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Ry, nach dem Bürgerkrieg: Als sein Vater, ein skrupelloser Kaufmann, an Cholera stirbt, kehrt der junge Joschua in seine Heimat zurück, um der Pflicht entsprechend persönlich an der Testamentsverlesung teilzunehmen. Vater und Sohn trennten sich zuvor im Streit. Umso mehr erstaunt es Joschua, dass ihm der wertvollste Besitz des Vaters, eine Schatulle mit unbekanntem Inhalt, anvertraut wird. Jeder Versuch, sie zu öffnen, schlägt jedoch fehl: Von dem Schlüssel fehlt jede Spur, ein Schlosser und sogar ein Schmied scheitern an dem scheinbar unzerstörbaren Kästchen.Da erfährt sein neuer Besitzer vom Land der verlorenen Dinge, einer mythischen Welt hinter der Welt, in der sich alle von Menschen verlorenen Besitztümer sammeln sollen – darunter auch der verlorene Schlüssel. Für Joschua ist dies ein willkommener Anlass, noch einmal auf Wanderschaft zu gehen und sich der Verantwortung als Kaufmannserbe zu entziehen.Eine philosophische Reise beginnt …
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Seitenzahl: 474
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Maximilian Wust
Land der verlorenen Dinge
Ein philosophisches Märchen
Ausgabe 2016
ISBN 978-3-86574-506-4
Nelles Verlag GmbH
Machtlfinger Straße 26 / Rgb.
81379 München
www.nelles-verlag.de
Lektorat:
Sylvi Schlichter
Covergestaltung und Illustration:
Maximilian Wust
www.maxmalt.de
Ry, nach dem Bürgerkrieg: Als sein Vater, ein skrupelloser Kaufmann, an Cholera stirbt, kehrt der junge Joschua in seine Heimat zurück, um der Pflicht entsprechend persönlich an der Testamentsverlesung teilzunehmen. Vater und Sohn trennten sich zuvor im Streit. Umso mehr erstaunt es Joschua, dass ihm der wertvollste Besitz des Vaters, eine Schatulle mit unbekanntem Inhalt, anvertraut wird. Jeder Versuch, sie zu öffnen, schlägt jedoch fehl: Von dem Schlüssel fehlt jede Spur, ein Schlosser und sogar ein Schmied scheitern an dem scheinbar unzerstörbaren Kästchen. Da erfährt sein neuer Besitzer vom Land der verlorenen Dinge, einer mythischen Welt hinter der Welt, in der sich alle von Menschen verlorenen Besitztümer sammeln sollen – darunter auch der verlorene Schlüssel. Für Joschua ist dies ein willkommener Anlass, noch einmal auf Wanderschaft zu gehen und sich der Verantwortung als Kaufmannserbe zu entziehen.
Eine philosophische Reise beginnt …
Maximilian Wust (geboren 1983) ist selbstständiger Grafiker, Illustrator, Werbetexter und Redakteur ... und glaubt nicht an ein Leben vor dem Kaffee. Seine Freizeit verbringt er mit Videospielen, Tagträumen, vor den Biografien längst verstorbener Persönlichkeiten oder damit, zu schreiben. Unter anderem Romane. So wie diesen hier.
Das „Land der verlorenen Dinge“, ein psychologisches Coming-Of-Age-Drama in Märchenstruktur vor pseudo-historischem Hintergrund (um das Genre genau zu definieren), wartete seit 2005 auf eine Chance, als Roman zu erscheinen. Das kommt davon, wenn man sich bei vier Verlagen bewirbt, danach aufgibt und erst von einem fünften, dem Nelles Verlag, durch Zufall entdeckt werden muss.
Maximilians Blog, einige Kurzgeschichten und andere Arbeiten findet man unter www.maxmalt.de.
„Lass‘ mich dir zuerst eine Geschichte vom Verlieren erzählen.
Meine Mutter war eine vorsichtige Frau, was ich ihr nicht verdenken kann. Als sie einmal zum Markt ging, brach jemand in unser Haus ein und stahl alles, was sie ihr Leben lang erspart hatte. Das veränderte sie. Nicht nur, dass sie danach in jedem Dielenknarren einen Einbrecher hörte, sie ließ auch den Alkoven dort drüben mit einer besonders schweren Tür ausstatten und zu einem Tresor für alles Wertvolle und Wichtige umfunktionieren. Den einzigen Schlüssel trug sie in einer versteckten Tasche in ihrer Schürze.
Selbstverständlich war unsere kleine Schatzkammer, die Tür der alten Amme, bald in aller Munde. Die meisten vermuteten dahinter natürlich Geld. Andere glaubten darin den Leichnam meines Vaters verborgen, heidnisches Zauberzeug oder ein haariges Kind, mit schwarzem Fell und Ziegenhörnern, das wir in der Kammer vor der Welt versteckten. Mein Lieblingsgerücht war und ist aber immer noch das verfluchte Buch: Meine Mutter hielte hinter der Tür ein verhextes Buch verborgen, das jeden, der es aufschlägt, augenblicklich in eine Frau verwandelt. Deshalb hätte sie nur Töchter … und die Schwester, die mit ihr unter einem Dach lebte, sei in Wahrheit ihr im Krieg verschollener Ehemann! Im Nachhinein frage ich mich, wie viel jemand getrunken haben muss, der beim Anblick einer verschlossenen Tür auf solche Ideen kommt.
In Wirklichkeit verbargen sich dahinter bloß ein paar Pfennige, eine silberne Gabel und etwas Leder. Indem meine Mutter alles von Wert wegsperrte, konnte sie unbeschwert schlafen.
Doch eines Tages geschah es: Meine Schwester brauchte neue Schuhe, also holte meine Mutter unser Erspartes aus dem Tresor. Kaum hatte sie die Tür wieder abgesperrt, fiel ihr der Schlüssel aus der Hand und war fort. Er hüpfte einmal über den Boden – kling! –, dann war es, als hätte es ihn nie gegeben.
Natürlich suchten wir den ganzen Tag danach, unter den Möbeln, in den Ecken, meine Kinderhändchen tasteten sich unter die Kommoden. Mein Onkel brach sogar die Dielen auf und ließ mich in den Unterboden kriechen, aber der Schlüssel tauchte nicht mehr auf. Der Tresor meiner Mutter blieb bis heute verschlossen.
So etwas, wenn auch nicht ganz so drastisch, ist uns allen doch schon passiert. Jeder hat schon einmal etwas verloren. Ein Schlüssel, eine Münze, ein Werkzeug oder ein Strumpf – etwas fällt aus der Hand, man lässt es liegen oder weiß ganz sicher, dass man es in diese Tasche oder jene Schublade gesteckt hat und trotzdem scheint es unauffindbar verschwunden.
Eben da gibt es dieses Märchen: Was wäre, wenn sich all diese Dinge in einem eigenen Reich sammeln, in einem Land der verlorenen Dinge? Ich stelle mir riesige Berge aus Löffeln vor, neben einem Ozean aus Strümpfen und Flüssen aus Geldstücken. Und um nun diese Geschichte endlich in deine Richtung zu spinnen: Hat man etwas Wichtiges, etwas wirklich Wichtiges verloren, wie du, so liegt es doch auf der Hand, es in diesem Land zu suchen.“
Damit beendete die Hebamme ihre Geschichte und lächelte.
Was für ein Schwachsinn! Joschua starrte die Hebamme zuerst einfach nur an, bevor er es endlich wagte, wütend zu schnauben. Die dunkle, nach Knoblauch und alter Frau stinkende Hütte raubte ihm fast die Sinne. Ihre einzige Bewohnerin, diese seltsame Alte, und ihr nutzloses Gerede taten den Rest.
„Das ist nicht die Antwort, die ich erwartet habe“, erwiderte Joschua kalt.
„Aber die Antwort, die du brauchst.“
Er zögerte, um schließlich zu nicken. „Ich sollte nun allmählich zurück.“
„Natürlich“, erwiderte sie weiterhin lächelnd, offensichtlich die Ausrede durchschauend.
„Vermögensverhältnisse müssen abgeklärt werden; mein Bruder wünscht sicherlich, noch meine Hochzeit zu besprechen, außerdem habe ich noch …“
„Ich halte dich nicht auf.“
Joschua seufzte. „Warum hast du mir dieses Märchen erzählt?“
„Ich wollte dir damit einen Vorwand liefern.“
„Wofür?“
„Um zu gehen. Das willst du doch: Gehen.“
Sah man ihm das so sehr an? „Und was soll mir diese Ausrede nützen?“, fragte er gleich darauf. „Dass mich Othas für verrückt hält und mich von allen Verpflichtungen entbindet?“
Die Amme kicherte. „Doch nicht für ihn. Für dich! Es gibt wohl kaum einen besseren Grund für eine Reise als die Suche nach dem Land der verlorenen Dinge. Zieh los, genieße deine Jugend, erlebe noch ein paar Abenteuer und finde denjenigen, den du schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen hast: dich! Jetzt, wo der Alptraum deiner Kindheit endgültig vorbei ist, hast du dir vermutlich so einiges zu erzählen …“
Joschua zögerte. So wirr die alte Hebamme eben noch vor sich hin erzählt hatte – eine Wanderschaft wäre tatsächlich besser als eine arrangierte Hochzeit im Süden. Und eine Ausrede würde sich schon finden, überlegte er und bemerkte erst danach, dass er diesen Gedanken laut ausgesprochen hatte. „Ich könnte schon morgen aufbrechen“, fügte er genauso gedankenverloren hinzu.
„Könntest?“
„Ich werde.“
„Warum erst morgen?“
„Oder heute.“
Die Alte lächelte zufrieden.
Damit war es entschieden! Zögerlich richtete sich Joschua auf und zog seine Kleidung zurecht. „Eine Frage hätte ich noch: Warum hast du den Wandschrank deiner Mutter nie aufbrechen lassen?“
„Wozu? Alles Geld hat sie ja damals herausgeholt und die Silbergabel und ein bisschen vermodertes Leder sind die Mühe nicht wert. So gebe ich den Leuten wenigstens etwas, worüber sie tratschen können. Am Stammtisch und an den Waschschüsseln gibt es ja bekanntlich nichts Schöneres als ein Geheimnis.“
Joschua zögerte, zuckte mit den Schultern und ging, ohne sich zu verabschieden.
Ein Wall aus dunklen Wolken überrollte das Land. Nasskalter Wind und dieser unverkennbare Geruch kündigten einen Regensturm an, der wahrscheinlich die ganze Nacht anhalten würde. Trotzdem gab es keinen Grund zur Eile – Joschua würde Hildebrück in spätestens einer Stunde erreichen, lange vor dem drohenden Wolkenbruch.
Seit seiner Abreise damals schien sich hier im Vorland alles zum Schlechteren geändert zu haben: Die Bauernhöfe waren leer und verlassen, die Felder verwildert und kaum noch als solche zu erkennen. Früher hatte sich hier ein Teppich aus grünem Hopfen, braunem Hafer und gelbem Rübsen über die Ebene erstreckt, dazwischen Vogelscheuchen, Bauern und spielende Kinder. Nun war alles fort. Lediglich morsche Zäune und vom Moos verschlungene Hausfassaden erinnerten an bessere Zeiten, die endgültig vergangen waren. Das Ry, in dem Joschua aufgewachsen war, gab es nicht mehr.
Am Anfang des Niedergangs standen die Empiriker. Niemand konnte wirklich sagen, woher sie auf einmal gekommen waren, die Mediziner, Ingenieure, Physiker, Astronomen und Philosophen. Nach einer langen Zeit des Friedens entwickelte sich noch vor Joschuas Geburt eine Kaste von Gelehrten, die die Wahrheit der Welt in der Beweisbarkeit suchte: Wenn jemand behauptete, er könne eine Krankheit heilen oder einen besonders harten Stahl schmelzen, musste er es vor einem Gremium aus Experten beweisen. Wer erfolgreich war, wurde gefördert, was zunächst auch wunderbar funktionierte: In den Universitäten, den neuen Tempeln der Empiriker, entwickelte man aus dem Urin schwangerer Frauen eine Salbe gegen Wundbrand, die so einige Gliedmaßen vor der Amputation rettete; für die Generäle spannte man die Armbrust, eine Art selbstschießenden Maschinenbogen, der mühelos jeden Plattenpanzer durchdrang; und für die Eisenhütten konstruierte man einen neuen Hochofen, der die Arbeit nicht nur sicherer, sondern auch ergiebiger machte – und das waren nur einige ihrer zahlreichen Errungenschaften. Ry stand bald am Rande eines goldenen Zeitalters.
Als der Erfolg den Empirikern mehr und mehr Recht gab, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis sie das alteingesessene Wahrheitsmonopol der Kirche hinterfragten. Diese musste sich zum ersten Mal beweisen. Können denn die Heiligen wirklich Tote wiedererwecken, wenn man nur fest genug zu ihnen betet?, fragten die Empiriker im klagenden Ton. Können sie Krankheiten heilen, sündige Städte verbrennen und all diese wundersamen Dinge tun, die man in den Kirchen verspricht? Es kam alsbald zum Konflikt.
Zuerst waren es nur lautstarke Debatten hoher Herren in dunklen Hallen oder hitzige Stammtischdiskussionen in den Tavernen. Die Empiriker bezeichneten die Priester als Lügner und warfen ihnen Verblendung zu Gunsten des Machterhalts vor. Die Priester erwiderten das mit der Anschuldigung der Ketzerei und der Käuflichkeit: Der Empirismus wäre vor allem dem geneigt, der am besten bezahle.
Vor elf Jahren, als der Winter zu Ende ging und die ersten Schneeglöckchen blühten, geriet der Streit schließlich außer Kontrolle. Ein Empiriker wurde zu Tode geprügelt, bald darauf brannte die erste Kirche und wenig später ein Labor. Die Priester verboten die empirische Forschung und exkommunizierten jeden, der den Empirikern nahestand. Andersherum wiegelten die Wissenschaftler das Volk gegen die Unterdrückung der Kirche auf. Als beide Seiten alle Flüche und Beleidigungen ausgesprochen hatten, wandten sie sich an die Fürsten und Machthabenden.
Damit begann der Bürgerkrieg.
Dörfer wurden geplündert, Städte brannten, Tausende flohen oder verschwanden in den Wirren der Kämpfe, die bald das ganze Land erfassten. Ry verfiel ins Chaos. Wer nicht in den Schlachten starb, verendete am Hunger oder an den Seuchen, die das Reich mit unfassbarer Härte heimsuchten. Sogar der König selbst konnte nur hilflos zusehen, wie sich sein Staat über den Sommer in eine schwelende Ruinenlandschaft verwandelte … und das alles nur um die Frage, ob die Heiligen beweisbar seien.
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