tragen Schürzen, mich stört das aber beim Putzen, ansonsten achtet niemand dort auf dich oder deine Kleidung.«
Lia sieht neugierig aus dem Fenster, als sie die ihr vertraute Gegend langsam verlassen. Je näher sie San Juan entgegenfahren, umso belebter wird es. Die Menschen und Autos werden moderner. Lia sieht immer wieder Frauen an Haltestellen und auf den Straßen und erneut bemerkt sie, dass man ihnen allen hier im Bus ansieht, dass sie nicht aus der Großstadt kommen.
Egal wie modern ihre Kleidung auch nachgenäht worden ist, man sieht ihnen an, dass sie vom Land kommen.
Maria erklärt ihr einiges dazu, was sie heute tun soll. Lia versucht das Geschehen draußen zu ignorieren und sich auf ihre Worte zu konzentrieren. Es ist wichtig, dass sie keine Fehler macht. Sie fahren fast vierzig Minuten, als Maria und drei weitere Frauen und zwei Männer aufstehen. »Wir müssen hier raus.«
Alle anderen aus den Dörfern bleiben sitzen und sehen zu ihnen. Lia steht auch auf und spürt die Blicke aller selbst beim Aussteigen noch auf sich. Sie hatte ganz vergessen, dass die Nechas nicht in San Juan leben, sondern etwas weiter davor.
»Wieso gucken die alle so … böse?« Lia versucht, mit den Frauen und Männern Schritt zu halten. »Weil wir alle für die Nechas arbeiten, entweder sind sie neidisch oder sie verachten uns dafür, doch du solltest dich daran gewöhnen, nicht jedem mitzuteilen, für wen genau du momentan arbeitest.«
Lia bleibt kurz stehen, natürlich, sie war ja genauso schockiert, als sie erfahren hat, dass sie für die Nechas arbeiten soll. Sie laufen von der Bushaltestelle fünf Minuten einen sandigen, steinigen Weg entlang, der irgendwann immer fester wird und dann daraus eine Straße entsteht.
Hier und da erscheinen Häuser, aber keine Wohnhäuser, es sieht eher so aus, als wären es Wachposten. Vor dem ersten bleiben sie stehen und Lias Herz beginnt wie wahnsinnig zu schlagen, als zwei Männer aus dem Haus kommen.
Lia hat noch niemals gefährliche Menschen gesehen, gefährlich im Sinne von Menschen, bei denen man wirklich weiß, dass sie es sind, wie wenn sie im Gefängnis sitzen, Mörder, Verbrecher, Mitglieder von Familias. Lia hat sich noch nicht einmal Gedanken darüber gemacht, wie sie sie sich vorstellen würde, als sie jetzt aber auf die beiden blickt, weiß sie, dass es genauso ist.
Beide tragen Jeans und Shirts, die gleichen schwarzen Shirts mit LN in Gold auf die Brust gestickt. Einer von ihnen trägt eine schwarze Kappe, die er falsch herum auf hat und einen Zahnstocher zwischen den Lippen, der andere trägt eine Glatze und darauf sind auch die Initialen LN tätowiert, beide sind breit gebaut und weitere Tattoos zieren ihre Körper, doch Lia blickt wie angewurzelt auf die Waffen, die beide bei sich tragen.
»Die Einkäufe sind da, Jomar, Cruz und Caleb kommen schon früher zurück, sonst gibt es nichts Besonderes. Habt ihr eine Vertretung für Dora?« Maria lächelt, Lia ist erstaunt, die Männer reden sehr nett und höflich mit den Hausangestellten. »Ja hier, Lia wird sie vertreten, sie ist sehr fleißig und wird sich viel Mühe geben.«
Lia spürt, wie sie rot wird, als der Mann sie von oben bis unten mustert. »Wie alt bist du?« Lia schluckt schwer. »Zweiundzwanzig.« Der Mann hebt die Augenbrauen, doch Maria mischt sich wieder ein. »Sie ist eine der besten Arbeiterinnen auf unseren Feldern.« Der Mann sieht ihr in die Augen. »Von mir aus, wir brauchen deinen Ausweis.«
Lia sieht ihn verwirrt an. »Wozu?« Der Mann bekommt ein freches Grinsen im Gesicht. »Damit wir deine Adresse und alles andere kennen, falls du auf die Idee kommst, irgendetwas anzustellen.«
Lia sieht nicht, wie sie in dem Augenblick zu dem Mann schaut, doch sie spürt selbst, wie sie blass wird und ihr nichts mehr einfällt, als sie ihm mit zittrigen Händen ihre Geburtsbescheinigung gibt, die die beiden Männer lachend fotokopieren und ihr dann wieder aushändigen.
Als Lia danach den anderen folgt, sind ihre Knie weich, am liebsten würde sie umdrehen und wieder nach Hause fahren, doch sobald sich die ersten richtigen Straßen und Häuser vor ihnen auftun, weiß sie, dass es dafür jetzt zu spät ist.
Natürlich hat sie sich niemals Gedanken darüber gemacht, wie Leute wie die Nechas wohnen, doch als sich jetzt gepflegte Straßen auftun, auf denen kaum jemand zu sehen ist, sieht sich Lia verblüfft um.
Alles hier wirkt groß, gepflegt, hell … irgendwie nett und das ist das Letzte, was Lia erwartet hätte. Es gehen mehrere kleine Straßen von der großen Straße ab, auf der sie laufen. Die Häuser an den Straßen sind alle sehr luxuriös.
Nach und nach verteilen sich die anderen in den jeweiligen Straßen, um zu den anderen Häusern zu gelangen, nur Maria und sie laufen auf einen Platz zu, wo ein großer Brunnen steht, von dem verschnörkelte Engel Wasser aus Vasen fließen lassen.
»Gehört all das wirklich zu den Nechas? Ich hatte mir das alles ganz anders vorgestellt.« Maria neben ihr lächelt. »Wirklich? Wie? Dunkel, gefährlich? Als ich mich für den Job beworben habe, hatte ich die wildesten Vorstellungen und wollte viermal umdrehen, doch ich bereue es nicht, hier zu arbeiten.
Man kann über die Nechas denken, was man möchte, zu mir war immer jeder hier höflich, ich bekomme mein Geld und kann in Ruhe meine Arbeit machen, ich bin zufrieden hier und du wirst schnell merken, dass es nicht so schlimm ist, wie du jetzt vielleicht denkst.«
Sie bleiben vor mehreren großen Gebäuden stehen, die offenbar auch das Ende des Gebietes abgrenzen. Es sind sechs Villen, die zwar ähnlich wie alle anderen Häuser aussehen, jedoch erkennt man deutlich, dass sie etwas größer und pompöser sind.
Sie stehen im Halbkreis zu dem Brunnen, man kann von vorn nur die Terrassen und die Hausfronten sehen, neben jedem Haus steht eine breite Garage, vor drei Garagen stehen noch einige Autos.
Vielleicht liegt es daran, dass noch früher Morgen ist, doch man sieht niemanden, es wirkt fast schon gespenstisch ruhig.
»Komm erst einmal mit mir, die Häuser der Brüder sind ähnlich gestaltet und ich kann dir zeigen, was du alles zu tun hast. Dora hat das Haus von Cruz ja schon gestern geputzt, deswegen kannst du mir erstmal über die Schulter schauen.«
Sie deutet zu einem der Häuser und Lia folgt ihr. Sie schieben eine schwarze Eisentür auf und gehen direkt zur Eingangstür, die nicht verschlossen ist.
»Wenn die Männer da sind, benutzen wir den Personaleingang bei den Garagen, da kommt man direkt in die Waschküche, wenn sie da sind, darf man auch nicht in den ersten Stock, wo sich die Schlafzimmer und die anderen Zimmer befinden.
Erst wenn sie wach sind oder du weißt, dass sie nicht da sind, darfst du hochgehen. Beim Betreten des Gebietes bekommst du von der Wache aber meistens die wichtigsten Infos.«
Lia stockt, als sie in die pompöse Eingangshalle treten. Es ist alles in hellem Marmor gehalten, Lia hat noch nie echten Marmor gesehen, nur in Filmen und da ihr alter Fernseher schon lange nur noch in schwarzweiß sendet, aber auch nicht so richtig, doch als sie jetzt den Boden betrachtet, weiß sie, dass das alles hier echter und sehr teurer Marmor ist.
Maria neben ihr kann sich ein Lächeln bei Lias Blick nicht verkneifen. »So ähnlich habe ich auch geguckt an meinem ersten Tag, aber warte, du hast ja noch gar nicht alles gesehen.«
Maria führt sie einmal herum, in eine traumhaft große, schwarze Lackküche, wo man jeden einzelnen Fingerabdruck sehen kann. Sie zeigt ihr, wo man die Putzmittel findet und welches Tuch oder Mittel man für welches Zimmer benutzen sollte und wie man den Boden am besten wischt.
Es gibt eine riesige Fläche, die als Wohnraum dient, hier stehen einige Couchen, ein großer Fernseher ist da, ein Klavier steht neben einem Billardtisch und man sieht in einen großen Garten mit Pool.
Lia blickt auf eine Marmorsäule, auf der einige Bilder platziert sind. Auf einem sind fünf Männer und eine hübsche junge Frau abgebildet. Maria tritt zu ihr.
»Das sind die Anführer der Nechas, die direkten Nachkommen der Familia. Die beiden Brüder Cruz und Jomar und ihre Schwester Savana. Daneben ihre Cousins Caleb, Dariel und Ian.«
Lia sieht auf die Brüder, Jomar, in dessen Haus sie gerade stehen, wirkt etwas jünger als sein Bruder, er hat kurze gelockte Haare und auffallend schöne Gesichtszüge, genau wie sein älterer Bruder, der zwar keine Locken hat, aber man trotzdem die Ähnlichkeit der beiden sieht, auch die Schwester in ihrer Mitte hat dieses hübsche Gesicht und sie alle auf dem Bild haben eine gewisse mächtige Aura.
»Sie sehen so … stolz und stark aus, alle.« Maria nimmt ihr das Bild aus der Hand und lächelt. »Ich denke, das sind sie auch alle, sie sind nett zu uns, doch trotzdem spürt man genau, dass sie nicht wie wir sind und ansonsten auch nicht viel mit Leuten wie uns zu tun haben.«
Maria stellt das Bild ab, bevor sich Lia noch einmal genau alle ansehen kann und schiebt Lia freundlich aber bestimmt weiter. »Wir sind hier zum Arbeiten, nicht mehr und nicht weniger.«
Lia hilft Maria während der nächsten Stunden im Haus, sie wischt den Boden, macht die benutzten Betten, sie bekommt noch einiges gezeigt und erklärt, dann gehen sie hinüber in das Haus von diesem Cruz, bei dem sie dann arbeiten soll.
Auf den ersten Blick wirkt das Haus wirklich so ähnlich wie das von Jomar, doch wenn man genauer hinsieht, bemerkt man doch einige Unterschiede.
Im Wohnbereich steht kein Klavier, es ist heller gehalten als das Haus seines jüngeren Bruders. Er hat eine helle Küche, worüber Lia froh ist, da sie hier nicht alles mehrmals täglich putzen muss, doch dafür ist die Küche größer und im Wohnbereich steht kein Billardtisch, dafür hat er einen Trainingsraum und mehr Schlafzimmer im oberen Bereich, außerdem einen riesigen Grillplatz im Garten neben dem Pool.
Im ganzen Haus, aber besonders im oberen Bereich, liegt ein würziger männlicher Duft nach teurem Aftershave und auch noch etwas anderem, anziehendem, was Lia kaum definieren kann.
Er hat ein kleines privates Kino, auf seinem Dach befindet sich ein Whirlpool sowie einige kuschelige Sofas, die aber mit Planen bedeckt sind, auch stehen da einige Kerzen und Fackeln. Maria erklärt lächelnd, dass die Brüder einen beachtlichen Frauenverschleiß haben.
Im Treppenbereich hängen mehrere Bilder, von den drei Geschwistern, in schwarzweiß, aber auch noch Bilder mit anderen Männern und Frauen und ein Kinderbild hängen dort. Ein Bild zeigt diesen Cruz mit einer älteren Frau im Arm, die seine Mutter sein könnte. Er lacht aus vollem Herzen und Lia versteht, warum er an so viele Frauen kommt.
Er ist ein hübscher Mann. Er hat ein unwiderstehliches Lächeln, ein hübsches Gesicht, schöne dunkle Augen, manchmal ist er glatt rasiert, manchmal hat er einen Dreitagebart, manchmal sind seine Haare kürzer, manchmal etwas länger, doch alles steht ihm.
Er muss ungefähr in Lias Alter sein, auf einem Bild erkennt man, dass er am Arm eine Tätowierung hat. La Familia steht da in geschwungener Schrift und Lia ist sich sicher, dass es nicht sein einziges Tattoo ist.
Wieder drängt sie Maria weiter, sie zeigt ihr, wo sie die Wäsche waschen und aufhängen kann, wo sie in der Küche was findet und was sie sonst noch an den nächsten Tagen zu erledigen hat.
Lia macht sich sogar Notizen, sie dürfen im Haus trinken und essen, was sie möchten, sie kochen, wenn die Männer da sind täglich und können natürlich selbst auch davon essen, heute machen sie sich einige Brote und essen etwas Obst.
Als sie zum früheren Bus wollen und die Häuser verlassen, ist in dem Gebiet schon viel mehr los.
Teure Autos fahren an ihnen vorbei, ihnen begegnen mehrere Männer, wie auch die Wachen sind sie alle breit gebaut, einer ist allerdings einfach nur viel zu füllig.
Sie alle tragen offen Waffen bei sich, meist in die Hosen gesteckt. Und auch wenn sie Maria und Lia gar nicht beachten, schlägt Lias Herz so laut, dass sie es in ihren eigenen Ohren hören kann.
Auf der Rückfahrt ist Maria immer noch dabei, ihr einiges zu erklären. Lia raucht noch immer der Kopf, als sie dann endlich einige Zeit später durch ihr Tor auf ihren Hof kommt und Lorena schon neugierig auf sie wartet. »Und wie ist es? Ist die Familie nett, in deren Haushalt du hilfst?«
Einen Moment kommen ihr die Bilder hoch von Cruz und seinem Bruder, den Wachen und den Männern, die sie heute gesehen hat, den Waffen und dem unglaublichen Reichtum, sie kann es niemandem erzählen, deswegen umgeht sie es einfach und erzählt nur, wie schön das Haus ist, dass Maria nebenan arbeitet und sie dort essen und trinken kann und was sie sonst noch zu tun hat.
Ihr Vater reagiert gar nicht, Lorena freut sich, Lia versucht diese Freude auch zu spielen, doch am Abend bekommt sie Bauchschmerzen, wenn sie daran denkt, dass sie bereits in ein paar Stunden wieder dorthin muss, in das Gebiet der Nechas, zu all diesen gefährlichen Leuten.
Doch wie schnell auch die Minuten und die Gedanken an ihr vorbeirasen, sie braucht das Geld und weiß, dass sie sich zusammenreißen muss.
Am nächsten Morgen ist es Lia, die während der gesamten Busfahrt auf Maria einredet. Sie soll heute schon etwas kochen, da der Hausbesitzer Cruz am Abend oder in der Nacht von seiner Reise wiederkehrt und deswegen etwas vorbereitet werden soll.
Lia kann das gewünschte Gericht kochen, doch sie hat sich ein paar Abwandlungen überlegt und erzählt Maria auf dem Weg zum Haus davon, nachdem sie auf der Fahrt alles wiederholt hat, was sie zu tun hat.
Maria lächelt nur und erklärt Lia, dass sie einfach das ganz normale Gericht kochen soll und versichert ihr, dass sie sich völlig umsonst so viele Gedanken macht.
Heute sind andere Männer am Eingang des Gebietes, sie beachten sie nicht weiter und Lia atmet erleichtert durch, während sie weitergehen. Als sie zu den großen Villen kommen, fährt gerade ein schwarzes edles Auto aus einer der Einfahrten.
Die hinteren Scheiben sind getönt, vorne sitzt ein Mann, der ein weißes Shirt und eine Sonnenbrille trägt. Als der Wagen neben ihnen stehen bleibt, stocken sie alle. Eine der getönten Scheiben wird heruntergefahren und eine bildhübsche junge Frau sieht ihnen lächelnd entgegen.
Es dauert einen Moment, bis Lia erkennt, dass es sich bei der Frau um dieselbe handelt, die auf vielen der Bilder in den Häusern zu sehen ist. Savana, die einzige Frau der Anführer der Nechas, wie Maria ihr erklärt hat.
Sie lächelt und wirkt so anders, als Lia es erwartet hätte. Es stellt sich nicht das gleiche unwohle Gefühl ein, wie wenn ihr einer der Männer, die hier leben, begegnet.
Savana blickt zu einer der anderen Frauen. »Morgen, ich wollte nur schnell Bescheid geben, dass ich über die Couch einige Sachen gelegt habe, die unbedingt nochmal aufgebügelt werden müssen. Ich habe heute Nachmittag ein wichtiges Meeting.« Die Frau, die angesprochen wurde, ist offenbar ihre Haushälterin und nickt schnell.
»Natürlich, Señora. Ich werde es gleich als erstes erledigen.« Lia spürt selbst, dass sie die hübsche Savana anstarrt. Sie hat sich nie viele Gedanken über ihr Aussehen gemacht, doch sie weiß, dass andere das tun.
Lia war von Anfang an immer eines der hübschesten und beliebtesten Mädchen in ihrem Dorf und auch in der Umgebung. Es kommt öfter vor, dass sie hören, dass selbst in den kleineren Städten bei ihnen von den hübschen Schwestern Lia und Lorena gesprochen wird.
Aber trotzdem hat sie schon gestern gemerkt, dass sie anders ist als die Frauen hier, es liegen Welten zwischen ihnen, da kann sie in ihren Dörfern für noch so schön gehalten werden. Gegen diese Frauen hier aus den großen Städten wirkt sie wie eine einfache Dorffrau.
Savana ist so … elegant, ein anderes Wort fällt Lia dafür nicht ein, elegant und schön. Man sieht nur ihr hübsches Gesicht und ihre langen, glatten Haare, die in einem schönen Braunton schimmern und doch wirkt sie so viel eleganter als sie alle, die auf dem Bordstein stehen und sie ansehen.
Sie hat feine Gesichtszüge, ihre dunklen Augen sind mit Eyeliner umrandet und ihre Lippen glänzen rot. Lia schminkt sich selten, sehr selten. »Perfekt, danke.« Savana will sich gerade eine Sonnenbrille aufsetzen, da huscht ihr Blick zu Lia und sie hält ein.
Lia sieht auf die vielen goldenen Armreifen, die an ihren Armen klappern. »Ist sie neu?« Offenbar redet Savana nur mit ihrer Haushälterin. Diese nickt und deutet auf Lia. »Unsere Kollegin hatte einen kleinen Unfall und Lia hier vertritt sie für einige Wochen.«
Ein wissendes Lächeln schleicht sich auf Savanas perfekte Lippen. »Bei wem arbeitet sie?« Lia fühlt sich unwohl, ein gewisser Unterton verrät ihr, dass sie Savana belustigt und sie versteht nicht, was sie falsch gemacht hat.
»Cruz, sie arbeitet bei ihrem ältesten Brüder.« Savana lacht belustigt auf und lächelt kurz zu Lia. »Da wird er sich freuen, einen schönen Arbeitstag, Ladies.« Savana setzt sich die Sonnenbrille auf und lässt die Scheibe wieder hinauffahren.
Lia sieht sich verwundert um, während alle anderen sich aufteilen, um in ihre Häuser zu kommen. Auch Männer sind bei ihnen gewesen und niemand scheint sich über Savanas Bemerkungen zu wundern. Lia schließt schnell zu Maria auf, die ihr deutet, heute bei Cruz anzufangen.
»Du versucht dich heute schon mal alleine, wenn irgendetwas ist, bin ich ja nebenan.« Lia nickt, hält Maria aber am Arm zurück. »Wieso hat die Schwester so merkwürdig reagiert? Habe ich etwas falsch gemacht?« Maria bemerkt offenbar, dass Lia besorgt ist, sie gibt sich doch wirklich Mühe.
»Lia, hast du mal in den Spiegel gesehen? Du siehst aus wie ein Topmodel und nicht wie eine Haushälterin, Cruz … eigentlich alle Männer hier sind für ihren Frauenverschleiß bekannt und daran musste sie wohl denken. Das war ein Kompliment.«
Lia schüttelt den Kopf und zeigt in die Richtung, in der das Auto verschwunden ist. »Du denkst doch nicht, dass ich oder irgendeiner von uns aus den Dörfern mit diesen Frauen zu vergleichen sind?« Nun lacht Maria lauthals und steckt Lia damit an, die sich ein Schmunzeln nicht verkneifen kann.
»Weißt du was, Lia, du hast recht, die haben schönere Sachen, bessere Kleider und größere Häuser, doch wir, meine Liebe, können arbeiten. Wir wissen, wie hart das Leben sein kann und können noch immer lachen, wir können kochen und unseren Haushalt alleine erledigen.« Lia lacht und geht in Richtung des Hauses.
»Na dann werde ich mal dem nachkommen, worin wir Frauen vom Dorf gut sind: putzen und kochen.« Maria lacht noch immer und klatscht in die Hände, sie weiß, dass Lia sie aufzieht.
»Zeig es ihnen, meine Liebe, wir sind die besten!«
Lia vergeht das Lachen erst, als sie in das Haus von Cruz eintritt. So ganz allein hier jetzt einzutreten, ist beklemmend, es ist ganz still und Lia versucht auszublenden, wo sie gerade ist, vor allem aber, wer hier wohnt und atmet tief ein. Sie denkt an das viele Geld, was sie verdienen kann und geht in die erste Etage.
Da sie ja weiß, dass bereits alles geputzt ist und dieser Cruz danach nicht mehr im Haus war, geht sie einfach noch einmal alle Zimmer durch. Sie findet noch ein paar Shirts in einer der Wäschetruhen im Bad, zwei weiße und ein schwarzes Hemd. Lia stockt, als sie auf einem der Shirts mehrere kleine getrocknete Blutflecken entdeckt.
Sie atmet erneut durch, holt die Flasche mit Chlor und lässt die Flecken im Waschbecken einweichen, dabei singt sie leise das neue Liebeslied ihres Lieblingssängers: El Perdedor, Verlierer. Es geht darum, dass er ein Mädchen liebt und nicht gut genug für sie ist.
Lia denkt an ihr Geplänkel mit Maria, natürlich sind sie nicht so wie die Frauen hier, doch ist sie deswegen gleich auch eine Verliererin? Vielleicht haben sie nicht sehr viel, doch alles, was sie haben, ist ehrlich verdient und sie musste noch nie vorher irgendwelche Blutflecken entfernen.
Sie legt die Wäsche in die Maschine und startet diese. Dann saugt sie das obere Stockwerk, macht noch einmal die Betten und überprüft, ob alles in Ordnung ist. Danach ist das untere Stockwerk dran, doch auch da saugt sie nur schnell durch und hängt anschließend die Wäsche im Garten auf.
Sie hat oben schon einige Fitnessgeräte gesehen, auch hier stehen ein paar Hanteln und Bänke im Gras, dazu gibt es einen riesigen Pool, einen Grillbereich und viele Liegen. Gestern soll ein Gärtner hier gewesen sein. Lia atmet die frische Luft ein und sieht sich dann um, bevor sie ihre Zehen in den Pool hält.
Herrlich, sie hat sich immer einen Pool gewünscht, niemand den sie kennt, kann sich das leisten, sie war erst zweimal am Meer, es ist irgendwie paradox, in Puerto Rico zu leben und das Meer kaum zu kennen.
Lia würde nicht sagen, dass sie die Leute hier um ihr Leben beneidet, doch natürlich ist so ein Luxus schön, das kann sie nicht abstreiten.
Nachdem sie sich von dem Garten losreißen konnte, beginnt sie zu kochen und lässt sich hierbei viel Zeit, da sie ja sonst nichts mehr zu tun hat. Sie macht einen Salat, den sie in den Kühlschrank stellt, auch wenn es nicht auf dem Plan steht, backt sie frisches Olivenbrot, dann macht sie sich an den Reis und das Kokoshähnchen.
Zwischendurch kommt Maria einmal herüber und sieht nach, ob Lia irgendwelche Hilfe gebrauchen kann, doch sie kommt zurecht.
Lia ist schon fast fertig, als erneut die Haustür ins Schloss fällt, lauter als bei Maria und sie erschrocken von den Kochtöpfen aufsehen lässt. Eine raue Männerstimme donnert durch das Haus.
»Und wer hat das angeordnet? Manchmal habe ich das Gefühl, wenn man euch den Rücken zudreht, funktioniert nichts mehr!« Lia hält den Atem an, als ein Mann in den Wohnraum tritt.
Er sieht nicht in ihre Richtung sondern geht mit schnellen wütenden Schritten zu den Treppen, doch Lia erkennt den Mann sofort von den Bildern wieder: Cruz. Sollte er nicht erst am Abend kommen?
Ihr Herz schlägt augenblicklich schneller, besonders als er stehen bleibt, das Handy kurz vom Ohr nimmt, sich das Shirt vom Oberkörper zieht und auf den Boden fallen lässt, bevor er sich wieder dem Anruf widmet.
»Ich finde das überhaupt nicht witzig, ich bin in einer Stunde da und kümmere mich selbst darum, kommt heute Abend vorbei, dann klären wir das.« Er legt auf und geht fluchend die Treppen hinauf, ohne einmal zu Lia zu blicken, die fassungslos hinter ihm her starrt.
Sie kann nicht aufhören, auf den breiten braunen Rücken zu sehen, der in der Mitte ein Kreuz trägt und groß über den Schulterblättern Nechas verewigt hat.
Sie atmet erst wieder, als sie oben eine Tür knallen und nur zwei Sekunden später die Dusche hört. Der würzige Geruch, der im ganzen Haus leicht verteilt war, ist nun umso präsenter und Lia sieht sich verzweifelt um.
Sie muss hier so schnell wie möglich hinaus.
Sie hat nicht viel von Cruz erkennen können, bis auf seinen Rücken und dass er wütend gewirkt hat, für den kurzen Moment, als sie ihm ins Gesicht gesehen hat, konnte sie schnell bemerken, dass er auf den Bildern viel freundlicher als in Wirklichkeit aussieht.
Er sieht allerdings auch viel besser aus als auf den Bildern, auch das konnte sie in dieser Millisekunde erkennen, doch gleichzeitig noch viel gefährlicher und dass er gerade wütend ist, beunruhigt Lia noch mehr.
Sie nimmt den Reis vom Herd und gießt schnell das restliche Wasser ab, genau in dem Moment klingelt oben ein Handy.
Er duscht noch und kann deshalb das Gespräch nicht annehmen. Lia blickt auf die Uhr, sie hat in zehn Minuten Feierabend, wenn sie den frühen Bus nehmen, wieso hat sie sich nicht mit Maria deswegen abgesprochen?
Sie wird einfach hinübergehen und darauf bestehen, den frühen Bus zu nehmen, sie muss nur noch schnell …