Lakeview Stories 1 - Der Klang seiner Stimme - Sarah Dessen - E-Book

Lakeview Stories 1 - Der Klang seiner Stimme E-Book

Sarah Dessen

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Beschreibung

Lakeview Stories: Liebe und mehr! Lakeview Stories‹ sind eindrucksvolle, süchtigmachende, erfrischende, aufwühlende und starke Liebesgeschichten in Episodenform. Die Handlung spielt im kleinen beschaulichen Lakeview. Die Serie besteht aus 26 Einzelteilen. Remy hat die Hoffnung auf die Liebe eigentlich bereits komplett verloren. Ihr Liebesplan: Maximal 6 Wochen ist sie mit den Jungs zusammen, danach macht sie Schluss. Nach ihrem Schulabschluss möchte sie nur weg aus Lakeview, Party, Alkohol und viele Typen klarmachen. Auch Dexter ist für sie nur eine weitere Sommeraffäre. Jedoch fällt es ihr bei ihm unglaublich schwer, ihr gewohntes Programm durchzuziehen. Warum nur? Was hat Dexter, was die anderen nicht hatten? Gibt es ein Happy End? Wie geht es weiter? Zu spät merkt Remy,  dass sie ihren wahren Gefühlen nicht ewig ausweichen kann. Zu spät???   Die aufwühlende Liebesgeschichte von Remy und Dexter erstreckt sich auf die ersten vier Teile der ›Lakeview Stories‹ und ist bereits erschienen unter dem Titel ›Zu cool für dich‹.  

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Seitenzahl: 515

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Sarah Dessen

Zu cool für dich

Roman

Aus dem Amerikanischen von Gabriele Kosack

Deutscher Taschenbuch Verlag

Neuausgabe2012Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG© für die deutschsprachige Ausgabe: 2004Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, MünchenDas Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Rechtlicher Hinweis §44 UrhG: Wir behalten uns eine Nutzung der von uns veröffentlichten Werke für Text und Data Mining im Sinne von §44 UrhG ausdrücklich vor.Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,KN digital– die digitale Verlagsauslieferung, StuttgarteBook ISBN 978-3-423-41460-9 (epub)ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-78263-0Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/​ebooks

Mitten im Winter erkannte ich endlich,

dass tief in mir unbesiegbarer Sommer ruhte.

– Camus

Sie wird bald zurück sein.

Sie schreibt nur gerade.

– Caroline

Inhalt

JUNI

Kapitel Eins

Kapitel Zwei

Kapitel Drei

Kapitel Vier

Kapitel Fünf

Kapitel Sechs

Kapitel Sieben

JULI

Kapitel Acht

Kapitel Neun

Kapitel Zehn

Kapitel Elf

AUGUST

Kapitel Zwölf

Kapitel Dreizehn

Kapitel Vierzehn

Kapitel Fünfzehn

Kapitel Sechzehn

Kapitel Siebzehn

NOVEMBER

Kapitel Achtzehn

Kapitel Eins

Der Song heißt einfach Wiegenlied. Im Laufe meines Lebens habe ich ihn eine Million Mal gehört. So ungefähr jedenfalls. Die Geschichte, wie mein Vater den Song schrieb– an dem Tag, an dem ich geboren wurde–, habe ich auch schon ziemlich oft gehört. Meine Mutter und er hatten sich bereits getrennt; er war irgendwo in Texas unterwegs. Angeblich setzte er sich, nachdem er von meiner Geburt erfahren hatte, in irgendeinem Motelzimmer mit seiner Gitarre hin und erfand den Song, eben mal so. Eine Stunde, ein paar Akkorde, zwei Strophen, ein Refrain. Sein ganzes Leben lang machte er Musik, doch am Ende blieb Wiegenlied sein einziger Hit. Als mein Vater starb, hinterließ er der Nachwelt also exakt ein Wunderwerk. Oder vielmehr zwei– sofern man mich mitzählt.

Auch jetzt, während ich in Dons Autohandlung auf einem Plastikstuhl saß und wartete, ertönte das Lied aus dem Lautsprecher über mir. Es war Anfang Juni und warm draußen, alles blühte und grünte– der Sommer war so gut wie da. Was gleichzeitig bedeutete, dass es für meine Mutter mal wieder Zeit war zu heiraten.

Es würde ihre vierte Ehe sein. Beziehungsweise die fünfte, wenn man meinen Vater mitrechnete. Ich tat das nicht. Meine Mutter schon. In ihren Augen waren sie verheiratet gewesen– wenn man eine Trauung irgendwo in der Wüste, geschlossen von jemandem, den sie erst kurz vorher an einer Autobahnraststätte kennen gelernt hatten, zählen konnte. Für sie jedenfalls war die Trauung gültig. Aber meine Mutter wechselt ihre Ehemänner wie andere Menschen den Farbton ihrer Haare: aus Langeweile, innerer Unruhe oder weil sie plötzlich das Gefühl überkommt, der nächste sei die ultimative Lösung für sämtliche Probleme. Früher, als es mich tatsächlich noch interessierte, fragte ich manchmal nach meinem Vater, wollte genauer wissen, wie die beiden sich kennen gelernt hatten. Doch sie winkte immer bloß seufzend ab und meinte: »Es waren eben die Siebziger, Remy, du weißt schon.«

Meine Mutter geht grundsätzlich davon aus, dass ich alles weiß. Aber da liegt sie falsch. Über die Siebziger wusste ich nur das, was ich in der Schule und durchs Fernsehen gelernt hatte: Vietnam, Präsident Carter, Disco. Und von meinem Vater kannte ich im Prinzip nur Wiegenlied. Der Song begleitet mich schon mein ganzes Leben lang: als Hintergrundmusik zu Werbespots und Filmen, auf Hochzeiten, als Wunschhit im Radio. Mein Vater mag tot sein, doch diese dämliche Schnulze lebt weiter und wird auch mich noch überleben.

Als der Refrain zum zweiten Mal aus dem Lautsprecher dudelte, steckte Don Davis, Besitzer von Don Davis Automobile, den Kopf aus seinem Büro und entdeckte mich. »Remy, mein Schatz, tut mir Leid, dass du warten musstest. Komm rein.«

Ich stand auf und folgte ihm. In acht Tagen würde Don mein Stiefvater werden– sein Eintritt in einen nicht sehr exklusiven Club. Aber immerhin war er der erste Autohändler, der Zweite mit Sternzeichen Zwillinge und der bisher Einzige, der über eigene Kohle verfügte. Meine Mutter und er hatten sich in exakt dem Büro kennen gelernt, das ich jetzt betrat; wir waren hergekommen, um einen neuen Toyota Camry für sie zu kaufen. Ich begleitete sie, weil ich meine Mutter kannte. Sie hätte nämlich ohne zu zögern oder zu verhandeln den vorgeschriebenen Listenpreis bezahlt. Und man hätte sie bestimmt nicht davon abgehalten, denn meine Mutter ist so eine Art Berühmtheit, von der jeder automatisch annimmt, dass sie stinkreich ist.

Der Erste, der uns damals über den Weg lief, war ein Verkäufer, der aussah, als käme er frisch vom College. Er kriegte fast den Mund nicht mehr zu, als meine Mutter schnurstracks auf ein funkelnagelneues Modell zurauschte und den Kopf durchs Fenster in den Innenraum steckte, um den charakteristischen Neuwagengeruch zu schnuppern. Sie sog die Luft in tiefen Zügen ein und verkündete strahlend: »Den nehme ich!«

»Mom!« Ich versuchte, nicht mit den Zähnen zu knirschen. Wozu hatte ich ihr schließlich auf der Fahrt zur Autohandlung genauestens erklärt, was sie sagen und wie sie sich verhalten sollte, damit wir einen guten Deal bekamen? Sie beteuerte zwar, sie würde mir zuhören, doch dabei spielte sie die ganze Zeit an meinen automatischen Fensterhebern und den Düsen für die Klimaanlage herum. Was im Übrigen der eigentliche Grund für die Manie war, plötzlich ein neues Auto kaufen zu müssen: Ich hatte nämlich gerade eines bekommen. Also wollte sie auch eins.

Nachdem sie das Ganze, wie üblich, erst einmal vermasselt hatte, lag es bei mir, wieder von vorn anzufangen. Ich startete meine Offensive, indem ich dem Verkäufer sehr direkte Fragen stellte, was ihn ziemlich nervös machte. Immer wieder warf er ihr an mir vorbei Blicke zu– als wäre ich so eine Art dressierter Kampfhund, dem man nur endlich befehlen müsste sich hinzusetzen. Ich kenne das schon. Aber kurz bevor er sich vor lauter Verlegenheit um sich selbst wand, erschien Don Davis persönlich und verfrachtete uns mit großer Geste in sein Büro. Ebenso rasch schaffte er es, sich in meine Mutter zu verlieben, genauer gesagt innerhalb der ersten Viertelstunde. Die beiden saßen sich gegenüber und machten verzückte Glubschaugen, während ich ihn mal eben um dreitausend Dollar runterhandelte, plus kostenloser Hohlraumversiegelung, regelmäßiger unentgeltlicher Inspektionen und einem CD-Wechsler für die Musikanlage. Mir gelang in dem Moment wahrscheinlich der beste Deal in der Geschichte der Firma Toyota. Das fiel zwar niemandem weiter auf, aber so läuft es ohnehin immer. Von mir wird wie selbstverständlich erwartet, dass ich das Ding schon schaukele, egal was das Ding ist. Ich bin nämlich Managerin, Therapeutin, Allroundhandwerker und– zumindest derzeit– Hochzeitsorganisatorin, alles in einer Person. Bin ich nicht ein echter Glückspilz?

»Also, Remy«, sagte Don, während wir uns hinsetzten; er in den großen drehbaren Lederthron hinter seinem Schreibtisch, ich ihm gegenüber auf einen Stuhl, der mit voller Absicht gerade so unbequem war, dass man beim Autokauf nicht zu lange zögerte. In Dons Autohandlung diente jeder Einrichtungsgegenstand, jedes Detail der Kundenmanipulation. Zum Beispiel Memos an die Verkäufer, die rein zufällig dort »herumlagen«, wo man gar nicht anders konnte als sie zu lesen. Darin stand dann zum Beispiel, dass die Verkäufer den Kunden ruhig Deals anbieten sollten, die für die Autohandlung nicht das Pralle wären– Hauptsache, der Kunde war zufrieden. Die Büros waren so konstruiert, dass man leicht »zufällig mit anhören« konnte, wie ein Verkäufer seinen Vorgesetzten von einem saftigen Preisnachlass für einen Kunden zu überzeugen suchte. Außerdem gab es noch dieses Riesenfenster, durch das ich jetzt auf den Hof sehen konnte, wo die Leute ihre nigelnagelneuen Autos abholten. Alle paar Minuten begleitete ein Verkäufer seinen Kunden in die Mitte des Fensters, überreichte ihm seine funkelnden neuen Autoschlüssel und lächelte ihm wohlwollend nach, während der frisch gebackene Toyotabesitzer glücklich in den Sonnenuntergang davonfuhr wie in einem Werbespot. Was für ein verlogener Schwachsinn!

Don rutschte ein bisschen auf dem Sessel rum und rückte seinen Schlips zurecht. Er war ein stattlicher Mann mit beachtlichem Bauchumfang und einer beginnenden Halbglatze. Wenn man ihn ansah, kam einem spontan das Wort »teigig« in den Sinn. Der arme Kerl vergötterte meine Mutter.

»Was kann ich für dich tun?«

Ich holte meine Liste raus. »Ich habe noch einmal bei dem Smokingtypen angerufen; die möchten, dass du diese Woche zur letzten Anprobe vorbeikommst. Auf der Gästeliste für das Probedinner stehen mittlerweile plus minus fünfundsiebzig Leute. Und der Partyservice braucht bis Montag die Vorauszahlung.«

»Okay.« Er öffnete eine Schublade, holte die Ledermappe heraus, in der er sein Scheckheft aufbewahrte, und griff nach dem Stift in seiner Jacketttasche. »Wie viel bekommt der Partyservice?«

Ich warf einen Blick auf meinen Zettel, schluckte etwas und antwortete: »Fünftausend.«

Er nickte und begann zu schreiben. Für Don waren fünftausend Dollar so gut wie gar nichts. Die Hochzeit würde ihn insgesamt etwa zwanzigtausend kosten, und auch das schien ihn nicht weiter zu beunruhigen. Hinzu kamen die Renovierung unseres Hauses, damit wir alle als glückliche Familie zusammen wohnen konnten, die Schulden, die Don meinem Bruder für dessen neuen Wagen erlassen hatte, sowie die Summen, die das tägliche Zusammenleben mit meiner Mutter verschlang– alles in allem eine beträchtliche Investition, sogar für jemanden von Dons Kaliber. Doch schließlich war es seine erste Hochzeit, seine erste Ehe. Was das betraf, war er im Gegensatz zu meiner Familie ein blutiger Anfänger; wir waren auf dem Gebiet Profis.

Er schob den Scheck über den Tisch und lächelte mich an. »Was noch?«, fragte er.

Wieder sah ich auf meine Liste. »Noch mal wegen der Band. Die Leute von dem Saal, wo wir feiern, fragten–«

Er winkte ab: »Alles unter Kontrolle. Die Band wird da sein. Richte deiner Mutter aus, sie soll sich keine Sorgen machen.«

Ich lächelte, weil er das von mir erwartete; dabei wussten wir beide, dass meine Mutter sich wegen dieser Hochzeit nicht die geringsten Sorgen machte. Sie hatte ihr Kleid ausgesucht, den Blumenschmuck gewählt und ab da den gesamten Rest auf mich abgewälzt mit der Begründung, sie bräuchte jede freie Sekunde, um an ihrem neuesten Roman zu arbeiten. In Wahrheit hasst meine Mutter es schlicht und einfach, sich mit Einzelheiten abzugeben. Auf neue Projekte stürzt sie sich immer mit Feuereifer, beschäftigt sich dann etwa zehn Minuten damit– und das war’s. Unser Haus war mit Sachen voll gestopft, für die sie sich, zumindest kurzzeitig, schon mal begeistert hatte: Essenzfläschchen für die Aromatherapie, Familienstammbaum-Software, stapelweise japanische Kochbücher, ein Aquarium, dessen Glaswände von Algen überwuchert waren und in dem ein einzelner Überlebender schwamm, ein fetter weißer Fisch, der alle anderen gefressen hatte.

Die meisten Menschen erklären sich das sprunghafte Verhalten meiner Mutter damit, dass sie Schriftstellerin ist– als wäre damit alles entschuldigt. Blöde Ausrede. Ich meine, auch Gehirnchirurgen können durchgeknallt sein, aber bei denen behauptet niemand, das gehöre eben zum Berufsbild. Zum Glück– für meine Mutter– stehe ich mit dieser Meinung allein da.

»...schon so bald!«, sagte Don und tippte mit dem Finger auf seinen Terminkalender. »Ist das zu fassen?«

»Nein«, erwiderte ich und fragte mich, wie wohl der erste Teil des Satzes gelautet hatte, bevor ich fortfuhr: »Es ist wirklich unglaublich.«

Er lächelte und blickte erneut auf den Terminkalender; der Tag der Hochzeit, der zehnte Juni, war mehrfach in unterschiedlichen Farben umkringelt. Aber man konnte ihm nicht verdenken, dass er sich freute. Don war in einem Alter, in dem die meisten seiner Freunde geglaubt hatten, dass er sowieso nicht mehr heiraten würde. Er hatte die letzten fünfzehn Jahre allein in einer Eigentumswohnung direkt an der Stadtautobahn gewohnt und den Großteil seiner Zeit, sofern er nicht gerade schlief, damit zugebracht, mehr Toyotas zu verkaufen als irgendwer sonst im gesamten Bundesstaat. Nun würde er in neun Tagen nicht nur Barbara Starr, die Bestsellerautorin, bekommen, sondern meinen Bruder Chris und mich im Doppelpack gleich dazu. Und er freute sich darüber. Es war tatsächlich unglaublich.

In dem Moment summte es laut und durch die Gegensprechanlage auf dem Schreibtisch drang eine Frauenstimme. »Don, Jason hat einen Acht-Siebenundfünfziger an der Angel, braucht allerdings sofort deinen persönlichen Einsatz. Kann ich die beiden reinschicken?«

Don sah mich kurz an, drückte auf den Knopf und antwortete: »Klar. Gib mir fünf Sekunden.«

»Acht-Siebenundfünfziger?«

»Autohändlerjargon«, sagte er beiläufig, erhob sich und strich sein Haar glatt, um den kahlen Fleck auf seinem Schädel zu überdecken. Hinter ihm war auf dem Hof ein rotgesichtiger Verkäufer zu sehen, der einer Frau gerade die Schlüssel ihres neuen Autos aushändigte. Das Kind der Frau zerrte an ihrem Rock, aber sie beachtete es gar nicht, sondern nahm verzückt ihre Schlüssel in Empfang.

»Tut mir Leid, dass ich dich rausschmeißen muss.«

»Ich war sowieso fertig.« Ich stopfte die Liste wieder in meine Tasche.

»Ich weiß wirklich zu schätzen, was du für uns tust, Remy.« Er trat um den Schreibtisch herum zu mir und legte mir in Papa-Manier eine Hand auf die Schulter. Ich versuchte krampfhaft, nicht an die vielen Stiefväter vor ihm zu denken, die das Gleiche getan hatten– das gleiche Gewicht auf meiner Schulter, die gleiche Bedeutung der gleichen Geste. Auch sie hatten geglaubt, sie würden von Dauer sein.

»Kein Thema«, antwortete ich. Er nahm seine Hand wieder weg und öffnete die Tür, um mich hinauszulassen. Im Flur vor dem Büro wartete ein Verkäufer mit einer Kundin, die jener Acht-Siebenundfünfziger– vermutlich ein Codewort für Unentschlossene– sein musste: eine kurz geratene Frau, die ihre Handtasche umklammerte und ein Sweatshirt trug, das ein Kätzchen zierte.

»Don«, meinte der Verkäufer gewandt, »darf ich dir Ruth vorstellen? Wir tun doch, was wir können, damit sie noch heute in ihren neuen Corolla steigen kann, nicht wahr?«

Ruth blickte nervös von Don zu mir und wieder zurück zu Don. »Ich wollte nur...«, stammelte sie.

»Meine liebe Ruth«, unterbrach Don sie beschwichtigend. »Kommen Sie, wir setzen uns erst einmal in Ruhe in mein Büro und besprechen, was genau wir für Sie tun können. In Ordnung?«

»Absolut«, meinte der Verkäufer, der wie Dons Echo klang, wobei er sie sanft vorwärts schob. »Eine freundliche kleine Unterhaltung, nichts weiter.«

»Okay«, antwortete Ruth verunsichert. Während sie an mir vorbei in Dons Büro ging, warf sie mir einen Blick zu; ich musste mich schwer zusammenreißen, um ihr nicht zuzurufen, sie solle so schnell wie möglich die Flucht ergreifen.

»Remy«, sagte Don leise, als hätte er meine Gedanken gehört. »Bis später, ja?«

»Klar.« Trotzdem blieb ich stehen und sah zu, wie Ruth von dem Verkäufer zu dem unbequemen Stuhl gegenüber dem Panoramafenster bugsiert wurde. Gerade stieg ein Pärchen in seinen neuen Toyota. Beide lächelten ununterbrochen, während sie ihre Sitze verstellten und das Wageninnere bewunderten. Die Frau klappte die Sonnenblende herunter, um sich in dem kleinen Spiegel zu betrachten. Der Mann steckte den Schlüssel ins Zündschloss. Beim Wegfahren winkten sie ihrem Verkäufer zum Abschied zu. Fehlte nur noch der Sonnenuntergang!

»Also, Ruth«, meinte Don, während er sich in seinem Sessel zurücklehnte. Die Tür schloss sich hinter ihnen. »Womit kann ich Sie glücklich machen?«

Ich war schon halb durch den großen Ausstellungsraum, als mir einfiel, dass meine Mutter mich gebeten hatte Don bitte an die kleine Cocktailparty heute Abend zu erinnern. Ihre Verlegerin war in der Stadt, angeblich nur auf Durchreise, und wollte vorbeikommen, einfach so, ein wenig plaudern. In Wirklichkeit hätte meine Mutter längst einen neuen Roman abliefern müssen, weshalb langsam alle ein wenig nervös wurden.

Ich drehte mich um und ging zu Dons Büro zurück. Die Tür war nach wie vor geschlossen, aus dem Raum drang Stimmengemurmel. Die Uhr an der gegenüberliegenden Wand war wie eine dieser Schuluhren, mit großen schwarzen Ziffern und einem wackeligen Minutenzeiger. Es war bereits Viertel nach eins– an dem Tag, nachdem ich meinen Highschoolabschluss gefeiert hatte. Und wo war ich? Jedenfalls nicht auf dem Weg zum Strand; ich schlief auch nicht meinen Rausch aus wie alle anderen, sondern rannte durch die Gegend und bereitete eine Riesenhochzeit vor wie eine bezahlte Organisatorin (nur dass ich nicht bezahlt wurde), während meine Mutter bei fest geschlossenen Jalousien in ihrem überdimensionalen Bett mit der rückenschonenden Spezialmatratze lag und sich den Schlaf holte, den sie für ihren kreativen Prozess dringend benötigte. Zumindest behauptete sie das.

Mehr brauchte ich nicht, um es zu spüren, dieses dumpfe Brennen in der Magengegend, das ich jedes Mal spüre, wenn ich mir eingestehe, dass sie immer in allem besser wegkommt als ich. Dieses dumpfe Gefühl war entweder mein Groll oder mein Magengeschwür oder beides. Das Gedudel über mir aus dem Lautsprecher wurde immer durchdringender; als würde jemand absichtlich am Lautstärkeregler herumspielen, damit Barbra Streisand mir die Ohren voll dröhnte. Ich schlug die Beine übereinander, schloss die Augen und umklammerte die Stuhllehnen fest mit beiden Händen. Nur noch ein paar Wochen, sagte ich zu mir selbst, dann bin ich endlich weg.

In dem Augenblick ließ sich jemand mit Karacho auf den Stuhl neben mir fallen, und zwar so heftig, dass ich gegen die Wand gerammt wurde. Ich stieß mir den Ellbogen an, genau am Musikknochen. Das Kribbeln jagte mir bis in die Fingerspitzen. Und plötzlich war ich sauer. Ich meine, richtig sauer. Schon seltsam, wie manchmal eine Winzigkeit genügt, damit man voll ausrastet.

»Was zur Hölle...!« Ich setzte mich wieder aufrecht hin, wild entschlossen dem Vollidioten, der sich diese reizende Anmache geleistet hatte, den Kopf abzureißen. Sicher einer von Dons dämlichen Verkäuferheinis. Mein Ellbogen kribbelte immer noch wie verrückt, außerdem war mir heiß und ich wusste, dass mein Hals gerade knallrot anlief: ein unheilvolles Zeichen. Ich kann nämlich ganz schön ausrasten. Doch als ich den Kopf drehte, entdeckte ich, dass es gar kein Verkäufer war, sondern ein Typ etwa in meinem Alter, mit dunklen Locken und einem knallig orangefarbenen T-Shirt. Der mich aus irgendeinem Grund angrinste.

»Hi«, sagte er munter. »Wie geht’s?«

»Was hast du eigentlich für ein Problem?«, fragte ich brüsk zurück und rieb mir den Ellbogen.

»Problem?«

»Du hast mich gerade gegen die Wand gedonnert, Arschloch.«

Er blinzelte. »Meine Güte«, meinte er schließlich, »was für eine gepflegte Sprache.«

Ich starrte ihn an. Falscher Tag, mein Freund, dachte ich. Du hast mich am falschen Tag auf dem falschen Fuß erwischt.

»Was ich sagen wollte«, fuhr er fort, als würden wir über Politik oder das Wetter diskutieren. »Ich habe dich gerade da vorne in der Ausstellungshalle gesehen. Ich stand bei den Reifen, erinnerst du dich?«

Ich funkelte ihn so grimmig an, wie ich nur konnte. Aber er quatschte einfach weiter.

»Plötzlich dachte ich: He, wir zwei haben was gemeinsam. Sind auf einer Wellenlänge. Und ich hatte das eindeutige, todsichere Gefühl, dass etwas Großes geschehen wird. Für uns beide. Genauer gesagt– es ist uns vorherbestimmt, zusammen zu sein.«

»Das fiel dir alles ein, während du bei den Reifen standest?«, fragte ich, um sicherzugehen, dass ich richtig verstanden hatte.

»Du hast es nicht gespürt?«, erwiderte er.

»Nein. Ich habe nur gespürt, dass du mich gegen die Wand gestoßen hast.« Ich blieb ganz ruhig.

»Das war ein bedauerlicher Unfall.« Er senkte die Stimme und beugte sich zu mir. »Ein Versehen. Ein unglücklicher Begleitumstand. Es ist nur passiert, weil ich mich so darauf gefreut habe, mit dir zu reden.«

Wieder sah ich ihn stumm an. Aus dem Lautsprecher über uns ertönte nun kein dämlicher Schlager mehr, sondern die Erkennungsmusik aus der Werbung für Don Davis Automobile.

»Verzieh dich«, sagte ich.

Er lächelte nur und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Das Jinglegeklimper über uns steigerte sich zu einem ohrenbetäubenden Crescendo; der Lautsprecher summte und knisterte bedrohlich, als gäbe es jeden Moment einen Kurzschluss. Wir sahen beide nach oben, dann wieder einander an.

»Weißt du was?« Er zeigte auf den Lautsprecher, der wieder– und zwar noch lauter als vorher– knisterte, brummte, knackte, bevor die Erkennungsmelodie erneut die Oberhand gewann und uns zuklimperte. Noch einmal deutete er nach oben: »Dieses Lied ist ab jetzt unser Lied, von nun an bis in Ewigkeit.«

»Hilfe!«, stöhnte ich nur. Und Rettung nahte tatsächlich, zum Glück; denn in diesem Moment öffnete sich die Tür zu Dons Büro. Ruth kam in Begleitung ihres Verkäufers heraus. Sie hatte einen Stapel Papiere in der Hand und diesen erschöpften, überrumpelten Ausdruck im Gesicht. Aber für die paar Tausender, die sie gerade losgeworden war, hatte sie immerhin einen Schlüsselring aus Goldimitat umsonst dazubekommen.

Ich erhob mich. Der Typ neben mir sprang auch auf: »Warte, ich will nur schnell...«

Ich ignorierte ihn. »Don?«, rief ich.

»Gib mal eben her«, meinte der Kerl neben mir. Und bevor ich kapierte, was abging, hatte er meine Hand gepackt, umgedreht, einen Stift aus der Tasche gezogen und– nein, das ist kein Witz– schrieb einen Namen und eine Telefonnummer auf meine Handfläche, genau zwischen Daumen und Zeigefinger.

»Spinnst du?!« Ich riss meine Hand so heftig weg, dass die letzten Ziffern völlig verschmierten, der Stift in hohem Bogen auf dem Boden landete und unter einen Kaugummiautomaten in der Nähe rollte.

»He, Romeo!«, brüllte jemand aus dem Ausstellungsraum, gefolgt von lautem Gelächter. »Komm endlich, Mann, wir müssen.«

Ich sah ihn ungläubig an. Fasste es einfach nicht. So viel Feingefühl und Respekt vor anderer Leute Privatsphäre war mir noch nie untergekommen. Ich hatte schon Drinks auf Typen gekippt, nur weil sie mich in der Disco unabsichtlich gestreift hatten. Und der hier nahm meine Hand gefangen und kritzelte darauf herum!

Er warf einen kurzen Blick über die Schulter, sah dann wieder mich an und grinste. »Bis bald.«

»Und wovon träumst du nachts?«, konterte ich, doch er drehte bereits ab, lief im Slalom um die Ausstellungswagen und entschwand durch die vordere Glastür.

Vor der Autohandlung wartete ein verbeulter weißer Minibus, dessen Hintertür nun von innen aufgestoßen wurde. Er wollte hineinklettern, aber plötzlich machte der Minibus einen Satz nach vorne, so dass er fast gestolpert und gefallen wäre. Der Minibus hielt abrupt wieder an. Er stemmte die Hände in die Hüften und verdrehte die Augen gen Himmel, bevor er nach dem Griff der Wagentür angelte. Das misslang, weil der Minibus sich erneut in Bewegung setzte, dieses Mal von einem kleinen Hupkonzert begleitet. Das Spiel wiederholte sich mehrfach, wobei Minibus und Typ sich allmählich über den Parkplatz davonbewegten. Dann tauchte eine Hand aus dem Wageninneren auf, offenkundig, um ihn hineinzuziehen. Er ignorierte sie. Die Finger der Hand winkten einladend, erst ein bisschen, dann immer drängender, bis er die Hand schließlich doch ergriff und sich mit ihrer Hilfe an Bord zog. Die Tür wurde zugeknallt, wieder ertönte die Hupe und der Minibus tuckerte endgültig vom Parkplatz, wobei der Auspuff über eine Betonkante schrammte.

Ich blickte auf meine Hand. 933-54-irgendwas war mit schwarzem Kuli draufgekrakelt, darunter stand sein Name. Meine Güte, was für eine Klaue! Ein riesiges D, der letzte Buchstabe völlig verschmiert. Und was für ein dämlicher Name. Dexter.

Das Erste, was mir beim Heimkommen auffiel, war die Musik. Klassische Musik, erhebende Musik, die das Haus mit fließenden Violinklängen und elegischen Oboen füllte. Dann der Kerzenduft, Vanille, einen ganz kleinen Tick zu süß. Und schließlich der letzte, der untrügliche Beweis: eine Spur wie die Brotkrumen aus dem Märchen. Diese hier bestand aus zusammengeknülltem Papier, das aus der Eingangshalle durch die Küche bis zum Wintergarten, ihrem Arbeitszimmer, führte.

Danke, Gott, dachte ich. Sie schreibt wieder.

Ich ließ meine Schlüssel auf das Tischchen neben der Haustür fallen und bückte mich, um eines der verkrumpelten Blätter aufzuheben, das direkt vor meinen Füßen lag. Während ich Richtung Küche ging, glättete ich es. Meine Mutter war, was ihre Arbeit betraf, sehr abergläubisch und schrieb daher ausschließlich auf der abgenutzten alten Schreibmaschine, die sie schon vor Jahren mit sich durchs ganze Land geschleppt hatte, als sie noch Musikkritiken für eine Zeitung in San Francisco verfasste. Das Teil klapperte elend laut, gab jedes Mal, wenn sie das Ende einer Zeile erreichte, ein lautes Pling von sich und sah aus wie ein letztes Überbleibsel aus der Zeit, als es noch Pferdekutschen gab. Sie hatte zwar gerade einen neuen PC bekommen, der mit allen Schikanen ausgestattet war, doch den benutzte sie eigentlich nur, um Solitär zu spielen.

In der oberen rechten Ecke des Blattes, das ich jetzt in der Hand hielt, stand die Zahl Eins; der Text begann in dem für meine Mutter typischen, schwungvollen Ton.

Melanie war eine Frau, die sich seit jeher jeder Herausforderung ohne Zögern gestellt hatte, und zwar mit Leidenschaft. Ob in der Liebe oder im Beruf– ihr ganzes Leben lang war sie auf Widerstände gestoßen, doch das machte sie nur stärker, ihren Willen und Geist unbeugsamer. Sie liebte es zu gewinnen– und das umso mehr, wenn es kein leicht errungener Sieg war, wenn sie dafür tatsächlich an ihre Grenzen gehen musste. Als sie an diesem kalten Novembertag das Plaza Hotel betrat, zog sie den Schal vom Kopf, mit dem sie ihr Haar bedeckt hatte, und schüttelte in einer eleganten Bewegung den Regen ab. Brock Dobbin in diesem Leben noch einmal zu begegnen war in ihren Plänen nicht vorgesehen gewesen. Sie hatte ihn seit Prag, wo die Dinge zwischen ihnen so schlecht ausgegangen waren, wie sie begonnen hatten, nicht mehr wiedergesehen. Doch jetzt, ein Jahr später, tauchte er plötzlich in der Stadt auf– unmittelbar vor ihrer Hochzeit mit einem anderen Mann. Sie war bereit, ihm gegenüberzutreten. Mehr noch, dieses Mal würde sie gewinnen. Sie war

Sie war... was? Doch nach dem letzten Wort kam nichts mehr, außer einem schmierigen Farbbandstreifen, weil das Blatt aus der Schreibmaschine gefetzt worden war.

Beim Weitergehen hob ich die übrigen Blätter auf und knüllte sie, nachdem ich sie überflogen hatte, zu einem einzigen festen Ball zusammen. Die Versionen unterschieden sich nicht sonderlich voneinander. In einer spielte das Ganze in Los Angeles, nicht in New York, in einer anderen verwandelte sich Brock Dobbin in Dock Brobbin und in einer dritten wieder zurück. Kleinigkeiten. Aber meine Mutter brauchte immer eine gewisse Zeit, um reinzukommen, Tempo und Ton zu finden. Doch wenn sie das geschafft hatte, gab es kein Halten mehr. Ihr letztes Buch hatte sie innerhalb von dreieinhalb Wochen runtergeschrieben und am Ende war es so dick, dass man es gut und gerne als Türstopper hätte benutzen können.

Ich betrat die Küche. Musik und Schreibmaschinengeklapper wurden lauter. Chris, mein Bruder, hatte alles, was auf dem Küchentisch stand– Pfeffer- und Salzstreuer, Serviettenhalter und so weiter–, auf die Seite geschoben, um ein Hemd zu bügeln.

»Hallo«, sagte er und strich sich das Haar aus der Stirn. Das Bügeleisen zischte, als er es hochhob, sorgfältig auf dem Hemdkragen absetzte und mit aller Kraft runterdrückte.

»Wie lang ist sie schon dabei?« Ich zog den Mülleimer unter der Spüle hervor und schmiss den Manuskriptseitenball hinein.

Er ließ etwas Dampf aus dem Bügeleisen zischen und zuckte die Achseln. »Ein paar Stunden oder so.«

Ich warf einen Blick an ihm vorbei ins Arbeitszimmer, wo meine Mutter, eine Kerze neben sich, vornüber gebeugt an ihrer Schreibmaschine saß und drauflostippte. Sie sah beim Schreiben immer ziemlich seltsam aus, denn sie hämmerte mit ihrem gesamten Körpergewicht auf die Tasten ein, als könnte sie die Wörter gar nicht schnell genug aus sich herausholen. So würde es für Stunden weitergehen, bis sie am Ende aus der Versenkung auftauchte, mit schmerzendem Rücken, verkrampften Fingern und gut fünfzig beschriebenen Seiten. Was genügen würde, um ihre New Yorker Verlegerin zumindest vorläufig glücklich zu machen.

Ich setzte mich an den Küchentisch und blätterte durch den Poststapel, der an der Obstschale lehnte. Währenddessen drehte Chris das Hemd sorgfältig und fuhr mit dem Bügeleisen behäbig um die eine Ärmelmanschette herum. Er war ein unendlich langsamer Bügler– so langsam, dass ich ihm das Bügeleisen schon öfter aus der Hand gerissen und es selber gemacht hatte, weil ich es schlicht nicht mehr ertragen konnte, wie lange er allein für den Kragen brauchte. Das Einzige, was ich noch schlechter mit ansehen kann, als wenn jemand etwas falsch macht, ist, wenn jemand etwas langsam macht.

»Hast du heute Abend was Besonderes vor?«, fragte ich. Er beugte sich gerade tief über das Hemd, konzentrierte sich auf die Brusttasche.

»Jennifer Anne hat ein paar Leute zum Abendessen eingeladen«, antwortete er. »Nicht formell, aber auch keine Freizeitkleidung.«

»Nicht formell, aber auch keine Freizeitkleidung?«

»Das heißt«, erklärte er langsam, völlig in seine Bügelei vertieft, »keine Jeans, aber auch nicht im Anzug. Schlipse sind erlaubt, allerdings kein Muss. Irgendetwas dazwischen eben.«

Ich verdrehte die Augen. Noch vor sechs Monaten wäre mein Bruder nicht einmal imstande gewesen »Freizeitkleidung« zu definieren, geschweige denn »formell«. Vor zehn Monaten, an seinem einundzwanzigsten Geburtstag, wurde Chris auf einer Party festgenommen, weil er Gras verkaufte. Was beileibe nicht sein erster Zusammenstoß mit dem Gesetz war: Im Verlauf seiner Schulzeit hatten sich bei ihm ein paar kleinere Einbrüche angesammelt (keine Verurteilung– sein Anwalt konnte einen Deal mit dem Richter aushandeln), einmal Trunkenheit am Steuer (Freispruch, wundersamerweise) sowie ein Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz (mit Riesenglück nur Sozialdienst und eine saftige Geldstrafe). Doch die Sache auf der Party brach ihm endgültig das Genick: Er wanderte in den Knast. Zwar nur für drei Monate, aber es reichte, um ihm eine solche Angst einzujagen, dass er sich von da an zusammenriss. Er suchte sich einen Job bei einer Jiffy-Lube-Filiale, wo er eines Tages Jennifer Anne kennen lernte, als sie ihr Auto zur Dreißigtausend-Meilen-Inspektion vorbeibrachte.

Jennifer Anne war, wie meine Mutter es nannte, kein ganz einfacher Charakter: Sie hatte keine Angst vor uns und es war ihr egal, wenn wir es merkten. Sie war ein zierliches Mädchen mit wallendem blondem Haar, schlau wie ein Wiesel (obwohl wir das nur höchst ungern zugaben). Und sie hatte aus meinem Bruder in sechs Monaten mehr gemacht, als meiner Mutter und mir in einundzwanzig Jahren gelungen war. Sie brachte ihn dazu, sich besser anzuziehen (zum Beispiel lässig-formell), fleißiger zu arbeiten und grammatikalisch korrekt zu sprechen, inklusive des Gebrauchs schicker Modewörter wie Networking und Multitasking. Sie arbeitete als Rezeptionistin in einer Gemeinschaftspraxis, redete von sich selbst jedoch gern als »Fachkraft für Büromanagement«. Jennifer Anne besaß das Talent, alles besser klingen zu lassen, als es war. Ich hatte mal mitgekriegt, wie sie jemandem von Chris’ Job erzählte und ihn dabei als »Allround-Experten für Automobilflüssigkeiten« bezeichnete, wodurch sich seine popelige Stelle bei Jiffy Lube anhörte, als würde er nicht in einer Autowerkstatt mit Schnellservice arbeiten, sondern bei der NASA.

Chris nahm das Hemd vom Küchentisch, hielt es vor sich in die Höhe und schüttelte es leicht. Aus dem Nebenraum drang das Zeilenendgebimmel der Schreibmaschine.

»Wie findest du’s?«

»Sieht okay aus«, antwortete ich. »Aber in den rechten Ärmel hast du eine Riesenfalte gebügelt.«

Er betrachtete den Knick im Stoff und seufzte. »Bügeln ist so kompliziert.« Er legte das Hemd wieder auf den Tisch. »Warum bügeln Menschen überhaupt?«

»Warum bügelst du?«, fragte ich zurück. »Seit wann hast du es überhaupt nötig, faltenfrei rumzulaufen? Es gab eine Zeit, da kamst du dir schon overstylt vor, nur weil du Hosen anhattest.«

»Sehr witzig.« Er schnitt eine Grimasse. »Das kapierst du sowieso nicht.«

»Oh, natürlich. Entschuldigung, Herr Klugscheißer, ich vergesse leider ständig, dass du die Intelligenzbestie von uns beiden bist.«

Er strich das Hemd glatt ohne mich anzusehen. »Was ich meine, ist Folgendes«, sagte er gedehnt. »Man muss das Gefühl aus eigener Erfahrung kennen, muss wissen, wie es ist, wenn man für einen anderen Menschen etwas Schönes tun will. Aus Rücksicht. Aus Liebe.«

»Wie ehrenwert.«

»Genau das meine ich.« Wieder hielt er das Hemd prüfend vor sich. Die Falte war immer noch da, aber ich hatte bestimmt nicht vor ihn darauf aufmerksam zu machen. »Hilfsbereitschaft. Anteilnahme. Beziehungsfähigkeit. Lauter Dinge, die dir schmerzlich abgehen. Schade.«

»Ich bin die absolute Beziehungsexpertin«, erwiderte ich empört. »Außerdem habe ich gerade einen geschlagenen Vormittag damit zugebracht, die Hochzeit unserer Mutter zu organisieren, schon vergessen? Ich finde das ziemlich hilfsbereit und anteilnehmend von mir.«

Er faltete das Hemd ordentlich zusammen und legte es sich– wie ein Kellner eine Serviette– über den Arm. »Du musst überhaupt erstmal lernen, was eine ernsthafte Beziehung ist...«

»Wie bitte?«

»...und über die Hochzeit beschwerst du dich doch andauernd. Das finde ich nicht besonders hilfsbereit und anteilnehmend.«

Ich starrte ihn an. Man konnte einfach nicht mehr vernünftig mit ihm reden– als hätte ihn eine obskure Sekte einer Gehirnwäsche unterzogen.

»Hallo? Wer bist du eigentlich?«, fragte ich.

»Ich sage doch nur, dass ich glücklich bin«, antwortete er gleichmütig, »und mir wünsche, du wärst auch glücklich. Wie ich.«

»Ich bin glücklich«, konterte ich. Und das stimmte, auch wenn ich in dem Moment vielleicht ein bisschen verbittert klang, was allerdings nur daran lag, dass ich sauer war. »Bin ich wirklich«, sagte ich etwas gelassener.

Er streckte die Hand aus und tätschelte mir den Arm, so als wüsste er es besser. »Bis dann«, meinte er, wandte sich ab und ging die Treppe hoch, die von der Küche zu seinem Zimmer führte. Ich sah ihm mitsamt seinem faltig gebügelten Hemd nach und merkte plötzlich, dass ich die Zähne zusammenbiss. Was mir in letzter Zeit entschieden zu oft passierte.

Pling! machte die Schreibmaschine aus dem Nebenraum, und meine Mutter begann mit einer neuen Zeile. Es klang, als wären Melanie und Brock Dobbin schon auf halbem Weg Richtung Herzschmerz. Meine Mutter schreibt ausufernde romantische Liebesgeschichten, die an exotischen Schauplätzen spielen und von Figuren bevölkert werden, die alles und doch nichts haben. Gesegnet mit unfassbarem äußerem Reichtum sind sie im tiefen Inneren unglücklich und deshalb im Grunde arm. Und so weiter.

Leise ging ich zum Wintergarten und sah ihr von der Tür aus zu. Beim Schreiben ist sie in einer anderen Welt und vergisst alles um sich her, auch uns, sogar als wir noch klein waren. Wenn wir quengelten und schrien, hob sie ohne sich umzudrehen bloß kurz eine Hand– mit der anderen schrieb sie weiter, dass die Tasten klackerten– und machte Pssst. Als müsste und würde das völlig reichen, um uns zum Schweigen zu bringen; als könnten wir dadurch sehen, in welcher Welt sie sich gerade befand: im Plaza Hotel zum Beispiel oder am Strand auf Capri, wo sich eine wunderschöne und elegant gekleidete Frau nach einem Mann verzehrt, den sie in jenem Moment für immer verloren glaubt.

Als Chris und ich zur Grundschule gingen, war meine Mutter ständig pleite. Außer Zeitungsartikeln hatte sie noch nichts veröffentlicht und auch diese Aufträge gingen stetig zurück, weil die Bands, über die sie schrieb (wie die meines Vaters), sich entweder von selbst auflösten oder ihre Songs– Siebziger-Musik, klassischer Rock, die Oldies von heute eben– im Radio einfach nicht mehr gespielt wurden. Sie gab zwar Kurse in Kreativem Schreiben, doch dabei verdiente sie praktisch nichts. Wir zogen von einem ekelhaften Billigapartment ins nächste, in tristen Wohnanlagen mit verheißungsvollen Namen wie Kiefernpark oder Gartenstadt; es gab allerdings weit und breit weder Kiefern noch Gärten noch Parks. Damals saß sie zum Schreiben am Küchentisch, meistens abends oder mitten in der Nacht, manchmal aber auch schon nachmittags. Und schon damals bevorzugte sie für ihre Geschichten exotische Schauplätze. Als Recherchematerial besorgte sie sich kostenlose Reisebroschüren oder fischte Ausgaben von Gourmet aus dem Altpapier, um darin zu schmökern. Mein Bruder wurde nach dem Lieblingsheiligen meiner Mutter benannt, während ich meinen Namen einer kostspieligen Kognakmarke verdanke, deren Anzeige sie in Harper’s Bazar gesehen hatte. Während wir unsere Klamotten in Billigläden einkauften und uns von Fertiggerichten ernährten, schlemmten ihre in Dior-Hausanzüge gewandeten Figuren Kaviar mit Champagner. Meine Mutter besaß schon immer ein großes Faible für Glamour, selbst als ihr eigenes Leben noch weit davon entfernt war.

Es machte sie wahnsinnig, wenn Chris und ich sie bei der Arbeit störten, und das taten wir dauernd. Schließlich entdeckte sie auf dem Flohmarkt einen dieser Perlenvorhänge, den sie an der Küchentür befestigte. Der Vorhang wurde das verabredete Zeichen, das jeder von uns verstand. War er zur Seite gezogen und am Türrahmen befestigt, hieß das: freie Bahn in die Küche. Doch wenn er herunterhing, arbeitete meine Mutter und wir mussten uns anderweitig beschäftigen; außerdem konnten wir gefälligst selbst dafür sorgen, wo und wie wir was zu essen bekamen.

Als ich klein war, liebte ich es, an dem Vorhang zu stehen, mit den Fingerspitzen über die Perlenschnüre zu fahren und zuzuschauen, wie sie hin und her schwangen. Sie klimperten leise, ganz leise, wie winzige Glöckchen. Hinter dem Vorhang konnte ich meine Mutter beim Schreiben erkennen; aber sie sah dann anders aus, beinahe fremd, wie eine Wahrsagerin oder eine Fee, ein Wesen, das Zauber verbreitete. Was sie ja auch war, doch das begriff ich damals natürlich noch nicht.

Den meisten Krempel, mit dem unsere schäbigen Apartments damals eingerichtet waren, gibt es nicht mehr; er wurde entweder verschenkt oder wanderte auf den Sperrmüll. Doch der Perlenvorhang begleitete uns immer, bis in unser jetziges Haus– das Große Neue Haus, wie wir es tauften, als wir einzogen. Meine Mutter hängte ihn als Allererstes auf, noch vor unseren Schulporträts oder ihrem Picasso-Lieblingsdruck im Wohnzimmer. Man konnte den Vorhang zur Seite ziehen und an einem Haken befestigen, so dass man ihn gar nicht mehr sah. Doch jetzt war er heruntergelassen und erfüllte seinen alten Zweck, auch wenn er seine besten Jahre eindeutig hinter sich hatte. Ich trat dichter an die Perlenschnüre heran und spähte hindurch. Meine Mutter tippte wie eine Besessene, ihre Finger flogen über die Tasten. Ich schloss die Augen und lauschte. Es klang wie Musik– Musik, die ich mein Leben lang gehört, die mein Leben bestimmt hatte, fast noch mehr als Wiegenlied. Die unzähligen Male, die sie die Tasten heruntergedrückt hatte, die endlos vielen Buchstaben, Wörter... Sachte strich ich mit den Fingern über die Perlen und verfolgte mit den Augen, wie das Bild– meine Mutter hinter dem Perlenvorhang– sich kräuselte, als wäre es unter der Wasseroberfläche. Dann verschwamm das Bild ein wenig, lief in kleinen Wellen auseinander, bis es am Ende wieder glatt und vollständig vor mir hing.

Kapitel Zwei

Es wurde höchste Zeit, Jonathan abzuservieren. »Erklärst du mir noch mal, warum du das jedes Mal so machst?«, bat Lissa mich. Sie saß auf meinem Bett, sichtete meine CDs und rauchte eine Zigarette. Sie hatte zwar geschworen, man würde nichts merken, weil sie die Zigarette zwischen den Zügen aus dem Fenster hielt. Doch natürlich stank mein Zimmer bereits jetzt nach Rauch, und das hatte ich schon gehasst, als ich selbst noch rauchte. Aber so war es einfach, ich ließ Lissa immer einen Tick zu viel durchgehen. Ich glaube, jeder Mensch hat mindestens einen Freund, bei dem das so ist.

»Ich meine, warum eigentlich? Ich mag Jonathan.«

»Du magst jeden.« Ich beugte mich zum Spiegel, um meinen Lippenstift zu inspizieren.

»Ist gar nicht wahr.« Sie drehte eine CD-Hülle um, weil sie die Rückseite lesen wollte. »Mr Mitchell mochte ich nie. Er hat immer auf meine Titten gestarrt, wenn ich an der Tafel stand, um Gleichungen anzuschreiben. Er hat auf sämtliche Titten gestarrt.«

»Wir gehen aber nicht mehr zur Schule, Lissa«, sagte ich. »Außerdem zählen Lehrer nicht.«

»Ich sag ja bloß«, antwortete sie.

»Das Problem ist, wir haben schon Sommer.« Langsam und sorgfältig zog ich die Konturen meiner Lippen mit Liner nach. »Im September gehe ich von hier weg, aufs College. Und Jonathan... ich weiß nicht. Ich habe einfach keine Lust mehr, neben allem anderen auch noch ständig meine Termine mit ihm koordinieren zu müssen. Er lohnt die Mühe nicht, vor allem, wo wir uns sowieso in ein paar Wochen trennen.«

»Aber vielleicht trennt ihr euch auch nicht.«

Ich lehnte mich wieder etwas zurück, bewunderte mein Werk und entfernte mit dem Zeigefinger einen kleinen Ausrutscher an meiner Oberlippe. »Wir werden uns trennen«, entgegnete ich. »Wenn ich nach Stanford gehe, will ich mich mit so wenig Altlasten wie möglich herumschlagen. Keine überflüssigen Bindungen.«

Sie biss sich auf die Lippen, strich sich eine widerspenstige Haarsträhne hinters Ohr und senkte den Kopf. Ihr Gesicht nahm den verletzten Ausdruck an, den sie seit neuestem immer draufhatte, wenn wir über das Ende der Sommerferien redeten. Lissas Schutzzone waren die acht Wochen, die uns zusammen blieben, bevor wir uns in alle Himmelsrichtungen zerstreuen würden; sie ertrug es nicht, über diesen Zeitraum hinaus zu denken. »Natürlich nicht«, meinte sie. »Warum solltest du?«

Ich seufzte. »Dich habe ich nicht gemeint, Lissa. Und das weißt du auch. Ich will doch nur sagen...« Ich deutete zur Tür, die einen Spalt offen stand; jenseits der Tür hörten wir das Schreibmaschinengeklapper meiner Mutter, unterlegt von schwebenden Geigenklängen. »Du verstehst schon, was ich meine.«

Sie nickte. Aber ich wusste, dass sie es nicht verstand. Lissa war die Einzige von uns, der es Leid tat, dass die Schule vorbei war. Wir drei anderen waren heilfroh, nur Lissa hatte bei der Abschlussveranstaltung geheult– echte, bebende, laute Schluchzer. Was im Endeffekt natürlich dazu führte, dass sie auf jedem Foto, jedem Video rote Augen, ein fleckiges Gesicht und somit einen guten Grund zu nörgeln hatte, und zwar für die nächsten zwanzig Jahre. Ich, Jess und Chloe dagegen hatten es kaum erwarten können, aufs Podium zu steigen, unsere Abschlusszeugnisse entgegenzunehmen und frei zu sein, endlich frei. Aber Lissa war schon immer ein bisschen zu sensibel und emotional gewesen. Deswegen hatten wir anderen auch die Tendenz, sie zu beschützen. Und wenn mir irgendetwas Sorgen machte, dann am ehesten Lissa. Sie allein zurückzulassen. Sie hatte ein Vollstipendium für das College in unserer Stadt bekommen– eine Chance, die man nicht sausen lassen konnte. Zum Glück würde ihr Freund, Adam, auf dasselbe College gehen. Lissa hatte schon alles genau durchgeplant: wie sie zusammen die Einführungsveranstaltungen und Seminare besuchen, in benachbarten Studentenwohnheimen leben würden und so weiter. Alles wie zu Schulzeiten, nur in groß.

Mir wurde schon bei der bloßen Vorstellung ganz übel. Aber ich war auch nicht Lissa. Ich hatte die letzten zwei Jahre nur aus einem Grund voll durchgepowert, ein einziges Ziel vor Augen: endlich raus! Nur weg hier! Die Zensuren schaffen, die es mir ermöglichten, mein eigenes Leben zu leben. Keine Hochzeitsorganisationen mehr, keine komplizierten Liebesgeschichten, keine Drehtür, durch die ein Stiefvater nach dem anderen hindurchspazierte. Nur ich und die Zukunft, glücklich vereint. Endlich mal ein Happyend, an das ich glauben konnte– und wollte.

Lissa streckte die Hand aus und drehte das Radio lauter; irgendein munterer Popsong mit Lalala-Refrain schwappte durchs Zimmer. Ich öffnete die Tür zu meinem begehbaren Kleiderschrank: Welche Outfit-Optionen hatte ich für den heutigen Abend?

»Was zieht man denn an, wenn man vorhat jemanden abzuservieren?« Sie drehte eine Locke um ihren Zeigefinger. »Schwarz? Als Zeichen der Trauer? Oder etwas Buntes, Peppiges, um den anderen von seinem Kummer abzulenken? Vielleicht trägst du ja auch günstigerweise Tarnkleidung, dann kannst du dich unauffällig verkrümeln, falls die Nachricht schlecht aufgenommen wird.«

Ich nahm eine schwarze Hose aus dem Schrank, betrachtete sie prüfend. »Ich persönlich würde am ehesten etwas Schwarzes anziehen, das schlank macht. Dazu was Ausgeschnittenes. Und saubere Unterwäsche.«

»Das ziehst du doch jeden Abend an.«

»Heute ist ja auch wie jeder Abend.« Ich wusste, dass irgendwo im Schrank eine rote Bluse herumschwirrte, die zu meinen Lieblingsklamotten gehörte, aber bei den anderen Blusen und Hemden fand ich sie nicht. Was bedeutete, dass irgendwer an meinem Schrank gewesen war und darin rumgewühlt hatte.

Mein Kleiderschrank ist wie alles bei mir: sauber und ordentlich. In den Wohnungen meiner Mutter hatte immer das totale Chaos geherrscht; deswegen war mein Zimmer– der einzige Ort, den ich so gestalten konnte, wie ich wollte– perfekt durchorganisiert. Alles an seinem Platz, damit ich es leicht wiederfand. Okay, vielleicht war ich ein bisschen zwanghaft. Na und? Zumindest war ich keine Schlampe.

»Für Jonathan nicht.« Auf meinen fragenden Blick hin fuhr sie fort: »Für ihn ist heute ein besonderer Abend. Er wird abserviert. Und er weiß es bisher nicht einmal. Er isst wahrscheinlich gerade einen Cheeseburger oder putzt sich die Zähne oder holt Klamotten aus der Reinigung und hat keinen Schimmer. Nicht die geringste Ahnung.«

Ich gab es auf, weiter nach der roten Bluse zu suchen, und zog stattdessen ein Tanktop aus dem Schrank. Was sollte ich dazu noch sagen? Klar, abserviert zu werden war ätzend. Aber wenn es schon sein musste– war schonungslose Ehrlichkeit dann nicht besser? Es war doch viel fairer, unumwunden zuzugeben, dass die Gefühle einfach nicht stark genug waren und auch nie sein würden. Weswegen es auch fairer war, die Zeit des anderen nicht weiter in Anspruch zu nehmen. Im Prinzip tat ich ihm also einen Gefallen. Gab ihn frei, damit er eine Chance auf was Besseres bekam. Wirklich, wenn man drüber nachdachte, war ich glatt eine Heilige.

Als wir eine halbe Stunde später bei Quik Zip, unserer Lieblingstankstelle, eintrudelten, wartete Jess bereits auf uns. Chloe kam wie üblich zu spät.

»Hi«, begrüßte ich Jess, während ich auf sie zuschlenderte. Sie lehnte an ihrem Schiff von Auto, einem alten Chevy mit durchhängender Stoßstange, und nuckelte an einer extragroßen Cola– unserer bevorzugten Lieblingsdroge. Bei Quik Zip kostete der extragroße Becher einen Dollar neunundfünfzig, war damit der beste Deal in der ganzen Stadt und außerdem sehr vielfältig einsetzbar.

»Ich hol mir ein paar Smarties«, rief Lissa, die gerade ihre Wagentür zuschlug. »Will irgendwer irgendwas?«

»Cola light«, rief ich zurück und fischte nach meiner Geldbörse, doch sie winkte ab, schon fast im Laden. »Extragroß!«, setzte ich hinzu.

Sie nickte, dann schwang die Tür hinter ihr zu. Die Hände lässig in die Taschen gesteckt ging sie schnurstracks zu dem Regal mit Süßigkeiten– ach was, sie hüpfte vor lauter Vorfreude. Lissa war verrückt nach Süßigkeiten und eine berühmt-berüchtigte Expertin auf dem Gebiet; sie war der einzige Mensch, den ich kannte, der den Unterschied zwischen Rosinen mit Schokoüberzug und Schokorosinen schmeckte. Ja, doch, es gibt einen Unterschied.

»Wo ist Chloe?«, fragte ich. Jess nahm nicht mal den Strohhalm aus dem Mund und zuckte statt zu antworten bloß die Achseln.

»Sagten wir nicht pünktlich um sechs?«, fragte ich weiter.

»Entspann dich, du kleine Zwangsneurotikerin«, meinte Jess trocken und schüttelte ihren Becher, so dass die Eisstückchen geräuschvoll in dem Colarest herumplatschten. »Es ist gerade mal sechs.«

Seufzend lehnte ich mich neben sie an den Wagen. Ich hasse Unpünktlichkeit. Chloe verspätete sich grundsätzlich, mindestens um fünf Minuten. Und das an einem guten Tag. Lissa kam in der Regel zu früh, und Jess war Jess: zuverlässig, der Fels in der Brandung, immer auf die Minute pünktlich. Seit dem fünften Schuljahr war sie meine beste Freundin und der einzige Mensch, auf den ich mich wirklich verlassen konnte.

Wir lernten uns kennen, weil wir dank Mrs Douglas’ alphabetischer Sitzordnung an benachbarten Tischen landeten: Erst kam Nasenpopler Mike Schemen, dann Jess, dann ich und auf meiner anderen Seite Adam Struck, der immer so röchelte. Allein wegen der Umzingelung durch dieses Horrorpärchen waren wir quasi gezwungen beste Freundinnen zu werden. Schon damals war Jess eine stattliche Erscheinung. Nicht dick– genauso wenig, wie sie heute dick ist–, sondern einfach groß, breit, stämmig, mit schweren Knochen. Sie überragte sämtliche Jungen in unserer Klasse und war beim Völkerball allen weit überlegen. Wenn sie einen in der ersten Stunde beim Sportunterricht mit dem roten Medizinball erwischte, sah man den Abdruck noch, nachdem es längst zum Ende der letzten Stunde geklingelt hatte. Viele Leute hielten Jess daher für link oder brutal, aber sie irrten sich. Sie wussten nicht, was ich wusste: Weil ihre Mutter früh gestorben war, musste sie sich um ihre beiden jüngeren Brüder kümmern, während ihr Vater von morgens bis abends im Kraftwerk arbeitete. Die Familie war immer knapp bei Kasse und Jess durfte von heute auf morgen kein Kind mehr sein.

Acht Jahre später, nachdem wir gemeinsam drei ätzende Mittelstufenklassen und ein paar halbwegs akzeptable Highschooljahre überstanden hatten, waren wir immer noch eng befreundet. Hauptsächlich, weil ich all diese Dinge über sie wusste, während Jess anderen gegenüber eher verschlossen war und ihre Privatangelegenheiten für sich behielt. Aber auch, weil sie zu den wenigen Menschen gehörte, die sich von mir nichts gefallen ließen. Dafür respektierte ich sie.

»Sieh mal einer an«, sagte sie gerade in dem für sie typischen trockenen Ton und verschränkte die Arme vor der Brust. »Die Königin beliebt zu kommen.«

Chloe hielt neben uns, stellte den Motor ihres Mercedes ab und klappte die Sichtblende runter, um ihren Lippenstift zu überprüfen. Jess seufzte geräuschvoll, doch ich beachtete sie nicht weiter. Sie und Chloe– das war schon immer so gewesen. Wir hatten uns daran gewöhnt wie an Hintergrundmusik. Nur wenn wirklich gar nichts los und das Leben voll öde war, fiel uns das ständige Gestichel überhaupt noch auf.

Chloe stieg aus, schlug die Wagentür zu und kam zu uns rüber. Sie sah wie immer toll aus: schwarze Hose, blaues Hemd, ein cooles Jackett, das ich noch nicht an ihr gesehen hatte. Ihre Mutter war Stewardess und ging leidenschaftlich gern zum Shopping– eine tödliche Kombination, die dazu führte, dass Chloe ausschließlich die neuesten Klamotten aus den angesagtesten Boutiquen trug. Unsere kleine Trendsetterin.

Sie strich sich die Haare hinter die Ohren. »Hi, ihr beiden. Wo steckt Lissa?«

Ich deutete mit dem Kinn Richtung Kiosk. Lissa stand an der Theke und plauderte beim Bezahlen mit dem Kassierer. Wir sahen ihr entgegen, während sie ihm zum Abschied zuwinkte und zurück zu uns auf den Parkplatz kam, eine Tüte Smarties– natürlich bereits geöffnet– in der Hand. »Wer will eins?«, rief sie und setzte, als sie Chloe sah, begeistert hinzu: »Hallo. Cooles Jackett!«

»Danke.« Chloe strich mit den Fingern darüber. »Neu.«

»Was für eine Überraschung«, lautete Jess’ sarkastischer Kommentar.

»Ist das Diätcola?«, konterte Chloe mit kritischem Blick auf den Becher in Jess’ Hand.

»Okay, okay, immer mit der Ruhe.« Wie ein Schiedsrichter hob und senkte ich meine Hand zwischen ihnen. Lissa reichte mir meine Cola light, extragroß. Ich nahm einen tiefen, genüsslichen Schluck. Köstlich. Das Getränk der Götter. Ehrlich. »Wie geht’s jetzt weiter?«, fragte ich.

»Ich hole Adam um halb sieben bei Double Burger von der Arbeit ab.« Lissa schmiss noch ein paar Smarties ein. »Wir können uns ja später mit euch im Bendo oder wo auch immer treffen.«

»Und was läuft heute im Bendo?« Chloe klimperte mit ihren Schlüsseln.

»Keine Ahnung«, meinte Lissa. »Irgendeine Band tritt auf. Wir könnten auch auf diese Party gehen, die irgendwo in Arbors stattfindet. Außerdem hat Matthew Ridgefield ein Fass besorgt und gibt einen aus... ach ja, und Remy muss zwischendurch Jonathan abservieren.«

Alle Augen richteten sich auf mich. »Nicht unbedingt in der Reihenfolge«, fügte ich Lissas Aufzählung hinzu.

»Jonathan steht also auf der Abschussliste.« Belustigt nahm Chloe eine Zigarettenschachtel aus ihrer Jacketttasche und hielt sie mir hin. Ich schüttelte den Kopf.

»Sie hat aufgehört«, meinte Jess. »Schon vergessen?«

»Sie hört ständig auf«, erwiderte Chloe, zündete ein Streichholz an, beugte sich zu der Flamme und schüttelte das Streichholz anschließend aus. »Was hat er angestellt, Remy? Dich versetzt? Oder– noch schlimmer– dir ewige Liebe geschworen?«

Ich schüttelte bloß den Kopf. Ich wusste, was jetzt kam.

Jess grinste. »Er hatte Klamotten an, die nicht zusammenpassen.«

»Er hat in ihrem Auto geraucht«, sagte Chloe. »Das muss es sein.«

»Oder vielleicht hat er beim Sprechen einen Grammatikfehler gemacht.« Lissa kniff mich spielerisch in den Arm. »Und ist eine Viertelstunde zu spät gekommen.«

»Horror!«, kreischte Chloe. Die drei brachen in Gelächter aus. Ich hörte mir das Gelaber an und mir fiel mal wieder auf, dass die drei anscheinend nur dann miteinander auskamen, wenn sie gemeinsam auf mir herumhacken konnten.

»Sehr witzig«, sagte ich schließlich. Okay, ich war anspruchsvoll und setzte hohe Standards, was Beziehungen anging. Und das war so bekannt, dass es schon wieder langweilig wurde. Aber wenigstens hatte ich Prinzipien. Chloe dagegen ging ständig mit Collegestudenten aus, die sie nach Strich und Faden betrogen. Jess löste das Problem, indem sie mit niemandem ausging. Und Lissa– tja, Lissa war immer noch mit dem Typen zusammen, an den sie ihre Jungfräulichkeit verloren hatte; sie zählte also nicht wirklich. Aber ich würde mir jegliche Bemerkung verkneifen und ihre Bösartigkeiten einfach ignorieren. Schon aus Prinzip.

»Also gut«, sagte Jess schließlich. »Wie sollen wir’s machen?«

»Lissa trifft sich wie verabredet mit Adam«, antwortete ich. »Du, ich und Chloe fahren erst am Treff vorbei und dann zum Bendo. Einverstanden?«

»Okay«, meinte Lissa. »Bis später.« Sie düste los. Chloe stellte ihr Auto schnell auf dem Parkplatz um die Ecke ab. Jess’ Blick fiel auf meine Hand; sie kniff die Augen zusammen.

»Was ist das?« Sie nahm meine Hand. Ich sah ebenfalls darauf. Telefonnummer und Name standen immer noch dort, ein wenig verschmiert zwar, aber eindeutig vorhanden. Ich hatte die Schrift abwaschen wollen, bevor ich aus dem Haus ging, aber dann war mir anscheinend was dazwischengekommen.

»Eine Telefonnummer?«

»Unwichtig«, antwortete ich. »Hab bloß so einen blöden Typen kennen gelernt.«

»Du bist und bleibst eine Männermörderin«, meinte sie nur.

Wir stiegen in Jess’ Auto, ich zu ihr nach vorne, Chloe kletterte auf den Rücksitz, musste aber erstmal einen voll gestopften Wäschekorb, einen Footballhelm und ein paar Knieschützer von Jess’ Brüdern aus dem Weg räumen. Sie verzog das Gesicht, verkniff sich allerdings jeden Kommentar. Chloe und Jess kabbelten sich zwar dauernd, aber Chloe wusste genau, wo die Grenze war.

»Zum Treff?« Jess ließ den Motor an. Ich nickte. Sie legte den Rückwärtsgang ein und fuhr langsam aus der Parklücke. Ich schaltete das Radio ein. Chloe zündete sich eine neue Zigarette an und schmiss das Streichholz aus dem Fenster. Jess wollte gerade auf die Straße einbiegen, da deutete sie mit dem Kopf auf einen großen Müllcontainer aus Metall, der in etwa sieben Meter Entfernung neben den Zapfsäulen stand, und zwar auf meiner Seite.

»Um wie viel wetten wir?«, fragte Jess. Ich steckte den Kopf durchs Fenster, um die Entfernung besser einschätzen zu können, nahm ihren fast leeren Becher und schüttelte ihn probehalber, wegen des Gewichts.

»Zwei Dollar«, lautete mein Angebot.

»Oh, Mann«, meldete Chloe sich genervt vom Rücksitz her und atmete hörbar den Rauch aus. »Könnt ihr den Mist nicht endlich lassen? Wir gehen wirklich nicht mehr in den Kindergarten. Und die Schule ist auch vorbei.«

Jess beachtete sie gar nicht, sondern schüttelte kurz ihr Handgelenk aus, nahm den Colabecher und hielt ihn auf ihrer Seite aus dem Fenster. Sie kniff die Augen zusammen, hob leicht das Kinn– und ließ den Becher mit einer gekonnten, fließenden Bewegung los. Er segelte in einem eleganten Bogen über uns und das Auto hinweg, drehte sich in der Luft mehrmals spiralförmig um sich selbst und landete schließlich mit einem dumpfen Aufprall in dem Müllcontainer. Und zwar mit Deckel drauf und Strohhalm drin.

»Wahnsinn«, sagte ich. Jess lächelte mich an. »Ich kapier einfach nicht, wie du das hinkriegst.«

»Fahren wir jetzt endlich los?«, fragte Chloe.

Jess fädelte sich in den Verkehr ein. »Mit einer lockeren Bewegung aus dem Handgelenk. Wie alles im Leben.«

Unser Treffpunkt, von dem aus wir traditionell in den Abend starteten, gehörte ursprünglich Chloe. Als sie im dritten Schuljahr war, ließen ihre Eltern sich scheiden. Ihr Vater zog mit seiner neuen Freundin weg; vorher verkaufte er die meisten Grundstücke, die er während seiner Zeit als Bauunternehmer in unserer Stadt erworben hatte – bis auf eines. Es lag am Stadtrand, ein Stück hinter unserer Schule. Ein brachliegendes Gelände, auf dem nichts war als Gras und ein Trampolin, das er Chloe zu ihrem siebten Geburtstag geschenkt hatte. Nachdem er fort war, verbannte Chloes Mutter das Teil aus ihrem sorgfältig gestylten Garten; es passte nicht zu ihren Marmorbänken und kunstvoll beschnittenen Hecken. Deswegen landete das Trampolin draußen auf dem flachen Land und moderte vergessen vor sich hin. Bis wir alt genug für den Führerschein waren, einen Rückzugsort brauchten und Chloe das Trampolin wieder einfiel.

Bevor wir also abends ausgingen, hockten wir immer erst eine Zeit lang auf dem Trampolin, das mitten auf der Wiese stand, mit einem grandiosen Ausblick auf Himmel und Sterne. Es hatte seine Spannkraft noch nicht völlig verloren; jedenfalls reichte eine Bewegung, damit alle ins Schaukeln gerieten. Woran man tunlichst dachte, wenn man gerade beim Einschenken war.

»Pass doch auf«, sagte Chloe genau aus dem Grund gerade zu Jess, denn ihre Hand wackelte bedenklich, während sie etwas Rum in meine Cola goss– aus einem von diesen Minifläschchen, die man im Flugzeug kriegt und die Chloes Mutter regelmäßig mit nach Hause brachte. Ihre Spirituosensammlung sah aus, als stamme sie aus einem Zwergenhaushalt.

»Immer schön locker bleiben.« Jess lehnte sich zurück, stützte sich auf ihren Handflächen ab und schlug die Beine übereinander.

»So läuft es jedes Mal, wenn Lissa nicht hier ist«, grummelte Chloe und öffnete ein Fläschchen für sich selbst. »Dann ist echt Essig mit der Balance, das ganze Gleichgewicht gerät durcheinander.«

»Lass gut sein, Chloe«, sagte ich, nahm einen Schluck von meiner aufgepeppten Cola und bot Jess auch davon an, allerdings nur aus Höflichkeit. Denn Jess trank nie, rauchte nie, war immer der Chauffeur. Sie hatte so lange Mutter für ihre Brüder gespielt, dass sie uns gegenüber automatisch in die gleiche Rolle verfiel.

»Schöner Abend, was?«, sagte ich zu ihr. Sie nickte. »Schwer zu glauben, dass alles vorbei ist.«

»Zum Glück!« Chloe wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Und nicht eine Sekunde zu früh.«

»Darauf trinken wir.« Ich beugte mich vor, um meinen Colabecher prostend gegen ihr Minifläschchen zu stupsen. Und dann schwiegen wir, saßen einfach nur da. Alles war still bis auf die Grillen, die in den Bäumen um uns ihr Konzert begannen.

»Trotzdem komisch«, meinte Chloe schließlich, »dass es sich gar nicht anders anfühlt.«

»Was?«, fragte ich.

»Alles«, antwortete sie. »Ich meine, wir haben so lange darauf gewartet. Die Schule ist endlich vorbei. Es ist etwas vollkommen Neues, aber alles fühlt sich genauso an wie vorher.«

»Weil das Neue noch nicht angefangen hat.« Jess betrachtete den Himmel über uns. »Wenn der Sommer zu Ende geht, wird sich alles anders anfühlen. Denn dann beginnt das Neue.«

Chloe fischte ein weiteres Fläschchen– dieses Mal Gin– aus ihrer Jacketttasche und schraubte den Deckel ab. »Die Warterei ist trotzdem ätzend.« Sie nahm einen Schluck Gin. »Ich meine, darauf zu warten, bis das Neue anfängt.«

Auf der Straße hinter uns ertönte lautes Hupen, das allmählich wieder verklang, während das Auto vorbeifuhr. Das war das Schöne an unserem Treff: Man hörte alles, aber niemand sah einen.

»Es ist bloß eine Zwischenperiode«, sagte ich. »Sie wird schneller vorüber sein, als du im Moment glaubst.«

»Hoffentlich«, erwiderte Chloe.

Ich stützte mich auf meine Ellbogen und legte den Kopf in den Nacken, um in den Himmel zu schauen. Er war rosa gefärbt, mit roten Streifen. Diese Tageszeit, der Übergang von Dämmerung zu Dunkelheit, war uns unendlich vertraut. Denn an diesem Ort warteten wir immer auf die Nacht. Ich spürte die Bewegung des Trampolins, das sich mit unseren Atemzügen hob und senkte, uns sanft, in winzigen Schüben, gen Himmel und wieder zurück schaukelte, während die Farben allmählich verblassten und schließlich, allmählich, die Sterne hervortraten.

Als wir gegen neun beim Bendo eintrudelten, war ich angenehm beschwipst. Wir parkten und beäugten den Türsteher aus der Ferne.

»Perfekt.« Ich klappte die Sichtblende herunter, um mein Make-up zu überprüfen. »Es ist Rodney.«

»Wo ist mein Ausweis?« Chloe durchwühlte ihre Taschen. »Gerade hatte ich das Teil noch.«

Ich drehte mich zu ihr um: »Vielleicht in deinem BH?« Sie kniff die Augen zusammen, griff sich kurz unters Hemd– und zog ihren Ausweis hervor. Chloe benutzte ihren BH wie andere Menschen Taschen, steckte einfach alles hinein: Ausweis, Geld, Haarspangen. Und wie bei einem Taschenspielertrick zog sie das Zeug dann wieder heraus, so als zauberte sie ein Kaninchen aus einem Hut oder Münzen hinter einem Ohr hervor.

»Volltreffer!« Sie steckte den Ausweis in ihre Brusttasche.

»Wie überaus elegant«, meinte Jess.

»Musst du gerade sagen...«, konterte Chloe. »Wenigstens trage ich einen BH.«

»Und ich bräuchte wirklich einen«, entgegnete Jess.

Chloe sah sie aus zu Schlitzen verengten Augen an. In dem Punkt war sie sehr empfindlich, denn sie trug Körbchengröße B, und zwar so gerade eben. »Tja, zumindest...«

»Schluss jetzt!«, mischte ich mich ein. »Auf geht’s, Mädels.«

Rodney saß auf einem Barhocker, der gleichzeitig die Tür offen hielt. Er sah uns mit scharfem Blick entgegen, während wir die Stufen zu ihm hochliefen. Ins Bendo durfte man erst ab achtzehn, trotzdem kamen wir schon seit fast drei Jahren regelmäßig her. Um Alkohol zu kriegen, brauchte man einen Extrastempel, und den bekam man sogar erst ab einundzwanzig, aber mit unseren gefälschten Ausweisen gelang es Chloe und mir meistens, diesen Stempel zu ergattern. Vor allem bei Rodney.

»Remy, Remy«, meinte er, als ich meinen gefälschten Ausweis aus der Tasche zog. Mein Name, mein Gesicht, das Geburtsdatum meines Bruders, damit ich alles automatisch runterleiern konnte, falls ich gefragt wurde. »Wie fühlt man sich, wenn man die Schule frisch hinter sich hat?«

»Keine Ahnung, was du meinst.« Ich lächelte ihn an. »Du weißt doch, dass ich längst aufs College gehe.«